Rationalitätstheorie

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Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin
Vorlesung im Sommersemester 2009
Rationalitätstheorie
Argumentationsstruktur nachgezeichnet von Johann Schulenburg; eventuelle Rückfragen an [email protected]
Vorlesung XIII
20. Juli 2009
Strukturelle Rationalität III:
Willensschwäche und Handlungsverantwortung
spezifische Lektüre zu dieser Sitzung:
Nida-Rümelin, J. (2001): Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart (insbesondere Kapitel 8).
XIII.1 Willensschwäche und Handlungsverantwortung
•
Definition von Willensstärke:
Eine Person handelt willensstark, wenn sie punktuell das tut, was sie als strukturell rational erkannt hat
ƒ
Willensschwäche hingegen äußert sich in strukturell irrationaler, punktueller Optimierung
ƒ
Verantwortung und Willensstärke hängen insofern zusammen, als Willensstärke Vorraussetzung für verantwortliches Handeln ist – jedoch in dem Sinne einer anthropologischen Möglichkeit, so dass Menschen, auch
willensschwache, in einem minimalen Sinne für alle ihre Handlungen verantwortlich sind
ƒ
Die Motive, aus denen heraus eine Person sich in ihrem Handeln nicht an die von ihr selbst befürworteten
Strukturen hält, sind vielfältig:
-
Augenblicksneigungen
-
Zeitliche Diskontierung ferner Einflussgrößen (Gründe, die sich auf zeitlich fernere Wirkungen beziehen, werden weniger ernst genommen als Gründe, die sich auf zeitlich nähere Wirkungen der Handlung
beziehen)
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Speziell dieser Aspekt der zeitlichen Diskontierung (der eine Art Verallgemeinerung der sich unmittelbar in
Handlungen niederschlagenden Wirksamkeit von Augenblicksneigungen darstellt) kann auf längere Sicht zu
intrapersonellen Handlungsstrukturen führen, die aus Sicht der handelnden Person selbst nicht wünschenswert sind
ƒ
Dabei ist es wiederum wichtig zu erkennen, dass es sich hierbei nicht um den Unterschied kurzfristiger und
langfristiger Abwägung, sondern vielmehr um die Unterscheidung zwischen punktueller Optimierung und
dem Verfolgen einer erwünschten Handlungsstruktur handelt:
Es kommt häufig vor, dass eine Handlung punktuell betrachtet unter Einbeziehung ihrer mittel- und
langfristigen Folgen vorteilhaft ist, obwohl die durch punktuelles Handeln dieser Art sich ergebende intrapersonelle Handlungsstruktur nachteilig ist
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Wie das Raucherbeispiel am Ende der vorhergehenden Vorlesung gezeigt hat, hat also das interpersonelle
Kooperationsproblem eine Entsprechung in dem intrapersonellen Koordinationsproblem:
Bildlich gesprochen müssen unterschiedliche konative und epistemische Einstellungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander koordiniert werden, um ein kohärentes Leben zu ermöglichen; die Varianzen zwischen Personen haben ihre Entsprechung in den über die Zeitspanne des Lebens sich ergebenden Varianzen innerhalb einer Person
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Die begrifflichen Probleme, die das Phänomen der Willensschwäche (bzw. der akrasia) für die Theorie
praktischer Rationalität aufwirft, sind vor allem ein Hinweis auf die fundamentalen Defizite der Standardauffassung praktischer Rationalität: denn dieser Auffassung zufolge wird Rationalität instrumentell bezüglich gegebener epistemischer und konativer Einstellungen bestimmt
ƒ
Somit muss das Phänomen der akrasia innerhalb gegebener konativer und epistemischer Einstellungen zu
einem bestimmten Zeitpunkt rekonstruiert werden – dies jedoch geht offensichtlich weit an der lebensweltlichen Erfahrung von Willensschwäche vorbei
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Die subjektive Wahrnehmung, willensschwach zu Handeln, beruht ja gerade auf der Einsicht in einen Konflikt zwischen guten Gründen auf der einen Seite und der Nachgiebigkeit gegenüber Augenblicksneigungen
auf der anderen
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Entgegen dem Hume’schen Modell der Motivation, wonach Handlungen immer das Ergebnis von Neigungen, moderiert von epistemischen Einstellungen, sind, liegt der Theorie Struktureller Rationalität die Auffassung zugrunde, dass Handlungen immer einen akzeptierten praktischen Grund repräsentieren
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Aus dieser strukturell rationalen Perspektive lautet die Problematik der Willensschwäche somit folgendermaßen:
Wie kann es sein, dass eine Person einen Handlungsgrund akzeptiert – und somit ihr Handeln dementsprechend ausrichtet –, von dem sie selbst annimmt, dass er nicht ausschlaggebend sein sollte, sondern
von anderen (strukturell umfassenderen) Handlungsgründen aufgewogen wird?
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Interessanterweise findet sich die Einsicht, dass akrasia auf einen Konflikt zwischen punktueller Optimierung und struktureller Rationalität zurückgeht, schon im Mittelpunkt des locus classicus dieser philosophischen Thematik: in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles – die überwiegend divergierende Interpretation der betreffenden Textstelle ist wiederum ein Zeichen der Schwierigkeiten, die diese Einsicht der Standardauffassung praktischer Rationalität bereitet
ƒ
Die Frage, die sich Aristoteles stellt, ist folgende: Gegen was verstößt der Unbeherrschte (kraates)?
Er beantwortet sie folgendermaßen: [Zitat: Aristoteles, Nikomachische Ethik 1147a-1147b, in der Übersetzung von Olof Gigon]
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Willensschwache Personen handeln nicht ohne Grund; ein Übergewichtiger beispielsweise, der seinem augenblicklichen Appetit folgend mehr ist als ihm selbst vernünftig erscheint, handelt nicht grundlos – es wäre
unangemessen diese und ähnliche akratische Handlungen zu einem bloßen Reflex auf eine Gegenwartsneigung herabzuwürdigen
ƒ
Denn tatsächlich ist es keineswegs unplausibel, dass ein Übergewichtiger auf die Frage, warum er sich gerade so entschieden habe, eine schlüssige antwort geben kann – somit ist die Wahl der üppigen Speise Ausdruck akzeptierter Handlungsgründe, obwohl diese Wahl (wie zuvor angenommen) strukturell irrational war
ƒ
In vielen Fällen wird man willensschwachen Personen nicht dadurch gerecht, dass man ihnen über einen
gewisse Zeitspanne hinweg unterschiedliche Maße an Einsicht unterstellt – es ist Ausdruck einer unzureichende Analyse, dem Willensschwachen zu unterstellen, dass er nicht Gründen, sondern Neigungen folge
ƒ
Die Verbindung zum Verantwortungsbegriff erfolgt nun über den Handlungscharakter, den auch willensschwaches Verhalten aufweist:
Auch die willensschwache Person folgt Gründen, täte sie das nicht, würde sie nicht handeln, d. h., diese
Verhaltensweise wäre von ihr nicht mehr zu verantworten
ƒ
Auch der Übergewichtige weiß, dass er jederzeit anders handeln könnte, dass es keine unmittelbare Verbindung zwischen seinem gegenwärtigen Appetit und der Wahl sowie dem Verzehr einer entsprechenden Speise gibt
ƒ
Um eine entsprechende Verhaltensweise zu verstehen, die eine Handlung realisiert, obwohl der Handelnde
zu jedem Zeitpunkt hinreichend rational ist, um auch die strukturellen Gründe, die dagegen sprechen, zu erkennen, ist es lediglich notwendig, von der (platonistischen) Vorstellung Abstand zu nehmen, dass die jeweils gewählte Handlung immer die beste Einsicht der Person bezüglich ihrer Gründe repräsentiert
ƒ
An dieser Stelle ist ein Hinweis auf ein gewisse Inkompatibilität des Ansatzes Struktureller Rationalität mit
dem revealed preference-Konzept nötig:
Dieses Konzept der Zuschreibung von Präferenzen, wonach Handlungen als Ausdruck manifester Präferenzen der handelnden Personen aufgefasst werden, lässt sich auf die Konzeption Struktureller Rationalität und das mit ihr verknüpfte Verständnis von Handlungen als Ausdruck der Gewichtung von Gründen nur unter der Bedingung vollkommen rationaler Akteure anwenden
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Die willensschwache Person ist jedoch nicht vollkommen rational – sie handelt nach Gründen, von denen
sie weiß, dass sie durch gewichtigere Gründe aufgewogen werden
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Dennoch handelt eine solche Person nicht grundlos, und insofern können ihr auch diejenigen Handlungen
zugeschrieben werden, die aus Willensschwäche resultieren
Auch die willensschwache Person ist für ihr Handeln verantwortlich
ƒ
Es besteht nun die Notwendigkeit beidem gerecht zu werden: sowohl der Einsicht, dass jede Handlung von
Gründen geleitet ist, die handelnde Person somit Stellung genommen hat und für diese Stellungnahme und
ihre Folgen zur Verantwortung gezogen werden kann, als auch der Erkenntnis, dass es Willensschwäche
gibt, dass also reale Personen oftmals in ihrem Handeln nicht den von ihnen als ausschlaggebend erkannten
Gründen folgen
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Werden die Begriffe Verantwortung und Handlung in einer binären Weise verwendet (also im Sinne von:
entweder ‚volle Verantwortung’ oder ‚keine Verantwortlichkeit’), so gilt folgendes:
-
eine Person ist für jede ihrer Handlungen verantwortlich
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jede Handlung ist Ausdruck einer Stellungnahme – auch in dem Fall, dass eine Person Willensschwäche
zeigt
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diese Interpretation von Handlungen als Stellungnahmen ist jedoch nur dann zulässig, wenn eine Person
in einem minimalen Sinn rational ist
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ohne ein Mindestmaß an Rationalität können einer Person keine Gründe und somit auch keine Handlungen und keine Verantwortung zugeschrieben werden
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hier zeigt sich, dass der Komplexität von Willensschwäche und Verantwortung weitaus besser Rechnung
getragen werden kann, wenn von dieser binären Sichtweise zu einer graduellen Begrifflichkeit übergegangen wird:
Verantwortlichkeit kann in unterschiedlichem, höherem und niedrigerem Maß bestehen; entsprechend
kann Verhalten in höherem oder niedrigerem Maße Handlungscharakter haben, d. h. in unterschiedlichem Maß von der Einsicht in gute Gründe geleitet sein
ƒ
das Beispiel eines Kleinkindes kann diese graduelle Sichtweise verdeutlichen: Warum machen wir Kleinkinder für das, was sie tun, nicht verantwortlich?
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eine erste Antwort lautet, dass es ihnen noch an der notwendigen Einsicht fehle, dass ihrem Tun keine
Abwägung von Gründen vorausgehe:
auf die Frage, welche Gründe ihre Handlung geleitet haben, kann ein Kleinkind keine Antwort
geben
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interessanterweise beginnen kleine Kinder jedoch etwa in der Zeit des ersten Spracherlernens Antworten auf diese Art von Fragen zu geben, wenn sie auch zu ganz zu Beginn noch sehr rudimentär das angestrebte Ziel benennen, etwa durch Fingerzeig
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die von Kleinkindern verfolgten Absichten sind zunächst sehr kurzfristig, ihr Verhalten ergibt sich aus
dem Augenblick und sie reagieren auf äußere Veränderungen, indem sie ihre vorherigen Ziele aufgeben
bzw. vergessen
-
kindliches Verhalten ist in diesem Sinne als willensschwach zu charakterisieren, ihm fehlt die Strukturierung durch Handlungsgründe über längere Zeiträume hinweg
-
nichtsdestotrotz hat das Verhalten eines kleinen Kindes, das, befragt nach dem Ziel seiner Handlung,
auf etwas deutet und somit einen Grund benennt, aus dem heraus es sich so verhalten hat, Handlungscharakter
-
dieser leitende Grund ist allerdings kurzfristig und situationsbezogen, er ergibt sich aus einer Neigung
des Augenblicks: Für das Kind ist ein solcher Wunsch im wörtlichen Sinne unwiderstehlich
-
bildlich gesprochen ist der Abstand zwischen aufkommendem Wunsch und Ausrichtung des Verhaltens
auf die Wunscherfüllung ganz gering:
So leicht das klein Kind sich durch einen neuen Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit plötzlich ganz gefangen nimmt, von einem vorherigen Ziel abbringen lässt, so ausgeschlossen ist es
zugleich, dass es sich von seinem aktuellen Wunsch durch rationale Einsicht distanziert
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schon für komplexere instrumentelle Abwägungen fehlt einem Kleinkind die Distanz – das kleine Kind
ist somit ein punktueller und zudem kurzfristiger Optimierer und verfehlt somit – auf sich gestellt – die
meisten seiner Ziele
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die Kontrolle, die ein Kleinkind über sein Verhalten hat und entsprechend der Handlungscharakter dieses Verhaltens sind zunächst minimal
-
die Verhaltenskontrolle einer solchen (werdenden) Person ist punktuelle und kurzfristig und somit über
die Zeit gesehen erratisch – auch wenn das Verhalten insgesamt klare Strukturen aufweisen mag
-
die Persönlichkeit eines Kindes wächst dann in dem Maße, in dem es immer größere Bereiche seines
Verhaltens kontrolliert und damit zunehmend Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt
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immer weitere Bereiche seines Verhaltens erlangen Handlungscharakter und die Person wird in den sich
durchhaltenden Strukturen ihres Handelns erkennbar – dies ist ganz offensichtlich ein gradueller Prozess
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Handlungen repräsentieren akzeptierte Gründe, sie sind das Ergebnis einer Stellungnahme zu Gründen
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Auch die willensschwache Person handelt aufgrund einer Stellungnahme, allerdings aufgrund einer Stellungnahme, die mit einer anderen in Konflikt steht, welche wiederum einen strukturellen Charakter hat
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Die Willensschwäche der Person drückt sich darin aus, dass die Person eine unangemessene Gewichtung der
Augenblickssituation vornimmt
ƒ
Die Person kann also einerseits die Handlungsgründe richtig abwägen, entscheidet sich dann aber andererseits für eine Handlung, die dieser Abwägung nicht (vollständig) entspricht
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Dennoch bleibt die Handlung auch der willensschwachen Person Ausdruck einer Stellungnahme, die zeigt,
was dieser Person in diesem Augenblick am wichtigsten ist
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Willensschwäche am Beispiel eines Süchtigen:
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der entzugswillige Süchtige entscheidet sich oft gegen seine bessere Einsicht – er weiß, dass es strukturell betrachtet am besten wäre, sein Suchtverhalten zu beenden
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um ein abzusehendes Schmerzempfinden bei ‚kaltem’ Entzug zu vermeiden, entscheidet er sich im Einzelfall für die Fortsetzung des abhängigen Verhaltens – er misst somit den punktuellen Situationsmerkmalen ein unangemessen hohes Gewicht bei
-
auch das Verhalten eines so beschriebenen Süchtigen hat in der Regel Handlungscharakter, denn der
Schmerz ist zum Zeitpunkt der Entscheidung nur als Erwartung und noch nicht aktuell präsent
-
die Entscheidung des Süchtigen beruht auf einer – allerdings allzu punktuellen – Abwägung von Gründen:
der Süchtige entscheidet sich dafür, der kurzfristigen Schmerzvermeidung Vorrang vor der
langfristigen Suchtfreiheit zu geben
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die Irrationalität dieses Verhaltens besteht darin, dass diese punktuelle Optimierung sich mit dem strukturell Gewünschten nicht in Einklang bringen lässt
-
in diesem Sinne ähnelt der Suchtkranke einem Kind
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in einem minimalen Sinn bleibt der Süchtige für seine Handlungen verantwortlich, seine Willensschwäche schränkt das Maß der Verantwortlichkeit jedoch ein
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auch diese Situation lässt sich kontinuierlich zuspitzen, so dass eine süchtige Person im Extremfall nur
noch reflexartig auf Versuche, die süchtige Handlungsweise zu unterbinden, reagiert
-
ein Teil des Verhaltens dieser süchtigen Person verlöre damit seinen Handlungscharakter, könnte also
der Person nicht mehr als Handlung zugeschrieben werden:
sie trüge dafür überhaupt keine Verantwortung mehr
XIII.2
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Epilog: Kohärenz und Strukturelle Rationalität
Verhalten wird zur Handlung, wenn es von der Person, d. h. von ihren Intentionen kontrolliert und damit
Ausdruck einer (normativen) Stellungnahme ist
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Der zunehmende Handlungscharakter des Verhaltens scheint somit Begleitphänomen seiner Rationalisierung zu sein
ƒ
Allerdings erscheint die immer wieder neue Abwägung von Handlungsoptionen, die dauernde Kontrolle des
eigenen Verhaltens sowie die dichte Folge normativer Stellungnahmen als Charakterisierung einer vernünftigen Person wenig attraktiv
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Zwar bietet sich hier die entscheidungstheoretisch präzisierbare Forderung an, die situative Abwägung von
Handlungsoptionen von einer Kosten-Nutzen-Kalkulation abhängig zu machen – Voraussetzung wäre dann,
dass die aufgrund von Abwägungen getroffenen Entscheidung in vielen Fällen besser als die ohne Abwägungen getroffene ist
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Die Forderung nach struktureller Rationalität weist jedoch in eine andere Richtung:
Es ist nicht die Einschränkung punktueller Entscheidungsfindung, sondern ihre Einbettung in umfassendere Strukturen, die eine vernünftige Person kennzeichnet
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Die traditionell vorgegebenen, d. h. jeder rationalen Kontrolle entzogenen Strukturen des Verhaltens brechen nun im Zuge von dessen Rationalisierung auf; an die Stelle vorgegebener Verhaltensmuster tritt eine
dichter werdende Folge punktueller Entscheidungen
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Durch die Entscheidung für eine übergreifende (Handlungs-)Struktur kann die Anzahl der Einzelentscheidungen pro Zeiteinheit und die Komplexität der jeweiligen Abwägungen reduziert werden
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A limine wählt die strukturell rationale Person eine Lebensform; sie bleibt zwar in jedem Einzelfall frei, von
den konstitutiven Strukturen dieser Lebensform abzuweichen, wählt aber ihre Handlungen doch so, dass sie
diese Strukturen stützen und fortschreiben
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Die fiktive Figur einer im Sinne der Konzeption Struktureller Rationalität ideal-rationalen Person trifft dann
eine einzige Entscheidung, nämlich die für eine in sich kohärente Lebensform, und enthebt sich damit aller
punktuellen Abwägungen – bis auf diejenigen, die dafür sorgen, dass sich die jeweiligen Einzelentscheidungen in jene Strukturen einbetten, die diese Lebensform ausmachen
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Die Konzeption struktureller Rationalität plädiert jedoch angesichts dessen nicht für einen neuen normativen
Fundamentalismus – es gibt keine externen Kriterien für die richtige Wahl der Lebensform
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Die normative Abwägung im Rahmen struktureller Rationalität kann sich nicht auf fraglose Prinzipien der
Beurteilung stützen und sie verfügt nicht über eine Theorie, die das intrinsisch wertvolle unabhängig von
konkreten Lebensformen bestimmt
Dies ist ein Unterschied insbesondere zu rationalistischen Theorien, wie dem Utilitarismus
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Die gute Lebensform ergibt sich aus der Balance guter normativer Gründe; zu diesen Gründen gehören nicht
nur ethische im engeren Sinne (bezogen auf Kooperation, Rücksichtnahme etc.), sondern auch solche, die
eigene Neigungen und Wünsche berücksichtigen
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Begründungspflichten treten im Grunde nur dort auf, wo Inkohärenzen vorliegen:
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interne Inkohärenzen verlangen nach Begründung einer handelnden Person gegenüber sich selbst
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externe Inkohärenzen verlangen nach Begründung gegenüber kritischen Frage anderer
sowohl intrapersonell als auch interpersonell löst eine gute Begründung die jeweilige Inkohärenz auf, die
das Problem bzw. die Frage aufwarf
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Entscheidungen gegen die keine prima facie guten Gründe sprechen, bedürfen keiner näheren Begründung
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Hier liegt eine Analogie mit Überzeugungen (d. h. eine Analogie praktischer und theoretischer Gründe) auf
der Hand:
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vernünftige Zweifel, d. h. kritische Nachfragen, die es wert sind, beantwortet zu werden, rekurrieren auf
prima facie gute Gründe, die gegen die infrage stehende Überzeugung sprechen
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eine Skepsis anderer Art hat keinen Ort in der Lebenswelt – sie wäre im schlechten Sinne akademisch
Literatur:
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Aristoteles (2002): Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, München.
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Nida-Rümelin, J. (2001): Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft,
Stuttgart.
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