Die Institutionalisierung der liberalen Demokratie: Deutschland im

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Studien zur Demokratieforschung
Ludger Helms
Herausgegeben von Dirk Berg-Schlosser,
Hans Joachim Giegel,
Leo Kißler und Theo Schiller
Band 10
Die Institutionalisierung der
liberalen Demokratie
Deutschland im internationalen Vergleich
Ludger Helms ist Privatdozent für Politische Wissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und Heisenberg-Stipendiat der
Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Central European University, Budapest.
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Inhalt
Vorwort
7
1 Einleitung: Die Institutionalisierung der liberalen Demokratie
9
2 Wahlrecht und Wahlsystem: Die institutionellen Filter
politischer Repräsentation
25
3 Politische Parteien: Das Rückgrat der repräsentativen Demokratie
49
4 Interessengruppen: Agenten der Zivilgesellschaft?
83
5 Massenmedien: Spiegel und Katalysatoren politischer Macht
109
6 Das Parlament: Die demokratische Herzkammer
des gezähmten Leviathan
136
7 Die Exekutive: Institutionen und Akteure am Gipfel
des staatlichen Herrschaftssystems
161
8 Der Bundesstaat: Die Institutionalisierung des
territorialen Pluralismus
193
9 Verfassungsgerichtsbarkeit: Die Vollendung
der konstitutionellen Gewaltenteilung
225
10 De-Institutionalisierung und Internationalisierung
als Gefährdungen der liberalen Demokratie?
249
Literatur
275
Vorwort
Ein Buch sollte eigentlich für sich selbst sprechen. Angesichts nicht nur
der geradezu atemberaubenden Vermehrung der sozialwissenschaftlichen
Literatur, sondern auch des heute zu beobachtenden Ausmaßes an thematischer, theoretischer und methodischer Fragmentierung der internationalen Sozialwissenschaften mag ein kurzes Geleitwort dennoch gestattet sein.
Die Studie möchte trotz ihrer betont schlicht gehaltenen Architektur
nicht, oder jedenfalls nicht primär, ein Handbuch sein, das einen unkomplizierten Zugriff auf unterschiedliche Ausschnitte eines komplexen Themas verspricht, sich dafür aber willfährig des Anspruchs begibt, in seiner
Gesamtheit gelesen zu werden. Durch ein solches Selbstverständnis würde
eine breit angelegte monographische Arbeit ihre offensichtlichste Stärke
gegenüber der Vielzahl von Sammelbänden preisgeben, in denen entweder
editorisches Chaos regiert und die intellektuelle Synthese nahezu vollständig dem Leser überlassen bleibt oder aber, so vor allem in vielen »crossnational studies«, sämtliche Kapitel ein und demselben sterilen Aufbauschema unterworfen werden, um dem Herausgeber die Abfassung einer
vergleichenden Zusammenschau so leicht wie möglich zu machen.
Das Buch will insbesondere kein weiteres in der langen Reihe von
Werken sein, die vor allem durch Zahlen zu seinen Lesern sprechen. Die
für das Thema besonders wichtigen Datenhandbücher, von denen auch
diese Studie profitiert hat, wurden dem Verzeichnis der übrigen zitierten
Literatur am Ende des Bandes vorangestellt, um zu ihrer Benutzung zu
ermuntern. Ansonsten gehört der Verfasser zu jenen, die auf die Kraft des
Wortes, auf die sprachlich-argumentative Fähigkeit zur Darstellung, Analyse und Bewertung komplexer Phänomene und Zusammenhänge setzen.
Wie jede Untersuchung, die nicht lediglich vom Ehrgeiz gewissenhafter
Deskription getragen ist, baut auch diese auf einem breiten theoretischen
Fundament. Im Gegensatz zu anderen Werken der Demokratieforschung
handelt es sich bei der hier vorgelegten Arbeit gleichwohl nicht um eine
8
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
theoretische Studie. Sie stellt den Anspruch, theoretisch fundiert im Sinne
von »theoretically informed« zu sein, ist dabei jedoch durchwegs von einem instrumentellen Verhältnis zur Theorie bestimmt, dem es darum geht,
politisch-gesellschaftliche Phänomene in »real-world countries« fassbar zu
machen.
Die Anfang 2007 abgeschlossene Arbeit ist aus einem mehrjährigen
Forschungsprojekt hervorgegangen, welches von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Heisenberg-Programms auf denkbar
großzügige Weise gefördert wurde. Die unterschiedlichen Teile der Untersuchung wurden – größtenteils im Rahmen ausgedehnter Forschungsaufenthalte an der Harvard University, der London School of Economics, der
University of Tokyo und der Universität Göttingen – auf jenen drei Kontinenten geschrieben, von denen diese Studie handelt. Den zahlreichen
Kollegen, mit denen ich dabei zusammentreffen konnte, sei an dieser Stelle
herzlich für ihre Gastfreundschaft gedankt.
Berlin, im Februar 2007
Ludger Helms
1 Einleitung: Die Institutionalisierung
der liberalen Demokratie
Aus Sicht der heutigen Politikwissenschaft handelt es sich bei Demokratie
um etwas, das niemals ist, sondern ständig wird (von Beyme 1994: 9).
Selbst nach einem engeren, institutionenbasierten und staatszentrierten
Begriffsverständnis bleibt die Demokratie ein dynamisches Konzept, eine
potentiell »gefährdete Staatsform« (Leisner 1998), deren politische Überlebensfähigkeit sich stets aufs Neue im Kontext vielfältiger Herausforderungen zu bewähren hat. Gerade deshalb sind Demokratien nicht nur, aber
auch auf institutionelle Grundlagen angewiesen, die ein notwendiges Maß
an Stabilität mit einem hinreichenden Maß an Flexibilität zu verbinden
wissen. Dem historisch und international vergleichenden Studium dieser
institutionellen Grundlagen der liberalen Demokratie ist die vorliegende
Studie gewidmet.
So zentral politische Institutionen für die Demokratie, so prominent
diese innerhalb der Demokratieforschung sind, so schillernd und vieldeutig
ist der Institutionenbegriff. Dies kann nur zum Teil als eine Folge der
Multidisziplinarität der Institutionenforschung gesehen werden. Selbst
innerhalb einzelner Disziplinen existiert kein allgemein akzeptierter Begriff
der politischen Institution, ja wird dies unter Verweis auf die komplementären Erkenntnispotentiale unterschiedlicher Institutionenbegriffe und der
ihnen korrespondierenden Forschungsansätze nicht einmal immer als wünschenswert erachtet (Immergut 1998: 25). Hier ist nicht der Ort für eine
ausgreifende Rekonstruktion der theoretischen Debatte über politische
Institutionen.1 Auf eine terminologische Grundlegung kann jedoch auch
eine Studie nicht verzichten, die auf die empirische Dimension politischer
Institutionen in den konsolidierten liberalen Demokratien konzentriert ist.
——————
1
Für den spezielleren Bereich der Vergleichenden Regierungslehre hat der Verfasser
vor einigen Jahren einen Überblick vorgelegt, auf den an dieser Stelle verwiesen
sei; vgl. Helms (2004). Auf Jahre hin als maßgebliches Referenzwerk behaupten
dürfte sich der international besetzte Band von Rhodes/Binder/Rockman (2006).
10
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Weithin konsensfähig dürfte heute die Feststellung sein, dass es sich bei
Institutionen (1) um ein auf mittlerer oder Meso-Ebene angesiedeltes Konzept handelt, dass (2) Institutionen sowohl formale als auch informale
Aspekte aufweisen und dass sie (3) ein gewisses Maß an Legitimität, welches über die Präferenzen individueller Akteure hinausgeht, sowie ein gewisses Maß an Stabilität besitzen (Lowndes 1996: 182).
Jenseits dieser Bestimmungsmarken verbleiben beträchtliche Spielräume. Dem gerade innerhalb der Vergleichenden Regierungslehre ausgesprochen einflussreichen Ansatz des »akteurzentrierten Institutionalismus«
(Mayntz/Scharpf 1995; Scharpf 2000) zufolge handelt es sich bei Institutionen um Regeln bzw. Regelsysteme, die das Handeln individueller und
korporativer Akteure begrenzen, zum Teil aber auch erst ermöglichen.
Diesem Verständnis nach verbleiben etwa Parlamente, Parteien oder Interessengruppen als korporative Akteure bzw. Organisationen ausdrücklich
außerhalb des Institutionenbegriffs (Scharpf 2000: 77) – im Gegensatz zu
parlamentarischen Geschäftsordnungen, Parteistatuten oder Verbandssatzungen. Abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse kann sich dieser
Zugang als ausgesprochen nützlich erweisen wie die zahlreichen von ihm
beeinflussten Arbeiten dokumentieren. Hier wird – zumindest was die
Konzeption auf der Meta-Ebene betrifft2, bei der es um die Auswahl der
Untersuchungsgegenstände der Studie geht – gleichwohl von einem weiteren Verständnis politischer Institutionen ausgegangen, das international
nicht weniger verbreitet ist. Dieses schließt Organisationen nicht aus, ja
betrachtet diese, sofern sie »den Prozeß der politischen Handlungskoordination – der Meinungsbildung, Konfliktaustragung, Konsensbildung, Entscheidungsfindung und des Entscheidungsvollzugs – strukturieren« (Seibel
1997: 363), sogar als die besonders wichtigen politischen Institutionen.3
Vom älteren Institutionalismus der frühen, noch stark rechtswissenschaftlich geprägten Regierungslehre setzt sich der hier entwickelte Zugang
zum einen dadurch ab, dass er nicht auf die formalen Institutionen be-
——————
2
3
Etwas anderes gilt für die theoretischen Grundlagen der Analyse von Institutionalisierungsprozessen selbst. Vgl. FN 15.
Damit ist zugleich eine Abgrenzung gegenüber sozialen Institutionen gezogen.
Diesem Verständnis politischer Institutionen folgt auch die von Peter Mair herausgegebene Reihe »Comparative Political Institutions«, aus der in den vergangenen Jahren mehrere wichtige Arbeiten über die politischen Institutionen ausgewählter westlicher Länder hervorgegangen sind (etwa Schmidt 2003; Elgie 2003;
Judge 2005).
EINLEITUNG
11
schränkt bleibt, sondern auch die informalen Institutionen berücksichtigt.
Letztere unterscheiden sich von ersteren nicht dadurch, dass sie für die
Struktur des demokratischen Prozesses prinzipiell weniger bedeutend wären. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Historisch gingen viele formale
Institutionen aus informalen Institutionen hervor. Umgekehrt werden
etablierte formale Institutionen durch informale Institutionen überlagert
bzw. ergänzt. So kommt kaum eine der »Koalitionsdemokratien« Westeuropas ohne ein umfangreiches informales Regelwerk zur Optimierung des
intra-gouvernementalen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses aus
(Müller/Strøm 2000a).4 Aus systematischer Hinsicht gehören zu den
wichtigen Unterschieden formaler und informaler Institutionen die Bedingungen ihrer Entstehung und ihres Fortbestands: Anders als im Falle formaler Institutionen liegen diese nicht in den Händen Dritter, sondern in
jenen der beteiligten Akteure selbst (Farrell/Héritier 2003: 583). Da sie
nicht justiziabel sind, können die regelbezogenen Elemente informaler
Institutionen nur so lange Geltung beanspruchen wie sie von sämtlichen
der durch sie betroffenen Akteure anerkannt werden. Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung und den Bestand informaler Institutionen
mit inklusivem Potential bildet ein hinreichendes Vertrauen auf Seiten der
involvierten Akteure (Farrell/Knight 2003); erst auf dieser Grundlage können sich speziellere Kosten-Nutzen-Abwägungen von Akteuren entwickeln, aus denen informale Institutionen ihre funktionale Existenzberechtigung beziehen.
Eine zweite Abgrenzung gegenüber älteren Beiträgen der Vergleichenden Regierungslehre im Stile von »Verfassungssystematiken« ergibt sich aus
der Berücksichtigung der Dynamik politischer Institutionen. Das hier entwickelte Institutionenverständnis weist starke Bezüge zur geschichtswissenschaftlichen Institutionenanalyse auf, wobei dort zuweilen über das Ziel
hinausgeschossen wurde, wenn Institutionen, wie bei Reinhard (2000: 125–
126), geradezu als »Prozesse« begriffen werden. Unmittelbarster Ausdruck
des besonderen Interesses dieser Studie an der Dynamik politischer Institutionen ist die Aufnahme des Begriffs der »Institutionalisierung« in den
Titel des Werkes. Er ist nicht minder definitionsbedürftig als jener der
Institution selbst.
——————
4
Wie dieses Beispiel bereits zeigt, muss es sich bei informalen Institutionen keineswegs zwingend um Erscheinungen handeln, die aus demokratietheoretischer Perspektive grundsätzlich als negativ bzw. problematisch zu bewerten wären (Lauth
2000: 25–26; Helmke/Levitsky 2004); vgl. Abschnitt 10.1.
12
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Auf komplexere Konzepte der Institutionalisierung stößt man bis heute
am ehesten in der politischen Soziologie (etwa Nedelmann 1996). Institutionalisierung meint dort vor allem den Prozess der gesellschaftlichen Internalisierung von Werten und Normen. Ein solches Verständnis kennzeichnet indes nicht nicht nur soziologische Beiträge zum Studium politischer
Institutionen, sondern hat verbreiteten Niederschlag auch in soziologisch
beeinflussten Arbeiten der Politikwissenschaft und der interdisziplinär
geprägten Politischen Kultur-Forschung gefunden. Nicht zuletzt einige
Studien über die so verstandene Institutionalisierung der Demokratie in
Deutschland nach 1945 erlangten Referenzcharakter für das weitere Forschungsfeld (Lepsius 1990). Im Zuge der ausgreifend geführten Diskussion
über die »innere Teilung« Deutschlands nach 1990 bilden Arbeiten dieser
Richtung bis heute einen wichtigen Bestandteil der Literatur über die Demokratie der Bundesrepublik (etwa Gabriel/Falter/Rattinger 2005). Dabei
wurde der »Wandel der demokratischen Institutionen« gelegentlich ausdrücklich mit der »Entwicklung der Demokratievorstellungen« gleichgesetzt (Fuchs 1997). In diesem Kontext entwickelte international vergleichende Perspektiven beziehen sich üblicherweise auf die jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas unter Einschluss Ostdeutschlands (etwa
Pollack u.a. 2004; Klingemann/Fuchs/Zielonka 2006). Diesen Beiträgen
ist gemein, dass sie primär an der gesellschaftlichen Verinnerlichung von
politischen Institutionen, an Prozessen des »institutional learning«, und
nicht so sehr an den Institutionen selbst, interessiert sind.
Einen frühen Meilenstein der genuin politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit Institutionalisierung stellt die große Studie Samuel
Huntingtons aus den späten sechziger Jahren dar. Für Huntington (1968:
12) bezeichnet Institutionalisierung den Prozess, durch den Organisationen
und Verfahren Wert und Stabilität erlangen. Als Kriterien, die über den
jeweils erreichten Grad der Institutionalisierung entscheiden, werden genannt: »adaptability« (weiter spezifiziert anhand der Kriterien Existenzdauer, erfolgreicher Elitenaustausch und funktionale Anpassungsfähigkeit
von bzw. innerhalb von Institutionen), »complexity«, »autonomy« und
»coherence«. In einem etwa zeitgleich entstandenen grundlegenden Beitrag
von Nelson Polsby (1968) über das speziellere Thema der »legislative institutionalization« wird der Schwerpunkt stärker als bei Huntington auf die
interne Ausdifferenzierung von Institutionen als Kernaspekt von Institutionalisierung gelegt.
EINLEITUNG
13
Das von Huntington und Polsby entwickelte Verständnis von Institutionalisierung hat in der jüngeren, zumal in der deutschen Politikwissenschaft eine erstaunlich geringe Resonanz gefunden. Selbst der Begriff begegnet einem beinahe ausschließlich im Umfeld der Systemwechselforschung. Dort erscheint Institutionalisierung zumeist streng auf den Akt der
Verfassungsgebung bezogen (Merkel/Sandschneider/Segert 1996a). Diesem Verständnis nach markiert Institutionalisierung das zweite von drei
Stadien des Systemwechsels – angesiedelt zwischen der Phase des Zusammenbruchs der alten Ordnung und jener der Konsolidierung (Merkel/
Sandschneider/Segert 1996b: 13).5 Die konkrete Ausgestaltung unterschiedlicher Profile politischer Institutionen – im Sinne des »constitutional
engineering« (Sartori 1994) – wird dabei als zentrale Komponente der
Institutionalisierung gleichsam mitgedacht, wenn auch nur selten ausdrücklich als solche bezeichnet.
Auf ein nicht vollständig anderes, aber »machtsensibleres« und zugleich
dynamischeres Verständnis von Institutionalisierung stößt man in Teilen
der politik- bzw. verwaltungswissenschaftlichen Literatur über Institutionenwandel im konsolidierten Wohlfahrtsstaat. So bezeichnet »Institutionalisierung« bei Hesse und Benz (1990) eine von mehreren Phasen eines
Modells institutionellen Wandels. Ihr gehen voraus die »Auslösung« (institutioneller Veränderungen) und die »Verstärkung« (von Reformenergien),
während ihr üblicherweise eine Phase der »reaktiven Anpassung« (innerhalb der neu geschaffenen Strukturen) nachfolgt. »Bei der Institutionalisierung geht es«, so die Autoren, »um die Neuverteilung von Kompetenzen,
Einflußchancen, Machtpositionen und Ressourcen. Damit wird der Prozeß
zu einer politischen und nur begrenzt steuerbaren Auseinandersetzung
zwischen unterschiedlichen Interessen« (ebd.: 66).
Das dieser Studie zugrunde liegende Verständnis von Institutionalisierung greift die unterschiedlichen Aspekte der früheren politikwissenschaftlichen Forschung auf, modifiziert und erweitert den Fokus der Betrachtung
jedoch. Berücksichtigung finden die historische Entstehung politischer
Institutionen der liberalen Demokratie (dabei nicht nur der Verfassungsor-
——————
5
Zum Teil wird auch in der Demokratisierungsforschung mit einem weiteren
Institutionalisierungsbegriff gearbeitet, in den Aspekte der Verinnerlichung institutioneller Regeln einfließen. Dies geht jedoch gelegentlich zu Lasten terminologischer und analytischer Klarheit, wenn etwa, wie bei Ellen Bos, in definitorischer
Absicht festgestellt wird: »In einem institutionalisierten oder konsolidierten System
akzeptieren die Entscheidungsträger die Gültigkeit der Regeln« (Bos 2004: 14).
14
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
gane, sondern auch der maßgeblichen politischen Organisationen wie Parteien, Interessengruppen und Massenmedien6), deren Struktur- und Funktionsprofile sowie deren Wandel (unter Einbeziehung von Formen »reformgetriebenen« wie »schleichenden« Wandels). Institutionalisierung meint in
diesem Kontext die institutionelle Manifestation und Konkretisierung
kontingenter politischer Lösungen von grundlegenden Ordnungs- und
Funktionsproblemen der liberalen Demokratie. Institutionentheoretisch
gesprochen geht es dabei um den Prozess der sozialen Objektivierung
spezieller normativer Verhaltensstrukturen in Form organisierter Vereinigungen (Acham 1992: 26). Politisch gesprochen geht es hingegen darum,
unbeschränkte bzw. unkontrollierte Macht einer Person oder sozialen
Gruppe auf Institutionen zu übertragen, die nicht nur ein hinreichendes
Maß an personenunabhängiger Kontinuität gewährleisten, sondern zugleich den grundlegenden normativen Anforderungen der liberalen Demokratie als staatlicher Herrschaftsform (wie Machtbegrenzung und demokratische Verantwortlichkeit der Regierenden) gerecht werden (Przeworski
1991: 14).
Daraus ergibt sich eine doppelte Vergleichsdimension, die sich zum einen auf den Vergleich der historischen Wege, den die Institutionalisierung
politischer Institutionen in unterschiedlichen Ländern genommen hat, zum
anderen auf den Vergleich der aus diesem Prozess hervorgegangenen demokratischen Institutionen selbst bezieht. Der eigentliche Schwerpunkt
liegt auf dem internationalen Vergleich der als dynamisch und veränderbar
begriffenen Struktur- und Funktionsprofile demokratischer Institutionen.
Obwohl die Studie viele Impulse der angelsächsischen Demokratieforschung verdankt, wird hier kein deutschsprachiges Pendant der großen
englischsprachigen Arbeiten der politikwissenschaftlichen Komparatistik,
im Stile etwa der Studien Lijpharts (1984, 1999) oder Almonds und anderer
(2004) angestrebt, in denen Deutschland lediglich die Rolle eines gleichberechtigten »Falls« neben zahlreichen anderen zukommt. Stattdessen wird
ein Zugang entwickelt, der sich am treffendsten mit dem Begriff des
»asymmetrischen Vergleichs« (Kocka 1999) bezeichnen lässt. Er zielt darauf, das, gemessen an einer bestimmten Referenzgruppe, »Normale« und
das »Besondere« eines Gegenstandes näher zu bestimmen als dies ohne
Vergleich – oder gegebenenfalls selbst im Rahmen eines vollständig sym-
——————
6
Dem entspricht bei Göhler (1987: 18) die Unterscheidung zwischen politischen
Institutionen im »engeren Sinne« und solchen im »weiteren Sinne«.
EINLEITUNG
15
metrischen Vergleichs7 – möglich wäre. Als Referenzgruppe des internationalen Vergleichs dienen in dieser Studie im Wesentlichen die »trilateralen
Länder« (Pharr/Putnam 2000), die konsolidierten Demokratien Westeuropas, Nordamerikas und Japans. Gelegentlich werden, soweit das speziellere
Erkenntnisinteresse dies gebietet, weitere Länder wie Kanada, Neuseeland
und Australien in die Betrachtung einbezogen. Dieses Ländersample
scheint geeignet, um den spezifischen Operationalisierungsproblemen in
Studien über das Allgemeine und das Besondere eines Untersuchungsgegenstandes zu begegnen.8 Dafür ist es erforderlich, den Vergleich so zu
fokussieren, dass ein hinreichend großes Maß an Unterschiedlichkeit zwischen den verglichenen Gegenständen gegeben ist, deren prinzipielle Vergleichbarkeit aber nicht durch extrem unterschiedliche Grundlagen in
Frage gestellt wird. Als wichtige Gemeinsamkeit außerhalb institutioneller
Arrangements und der Erfahrung politischer Konsolidierung teilen sämtliche der hier berücksichtigten Länder längere Phasen ökonomischen
Wohlstands, der sich unter anderem in deren Mitgliedschaft zur OECD
manifestiert.
In welchem Verhältnis steht diese Studie zu den Fragestellungen und
Perspektiven des weiteren Forschungsbereichs? Auseinandersetzungen
über den Exzeptionalismus des eigenen Systems spielten in der deutschen
Nachkriegspolitikwissenschaft keine vergleichbare Rolle wie in den USA
(Shafer 1991; Lipset 1996) oder Japan (Matsuda 2003). Die ausgreifende
Diskussion über einen »Sonderweg« Deutschlands innerhalb der Geschichtswissenschaft9 hat kein politikwissenschaftliches Äquivalent im
——————
7
8
9
Der Preis eines vollständig symmetrischen Vergleichs bestände im Rahmen einer
monographischen Studie darin, nur eine sehr kleine Anzahl von Ländern berücksichtigen zu können, oder aber den Vergleich auf einen kleinen Ausschnitt der
komparativ studierten Systeme zu beschränken. Daraus folgt, dass der asymmetrische Vergleich kein »zweitklassiger« Vergleich ist, sondern – wie andere Vergleichsformate auch – ein Zugang mit spezifischen Stärken und Schwächen.
Sie wurden von Byron Shafer (1999: 449) prägnant resümiert: »The number of
individual items upon which nations might differ is effectively indefinite. Worse
yet, the differences on any one item, observed closely enough, are as extensive as
the number of nations considered. If exceptionalism is not thereby crushed out of
existence (or defined into existence everywhere), some way to group major realms
of analysis is the only way around this dilemma.«
Hervorgehoben sei die in dieser Tradition stehende große Studie Heinrich August
Winklers (2000), an deren Ende die These steht, dass es bis 1945 einen »deutschen
Sonderweg« gab – der Weg eines tief vom Mittelalter geprägten Landes in die Mo-
16
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Rahmen der Beschäftigung mit dem Regierungssystem der Bundesrepublik
gefunden. Am stärksten in diese Richtung schlug die international geführte
Auseinandersetzung über die Eigenarten des »German Model« (Dyson
2001; Jochem/Siegel 2002; Kwon 2002; Hassel/Williamson 2004), womit
jedoch nie das politische System in seiner Gesamtheit gemeint war, sondern stets nur spezifische Merkmale des politisch-ökonomischen Teilsystems. Auf weiter dimensionierte (wenn auch schwerlich systematisch vergleichend ausgerichtete) Reflexionen über das »Modell Deutschland« – im
Sinne eines spezifischen Leistungsprofils der deutschen Nachkriegsordnung auf der Ebene politischer Stabilität und gesellschaftlicher Liberalisierung – stößt man am ehesten im Umfeld der zeitgeschichtlichen Forschung, obwohl auch dieser eine auffallende Zurückhaltung bei der Behandlung des Themas attestiert wurde (Rödder 2006: 346–347). Daran
gemessen erscheint die Titelfrage einer jüngeren politikwissenschaftlichen
Studie, ob die Bundesrepublik sich endlich »auf dem Weg zur Normalität«
befinde (Reutter 2004), mehr als ein rhetorischer Kunstgriff des Herausgebers denn als Programm und Leitmotiv der darin versammelten Beiträge
über die Politik der rot-grünen Bundesregierung.
Das übergeordnete Ziel der Studie besteht darin, ein tieferes Verständnis der historischen Grundlagen und internationalen Besonderheiten der
deutschen Nachkriegsdemokratie zu befördern, als dies die »klassischen«
Arbeiten zum Regierungssystem der Bundesrepublik (von Beyme 200410;
Ellwein/Hesse 20049; Rudzio 20067; Sontheimer/Bleek 2005; Jesse 19978)
eröffnen.10 Damit soll nicht zuletzt der heute kaum mehr bestrittenen
Einsicht Rechnung getragen werden, dass einem Verständnis eines Systems
——————
derne, in dem vor allem Menschen- und Bürgerrechte nie eine vergleichbar starke
Verwurzelung erfuhren wie in den anderen großen Ländern des Westens.
10 Dies ist freilich nicht der erste Versuch in dieser Richtung. Erwähnenswert ist
insbesondere der ehrgeizige Band von Eckhard Jesse und Roland Sturm (2003).
Dieser ist einerseits sogar weiter dimensioniert als diese Studie, da er zusätzlich zu
den politischen Institutionen eine Reihe von Politikfeldern berücksichtigt. Andererseits werden darin gerade einige der wichtigsten politischen Institutionen in einen einzigen Beitrag mit dem Titel »Regierungssystem« gezwängt. Auf die Entwicklung einer spezielleren theoretischen Perspektive wird ebenso verzichtet wie
auf einen einheitlichen historisch-internationalen Vergleichsmaßstab. Beides hätte
sich im Rahmen eines Gemeinschaftswerkes von annähernd 20 Autoren freilich
kaum hätte realisieren lassen. Für eine andere, weniger fachwissenschaftlich interessierte Leserschaft konzipiert ist die vergleichend gehaltene Einführung in das
Regierungssystem der Bundesrepublik von Hartmann (2004).
EINLEITUNG
17
oder Landes »aus sich selbst heraus« enge Grenzen gesetzt sind.11 Gleichsam nebenbei wird ein spezifischer Mehrwert erzielt, insofern der Vergleich letztlich die Grundlage jeder rational betriebenen Institutionenreform bildet. Aus der historischen Analyse gewonnenen Einsichten kommt
dabei – so die zentrale These der Vertreter des »path dependence«-Paradigmas12 – eine zentrale Funktion vor allem mit Blick auf die Beurteilung der
real bestehenden Spielräume institutioneller Reformen innerhalb eines
Systems zu (vgl. exemplarisch Lehmbruch 2000a). Die aus dem international-vergleichenden Studium der Demokratie gewonnene Kenntnis alternativer institutioneller Lösungen und deren gesellschaftlichen und politischkulturellen Voraussetzungen hingegen bildet die eigentliche Essenz eines
transnationalen »policy learning« und jedweder erfahrungsbasierten Strategie des »institutional engineering« (Rose 1993; von Beyme 2001a, 2003a).
An dieser Stelle erscheint eine kurze Vergewisserung über den Bedeutungsgehalt des zweiten zentralen Begriffs aus dem Titel dieser Studie angezeigt: die liberale Demokratie. Wie alle genuin politischen Begriffe ist
auch derjenige der liberalen Demokratie ein umstrittener, ja nicht selten
geradezu umkämpfter Begriff (Göhler/Iser/Kerner 2004). Das gilt in nicht
geringem Maße selbst für den akademischen Sprachgebrauch.
Eine erste Möglichkeit zur inhaltlichen Bestimmung des Konzepts der
liberalen Demokratie ergibt sich aus einer Abgrenzung gegenüber dem,
was nicht als liberale Demokratie gelten soll. Den fundamentalen Gegensatz zur liberalen Demokratie, zur Demokratie überhaupt, verkörpert die
Autokratie (als Oberbegriff für totalitäre und autoritäre Systeme). Jenseits
dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Systemen gibt es unterschiedliche Differenzierungen innerhalb des Konzepts der Demokratie.
In der jüngeren Literatur erscheint die »liberale Demokratie« einerseits
als normatives Gegenmodell zur »republikanischen Demokratie« und zur
»deliberativen Demokratie« (Schultze 2004: 125). Dem kommunitären bzw.
——————
11 Ganz im Sinne des viel zitierten Ausspruchs des »Kronzeugen« der angelsächsischen Komparatistik, Rudyard Kipling, »and what should they know of England
who only England know?« (zit. bei King 1993: 415). Theoretisch beleuchtet wird
dieses Problem aus politikwissenschaftlicher Perspektive unter anderem bei Rose
(1991).
12 Eine der jüngeren »landmark publications« auf diesem Gebiet stammt von Pierson
(2004). Eine Differenzierung und problemorientierte Kritik unterschiedlicher Ansätze unter dem Dach des »path dependence«-Paradigmas leisten unter anderem
Beyer (2005) und Greener (2005).
18
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
basisdemokratischen Charakter von letzteren entspricht der realistische
und elitäre Charakter der liberalen Demokratie, welche auf eine Beschränkung der Beteiligung auf die Sphäre des Politischen, die Regulierung der
gesellschaftlichen Konflikte durch Repräsentation und ein Verständnis von
Demokratie als Methode zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen setzt (ebd.).
Ein ganz anderes Verständnis von liberaler Demokratie ergibt sich,
wenn diese – auf der Grundlage einer vergleichenden Bewertung der
Staatstätigkeit – als Gegenmodell zu einer sozialen Demokratie begriffen
wird. Liberale Demokratie erscheint dann als lediglich formale Demokratie,
die ihrer möglichen substantiellen und sozialen Komponenten entkleidet
ist (Streeck 1998: 13, 18). Aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts
betrachtet, ginge es bei der »Institutionalisierung der liberalen Demokratie«
dann gleichsam um den Aufbau und die Befestigung einer politischen
Ordnung, welche wohlfahrtsstaatliche Politik hinter sich lässt und zurückstrebt zu einer Konzeption von Staatlichkeit, die sich in politisch-materieller Hinsicht mehr oder minder auf die institutionelle Gewährleistung des
Schutzes der Bürger vor staatlichen Eingriffen beschränkt. Dies ist im
Kontext dieser Studie freilich nicht gemeint, wenn von liberaler Demokratie die Rede ist.
Bestimmend für diese Untersuchung ist vielmehr eine institutionenbezogene Konzeption von liberaler Demokratie, welche auf den beiden unterschiedlichen konstitutiven Elementen der liberalen Demokratie basiert
und dabei prinzipiell offen ist für unterschiedliche Ausgestaltungen von
Staatlichkeit auf der Ebene politisch-materieller Leistungen. Damit ein
System als liberale Demokratie, oder schlicht als liberal-demokratisch,
bezeichnet werden kann, müssen sowohl liberale als auch demokratische
Elemente in hinreichendem Umfang verwirklicht sein (Shell 1981; Holden
1993).
Im Zuge der Herausbildung des modernen demokratischen Verfassungsstaates wurden liberale Elemente früher und vollständiger verwirklicht als demokratische Elemente. Historisch ist deshalb der liberale Verfassungsstaat bedeutend älter als der demokratische Verfassungsstaat.
Selbst in den Vereinigten Staaten oder Frankreich, wo liberale und demokratische Elemente der Herrschaftsorganisation bzw. -ausübung gegen
Ende des 18. Jahrhunderts in einem Zuge geschaffen wurden13, blieb das
——————
13 Allerdings wurden die liberalen Komponenten der Verfassungsstaatlichkeit in
Frankreich und den USA – im Gegensatz zu späteren Entwicklungen – zunächst
EINLEITUNG
19
Recht auf demokratische Teilhabe vermittels Wahlen zunächst einem an
heutigen Maßstäben gemessen winzigen Teil der Bevölkerung vorbehalten.
Aus Sicht des frühen 21. Jahrhunderts würde man deshalb viele der bereits
lange als konsolidiert geltenden alten Demokratien bis in deren jüngere
Geschichte hinein nicht ohne Einschränkung als liberale Demokratien
bezeichnen wollen.
Nach dem in der Politikwissenschaft heute vorherrschenden Verständnis beziehen sich liberale Elemente indes keineswegs ausschließlich auf
Aspekte der konstitutionellen Begrenzung einer vor-demokratischen staatlichen Macht, sondern sind gewissermaßen selbst demokratisch geprägt:
»The term ›liberal‹ in ›liberal democracy‹ draws attention to two related features of
these political systems. First, their claim to democracy rests on responsiveness to
the wishes of the citizens, not to some vision of citizens’ best interests as defined
by the rulers or by some ideological system. Second, the wishes of a majority are
not to override all the political and civil rights of the minorities.« (Powell 2004:
205)
Liberale Demokratie meint somit nicht nur »limited government«, sondern
auch, und in nicht geringerem Maße, »limited democracy«.
In Teilen der jüngeren Demokratisierungsforschung wurde eine speziellere theoretische Perspektive auf die liberale Demokratie entwickelt, die
dem historischen Entstehungsverlauf demokratischer Verfassungsstaatlichkeit – mit dem spezifischen Vorsprung der Liberalisierung gegenüber
der Demokratisierung – genau entgegengesetzt ist. Ihre besondere Aufmerksamkeit liegt nicht auf dem Kriterium der Gewährleistung eines vollständig demokratischen Wahlrechts (als dem historisch letzten Stadium der
Entstehung der alten demokratischen Verfassungsstaaten), sondern auf der
Einbettung desselben in ein rechtsstaatliches Institutionensystem. Die
zentrale analytisch-theoretische Scheidelinie verläuft hier entlang des Gegensatzes zwischen »liberalen Demokratien« einerseits und (lediglich)
»elektoralen Demokratien« andererseits. Regime, in denen die Demokratie
abgekoppelt ist von den Prinzipien des liberalen Konstitutionalismus wurden explizit als eine Erscheinungsform von »illiberal democracy« klassifiziert (Zakaira 1997) – ein Typus, der im Hinblick auf die jüngere globale
Entwicklungsgeschichte der Demokratie in der Tat als eine problematische
——————
nicht primär als liberale Abwehrrechte gegenüber dem Staat begriffen; vielmehr
galt der Staat als Garant des Schutzes natürlicher, vorstaatlicher Freiheits- und Eigentumsrechte des Menschen.
20
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
»growth industry« erscheint (ebd.: 23). Weiter gehende konzeptionelle Differenzierungen wurden von Vertretern der deutschen Demokratisierungsforschung vorgeschlagen. So unterscheiden Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen
Puhle, Aurel Croissant, Claudia Eicher und Peter Thiery verschiedene
»Teilregime«, welche erst gemeinsam eine liberale Demokratie konstituieren. Für erforderlich gehalten werden neben dem »Wahlregime« insgesamt
vier weitere »Teilregime«: über den Wahlakt hinausgehende politische Teilhaberechte, bürgerliche Freiheitsrechte, horizontale Gewaltenteilungskontrolle sowie das Prinzip effektiver Regierungsgewalt (Merkel u.a. 2003: 48–
56).
Die in dieser Studie behandelten Regierungssysteme Westeuropas,
Nordamerikas und Japans lassen sich – bei allen Unterschieden14 – eindeutig als liberale Demokratien bezeichnen. In ihnen besitzen Freiheit und
Gleichheit, das Recht auf demokratische Beteiligung und zur Artikulation
abweichender, oppositioneller Standpunkte sowie das Prinzip politischer
Herrschaft auf Zeit einen unverkennbar hohen und nicht mehr prinzipiell
in Frage gezogenen Status.
Die weiteren Teile der Untersuchung umfassen insgesamt acht Kapitel
über einzelne Institutionen sowie ein breiter dimensioniertes Schlusskapitel. Im Zentrum der nächsten vier Kapitel stehen das Wahlrecht und das
Wahlsystem, auf deren Grundlage es zur Ermöglichung und Kanalisierung
demokratischer Beteiligung der Bevölkerung kommt, die politischen Parteien, die Interessengruppen und die Massenmedien als zentrale politische
Institutionen des gesellschaftlichen bzw. intermediären Bereichs. Die darauf folgenden vier Kapitel wenden sich den politischen Institutionen und
zentralen Akteuren auf der Ebene des staatlichen Entscheidungssystems
zu: dem Parlament, der Regierung und dem Staatsoberhaupt, der territorialen Staatsorganisation und der Verfassungsgerichtsbarkeit.
——————
14 Die deutlichsten Abweichungen vom üblichen Kanon institutioneller Merkmale
der liberalen Demokratie finden sich traditionell im britischen Westminster-System. Dieses kennt weder ein kodifiziertes System bürgerlicher Grundrechte noch
eine vollständig institutionalisierte Gewaltenteilung. Selbst das Prinzip der Volksherrschaft ist zugunsten der Doktrin der Parlamentssouveränität eigentümlich modifiziert. Vgl. grundlegend Brazier (1999). Stärker als in den anderen Demokratien
Westeuropas kam es in Großbritannien im Zuge der europäischen Integration jedoch zu nachhaltigen Veränderungen der zentralen Systemparameter, denen im
Ergebnis eine Annäherung an die auf dem Kontinent verbreiteten Ausprägungen
der liberalen Demokratie entspricht. Vgl. hierzu Bache/Jordan (2006).
EINLEITUNG
21
Zum Teil in bewusster Abkehr von der in der Literatur vorherrschenden Blickrichtung wird die jeweils im Zentrum eines Kapitels stehende
Institution konsequent als abhängige Variable behandelt. Die ausgeprägte
Interdependenz zwischen unterschiedlichen Institutionen wird damit nicht
geleugnet. Im Gegenteil; die systematische Differenzierung zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen schafft erst die Voraussetzung für
einen hinreichend präzisen analytischen Zugriff. Die jeweils nicht im Zentrum eines Kapitels stehenden Institutionen werden – im Wechselspiel der
Perspektiven – als potentiell bedeutende unabhängige Variablen betrachtet15 und dabei ergänzt um weitere, historische, soziopolitische und kulturelle Determinanten.
Wie andere Studien, muss sich auch diese in Selbstbeschränkung üben.
Das betrifft zunächst den thematischen Fokus. Zugunsten anderer Aspekte
wird auf eine eigenständige Behandlung der Grundrechte und Grundrechtsentwicklung verzichtet.16 Diese Entscheidung gründet freilich nicht
in der Einschätzung, dass es sich bei den Grundrechten um ein potentiell
entbehrliches Element der liberalen Demokratie handele, obwohl es eine
ganze Reihe von Beispielen für eine »verschleppte« oder unvollständige
Institutionalisierung bzw. Konstitutionalisierung von Grundrechten auch
aus der Familie der konsolidierten Demokratien gibt (Helms 2003a: 45–
46). Gerade mit Blick auf die deutsche Entwicklung müsste eine solche
Position als fragwürdig erscheinen. Nach einer historischen Periode, während derer die Grundrechte faktisch außer Kraft gesetzt waren, wurde
Deutschland zum Musterfall eines demokratischen Regimes, in dem die
Grundrechte einen herausragenden Status, im Falle der Menschenrechte
——————
15 Zum Teil im Sinne einzelner Komponenten der institutionellen Umwelt einer
Institution (so im Falle etwa des Wahlrechts und Wahlsystems in Bezug auf die
Parteien), üblicherweise aber im Sinne handlungsmächtiger Akteure, die Einfluss
auf die Kreation, Stabilisierung und/oder Veränderung einer Institution nehmen
(so etwa im Falle der Parteien mit Blick auf das Wahlrecht und das Wahlsystem).
In theoretischer Hinsicht wird dabei auf die Annahmen des »akteurzentrierten Institutionalismus« (Mayntz/Scharpf 1995; Scharpf 2000) rekurriert. Nach ihm werden die Handlungsressourcen von Akteuren selbst in hohem Maße von institutionellen Regeln (wie Partizipationsrechten, Vetorechten usw.) bestimmt, entfalten
ihre konkrete Wirkung jedoch erst im Zusammenspiel mit den spezifischen Wahrnehmungen und Präferenzen von Akteuren (Scharpf 2000: 86).
16 Verwiesen sei auf die historisch und international ausgreifenden Arbeiten unter
besonderer Berücksichtung der deutschen Entwicklung von Kleinheyer (1975) und
Grimm (1991) sowie speziell zur Bundesrepublik Pieroth/Schlink (2004).
22
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sogar eine einzigartige Position mit »Ewigkeitsgarantie« und »wehrhafter»
Flankierung genießen. Insbesondere die Frage nach den institutionellen
Grundlagen und Mechanismen des Demokratieschutzes hätte ohne Zweifel ein würdiges Schlusskapitel dieser Studie abgegeben. Nicht zuletzt mit
Rücksicht auf den beträchtlichen Umfang der zu diesem Gegenstand bereits vorliegenden Literatur17 wurde am Ende einem anderen Themenkomplex der Vorzug gegeben. So wendet sich das Schlusskapitel der Studie
dem Problem einer möglichen De-Institutionalisierung der liberalen Demokratie und den Wirkungen der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Internationalisierung auf diese zu.
Eine zweite Begrenzung betrifft die konkrete Ausgestaltung der internationalen Vergleichsdimension: Nur in einem Teil der Kapitel werden
sämtliche der in dieser Studie berücksichtigten Länder in die vergleichende
Betrachtung einbezogen. Das gilt ohne größere Einschränkungen für die
Kapitel über Wahlrecht und Wahlsysteme, Parteien, Interessengruppen
und die Medien. In den übrigen vier Kapiteln – über Parlamente, Regierungen und Staatsoberhäupter, Föderalismus und Verfassungsgerichtsbarkeit – kommen jeweils nur solche Länder ausführlicher zur Sprache, in
denen es »vergleichbare« (im Sinne von ähnliche) Strukturen wie in der
Bundesrepublik gibt.18 Obgleich weniger unmittelbar einsichtig als im Falle
der föderativen Institutionen und der Verfassungsgerichtsbarkeit (die es in
einigen Ländern aus der Familie der konsolidierten liberalen Demokratien
schlicht nicht gibt), gelten spezifische Vorbehalte auch für die Behandlung
der Gegenstände Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt. Ein auf diese
bezogener Vergleich der Bundesrepublik mit anderen konsolidierten liberalen Demokratien ist sinnvoller Weise auf die Gruppe der parlamentarischen Systeme zu konzentrieren. Andernfalls bestände die Gefahr, den
vergleichenden Betrachtungen allzu sehr den Charakter einer exemplari-
——————
17 Vgl. zur historischen Herausbildung der »wehrhaften Demokratie« in Deutschland
nach 1945 vor allem Fromme (1960: 164–223) und Scherb (1987); für unterschiedliche politikwissenschaftliche Perspektiven zum Thema Demokratieschutz, zum
Teil mit international vergleichendem Fokus, insbesondere Jesse (1980), Boventer
(1985), Jaschke (1992), Leggewie/Meier (1995), Backes (1998) und Glaeßner
(2003); für eine rechtswissenschaftliche Analyse mit zahlreichen weiteren Nachweisen Thiel (2003).
18 Nicht vollständig unberücksichtigt bleiben jedoch die ungeachtet bestehender
Strukturdifferenzen zum Teil existierenden Funktionsäquivalente wie beispielsweise im Falle der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Doktrin der Parlamentssourveränität. Vgl. Abromeit (1995).
EINLEITUNG
23
schen Auseinandersetzung mit den Merkmalen und Wirkungen der parlamentarischen und präsidentiellen Regierungsform zu geben.19 Einem strengen Begriffsverständnis nach gibt es im präsidentiellen Regierungssystem
weder ein Kabinett noch ein Parlament, stattdessen lediglich eine exklusiv
auf den Präsidenten zugeschnittene »executive branch« und eine Legislatur
(Lösche 1989: 119; von Beyme 1997: 53–56). So instruktiv ein deutschamerikanischer Vergleich zum Verständnis der Systemunterschiede zwischen Parlamentarismus und Präsidentialismus ist (vgl. Thaysen/
Davidson/Livingston 1988; Dittgen 1999; Helms 2003b; Dann 2006), so
liegt er doch quer zu dem spezielleren Vergleichsanspruch dieser Studie,
welche in ihren Einzelteilen auf die Prämissen des »single-most-cases designs« gebaut ist.
Dies ist auch der Grund, warum auf eine vergleichende Einbeziehung
der jungen Demokratien, vor allem Mittel- und Osteuropas, verzichtet
wurde. Hinzugekommen wären spezifische »analytische Schieflagen«: Synchrone Vergleiche könnten sich nur auf Ostdeutschland, nicht auf
Deutschland als Ganzes, beziehen. Die besonderen Bedingungen der Institutionalisierung der Demokratie in Ostdeutschland – der eigentümliche
West-Ost-Transfer der staatlichen Institutionenordnung und von Teilen
des stärker gesellschaftlich bestimmten Institutionensystems wie des Parteiensystems – sind im Übrigen selbst mit den Konstitutionalisierungs- und
Institutionalisierungsprozessen in Osteuropa nicht wirklich sinnvoll vergleichbar.20 Der denkbare diachrone Vergleich der frühen Bundesrepublik
mit den jungen Demokratien der Gegenwart hingegen läge quer zum
grundlegenden Analysekonzept der Studie, welches darauf ausgerichtet ist,
internationale »Wegbereiter« und »Spätentwickler«, Diffusions- und Adaptionsprozesse der Demokratieentwicklung aus einer synchron gestimmten
Vergleichsperspektive zu identifizieren und zu analysieren. Das Pendant zu
dieser Untersuchung wäre eine breit angelegte Studie, in der Ostdeutschland nicht lediglich mit den osteuropäischen, sondern auch mit außereuro-
——————
19 An einschlägigen Arbeiten herrscht wahrlich kein Mangel. Vgl. etwa Steffani
(1983), Lijphart (1992), Stepan/Skach (1993), Linz/Valenzuela (1994), Riggs
(1997), Dahl (1997), Siaroff (2003) und Esterbauer (2004).
20 Etwas anderes gilt für die Entwicklung der »politisch-kulturellen Institutionalisierung« der Demokratie in Ostdeutschland und den Ländern Osteuropas, deren vergleichender Analyse sich vor allem die Kultursoziologie angenommen hat. Vgl.
statt vieler Pickel u.a. (2006).
24
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
päischen »Transitionsstaaten« und »Transitionsgesellschaften« verglichen
würde. Sie ist noch zu schreiben.
2 Wahlrecht und Wahlsystem:
Die institutionellen Filter politischer
Repräsentation
Keine Konzeption von repräsentativer Demokratie ist denkbar ohne die
Möglichkeit politischer Beteiligung des Volkes in Form von Wahlen. Entsprechend zentral für die institutionelle Dimension liberaler Demokratie
sind das Wahlrecht und das Wahlsystem. Beide Begriffe sind miteinander
verwandt, aber nicht deckungsgleich. Nach heute vorherrschendem Verständnis ist der Begriff des Wahlrechts bedeutend weiter dimensioniert als
der des Wahlsystems. Er umfasst alle rechtlich in der Verfassung, in Wahlgesetzen und Wahlordnungen fixierten Normen, die die Wahlen von Körperschaften oder Amtsträgern regeln. Dabei geht es unter anderem um die
Frage, wem das aktive oder passive Wahlrecht unter welchen Bedingungen
zugestanden wird. Demgegenüber bilden Wahlsysteme nur einen Ausschnitt des umfassenderen Wahlrechts. Technisch gesprochen beinhalten
sie den Modus, nach dem die Wähler ihre Partei- bzw. Kandidatenpräferenz in Stimmen ausdrücken und diese in Mandate übertragen werden.
Aber dies hat weitreichende politische Implikationen: »Electoral systems
are the practical instruments through which notions such as consent and
representation are translated into reality« (Bogdanor 1983: 1).
Da die Existenz eines allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten
Wahlrechts weithin zu den institutionellen Grundvoraussetzungen der
liberalen Demokratie gezählt und in den konsolidierten liberal-demokratischen Systemen folglich als gleichsam selbstverständlich vorausgesetzt
wird, interessiert sich die Politikwissenschaft im Rahmen ihrer Beschäftigung mit den heute konsolidierten Demokratien (im Gegensatz zur Demokratisierungsforschung) kaum mehr für Fragen des Wahlrechts im engeren Sinne. Ausnahmen betreffen am ehesten speziellere Aspekte wahlrechtlicher Reformoptionen wie beispielsweise die Absenkung des Wahlalters oder die Einführung eines »Elternwahlrechts«21 oder Studien mit
——————
21 Vgl. hierzu mit zahlreichen weiteren Hinweisen Westle (2006).
26
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
breitem historischem Fokus.22 Unvergleichlich größer war und ist das Interesse der internationalen Politikwissenschaft an Wahlsystemen. Dabei galt
die Wahlsystemforschung lange Zeit als ein auffallend unterentwickelter
Forschungsbereich (Lijphart 1985: 3). Heute zählt die Beschäftigung mit
Wahlsystemfragen hingegen nach einhelligem Urteil zu den vollständig
etablierten Bereichen der Demokratieforschung (Lijphart 2005: xii; Shugart
2005: 50–51), deren Befunden sogar eine weit überdurchschnittliche Aufmerksamkeit auf Seiten politischer Entscheidungsträger zuteil wird.
Wie andere politische Institutionen können Wahlsysteme entweder als
abhängige oder als unabhängige Variable studiert werden. Die vergangenen
Jahrzehnte der internationalen Forschung wurden von Arbeiten dominiert,
die dem Wahlsystemen den Status einer unabhängigen Variable zuwiesen
und dabei insbesondere nach den Auswirkungen von Wahlsystemen auf
das Parteiensystem fragten. Einen Meilenstein dieser Forschungsrichtung
bildet die rasch zum internationalen Referenzwerk aufgestiegene Studie
Maurice Duvergers (1959), in der sogar gesetzmäßige Beziehungsmuster
zwischen bestimmten Wahlsystemen und Parteiensystemen identifiziert
wurden (ebd.: 219). Die vor dem Hintergrund einer mächtigen Demokratisierungswelle ausgreifend geführte »constitutional engineering«-Debatte
der neunziger Jahre bekräftigte die »eindimensionale Fragerichtung«
(Nohlen 2000: 416) nochmals (vgl. insbesondere Sartori 1994: 27–79). In
jüngeren Beiträgen dieser Richtung bildet indes keineswegs immer das
Parteiensystem die zentrale zu erklärende Variable; alternativ wurden etwa
die möglichen Wirkungen unterschiedlicher Wahlsysteme auf die Wahlbeteiligung, »gender«-bezogene Aspekte der Elitenrekrutierung oder den
Zusammenhalt politischer Parteien im Parlament untersucht (Franklin
2004; Norris 2004; Gallagher 2005). Seit kürzerem zeichnet sich eine internationale Trendwende hin zu ausgeglicheneren Perspektiven ab. Sofern
nicht gar explizit nach der Prägewirkung des Parteiensystems auf das
Wahlsystem (Colomer 2005) oder den Determinanten des historischen
Wandels von Wahlsystemen bzw. den Tendenzen der Wahlsystement-
——————
22 Erwähnt sei die große Studie Buchsteins (2000), in der dieser den aufwendigen
Nachweis führt, dass die Annahme eines gleichsam »natürlichen« Zusammenhangs
zwischen Demokratie und geheimer Wahl sowohl in historischer als auch ideengeschichtlicher Hinsicht weitgehend der Grundlage entbehrt und lediglich Ausdruck
einer modernen liberalen Perspektive ist. Vor allem in den USA wurde die öffentliche Abstimmung historisch von jenen politischen Kräften, die auf Demokratisierung drängten, nicht nur nicht bekämpft, sondern sogar forciert.
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
27
wicklung (Boix 1999; Benoit 2004; Lundell 2005; Nohlen 2005) gefragt
wird, werden Einflüsse auf das Wahlsystem und Wirkungen des Wahlsystems zumindest in etwa gleichberechtigt behandelt (Gallagher/Mitchell
2005).23
Die weiteren Ausführungen knüpfen an diesem zweiten, jüngeren Entwicklungsstrang der internationalen Wahlsystemliteratur an, indem sie sich
dem vergleichenden Studium der zentralen Charakteristika und Determinanten von Wahlsystemen zuwenden.24 Diese Analyse ist eingebettet in
einen Abriss der historischen Evolution von Wahlsystemen und der Ausbreitung des demokratischen Wahlrechts.
2.1 Die Ausbreitung des demokratischen Wahlrechts und
die Frühgeschichte der Wahlsystementwicklung
2.1.1
Die historische Ausbreitung des Wahlrechts
Die Evolutionsgeschichte des demokratischen Wahlrechts in den heute
konsolidierten Demokratien folgte keinem einheitlichen Muster. Unterschiedlich war nicht nur der Zeitpunkt, zu dem das allgemeine und gleiche
Wahlrecht schließlich eingeführt wurde, sondern auch die historische Entwicklungsdynamik, die zu diesem Ziel führte. Jene Länder, in denen es
zuerst zu einer – freilich zunächst begrenzten – Ausweitung demokratischer Partizipationsrechte kam, waren keineswegs jene, in denen das allgemeine Wahlrecht schließlich ohne Einschränkungen25 als erstes verwirklicht wurde. Das gilt schon für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts
für Männer, während die vollständige Einbeziehung der weiblichen Bevölkerung in den Kreis der Wahlberechtigten durch noch bemerkenswertere
——————
23 Freilich bauen auch diese Arbeiten auf wichtigen älteren Studien dieser Richtung
(etwa Rokkan 1970; Bogdanor/Butler 1983), die jedoch weitgehend im Schatten
des Duverger’schen Paradigmas verblieben.
24 Die Wirkungen von Wahlsystemen werden im Rahmen dieser Untersuchung zum
Teil in Kapitel 3 über Parteien und Parteiensysteme behandelt. Vgl. für eine detailliertere Analyse der spezifischen Wirkungen des Wahlsystems auf das Parteiensystem der Bundesrepublik statt vieler Cappoccia (2002).
25 Unberücksichtigt in dieser Aussage bleibt eine Reihe speziellerer Beschränkungen,
von denen einige weiter unten anzusprechen sind (vgl. Abschnitt 2.3 und 8.2.3).
28
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
landesspezifische Entwicklungen und historische Diskrepanzen gekennzeichnet war.
Trotz aller regionalen Unterschiede der internationalen Wahlrechtsentwicklung, von denen einige sogleich zu beleuchten sind, gab es grundlegende länderübergreifende Gemeinsamkeiten. Dazu gehörten nicht zuletzt
die mit unterschiedlicher Akzentuierung vorgetragenen Begründungen für
die Vorenthaltung bzw. Beschränkung der allgemeinen und gleichen Wahl
sowie die konkreten Mechanismen zu deren Verhinderung. Während es bei
der Nichtgewährung eines unbeschränkten Wahlrechts darum ging, den
Wohlstand und die Macht der herrschenden Klasse zu sichern, konzentrierten sich die öffentlich formulierten Begründungen hierfür auf unterschiedliche Aspekte materiellen Eigentums. Zum einen wurde der Besitz
von Eigentum bzw. die Fähigkeit zu dessen Erwerb als Nachweis allgemeiner intellektueller Befähigung hingestellt; zum anderen wurde argumentiert, dass nur die ökonomisch unabhängige Klasse über hinreichend
Zeit verfüge, um die Entwicklungen des Gemeinwesens in einem Maße zu
verfolgen, welches eine rationale Wahlentscheidung erst ermögliche. Einem weiteren Argument zufolge war mit materiellem Wohlstand, der potentiell dem Gemeinwesen zugute komme, zugleich aber durch dieses gefährdet werden könne, geradezu ein Recht auf überproportionale politische
Mitentscheidung verbunden. Noch zweifelhafter war eine vierte Begründung: Nur der Wohlhabende sei so frei von Eigeninteresse, dass er verantwortliche Entscheidungen für das Gemeinwesen als Ganzes treffen könne
(Goldstein 1983: 6–7).
Die wichtigsten Mechanismen zur institutionellen Verhinderung einer
unbeschränkt allgemeinen und gleichen Wahl bestanden neben der Knüpfung des Wahlrechts an beträchtliches Vermögen oder einen Mindestbildungsstandard in der Gewährung zusätzlicher Stimmen für Besitz und
Bildung, der Nicht-Gewährleistung der geheimen Wahl sowie der Festsetzung eines bestimmten Mindestwahlalters. Letzteres war insoweit klassenspezifisch diskriminierend, als die durchschnittliche Lebenserwartung von
Arbeitern eine deutlich geringere war als jene von Mitgliedern der besitzenden Schicht. Die unterschiedlichen Mechanismen konnten im Einzelfall
auf delikate Weise miteinander verknüpft sein. So wurde in Italien zwischen 1860 und 1912 von potentiell wahlberechtigten Männern ein Nachweis der Lesefähigkeit und über die Entrichtung eines Minimums an direkten Steuern gefordert. In Schweden wurde 1909 zwar das vermögensbezogene Kriterium der Wahlberechtigung gelockert, aber zur Kompensa-
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
29
tion des damit verbundenen Effekts zugleich das Mindestwahlalter von 21
auf 25 Jahre hoch gesetzt (ebd.: 8, 17).
Die historischen Wege der heutigen konsolidierten liberalen Demokratien in das Reich eines vollständig demokratisierten Wahlrechts verliefen
im Einzelnen sehr unterschiedlich. Die Vereinigten Staaten waren das erste
Land, in dem es – abgesehen von den spezifischen Diskriminierungen der
schwarzen Bevölkerung – bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, um
1830, zur flächendeckenden Verbreitung des demokratischen Wahlrechts
für die männliche Bevölkerung kam.26 Wie später in Europa ging es dabei
auch in den USA zunächst um die Wahl der ersten Kammer der Legislative. Allerdings wurde das Recht zu demokratischer Beteiligung schon bald
auf die Wahl weiterer staatlicher Organe und Amtsträger ausgedehnt.
Wie Samuel Huntington (1968: 93–129) in seiner großen Studie über
die Institutionalisierung politischer Institutionen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten gezeigt hat, kann aus der frühen Demokratisierung des Wahlrechts keineswegs geschlossen werden, dass es in den USA
bedeutend früher als in Europa zu einer grundlegenden politischen Modernisierung kam. In der Tat ist eher das Gegenteil richtig. Entwicklungen
in Richtung einer Rationalisierung bzw. Zentralisierung von Herrschaft
und einer Ausdifferenzierung der dazugehörigen Strukturen gab es zuerst
(und lange Zeit nur) in Europa. Ausschlaggebend dafür waren vor allem
die außerordentlich verbreitete Erfahrung des Krieges und das von ihr
genährte Bedürfnis nach einer starken, zentralisierten Herrschaftsorganisation mit einem hinreichenden Potential zur Führung und Kontrolle großer
militärischer Verbände. Hinzu kamen tief greifende, klassenbezogene gesellschaftliche Konflikte über die grundlegende Organisation staatlicher
——————
26 Der Frage, ob das Wahlrecht in der Tradition der klassischen englischen Parlamentstheorie als Konnexinstitut des Eigentumsrechts oder aber im Sinne des Naturrechts, welches das Wahlrecht als eine Erscheinungsform der allgemeinen Menschenrechte begreift, gesehen werden sollte, gingen die Verfassungsväter aus dem
Weg, indem sie die Regelung des Wahlrechts weitgehend der Zuständigkeit der
Einzelstaaten überließen. Einfluss auf die landesweite Wahlrechtsentwicklung
wurde von Washington aus jedoch über eine Reihe grundlegender Verfassungsänderungen genommen. Im Hinblick auf die Demokratisierung des Wahlrechts für
die männliche schwarze Bevölkerung kam dem 15. Amendment (1870) überragende Bedeutung zu. Als Reaktion auf die Politik einiger Einzelstaaten, das Wahlrecht an die Zahlung einer »poll tax« oder aber eine »ererbte« Befreiung von dieser
zu knüpfen, kam es mit dem 24. Amendment (1964) zu einer weiteren Maßnahme,
durch die solche Praktiken ausnahmslos für verfassungswidrig erklärt wurden.
30
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Herrschaft. Dabei erschien die Zentralisierung von Macht aus der Perspektive progressiv gesinnter Kräfte gleichsam als Voraussetzung für die
Zerschlagung der traditionellen Herrschaftsordnung. Beide Impulse fehlten
in den Vereinigten Staaten. Der Prozess der Demokratisierung vollzog sich
folglich im Rahmen der alt hergebrachten, stark gewaltenteilig angelegten
Tudor-Institutionen. Ein wenig zuspitzend lässt sich festhalten: Gerade die
Nicht-Zentralisierung der traditionellen Herrschaftsorganisation begünstigte (im Zusammenspiel mit dem vergleichsweise hohen Maß an klassenbezogener Homogenität der amerikanischen Gesellschaft) ihre frühe und
expansive Demokratisierung.
Grundlegende Differenzen treten jedoch nicht nur im Rahmen eines
transatlantischen Vergleichs der Wahlrechtsentwicklung zutage. Auch die
Entwicklungen innerhalb Europas weisen bemerkenswerte Unterschiede
zwischen Ländern auf. Ausgesprochen langwierig waren die einschlägigen
Entwicklungsprozesse in Großbritannien. Dort dauerte es von der Großen
Wahlsystemreform des Jahres 1832 bis zur Gewährleistung eines unbeschränkten Wahlrechts für die gesamte männliche Bevölkerung des Landes
mehr als weitere 80 Jahre, bis 1918. Allerdings verlief dieser Prozess stetig
und ohne nennenswerte Rückschritte. Ungewöhnlich schnell hingegen ging
die Schaffung eines zunächst noch vielfältig konditionierten, schließlich
aber vollständig demokratisierten Wahlrechts in Frankreich vor sich. Dort
wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer nach einer nur vierjährigen
Transformationsphase bereits 1848 verwirklicht. Die anderen europäischen
Länder fielen zwischen diese beiden Extreme (Rokkan 1970: 149–150).
Frankreich ist indes nicht nur jenes Land mit der rasantesten historischen Entwicklungsdynamik; es belegt auch hinsichtlich des Zeitpunkts der
Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer einen Spitzenplatz.
Die Skala für die heute konsolidierten liberalen Demokratien erstreckt sich
von 1848 (Frankreich, Dänemark, Schweiz) bis in die zwanziger Jahre des
20. Jahrhunderts (Kanada 1920, Schweden 1921, Japan 1925). Generell gilt:
Je später das allgemeine Wahlrecht für die männliche Bevölkerung verwirklicht wurde, umso kürzer war der zeitliche Abstand zur Einführung
des allgemeinen Wahlrechts für Frauen. So wurde in Kanada und Schweden das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen gleichzeitig eingeführt. Das extreme Gegenbeispiel verkörpert die Schweiz, wo es zu einer
Ergänzung des bereits 1848 geschaffenen Wahlrechts für Männer durch
das Wahlrecht für Frauen erst mit einer spektakulären Verzögerung von
mehr als hundertzwanzig Jahren (1971) kam.
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
31
Deutschland gehörte im Hinblick auf die Einführung des allgemeinen
Wahlrechts für Männer geradezu zu den Pionieren und überdies zu jener
Gruppe von Ländern, in denen dieser Prozess besonders zügig verlief.
Wäre es nach dem Willen der Paulskirchen-Versammlung gegangen, hätte
es ein allgemeines Wahlrecht für den männlichen Teil der deutschen Bevölkerung bereits 1848 gegeben. Aber auch die um gut zwei Jahrzehnte
verschobene Umsetzung dieser Pläne im Zuge der Schaffung des Norddeutschen Bundes (1869) bzw. des Deutschen Reichs (1871) sicherte
Deutschland in der Wahlrechtsfrage noch einen Platz in der Gruppe der
»Frühstarter«.
Der deutsche Fall erinnert daran, dass die Demokratisierung des Wahlrechts weder gleichbedeutend mit einer Demokratisierung politischer Herrschaft ist noch notwendigerweise den Schlussstein des historischen Entwicklungsprozesses hin zu einer parlamentarischen Demokratie bilden
muss. Tatsächlich fielen die einzelnen Entwicklungsschritte, die schließlich
zur Konstituierung vollständig demokratisierter parlamentarischer Systeme
führten, in kaum einem der älteren demokratischen Verfassungsstaaten
zeitlich exakt zusammen.27 Angesichts der konkreten Interessenlage der
politisch-gesellschaftlichen Kräfte, die für bestimmte Reformen eintraten,
kann das verbreitete Auseinanderfallen von Parlamentarisierung und Demokratisierung kaum überraschen.
»The groups which pressed for early parliamentary influence generally did not
favour a franchise extension. Regardless of whether they were the leaders of liberal
or conservative parties, they essentially were the representatives of upper- and
upper-middle-class interests. As such, they tried to postpone suffrage extension
since a broadening of the franchise was viewed as a change that would benefit
working-class and socialist parties. In countries in which bourgeois parties did not
achieve any notable successes in establishing their influence over the executive
until late in the nineteenth century, they often had to join formal or informal coali-
——————
27 Während in Großbritannien, aber auch in Belgien und den Niederlanden die
schrittweise Ausweitung von Partizipationsrechten die bereits bestehende parlamentarische Ordnung Stück für Stück demokratisierte, folgte in Deutschland wie
in Dänemark die Parlamentarisierung der politischen Ordnung, im Sinne einer
parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung, der Installation eines allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts erst mit großem zeitlichen Abstand nach.
Zu den wenigen westeuropäischen Ländern, in denen die Parlamentarisierung des
Systems und die Einführung eines demokratischen Wahlrechts zeitlich zusammen
fielen, gehört Irland. Vgl. Kohl (1983: 396–397).
32
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
tions with representatives of groups agitating for universal suffrage in order to do
so.« (Gerlich 1973: 107–108)
Der deutsche Fall zeigt überdies, dass es einen alternativen Weg zur Demokratisierung des Wahlrechts in Abwesenheit einer parlamentarisierten
Herrschaftsordnung gab, der nicht aus dem späten Zusammenschluss
konservativer und fortschrittlich gesinnter Kräfte entsprang, sondern eher
das Ergebnis spezifischer Erwägungen einer konservativen Machtelite war.
Dabei ging es schwerlich um die Verwirklichung der Idee der Volkssouveränität. Ausschlaggebend für die »Gewährung« eines demokratischen
Wahlrechts in Deutschland zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts waren vielmehr unterschiedliche innen- und außenpolitische Motive,
insbesondere die Erwartung, die Obrigkeitstreue der Landbevölkerung als
Gegengewicht zum liberalen Bürgertum zu installieren und die Hoffnung,
auf der Grundlage der Gewährung des allgemeinen Männerwahlrechts
gezielt die nationale Einigung, unter Trennung von Österreich, voranzutreiben (Jesse 1985: 51). Im internationalen Vergleich bildet Deutschland
damit zwar einen besonderen Fall, aber keinen Einzelfall. Auch in einigen
anderen Ländern mit etablierten dynastischen Autokratien, wie Dänemark
oder Österreich, kam es zu überdurchschnittlich weitreichenden Wahlrechtsreformen, und auch in diesen Ländern ging es den Machthabern im
Wesentlichen darum, der bestehenden Ordnung durch ein demokratisiertes
Wahlrecht ein gewisses Maß an plebiszitärer Legitimation zu verschaffen,
die nicht mit einer Demokratisierung der Kontrolle der Auswahl und Rekrutierung der Herrschaftselite »bezahlt« werden musste (Bartolini 2000:
129).
Als es in Deutschland gegen Ende des Ersten Weltkrieges schließlich
zum Durchbruch der parlamentarischen Demokratie kam (vgl. Abschnitt
6.1), wurde der Regimewechsel zugleich zum Anlass, um auch den weiblichen Teil der Bevölkerung mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht
auszustatten. Hinsichtlich des Zeitpunktes der Ausweitung des allgemeinen
Wahlrechts auf die weibliche Bevölkerung belegt Deutschland im internationalen Vergleich zwar keinen führenden, aber einen respektablen Platz
im oberen Mittelfeld der liberalen Demokratien – hinter Ländern wie Neuseeland (1893), Finnland (1906) oder Australien (1908), aber weit vor der
Schweiz (1971), Portugal (1974), Griechenland (1952), Japan (1947) oder
selbst Frankreich (1946) und Großbritannien (1928).
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
2.1.2
33
Die Evolutionsgeschichte von Wahlsystemen
Welches waren die maßgeblichen Wegmarken und Ergebnisse der Evolutionsgeschichte von Wahlsystemen in den heute konsolidierten Demokratien? Analog zu den Entwicklungsprozessen in vielen anderen Bereichen
politischer Systeme verlief die Entwicklung von Wahlsystemen in Richtung
einer stetigen Ausdifferenzierung institutioneller Profile, welche im nächsten Abschnitt genauer zu betrachten sind. Hier soll es zunächst nur um die
grundlegende Unterscheidung zwischen Mehrheitswahlsystemen und Verhältniswahlsystemen und um die großen historischen Entwicklungstrends
gehen. Selbst dieser vereinfachende Zugriff macht es erforderlich, sich
kurz über das maßgebliche Definitionskriterium von Wahlsystemen zu
verständigen.
Als Definitionskriterien von Wahlsystemen kommen grundsätzlich die
Entscheidungsregel oder aber das Repräsentationsziel in Betracht. Politisch
bedeutsamer ist das Repräsentationsziel, also das Ergebnis, das angestrebt
wird bzw. zu erwarten ist. Es besitzt nicht selten Verfassungsrang. Daran
gemessen ist die Entscheidungsregel, mittels derer ein bezeichnetes Ziel
verfolgt wird, zweitrangig. Die enorme Vielfalt von Wahlsystemen der
Welt ist zum einen Ergebnis der unterschiedlichen Ausgestaltung und
Kombination von Entscheidungsregeln, zum anderen der Möglichkeit
unterschiedlicher Kombinationen zwischen Repräsentationsprinzip und
Entscheidungsregel geschuldet.
Den meisten international gängigen Typologien von Wahlsystemen, die
das Repräsentationsziel als Primärmerkmal eines Wahlsystems akzeptieren,
ist ein dualistischer Zug eigen (vgl. Sartori 1994: 53; Lijphart 1999: 143–
144; Nohlen 2000: 133–134). Das Repräsentationsziel von Mehrheitssystemen besteht in der Ermöglichung bzw. Beförderung einer möglichst
reibungslosen Mehrheitsbildung, dasjenige von Verhältniswahlsystemen
hingegen in der möglichst getreuen Abbildung der wahlstimmenbezogenen
Kräfteverhältnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen.
Was die Entwicklungsgeschichte von Wahlsystemen in den heute konsolidierten Demokratien betrifft, so gilt: Am Anfang war die Mehrheitswahl. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts befanden sich ausschließlich
Mehrheitswahlsysteme in Anwendung, und zwar sowohl in jenen Ländern
mit (noch mehr oder minder) beschränktem als auch in solchen mit (bereits mehr oder minder) universell ausgestaltetem Wahlrecht. Im Zuge der
graduellen Ausweitung des demokratischen Wahlrechts und der Entste-
34
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
hung moderner Massenparteien kam es jedoch bald zu Veränderungen auf
der Ebene von Wahlsystemen. Vor der Wende zum 20. Jahrhundert vollzogen nur Dänemark (1855) und Belgien (1899) den Wechsel zum Verhältniswahlrecht. Zu einer Phase ausgeprägten Wandels wurde das zweite
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Bis 1920 hatten sich Verhältniswahlsysteme in sämtlichen kleineren westeuropäischen Ländern, außerdem in
Italien und Deutschland durchgesetzt. Ihre natürliche Heimat fanden
Mehrheitswahlsysteme über den Ersten Weltkrieg hinaus in den angelsächsischen Staaten.
Wie erklärt die historisch-vergleichend orientierte Wahlsystemforschung diese Dynamik? Bei den frühen Klassikern der international vergleichenden Wahlsystemforschung, wie Karl Braunias (1932) und Stein
Rokkan (1970: 147–247), erscheint als zentrales Motiv für den frühen
Übergang zum Verhältniswahlrecht in Ländern wie Dänemark und Belgien
sowie in einigen der Schweizer Kantone das Bestreben, eine angemessene
Repräsentation ethnischer, religiöser und/oder politischer Minderheiten zu
gewährleisten. Dies wurde als notwendig erachtet, um über die gezielte
Integration der betreffenden Gruppen in das jeweilige Gemeinwesen dessen territoriale und politische Konsolidierung zu ermöglichen. Für die
zweite, regional deutlich weiter dimensionierte Welle der Ausbreitung von
Verhältniswahlsystemen, die nun auch Länder ohne ausgeprägten kulturellen Fragmentierungsgrad erfasste, war hingegen vor allem das verbreitete
Erstarken der Arbeiterklasse bzw. Arbeiterbewegung, ihr Drängen auf
Verwirklichung des politischen Gleichheitsprinzips, verantwortlich. Die
maßgeblichen Entscheidungen zur Reform der bestehenden Wahlrechtsregime mussten freilich von den machthabenden Eliten getroffen werden.
Für die von der drohenden sozialistischen Umwälzung am stärksten gefährdeten bürgerlich-konservativen Kräfte konnte das Verhältniswahlrecht
vor dem Hintergrund einer sich formierenden und zunehmend mobilisierten Massenwählerschaft ebenfalls als erstrebenswerte Option erscheinen.
Wie Stein Rokkan mit Blick auf die Einführung listengestützter Verhältniswahlsysteme in Kontinentaleuropa feststellte: »The parties wanted to
survive and saw that they rated the best chances under a system that would
allow them not only to control nominations but also to gain representation
even when in minority« (Rokkan 1970: 162).
Die jüngere, statistisch-empirisch orientierte Wahlsystemforschung
konnte einige der älteren Bewertungen konkretisieren. Nach den Befunden
von Carles Boix (1999) stellt das Zusammenwirken der jeweiligen Stärke
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
35
sozialistischer Gruppierungen und der Anzahl alter, nicht-sozialistischer
Parteien bzw. das daraus resultierende Maß an Bedrohung auf Seiten der
herrschenden politischen Elite den entscheidenden Faktor dar. Dabei gilt:
Je höher das Ausmaß an empfundener Bedrohung, desto geringer die im
Zuge der Wahlsystemreform geschaffene effektive Sperrklausel (»effective
electoral threshold«). Deutschland erscheint dabei geradezu als ein paradigmatischer Fall, der durch eine starke Fragmentierung des konservativen
Lagers und eine ungewöhnlich starke sozialdemokratische Partei gekennzeichnet ist. Im Gegensatz dazu konnte in Großbritannien eine der beiden
maßgeblichen bürgerlichen Parteien (die Conservative Party) auch unter
Beibehaltung des Mehrheitswahlrechts die berechtigte Erwartung hegen,
als dominanter Akteur zu bestehen; sie votierte folglich nicht für die Einführung eines Verhältniswahlsystems. Als weitere wichtige Variable, durch
die der Effekt der Fragmentierung des konservativen Parteienlagers entscheidend modifiziert wird, erscheint die Größe eines Landes: Die politischen Eliten kleiner Länder führten die Verhältniswahl ein, um ethnische
und religiöse Minderheiten gebührend in den politischen Partizipationsprozess einzubinden. In diesen Ländern, die zumeist durch eine »flächendeckende« Präsenz von Konfliktlinien religiöser und manchmal ethnischer
Natur geprägt waren, hätte die Aufrechterhaltung der Mehrheitswahl eindeutig die stärkste Minderheit begünstigt. In flächenmäßig großen Ländern
mit ausgeprägter regionaler Konzentration religiöser, sprachlicher oder
anderer Minderheiten (wie Australien, Kanada und den USA) wurde die
Verhältniswahl als Mechanismus für die Gewähr angemessener politischer
Beteiligung signifikanter Minderheiten hingegen für entbehrlich gehalten
(ebd.: 620–621). Entscheidend ist aber nicht lediglich die flächenmäßige
Größe des Landes, sondern auch dessen territoriale Organisationsstruktur:
»Even if a country is extremely heterogenous at the national level, if its regions and
local districts are rather homoegeneous, a different set of mechanisms – such as
federalism and a strict separation of powers – can secure the representation of
political minorities and hence make PR superflous. In short, under certain conditions, federalism operates as a (quasi-perfect) substitute for PR and minimizes the
potential pressures to abandon a plurality/majority system.« (Boix 1999: 621)
Dass dem strategisch motivierten Handeln von Akteuren in den unterschiedlichen Rekonstruktionsversuchen der Entwicklungsgeschichte von
Wahlsystemen ein solch prominenter Status zugestanden wird, kann angesichts des ausgeprägten Charakters von Wahlsystemen als »redistributiven
Institutionen« nicht überraschen (Benoit 2004: 366–367). Stärker als in
36
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
vielen anderen Bereichen politischer Institutionenreform geht es bei der
Durchsetzung oder Verhinderung von Wahlsystemreformen um Machtpolitik in konzentrierter Form. Trotzdem kann machtpolitisch motiviertes
strategisches Handeln politischer Akteure allein die Entstehung von Wahlsystemen nicht vollständig erklären. Zunächst gibt es zweifelsohne grundlegende »cultural affinities« zwischen unterschiedlichen politischen Kulturen und Wahlsystemen (Horowitz 2003: 120). Ebenfalls ein eigenständiges
Gewicht besitzen historische Erfahrungen; sie konstituieren gleichsam
einen »Handlungskorridor«, durch den die theoretisch möglichen Handlungsoptionen in der Verfassungspraxis faktisch eingeschränkt oder zumindest bestimmte Lösungen begünstigt werden (Carstairs 1980: 213–214).
Die Befunde der internationalen Forschung suggerieren zudem, dass
grundlegende politische Normen (die wiederum die Strategiewahl von
Akteuren beeinflussen) ebenfalls eine wichtige Rolle spielen
(Blais/Massicotte 1997: 117). Dazu zählt insbesondere die Möglichkeit,
dass handlungsmächtige politische Akteure einen Sinn für allgemeinere
demokratische, gerade nicht machtpolitisch geprägte Werte besitzen und
diesen im Rahmen von Wahlsystemreformerwägungen einen zentralen
Stellenwert zuerkennen (Katz 2005: 68–69).28 Speziell für jene Systeme, in
denen es sehr früh zu grundlegenden, seither im Kern nicht mehr revidierten Entscheidungen über das Wahlsystem kam, lässt sich bezweifeln,
ob überhaupt sinnvoll von gezieltem strategischen Handeln der maßgeblichen politischen Eliten gesprochen werden kann.
»[I]n a few cases, there was simply no ›moment of choice‹: decision-makers in
Canada, the UK, and the USA were hardly aware that they had ›chosen‹ an electoral system when contested elections began to take place in the nineteenth century
or earlier, as awareness of other options, not to mention knowledge of any ›laws‹
linking electoral systems to likely consequences, was very low.« (Gallagher 2005:
538–539)
Für historisch jüngere Entscheidungsprozesse über Wahlsystemfragen in
den liberalen Demokratien gilt hingegen, dass gelegentlich das Volk selbst
eine wichtige Rolle vor allem im Zusammenhang mit der Abschaffung
(und anschließenden Reform) bestehender Regeln spielte – sei es in Form
von Referenden (wie in Italien oder Neuseeland), sei es durch eine wach-
——————
28 Im Hinblick auf die Geschichte der Wahlsystempolitik in Deutschland sei an die
weiter reichenden theoretisch-normativen Grundlagen des frühen Eintretens der
SPD während des Kaiserreichs für ein Verhältniswahlsystem erinnert. Vgl. Pulzer
(1983: 85).
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
37
sende allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Leistungsfähigkeit des politischen Systems, durch die ein nicht zu ignorierender Handlungsdruck erzeugt wurde (so in Japan oder Israel).
2.2 Entstehung und Wandel des Wahlsystems der
Bundesrepublik
Der langwierige Entstehungsprozess des Wahlgesetzes zum ersten Deutschen Bundestag wurde von der Forschung der »Schattenseite des Demokratiegründungsprozesses« (Niclauß 1998: 366) im Nachkriegsdeutschland
zugerechnet. Tatsächlich war das erste Wahlgesetz, wie es im September
1949 zur Anwendung gelangte, formal betrachtet Besatzungsrecht. Dessen
ungeachtet war das Wahlgesetz wesentlich das Ergebnis ausgedehnter
Verhandlungsprozesse im Parlamentarischen Rat. Der von diesem vorgelegte Entwurf wurde jedoch zunächst von den Ministerpräsidenten und
anschließend auch von den Militärgouverneuren der Alliierten in den
Westzonen noch einmal modifiziert, bevor er schließlich in Kraft trat. Der
Parlamentarische Rat verständigte sich auf ein Verhältniswahlsystem, bei
dem die eine Hälfte der Abgeordneten in Einerwahlkreisen mit Mehrheitswahl gewählt wurde, die andere Hälfte über Landesparteilisten. Die
Ministerpräsidenten waren dafür verantwortlich, dass am Ende nicht die
Hälfte, sondern 60 Prozent der Abgeordneten als Direktkandidaten gewählt wurden und außerdem eine Fünfprozenthürde in das Wahlgesetz
eingefügt wurde. Auf Drängen der Militärgouverneure wurde festgeschrieben, dass die Sperrklausel nicht für das gesamte Bundesgebiet, sondern
lediglich für die einzelnen Länder gelten dürfe.
Im Lichte insbesondere der Argumente der einflussreichen HermensSchule der deutschen Wahlsystemforschung, die das Scheitern der Weimarer Republik maßgeblich mit der Existenz eines Verhältniswahlsystems
erklärte (Hermens 1951), mag die Entscheidung der Nachkriegseliten zugunsten der Verhältniswahl überraschen. Ein genauerer Blick auf die Beratungen verdeutlicht jedoch, dass die schließlich getroffene Entscheidung
weder durch Ignoranz gegenüber den politischen und wissenschaftlichen
Diskussionen während der Weimarer Republik gekennzeichnet noch Ausdruck prinzipieller Hemmungen gegenüber einem radikalen Neubeginn in
der Wahlrechtspolitik war. Zum ersten Aspekt ist anzumerken, dass in der
38
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Weimarer Periode selbst keineswegs schwerpunktmäßig die Parteienzersplitterung, sondern vielmehr die fehlende Personalisierung beklagt wurde
(Jesse 1985: 376). Diesem als dominant geltenden Problem wurde nach
1945 mit einem veränderten Verfahren der Kandidatenaufstellung und der
Direktwahl der einen Hälfte der Abgeordneten gezielt begegnet. Wichtiger
noch waren die unmittelbar wirksamen politischen Kontextbedingungen
der Wahlgesetzgebung. So waren bereits vor der Beschlussfassung über das
erste Bundeswahlgesetz wichtige Weichen zugunsten des Verhältniswahlprinzips gestellt. In den Ländern hatte sich zu jenem Zeitpunkt, da die
Debatte über die Wahlgesetzgebung auf Bundesebene begann, bereits
flächendeckend ein Vielparteiensystem etabliert. Mehr noch: In sämtlichen
Ländern mit Ausnahme Hamburgs und Schleswig-Holsteins existierten
Verhältniswahlsysteme (Lange 1975: 776).
Obwohl der politische Entscheidungsprozess über das Wahlsystem
nicht frei war von Erwägungen, welche die politische Stabilität des zu
schaffenden Gemeinwesens betrafen (so Bawn 1993: 986), bestimmten
insgesamt machtbewusste, strategische Erwägungen der einzelnen Parteien
sowie die schließlich geschmiedeten Kompromisse den Ausgang der Beratungen (Lange 1975: 809; Niclauß 1998: 360–366; Scarrow 2001). Das
gilt zunächst für die Grundsatzentscheidung über die Streitfrage Mehrheitswahl versus Verhältniswahl. Während sich die SPD und die meisten
kleineren Parteien früh für die Schaffung eines Verhältniswahlsystems stark
machten, trat die Union, am Ende vergeblich, für ein relatives Mehrheitswahlsystem ein. Von den kleineren Parteien optierte nur die DP, die sich
angesichts ihrer starken Position in Niedersachsen und Bremen unter diesem System gute Chancen ausrechnete, für die relative Mehrheitswahl.
Das Wahlgesetz von 1949 wurde später vom 1. Bundestag für die Bundestagswahl von 1953 modifiziert. Bereits Ende 1952 beschlossen wurde
die Abschaffung von Nachwahlen für den Rest der Legislaturperiode –
nach Einschätzung einiger Autoren »eine der bedauerlichsten verfassungspolitischen Maßnahmen der Nachkriegszeit« (Hennis 1973: 145–146; zit.
bei Jesse 2003: 4). Zu den im Zuge der Verabschiedung des Wahlgesetzes
zum 2. Deutschen Bundestag (1953) vollzogenen Änderungen zählte die
Veränderung des Verhältnisses zwischen Direkt- und Listenmandaten von
60:40 auf 50:50 und die Modifikation der Sperrklausel, welche nun nicht
mehr lediglich auf die einzelnen Länder, sondern auf das Bundesgebiet
angewandt wurde. Hinzu kam die Erhöhung der »regulären Mandate« von
400 auf 484 und die Einführung eines Zweistimmensystems: Seither wird
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
39
mit der Erststimme ein Kandidat im Wahlkreis, mit der Zweitstimme eine
Landesliste gewählt. Maßgeblich für die Berechnung der einer Partei zugewiesenen Mandate ist die Summe bzw. der Anteil der erzielten Zweitstimmen, wobei die direkt errungenen Mandate abgezogen werden. Erhält eine
Partei mehr Direktmandate als ihr nach der Zweitstimmenauszählung
Mandate zustehen, so darf sie diese behalten.29
Als Gewinner der Wahlsystemreform des Jahres 1953 erschien die
FDP, die mit den Sozialdemokraten und den kleineren Parteien gegen die
CDU/CSU und die DP zusammenwirkte, um die grundlegende Struktur
des ursprünglichen Wahlgesetzes zu befestigen. Abgesehen davon traten
die Liberalen gemeinsam mit der Union, und dabei in Frontstellung gegenüber den übrigen kleineren Parteien, erfolgreich für die Verschärfung der
Fünfprozentklausel ein. Das Zweistimmenrecht begünstigte Wahlabsprachen der größeren mit kleineren Parteien, wobei die CDU/CSU und die
FDP über insgesamt günstigere Optionen verfügten als die SPD (Lange
1975: 795).
1956 kam es zu einer Reihe weiterer Reformen. Die erste betraf die
abermalige Verschärfung der Fünfprozenthürde; seither sind nicht mehr
nur fünf Prozent der Stimmen auf Bundesebene oder ein Direktmandat,
sondern mindestens drei Direktmandate gefordert, um an der Sitzvergabe
beteiligt zu werden. Im gleichen Zuge wurde es den Parteien gestattet,
mehrere Landeslisten zu einer Zähleinheit zu verbinden. Ebenfalls 1956
wurde die Briefwahl eingeführt. Seither hat es – von den besonderen Regeln für die Bundestagswahl 1990 (dabei konkret die Regionalisierung der
Sperrklausel sowie die Möglichkeit von Listenverbindungen) einmal abge-
——————
29 Die so erzielten Mandate werden als Überhangmandate bezeichnet. Über sie hat
sich vor dem Hintergrund ihrer deutlichen Zunahme seit den neunziger Jahren
eine rege Diskussion entsponnen. Vgl. hierzu statt vieler mit zahlreichen weiteren
Nachweisen Behnke (2003). Überhangmandate wurden auch bereits bei der Bundestagswahl 1949 vergeben, obwohl jeder Wähler bei dieser Wahl nur über eine
Stimme verfügte. Dabei war jedem Bundesland eine bestimmte Zahl der »mindestens« 400 zu wählenden Abgeordneten zugeteilt. 60 Prozent dieser Mandate wurden auf der Grundlage relativer Mehrheitswahl in den Wahlkreisen vergeben; die
restlichen über Listenmandate. Von den über das Höchstzahlverfahren nach
d’Hondt ermittelten Listenmandaten für die einzelnen Parteien wurden die in den
Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei abgezogen. Nach § 10 Abs. 3 des Wahlgesetzes blieben die in den Wahlkreisen errungenen Mandate einer Partei auch
dann erhalten, wenn ihre Zahl die sich nach der Verteilung ergebende Gesamtzahl
überstieg. Vgl. Jakob (1998: 61–62).
40
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sehen – kaum erwähnenswerte Änderungen des Wahlrechts gegeben. Hervorhebenswert erscheint von den späteren Reformen am ehesten die nach
langwieriger öffentlicher Auseinandersetzung 1970 vollzogene Absenkung
des Mindestalters für die Ausübung des aktiven Wahlrechts von 21 auf 18
Jahre.
Wie sind die einzelnen Reformen im Lichte empirischer Erfahrungen
zu bewerten? Die Wirkungen der Fünfprozentklausel in ihrer seit 1957
praktizierten Form werden heute ganz überwiegend positiv gesehen. Sie
half, das Ziel der Regierungsstabilität zu erreichen, ohne dabei das Prinzip
der Chancengleichheit für die kleineren bzw. neue Parteien einer allzu
großen Belastung auszusetzen. Als besondere Leistung der Sperrklausel gilt
die Verhinderung des Einzugs radikaler Parteien wie der NPD in den Bundestag (Saalfeld 2005: 225–226). Deutlich kritischer fällt das Urteil über das
seit 1953 praktizierte Zweistimmensystem aus. Bemängelt wurde insbesondere die mangelhafte Transparenz des Verfahrens, nicht zuletzt aus Sicht
der von der Komplexität des Systems allem Anschein nach gelegentlich
überforderten Wähler (Schmitt-Beck 1993). Ebenfalls als nicht unproblematisch gilt die Briefwahl. Das international am häufigsten vorgebrachte
Argument zugunsten der Briefwahl lautet, dass diese einer strukturell sinkenden Wahlbeteiligung entgegenwirken helfe (Qvortrup 2005: 415).30 In
Deutschland wurde die Möglichkeit der Briefwahl dagegen vor allem mit
dem Recht eines jeden Bürgers begründet, auch im Falle zeitweiliger Verhinderung »seine« Volksvertretung wählen zu können. Das Problem einer
beunruhigend geringen Wahlbeteiligung auf Bundesebene kannte die Bundesrepublik – gemessen an den durchschnittlichen Wahlbeteiligungsraten
anderer konsolidierter Demokratien – weder vor der frühen Einführung
der Briefwahl noch seither. Skeptisch beurteilt wird heute – vor dem Hintergrund einer praktisch kontinuierlich angestiegenen Briefwählerquote bei
Bundestagswahlen31 – vor allem die mangelnde Transparenz des
Stimmabgabeverfahrens (Jesse 2003: 6).
——————
30 Vergleichenden Untersuchungen zufolge kam es im Gefolge der Einführung der
Briefwahl jedoch nur zu einem kurzfristigen und überdies eher moderatem Anstieg
der Wahlbeteiligung. Auch ein weiterer häufig genannter Leistungseffekt der
Briefwahl, die Kostenersparnis, scheint nur dann zu gelten, wenn diese die Präsenzwahl vollständig ersetzt (Kersting 2004).
31 Bei der Bundestagswahl 1998 betrug der Anteil von Briefwählern an der Gesamtheit der Wähler erstmals über 15 Prozent. Bei den Wahlen von 2002 und 2005
nahm die Zahl der Briefwähler weiter zu; sie lag nach Auskunft des Bundeswahlleiters bei 18 bzw. 18,6 Prozent.
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
41
2.3 Das deutsche Wahlsystem aus der Perspektive der
internationalen Wahlsystemforschung
Der Vergleich von Wahlsystemen gestaltet sich schwieriger als es auf den
ersten Blick scheinen mag. Innerhalb der internationalen bzw. international
vergleichenden Wahlsystemforschung wird der oben eingeführten Unterscheidung zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl zwar ein zentraler
Stellenwert zuerkannt, doch kommen Typologisierungsversuche, die der
Vielfalt unterschiedlicher Systeme gerecht werden, schwerlich mit dieser
Unterscheidung aus. Selbst überzeugte Verfechter der Basisdifferenzierung
zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl bestreiten nicht, dass es in der
politischen Realität der liberalen Demokratien kombinierte Wahlsysteme
gibt. In der jüngeren globalen Entwicklungsgeschichte von Wahlsystemen
haben gerade sie sogar die weiteste Verbreitung gefunden (Nohlen 2005:
12).
Der Sinngehalt der Bezeichnung kombinierte bzw. »Mischwahlsysteme«
bleibt jedoch umstritten. Die Auffassung, dass es eine Mischung zwischen
dem Prinzip der Verhältnis- und Mehrheitswahl auch auf der Ebene des
Repräsentationsprinzips gibt (so Kaiser 2002), hat weder in Deutschland
noch in der internationalen Diskussion nennenswerten Zuspruch erfahren
(Klein 2004: 223–224). Die Vielzahl von kombinierten Wahlsystemen, die
nicht in die Gruppe der als »klassisch« geltenden Wahlsysteme – die relative und absolute Mehrheitswahl sowie die reine Verhältniswahl (Nohlen
2005: 11) – passen, sind durch ein spezifisches Spannungsverhältnis zwischen Entscheidungsregel und Repräsentationsprinzip gekennzeichnet.
Während bei den drei »klassischen« Wahlsystemen das Repräsentationsprinzip und die Entscheidungsregel einander entsprechen (und zwar entweder in der Kombination »Repräsentationsziel: Mehrheitsbildung/Entscheidungsregel: Mehrheit« oder in der Kombination »Repräsentationsziel:
Abbildung der Wählerschaft/Entscheidungsregel: der Anteil entscheidet«),
werden diese bei gemischten Systemen kombiniert (Nohlen 2000: 133–
134).
Die Debatte über den Charakter von »Mischwahlsystemen« besitzt
nicht zuletzt im Hinblick auf das Wahlsystem der Bundesrepublik unmittelbare Relevanz. Nach den soeben dargelegten Kriterien wäre es eindeutig
irreführend, das deutsche System als ein »Mischwahlsystem« zu klassifizieren – wozu freilich die Tatsache verleitet, dass die Hälfte der Abgeordneten nach der Mehrheitsregel in Einerwahlkreisen, die übrigen nach Proporz
42
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
über die Landeslisten der Parteien gewählt werden. Hinsichtlich des Repräsentationsprinzips ist das deutsche Wahlsystem jedoch eindeutig ein Verhältniswahlsystem, da für die Anzahl der Mandate, die eine Partei erhält,
(abgesehen von »Grundmandaten« und »Überhangmandaten«) allein der
Anteil der Zweitstimmen maßgeblich ist. Der Tatsache, dass die Hälfte der
Abgeordneten als Direktkandidaten in Einmannwahlkreisen gewählt wird,
lässt sich in terminologischer Hinsicht am besten mit der Bezeichnung
»personalisierte Verhältniswahl« Rechnung tragen.
In struktureller Hinsicht am engsten verwandt sind dem deutschen
System aus der Familie der konsolidierten liberalen Demokratien die in den
frühen neunziger Jahren – nach deutschem Vorbild – reformierten Wahlsysteme Neuseelands und Italiens (bis 2005). Ebenfalls zur Gruppe der
Verhältniswahlsysteme gerechnet werden die reinen Listenwahlsysteme, die
es in zahlreichen westeuropäischen Ländern – von Skandinavien bis nach
Portugal und Spanien – gibt, sowie das in Irland und Malta praktizierte
»single transferable vote system«. Den Prototyp des relativen Mehrheitswahlsystems verkörpert Großbritannien, außerhalb Europas die USA. Die
absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen und mit zwei Wahlgängen
kennt unter den Ländern Westeuropas nur Frankreich. Am nächsten
kommt dem französischen System außerhalb Europas das australische
Mehrheitswahlsystem, welches auf einen zweiten Wahlgang verzichtet und
den Wahlkreisgewinner stattdessen auf der Grundlage der Anzahl abzugebender »alternative votes« ermittelt. Einen einsamen Sonderfall verkörpert
das japanische Wahlsystem, welches in vielen vergleichenden Studien aber
schlicht den »mixed systems« zugeordnet wird.
Freilich berücksichtigen entsprechende Klassifikationen nur einen kleinen Ausschnitt der institutionellen Vielfalt von Wahlsystemen. Zumindest
auf einige weitere Aspekte sei an dieser Stelle hingewiesen: Die Bundesrepublik gehört – gemeinsam mit Italien, Japan und Neuseeland – zu den
wenigen Systemen der Welt, in denen die Wähler nicht nur zwei Stimmen
besitzen, sondern diese auch zwischen zwei unterschiedlichen Parteien
aufteilen können. Wie in der Mehrheit der hier berücksichtigten Länder
besteht in der Bundesrepublik keinerlei Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Kandidaten ein und derselben Partei zu wählen. Eine solche Option
existiert lediglich in Irland und Malta mit deren eigentümlichen »single
transferable vote«-Systemen sowie in der kleinen Zahl von Ländern, die ein
Listensystem mit Präferenzstimmen praktizieren (Österreich, Dänemark,
Finnland und die Niederlande). Eine das deutsche Wahlsystem kennzeich-
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
43
nende Sperrklausel findet sich auch in einigen anderen Ländern, so in den
Niederlanden, Österreich, Schweden oder Norwegen. In keinem dieser
Länder liegt die Hürde jedoch vergleichbar hoch. Im weiter gefassten Vergleich, unter Einschluss der jungen Demokratien und den in der Demokratisierung begriffenen Länder, erscheinen die hierzulande geforderten
fünf Prozent jedoch nicht als exorbitant. Noch deutlich exklusiver als hierzulande sind die Sperrklauseln des polnischen und türkischen Wahlsystems
(sieben bzw. zehn Prozent).
Die international vergleichende Wahlsystemforschung begnügt sich im
Allgemeinen nicht mit einem Vergleich der formalen (künstlichen) Hürden.
Im Zentrum vergleichender Studien stehen vielmehr die faktischen (natürlichen) Hürden, die »effective thresholds«. Eine faktische Hürde ergibt sich
in der Praxis – alternativ zu der Verankerung einer formalen Sperrklausel
im Wahlgesetz – insbesondere in Systemen, in denen nur ein oder wenige
Repräsentanten pro Wahlkreis gewählt werden. Aus funktionaler Perspektive erscheinen beide Regeln als zwei Seiten derselben Medaille (Lijphart
1994: 12). Für die Bundesrepublik gilt, dass die »effektive Prozenthürde«
identisch mit der formalen Sperrklausel ist. Die stärksten Diskrepanzen
zwischen formaler und effektiver Sperrklausel kennzeichnen relative
Mehrheitswahlsysteme wie sie in Großbritannien oder den USA Anwendung finden. Dort liegt die effektive Sperrklausel auch ohne formale Prozenthürde bei rund 35 Prozent. Mit deutlich über 15 Prozent ebenfalls
auffallend hoch war die effektive Sperrklausel des japanischen bzw. des
irischen Wahlsystems der Periode zwischen dem Ausgang der vierziger und
den späten achtziger Jahren (ebd.: 40). Auch in zahlreichen anderen Systemen, die ebenfalls keine formale Sperrklausel kennen, liegt die effektive
Hürde zum Teil deutlich über derjenigen des deutschen Wahlgesetzes
(ebd.: 22, 31, 33).
Erwähnenswerte Unterschiede gibt es nicht nur in Bezug auf einzelne
Aspekte von Wahlsystemen, sondern auch auf der Ebene des Wahlrechts,
von denen abschließend einige hervorgehoben seien. In Westeuropa ist das
Wahlsystem mehrheitlich verfassungsrechtlich festgelegt. Deutschland
gehört gemeinsam mit Frankreich und Italien und der Schweiz zu jenen
Ländern, in denen die einschlägigen Verfahrensvorschriften (abgesehen
von wenigen grundlegenden Prinzipien) nicht in der Verfassung, sondern
in einem speziellen Wahlgesetz festgeschrieben sind.32 Wie in fast allen
——————
32 Der empirische Effekt einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Wahlsystems
– insbesondere der Zusammenhang zwischen verfassungsrechtlicher Fixierung
44
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
übrigen konsolidierten liberalen Demokratien liegt die Altersgrenze für das
aktive Wahlrecht in der Bundesrepublik heute bei 18 Jahren; nachdem
1992 auch Österreich die Grenze von 19 Jahren auf 18 Jahre nach unten
korrigierte, hält nur noch Japan an einer höheren Mindestaltersgrenze (von
20 Jahren) fest. Wie in der Mehrzahl der konsolidierten liberalen Demokratien existiert in der Bundesrepublik keine Wahlpflicht. Belgien, Italien,
Luxemburg, Griechenland und Australien gehören zu jenen Ländern, in
denen das Prinzip der Wahlpflicht (trotz zum Teil heftiger Debatten über
diesen Gegenstand) weiterhin Bestand hat, während entsprechende Regelungen in den Niederlanden und in Österreich (auf Landesebene) bereits
aufgehoben wurden.33 Auch im Hinblick auf Beschränkungen des Wahlrechts befindet sich die Bundesrepublik insgesamt im »mainstream« der
liberalen Demokratien.34 Wie in der Mehrzahl der hier berücksichtigten
Länder verfügen in der Bundesrepublik ausschließlich als solche anerkannte Staatsbürger über das Recht zur Beteiligung an Wahlen zum nationalen Parlament. Verbreitet sind Ausnahmen von dieser Regel in den angelsächsischen Demokratien. In Neuseeland genügt eine permanente Residenz auch ohne neuseeländische Staatsbürgerschaft. In Großbritannien
(und bis 1984 auch in Australien) ist lediglich die Staatsangehörigkeit eines
zum Commonwealth gehörenden Landes erforderlich. In Irland ist alternativ zur irischen Staatsbürgerschaft diejenige des Vereinigten Königreichs
——————
von Wahlsystembestimmungen einerseits und der Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit von (grundlegenden) Wahlsystemreformen – ist keineswegs eindeutig.
Während der Verzicht auf eine verfassungsrechtliche Verankerung des Wahlsystems in Frankreich in der Tat mit einem außerordentlichen Reformeifer einherging, zählen Länder wie Deutschland und die Schweiz auch ohne verfassungsrechtliche Verankerung des Wahlsystems zu jenen Ländern mit ausgeprägter
Wahlsystemstabilität.
33 Die Auswirkungen der Wahlpflicht bleiben sowohl in empirischer als auch in
normativer Hinsicht umstritten. Während das zentrale Ziel einer größtmöglichen
Wahlbeteiligung bereits prinzipiell anfechtbar ist, zeigt ein empirischer Vergleich,
dass die Wahlbeteiligung keineswegs in allen Systemen mit Wahlpflicht höher ist
als in Ländern ohne Wahlpflicht. So war etwa die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik im langjährigen Durchschnitt deutlich höher als in Griechenland. Als
weiteres Problem kommt hinzu, dass es in Systemen mit Wahlpflicht einen signifikant höheren Anteil von ungültigen bzw. unausgefüllten Stimmzetteln gibt, womit
eine statistisch hohe Wahlbeteiligung tendenziell ad absurdum geführt wird. Vgl.
Hirczy de Miño (2000).
34 Die im Folgenden präsentierten Befunde basieren auf den Daten von Blais/
Massicotte/Yoshinaka (2001: 44–49).
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
45
ausreichend. In Portugal sind auch Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten und Inhaber der brasilianischen Staatsbürgerschaft (mit »equal
rights status«) wahlberechtigt. Etwas strenger als im Durchschnitt der konsolidierten liberalen Demokratien sind die Bestimmungen in der Bundesrepublik für die Aufrechterhaltung der Wahlberechtigung im Falle langjähriger Auslandsaufenthalte deutscher Staatsbürger. Die Mehrzahl der hier
interessierenden Länder kennt (im auffallenden Gegensatz zu vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt) keine derartigen Restriktionen. In
Neuseeland, Australien, Kanada, Großbritannien und Dänemark existieren
Fristen von einem Jahr bis zu 20 Jahren; sie gelten zum Teil jedoch nur,
wenn die Absicht zur Rückkehr besteht. Für deutsche Staatsangehörige
gibt es keine derartigen Beschränkungen, solange der alternative Wohnsitz
in Europa liegt. In anderen Fällen gilt eine Maximalfrist von zehn Jahren.
Deutlich liberaler als in der Mehrzahl der konsolidierten Demokratien sind
die Bestimmungen in der Bundesrepublik bezüglich des Wahlrechts von
Insassen staatlicher Zwangsvollzugsanstalten. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in vielen anderen Ländern geht die Verbüßung einer Haftstrafe hierzulande nicht mit einem (vorübergehenden) Verlust des Wahlrechts einher. Restriktiv sind demgegenüber die Regeln bei Demenz; anders als in Kanada, Irland, Italien und Schweden verfügen die Betroffenen
in der Bundesrepublik, analog zu der Praxis in den übrigen hier interessierenden Ländern, nicht über das Wahlrecht.
2.4
Konklusion
Die Geschichte des Wahlrechts und der Wahlsysteme gehört zu den faszinierendsten Kapiteln der historisch und international vergleichenden Beschäftigung mit den institutionellen Grundlagen der liberalen Demokratie.
Die aus einer Betrachterperspektive, der das Wahlrecht und das Wahlsystem als abhängige Variable gelten, gewonnenen Einsichten können dabei
als mindestens vergleichbar bedeutender Beitrag zum Verständnis der
komplexen Zusammenhänge zwischen Institutionen, Gesellschaft und
Kultur gelten wie die Befunde der noch immer weitaus prominenteren
Wahlsystemwirkungsforschung.
Die populäre Vermutung, dass es zur Demokratisierung des Wahlrechts
durchwegs im Gefolge von institutioneller Modernisierung und/oder auf
46
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
der Grundlage des maßgeblichen Einflusses progressiv eingestellter politischer Kräfte kam, erweist sich nicht zuletzt im Lichte amerikanischer und
deutscher Erfahrungen des 19. Jahrunderts als so nicht haltbar. Die »theoretisch unwahrscheinliche« frühe Demokratisierung des Wahlrechts durch
eine konservative und der Demokratie gegenüber skeptisch bis feindlich
eingestellte Machtelite weist Deutschland in der internationalen Wahlrechtsgeschichte eine Position zu, die jener vergleichbar ist, die es angesichts der – klassischen theoretischen Erwartungen zufolge kaum minder
unwahrscheinlichen – frühen Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaates in
der Geschichte der Sozialpolitik einnimmt (Schmidt 1988: 117–124).
Auch eine zweite, insbesondere in Teilen der Wahlsystemforschung
populäre Annahme, nach der sich eine Gesellschaft am Ende jene Institutionen sucht, die am besten zu ihrer politischen Kultur passen, bedarf der
Differenzierung. Obwohl es zweifelsohne ausgeprägte Affinitäten zwischen Kulturen und Institutionen gibt, die bestimmte Lösungen historisch
unwahrscheinlich und in funktionaler Hinsicht unbrauchbar machen35,
entsprangen grundlegende Entscheidungen der Wahlsystempolitik in der
Regel spezielleren Erwägungen. Selbst in einem Land wie Großbritannien,
in dem das Wahlsystem vor allem von ausländischen Betrachtern geradezu
als die institutionelle Verkörperung einer einzigartigen »insularen Mehrheitskultur« gesehen wurde, ging es im 19. Jahrhundert bei der Entscheidung zwischen Kontinuität oder Reform des Mehrheitswahlsystems keineswegs nur um die Suche nach dem optimalen »cultural fit«, sondern auch
um die Abschätzung künftiger politischer Erfolgschancen der regierenden
Elite.36
Trotz der Eigentümlichkeit seiner Wahlrechts- und Wahlsystemgeschichte gehört Deutschland zu jenen Ländern, die einen wichtigen Beitrag
zur internationalen Ausbreitung des demokratischen Wahlrechts geleistet
haben. Bei der Institutionalisierung des Frauenwahlrechts kam Deutschland unter den größeren Ländern Westeuropas sogar eine Führungsrolle
——————
35 So wäre die Einführung eines Mehrheitswahlsystems britischer Prägung in einem
Land wie der Schweiz schlicht unvorstellbar.
36 Ähnliches suggerieren die jüngeren Erfahrungen der britischen Wahlsystempolitik,
welche stark im Zeichen einer Rhetorik zugunsten der Abschaffung der relativen
Mehrheitswahl stand – wiederum maßgeblich angetrieben von machtpolitischen
Erwägungen relevanter Akteure. Allerdings ließe sich das eigentümliche Verschwinden der Wahlsystemreformpläne von der öffentlichen Agenda als Hinweis
nicht nur auf eine veränderte Situationsdeutung der Labour Party, sondern auch
als Anzeichen für die politische kulturelle Verwurzelung des Wahlsystems deuten.
WAHLRECHT UND WAHLSYSTEM
47
zu. Vor allem das nach 1945 in Deutschland geschaffene System der »personalisierten Verhältniswahl« zählt zu jenen politischen Institutionen, die
international viel Anerkennung gefunden haben und gelegentlich gar zum
ausdrücklichen Referenz- und Reformmodell erhoben wurden. Zum Teil
hat dies gewiss etwas damit zu tun, dass die Stabilität und Funktionsweise
des deutschen Regierungssystems zuweilen in übertriebenem Maße auf das
Wahlsystem zurückgeführt wird (Jesse 1992: 185). Allerdings schneidet das
deutsche Wahlsystem selbst im spezielleren Leistungsvergleich unterschiedlicher Systeme auffallend gut ab. Kennzeichnend für die jüngere
Wahlsystemdiskussion in der Wissenschaft und Politik ist die Berücksichtigung mehrerer unterschiedlicher, teils in Spannung zueinander stehender
Bewertungskriterien (Horowitz 2003: 116–120; Nohlen 2005: 13–14), welche nach Möglichkeit vollständig berücksichtigt werden sollen.
Zu den zentralen Funktionsanforderungen bzw. Bewertungskriterien
werden in der Regel zumindest gerechnet: das Maß an Repräsentation (eine
angemessene Proportionalität zwischen Stimmen und Mandaten), jenes an
Konzentration und Effektivität (im Sinne einer angemessenen Aggregation
gesellschaftlicher Interessen zum Zwecke politischer Entscheidungsfindung), das der Partizipation (d.h. der Möglichkeit der Wähler, ihren politischen Willen gezielt zum Ausdruck zu bringen) sowie das der Einfachheit
(soll heißen, der Verständlichkeit und praktischen Handhabbarkeit). Als
Schwachpunkt des deutschen Systems erscheint dabei am ehesten seine
vergleichsweise komplexe Natur. Ansonsten gilt:
»Die personalisierte Verhältniswahl mit gesetzlicher Sperrklausel […] erfüllt die
Repräsentationsfunktion durch die proportionale parlamentarische Vertretung all
der Parteien, welche die Sperrklausel überwunden haben. Dabei ist die Höhe der
Sperrklausel noch mit dem Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl vereinbar.
Sie genügt der Konzentrationsfunktion, indem sie sehr kleine Parteien vom Parlament ausschließt und damit die Bildung parlamentarischer Mehrheiten erleichtert,
die gemeinhin als Grundlage stabiler Regierungen in parlamentarischen Regierungssystemen gelten. Die Regierungen stützen sich auf Koalitionsmehrheiten, die
nicht künstlich durch den Disproportionseffekt des Wahlsystems zustande kommen, sondern die tatsächlich die Mehrheit der Wählerstimmen verkörpern. Der
Partizipationsfunktion genügt die personalisierte Verhältniswahl insofern, als
Wählerinnen und Wähler einen Teil der Abgeordneten in Einerwahlkreisen wählen.« (Nohlen 2005: 16)
Freilich erschöpft sich die Anerkennung, die das deutsche Wahlsystem
gefunden hat, nicht auf den Zuspruch der internationalen Politikwissenschaft und den Respekt ausländischer Reformpolitiker. Auch in der Bun-
48
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
desrepublik selbst gehört das Wahlsystem seit langem zu jenem Teil des
politischen Institutionengefüges, das zu Recht als (auch im weiteren, politisch-kulturellen Sinne) vollständig institutionalisiert gilt. Zu einer grundsätzlichen Infragestellung des im ersten Nachkriegsjahrzehnt geschaffenen
Wahlsystems kam es zum letzten Mal in der zweiten Hälfte der sechziger
Jahre. Damals erwogen sowohl die CDU/CSU als auch die SPD, die personalisierte Verhältniswahl durch ein Mehrheitswahlsystem zu ersetzen.
Für weite Teile der Union verkörperte eine grundlegende Wahlsystemreform sogar den mit Abstand wichtigsten sachpolitischen Grund für die
Bildung der ersten großen Koalition auf Bundesebene (Schönhoven 2004:
69–70). Die lange anvisierte Reform scheiterte schließlich am Widerstand
der Sozialdemokraten, denen das Festhalten am bestehenden System nach
sorgfältiger Abwägung doch die beste Gewähr für eine künftige führende
Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zu bieten schien. Wie fest das
Wahlsystem mittlerweile nicht nur im Bewusstsein der maßgeblichen Parteieliten, sondern auch der Bürger und der öffentlichen Meinung in der
Bundesrepublik verankert ist, zeigten die Reaktionen auf das unerwartete
Ergebnis der Bundestagswahl 2005. Trotz der ungewöhnlichen Schwierigkeiten der Regierungsbildung und der Unsicherheit der weiteren Entwicklung des Parteiensystems und künftiger Regierungsbildungen wurde eine
grundlegende Reform des Wahlsystems von keiner Seite auch nur ernsthaft
ins Gespräch gebracht (Helms 2006a: 59–60). Ein eindrucksvollerer Beleg
der breiten politisch-gesellschaftlichen Akzeptanz und Verankerung des
Wahlsystems lässt sich kaum denken. Gleichwohl gab und gibt es auf der
akademischen Ebene gelegentlich Anstöße zu einer Reform des Wahlsystems (etwa Niclauß 1997: 6–7; von Prittwitz 2003; Jesse 2003). Sie zielen
jedoch in aller Regel nicht auf eine Veränderung des grundlegenden Repräsentationsprinzips, sondern begnügen sich mit Vorschlägen zu einer behutsamen Optimierung der bestehenden Regeln im Zeichen einer Stärkung
bürgernaher Demokratie.
3 Politische Parteien: Das Rückgrat der
repräsentativen Demokratie
Das Kapitel über die politischen Parteien folgt nicht zufällig auf dasjenige
über Wahlrecht und Wahlsystem. Der enge theoretische und empirische
Zusammenhang zwischen Wahlen einerseits und Parteien bzw. Parteiensystemen andererseits ist offensichtlich. Unter den vielfältigen Bestimmungsmerkmalen politischer Parteien kommt deren Beteiligung bei Wahlen ein herausragender Stellenwert zu; viele ihrer Funktionen – von der
gesellschaftlichen Mobilisierung bis zur politischen Zielfindung und Rekrutierung von politischem Personal – leiten sich von ihr ab. In diesem
Sinne handelt es sich bei politischen Parteien zuvörderst um wahlwerbende
Gruppierungen, die auf der Grundlage gemeinsamer politischer Überzeugungen danach streben, einen größtmöglichen Anteil an Stimmen und
Mandaten zu erwerben, üblicherweise um auf dieser Grundlage an der
Besetzung von Regierungsämtern teilzuhaben.37 Nicht von ungefähr
entstanden moderne politische Parteien mit hinreichenden organisatorischen Kapazitäten für eine effektive Massenmobilisierung historisch im
Zuge der Ausbreitung des demokratischen Wahlrechts. Das funktionale
Selbstverständnis politischer Parteien in unterschiedlichen Ländern blieb
lange davon abhängig, ob die Herausbildung moderner Parteiorganisationen der Parlamentarisierung des Systems vorausging oder nachfolgte. Während die britischen Parteien sich im Kontext der funktionalen Anforderungen der parlamentarischen Demokratie von Anfang an als Regierungsinstitutionen begriffen, verharrten die deutschen Parteien, weitgehend unbe-
——————
37 Obwohl die normativen und empirischen Funktionen der Parteien in der
Bundesrepublik deutlich über deren Beteiligung an Wahlen hinausreichen, kommt
diesem Bestimmungsmerkmal auf der Ebene gesetzesrechtlich definierter Kriterien
auch hierzulande eine besondere Bedeutung zu: Nach den Bestimmungen des
deutschen Parteiengesetzes (§ 2) verliert eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als
Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer
Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat.
50
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
helligt von den Herausforderungen staatspolitischer Verantwortung, jahrzehntelang auf der Ebene überzeugter »Weltanschauungsparteien«
(Johnson 1992).
Ebenso offensichtlich ist die zentrale Bedeutung von Wahlen für das
Parteiensystem, hier verstanden als die Gesamtheit der zu einem System
gehörenden Parteien und deren Beziehungen zueinander. Schließlich wird
eines der wichtigsten Strukturmerkmale von Parteiensystemen – das nominale Stärkeverhältnis zwischen den Parteien – unmittelbar durch das Wahlergebnis bestimmt, wobei freilich besonders die parlamentarische Repräsentationsstärke unterschiedlicher Parteien beeinflusst ist vom spezifischen
Umrechnungsmodus des jeweiligen Wahlsystems (vgl. Kapitel 2). Auch in
Zeiten sich auflösender Sozialmilieus und einer stark gestiegenen Wechselwahlbereitschaft ist das Wahlverhalten von Bürgern allerdings niemals
vollständig determiniert durch kurzfristige Kosten-Nutzen-Abwägungen
und Kompetenzvermutungen gegenüber Parteien und deren Kandidaten.
Obwohl diese Motive der Wahlentscheidung in den vergangenen Jahrzehnten international stark an Bedeutung gewonnen haben (Dalton
2002)38, besitzen alle Parteiensysteme der konsolidierten liberalen
Demokratien bedeutend tiefer reichende gesellschaftliche Wurzeln. Noch
immer ist die grundlegende Strukturkonfiguration von Parteiensystemen zu
einem beträchtlichen Teil Ausdruck der Anzahl und Stärke gesellschaftlicher Konfliktlinien.39 Diese manifestieren sich auf der Ebene parlamentarisch repräsentierter Parteien nach Maßgabe der institutionellen Wirkungen
des Wahlsystems. Auf eine besonders große Zahl parlamentarisch repräsentierter Parteien stößt man in Ländern, in denen es zahlreiche parteibegründende gesellschaftliche Konfliktlinien und wenige institutionelle Barrieren des Wahlsystems gibt, so in Finnland, den Niederlanden oder der
Schweiz.
——————
38 Nach wie vor keine überzeugenden empirischen Belege gibt es indes für die populäre These vom signifikant gestiegenen Einfluss einzelner Spitzenkandidaten auf
das Stimmverhalten bzw. das Wahlergebnis. Vgl. für die Bundesrepublik vor allem
Kaase (1994) und Brettschneider/Gabriel (2002), für eine international vergleichende Perspektive King (2002).
39 Vgl. hierzu die »klassische« Studie von Lipset/Rokkan (1967). Die einst von diesen
Autoren identifizierten »cleavages« wie Arbeit versus Kapital, Zentrum versus Peripherie etc. wurden seit den siebziger Jahren zunehmend ergänzt bzw. überlagert
von einer neuartigen Werte-Konflikt-Dimension, bei der entweder libertäre oder
autoritäre bzw. materialistische oder post-materialistische Werthaltungen dominant
sein können (Inglehart 1989; Kitschelt 1994).
POLITISCHE PARTEIEN
51
Der nächste Abschnitt beleuchtet einige der zentralen Aspekte der
Parteiengeschichte, soweit sie für die Argumentation in den nachfolgenden
Teilen der Darstellung von Belang sind. Der daran anschließende Teil
wendet sich der programmatisch-organisatorischen Struktur und dem Innenleben der Parteien zu, bevor schließlich die wesentlichen Strukturmerkmale der Parteiensysteme in Deutschland und den anderen konsolidierten liberalen Demokratien in den Blick genommen werden.
3.1
Die Herausbildung politischer Parteien im Gefüge
des modernen Verfassungsstaates
Die Geschichte politischer Parteien ist älter als die des modernen Verfassungsstaates. Das gilt freilich nur, wenn man von einer wenig spezifischen
Vorstellung von Parteien ausgeht wie es sie bereits in der griechischen und
römischen Antike und auch während des Mittelalters gab (von Beyme
1978: 677–682). Politische Parteien im eigentlichen Sinne entstanden erst
im Kontext der repräsentativen Demokratie, auf der Grundlage von deren
Toleranz gegenüber der Meinungsfreiheit und ihren spezifischen Anforderungen an die Wettbewerbsfähigkeit politischer Eliten. Angesichts des
charakteristischen Vorsprungs der Vereinigten Staaten bei der Etablierung
eines demokratischen Wahlrechts ist es kein Zufall, dass sich auch die
Parteien in den USA um mehrere Jahrzehnte früher als in Europa herausbildeten. Verschiedene Ansätze zur Parteibildung gab es seit Gründung der
Republik. Die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts markierten jedoch das
erste Jahrzehnt, für das in den Vereinigten Staaten von der Existenz bereits
ein Stück weit institutionalisierter Parteien – institutionalisiert in organisatorischer Hinsicht, aber zunehmend auch im Selbstverständnis von Kandidaten und Wählern – gesprochen werden kann (Shade 1981).
Kennzeichnend für die Frühgeschichte des Parteiwesens ist nicht zuletzt der Umstand, wie ausgesprochen negativ die Parteien lange Zeit gesehen wurden (Faul 1964). Der am häufigsten formulierte Vorbehalt betraf
die (vermeintliche) Gefährdung des Gemeinwohls, wenn nicht gar der
gesamten staatlichen Ordnung, durch die Parteien. Auf entsprechende
Zeugnisse trifft man in der Mitte des 19. Jahrhunderts selbst noch in
Großbritannien, so besonders bei David Hume (Jäger 1971). Erst mit
Edmund Burke beginnt dort, zunächst keineswegs als herrschende Mei-
52
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
nung, »die theoretische Anerkennung der Parteien als Grundlage des ›alternative government‹« (von Beyme 1978: 692). Die ausgeprägte Ablehnung
von Parteien während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in
Deutschland speiste sich nicht unwesentlich aus den als bedrohlich wahrgenommenen Entwicklungen im revolutionären und nach-revolutionären
Frankreich. Aber unabhängig von diesem frühen Impuls eines »Antiparteienaffekts« konnten sich skeptische Distanz und Kritik gegenüber politischen Parteien in Deutschland bedeutend länger halten als in vielen anderen Ländern. Ursächlich hierfür war nicht zuletzt das hierzulande weit über
1848 hinaus vorherrschende, im Kern »parteienfeindliche« Staats- und
Gemeinwohlverständnis (Oberreuter 1990a: 17–19).
Aus heutiger Sicht ist es – vor allem mit Blick auf die gängigen sozialwissenschaftlichen Differenzierungen zwischen politischen Parteien und
sozialen Bewegungen (vgl. Kapitel 4) – bemerkenswert, dass die Vorstellung von politischen Parteien zunächst keineswegs an das Kriterium einer
Organisation geknüpft war. Im Gegenteil verband sich mit dem Begriff
Partei »seit dem 18. Jahrhundert in erster Linie die Vorstellung einer Gesinnungsgemeinschaft mit sehr scharfer Ablehnung jeder festen Organisation« (Fenske 1994: 12–13). Verantwortlich für den während des gesamten
18. Jahrhunderts ausgesprochen geringen Organisationsgrad von Parteien
waren nicht so sehr obrigkeitliche Bestrebungen zur Verhinderung organisatorischer Gruppenbildung, die es freilich auch gab, sondern vor allem
das weitgehend mangelne Bedürfnis nach Organisationsbildung. Die Pressefreiheit als Grundfreiheit rangierte weit vor der Forderung nach Vereinsfreiheit (ebd.: 32–33). Etwas anderes gilt für den Großteil des 19. Jahrhunderts. Die umfangreichen Organisationsverbote, die – im Gegensatz zu der
Situation in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien – die politische
Realität in vielen Ländern Kontinentaleuropas kennzeichneten, wurden
von der jüngeren Forschung zu Recht als eine der Kerndeterminanten der
Parteienentwicklung herausgestellt.
»[T]he emergence of modern parties was not just a function of changing organizational incentives. It also was influenced by the strength of organizational disincentives: in many places party development was retarded by laws deliberately designed
to stifle political opinions and political organizations, particularly those that might
threaten the status quo.« (Scarrow 2006: 20; Hervorhebung im Original)
Dieser Zusammenhang kennzeichnete auch die Entwicklung in Frankreich,
von wo die europäische Geschichte organisierter Parteien mit den Zusammenschlüssen der Jakobiner ab 1792 ihren Ausgang nahm. Viele der
POLITISCHE PARTEIEN
53
kurz nach der ersten Revolution installierten restriktiven Bestimmungen
überdauerten sogar die Etablierung des demokratischen Regimes von 1871,
auch wenn sie nun kaum mehr geltend gemacht wurden. Erst kurz nach
der Wende zum 20. Jahrhundert erlangten die französischen Parteien denselben Rechtsstatus wie andere Organisationen des Landes.
Gerade die historisch orientierte Parteienforschung hat sich von jeher
stark an der unterschiedlichen politisch-ideologischen Grundausrichtung
von Parteien orientiert und diese nicht selten zum zentralen Ordnungsprinzip ihrer Betrachtungen erhoben.40 Wollte man die historische Grundtendenz in Europa ohne jegliche weitere Differenzierung in einen Satz
zusammenfassen41, so wäre darauf hinzuweisen, dass am Beginn der
Konservatismus stand, welcher zunächst durch liberale, später durch sozialistische bzw. sozialdemokratische Parteien politisch herausgefordert
wurde. Das bedeutet nun freilich nicht, dass der Konservatismus auch den
Anfang der Parteiengeschichte im engeren Sinne markierte. Nur in seltenen
Ausnahmefällen, so in Frankreich während der Restauration, waren es die
Konservativen, die als erste politische Gruppe organisatorische Gestalt als
Partei annahmen. Üblicherweise blieb die frühe Gründung konservativer
Parteien hingegen »eine organisatorische Antwort auf die Herausforderung
des Liberalismus und des Radikalismus« (von Beyme 1984: 67). Dabei
wirkte der zur Partei gewordene Konservatismus in der Regel zurück auf
die im Einzelfall höchst unterschiedliche Entwicklung der liberalen Parteien.
Nicht minder unterschiedlich verlief die Geschichte der Herausbildung
der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. In Kontinentaleuropa kam es, verglichen mit der Entwicklung in England, zu einem frühen
Auftreten von Arbeiterparteien, weil sich die liberalen Parteien des Kontinents in deutlich geringerem Maße als die englischen Liberalen in der Lage
zeigten, die Verfechter umfangreicher Sozialreformen politisch einzubinden bzw. zu absorbieren. Das geringere »Absorbierungspotential« der kon-
——————
40 Dies, obwohl nie bestritten wurde, dass ideologische Motive der Parteigründung in
unterschiedlichen politischen und regionalen Kontexten historisch häufig später
wirksam wurden als etwa regionale Nachbarschaften von Abgeordneten oder berufsbezogene Aspekte (Duverger 1959: 2–3).
41 Differenzierte Überblicke über unterschiedliche Theorien der Parteienentstehung
(institutionelle Theorien, Krisensituationstheorien und Modernisierungstheorien)
mit umfangreichen Belegen aus der internationalen Entwicklungsgeschichte politischer Parteien bieten LaPalombara/Weiner (1966: 7–21) und von Beyme (1984:
26–40).
54
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
tinentaleuropäischen Liberalen wiederum hatte etwas mit deren schwächerer Parteiorganisation und insbesondere deren deutlich bescheidenerer
politischer Machtbasis zu tun (Friedrich 1953: 499–501). Allerdings erscheint bei näherer Betrachtung der internationalen Entwicklungen weniger die Schwäche der Liberalen als das ausschlaggebende Moment für ein
starkes Wachstum der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien.
Entscheidend war offenbar vielmehr, ob sie die klarste Alternative zu der
jeweils an der Macht befindlichen Partei darstellten – ganz gleich, ob diese
Partei nun konservativ oder liberal war (ebd.: 506).
Freilich blieb das Spektrum organisierter Parteien nicht lange auf Konservative, Liberale und Sozialisten bzw. Sozialdemokraten beschränkt. Mit
wiederum gravierenden Unterschieden zwischen einzelnen Ländern entstanden auch die historisch jüngeren Parteien, wie christliche oder kommunistische Parteien, als Reaktion auf das politische Agieren der bereits
bestehenden Parteiformationen. Während die Gründung der kommunistischen Parteien maßgeblich eine Folge der Konflikte über die Haltung der
Sozialisten im Ersten Weltkrieg darstellte, formierten sich christliche Parteien zumeist als defensive Reaktion gegen eine liberale und laizistische
Gesetzgebung (von Beyme 1984: 116, 139).
Auch die von Maurice Duverger (1959) prominent beschriebenen spezifischen Entstehungsmuster und organisatorischen Charakteristika politischer Parteien weisen einen deutlichen Zusammenhang mit deren politisch-ideologischen Profil auf. Das früheste Grundmuster der Parteienstehung nach Duverger geht von der Existenz politischer Gruppen im Parlament aus, auf die historisch die Entstehung von Wahlkomitees folgt, bevor
sich schließlich beide zu politischen Parteien vereinen, welche sowohl
innerhalb als auch außerhalb des Parlaments präsent sind (ebd.: 2). Dass
die parlamentarischen Gruppen im Allgemeinen vor dem jeweiligen Wahlkomitee entstanden, wird daraus erklärlich, dass es politische Versammlungen mit darin ansässigen Gruppierungen bereits lange vor der Einführung
demokratischer Wahlen gab. Die historisch als erste im Parlament vertretenen Gruppierungen aber waren die Konservativen, später ergänzt um die
Liberalen, kurzum: die auf Adel und Bürgertum gestützten politischen
Kräfte. Da ihre Entstehung vom Kern der parlamentarischen Gruppe aus
erfolgte, welche sich gleichsam nachträglich einen außerparlamentarischen
Unterbau schuf, der den neuen Anforderungen der Schritt um Schritt entstehenden Massendemokratie gerecht wurde, blieben sie nach Duverger bis
in die jüngere Vergangenheit hinein durch eine faktische Vormachtstellung
POLITISCHE PARTEIEN
55
der parlamentarischen Eliten gegenüber der außerparlamentarischen Parteiorganisation geprägt (ebd.: 12–14). Ein anderes, dem soeben beschriebenen genau entgegenlaufendes Entwicklungsmuster beschreibt die historische Entstehung der außerparlamentarisch geborenen Parteien. Zu ihnen
gehörten, mit wenigen Ausnahmen42, zunächst die sozialistischen bzw.
sozialdemokratischen Parteien, daneben aber auch christliche Parteien oder
Bauernparteien. Ihre organisatorische Keimzelle im engeren Sinne waren
Wahlkomitees, die nicht selten auf Betreiben äußerer Kräfte wie Vereinigungen, Diskussionsgesellschaften oder auch Zeitungen gegründet wurden.
Die beiden maßgeblichen Hintergrundbedingungen für die Entstehung
solcher Wahlkomitees waren die graduelle Ausweitung des Wahlrechts und
das zunehmende Streben nach Gleichheit und nach Ablösung der alten
Eliten. Analog zu der These über die konservativen und frühen liberalen
Parteien geht Duverger davon aus, dass sich die spezifische Genese so
entstandener Parteien tief in deren organisatorisch-funktionales Gewissen
eingebrannt habe und entsprechend nachwirke (ebd.).43
Die unterschiedlichen hier angerissenen Aspekte der Entwicklungsgeschichte politischer Parteien lassen sich, in spezifischer Ausprägung, auch
in der deutschen Geschichte wiederentdecken. Zu den Besonderheiten der
deutschen Entwicklung gehörte es – bis über die Reichsgründung hinaus –,
dass sich die relevanten Prozesse der Parteigründung nicht auf zentralstaatlicher, sondern auf regionaler Ebene vollzogen. Abgesehen davon kam
es aber, wie in anderen Ländern auch, zuerst im Lager der Liberalen zur
Begründung einer veritablen Parteiorganisation (etwa Deutsche Fortschrittspartei, 1861), kurz darauf zur Etablierung einer Parteiorganisation
der Konservativen (etwa Freikonservative Partei, 1867). Während die Parteibildungsprozesse bei Liberalen und Konservativen in Deutschland, gemessen an den Entwicklungen in anderen Ländern Westeuropas, mit einer
gewissen Verspätung einsetzten, gelang die Organisationsbildung auf der
Linken auffallend früh. Die aus dem Zusammenschluss des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1869) hervorgehende Sozialdemokratische Partei
Deutschlands (1875) wurde geradezu »zum Vorbild einer organisierten
Partei im In- und Ausland« (von Beyme 1978: 728). Die internationale
Vorreiterrolle der deutschen Sozialdemokratie entsprang einem spezifi-
——————
42 Als wichtigste historische Ausnahme können die französischen Sozialisten gelten
(von Beyme 1984: 86).
43 Darauf wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein.
56
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
schen Geflecht unterschiedlicher Faktoren. Für die frühe Etablierung einer
Arbeiterbewegung war, abgesehen von stärker sozioökonomischen Einflüssen, in nicht unerheblichem Maße der ausgesprochene Konservatismus
großer Teile des liberalen Bürgertums in Deutschland (sowohl in Fragen
der Demokratisierung des Wahlrechts als auch der Parlamentarisierung des
Regimes) mitbestimmend. Dies forcierte die Bestrebungen innerhalb der
Arbeiterbewegung, sobald wie möglich zu einem selbständigen politischen
Akteur zu werden. Einen entscheidenden Impuls für die Begründung der
SPD als einer autonomen Massenpartei gab schließlich die im internationalen Vergleich frühe Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts im Norddeutschen Bund und ab 1871 auf der Ebene des Reiches
(Lösche 1994: 26–27). Um das Fünfparteiensystem, das Deutschland trotz
beträchtlicher Wandlungen unter der Oberfläche im Wesentlichen bis 1933
charakterisierte, zu konstituieren, bedurfte es nach der Etablierung der
Konservativen, der Nationalliberalen, der Linksliberalen und der Sozialdemokraten nun nur noch des politischen Katholizismus. Dieser wurde seit
der Reichsgründung durch das Zentrum repräsentiert. Im Gegensatz zu
einigen anderen Parteien des politischen Katholizismus – wie insbesondere
deren Schwesterparteien in Österreich und Belgien – nahm das Zentrum
vor allem in Fragen konstitutioneller Freiheit keinen betont konservativen
Standpunkt ein. Es wies vielmehr, sowohl auf der programmatischen als
auch auf der Wählerebene deutliche Züge einer gemäßigten »Volkspartei«
auf (von Beyme 1984: 123; Lösche 1994: 35).
Das Parteiensystem, das sich nach der Zäsur von 1933–1945 im westlichen Teil Deutschlands, zunächst unter Lizensierungsauflage durch die
Alliierten, entwickelte, trug Züge der Kontinuität und des Neubeginns.
Während Sozialdemokraten und Kommunisten der Tradition verpflichtet
blieben, gab es im Lager der bürgerlichen Parteien grundlegende Neuerungen (Schmollinger/Staritz 1980; Mintzel 1980). Die bis dahin in zwei
Gruppen gespaltenen Liberalen vereinigten sich Ende 1948 zur FDP. Sowohl im Falle der CDU als auch der CSU handelte es sich um Neugründungen, welche freilich unter bewusster Anknüpfung an ältere Traditionen
erfolgten, aus denen ein neues, christlich-überkonfessionelles Gepräge
erwachsen sollte.
POLITISCHE PARTEIEN
57
3.2 Bestimmungsmerkmale politischer Parteien und die
Parteien der Bundesrepublik aus der Perspektive
der vergleichenden Parteienforschung
3.2.1 Parteifamilien
Die Zuordnung von Parteien zu unterschiedlichen »Parteifamilien« ist
angesichts des seit den sechziger Jahren beobachteten Strebens zahlreicher
Parteien, ihre Unterstützungsbasis über die Grenzen einer ideologischsozialen Kernklientel hinaus auszudehnen und sich zumindest der Tendenz
nach in »Volksparteien« oder gar »Allerweltsparteien« (Kirchheimer 1965:
27) zu verwandeln, bedeutend schwieriger geworden. Entsprechende Zugänge gelten jedoch zu Recht weiterhin als sinnvoll (Ware 1996: 45–47)44,
besonders für den Vergleich des ideologisch-programmatischen Gepräges
und der Machtstrukturen von Parteiensystemen.
Zumindest an die wichtigsten Merkmale der unterschiedlichen Parteifamilien45 sei an dieser Stelle erinnert: Liberale Parteien waren historisch
auf das Ziel einer Begründung des Verfassungsstaates und des demokratischen Rechtsstaats mit einer starken Betonung individueller Freiheitsrechte
hin orientiert. Kaum minder charakteristisch war ihr entschiedenes Eintreten für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem. Die früh entwickelte
skeptische Haltung Liberaler gegenüber jeder Form von »public ownership« transformierte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Unterstützung expansiver Privatisierungsprogramme und eines »Rückbaus« des
Wohlfahrtstaates. Der traditionellen Betonung liberaler Abwehrrechte
gegenüber dem Staat wurde später häufig die Forderung nach einem Ausbau direktdemokratischer Beteiligungsrechte an die Seite gestellt.
Die Konservativen betonen bis heute in stärkerem Maße als andere
Parteien traditionelle moralische Wertvorstellungen, nicht selten auch die
Idee der Nation. Vielen konservativen Parteien ging es jedoch nicht ausschließlich um die Verteidigung der ökonomischen und politischen Interessen ihrer unmittelbaren sozialen Trägerschaft; vielmehr speiste sich ein
——————
44 Darauf weisen unterschiedliche empirische Untersuchungen über die Entwicklung
der ideologisch-programmatischen Positionen von politischen Parteien in den
konsolidierten liberalen Demokratien hin. Vgl. Laver/Hunt (1992), Huber/
Inglehart (1995), Knutsen (1998).
45 Vgl. hierzu im Detail Delwit (2002, 2003, 2005), Kselman/Buttigieg (2003), Talshir
(2002) und Kirchner (1988).
58
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Teil ihrer programmatischen Grundüberzeugungen aus einer Art paternalistischer Verantwortung für außerhalb ihrer Kernklientel angesiedelte Teile
der Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg, und verstärkt seit den
achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wurde in vielen Ländern das Eintreten für eine neo-liberale Wirtschaftspolitik zu einem zentralen Merkmal
der Programmatik konservativer Parteien.
Christliche bzw. christdemokratische Parteien als weiteres Mitglied der
Gruppe bürgerlicher Parteien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Programmatik von Konservativen und Liberalen durch den expliziten Bezug
auf christliche Werte. Personalismus, Solidarität und Subsidiarität bilden
zentrale Momente des christdemokratischen Gesellschaftsmodells. Kennzeichnend für ihr politisches Weltbild ist ferner der hohe Stellenwert der
Familie. Das Konzept der Nation und das Prinzip des »law and order«
besitzen bei den meisten christdemokratischen Parteien geringere Bedeutung als bei konservativen Gruppierungen. Andererseits werden individuelle Bürgerrechte deutlich weniger stark betont als bei den Liberalen. In
wirtschaftspolitischen Fragen vertreten christdemokratische Parteien innerhalb der Gruppe bürgerlicher Parteien die mit Abstand »großzügigsten«
Konzepte wohlfahrtsstaatlicher Politik.
Eine zentrale Komponente des politischen Strebens der frühen sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien bildete deren Eintreten für
die Demokratisierung des Wahlrechts und den Aufbau eines gegenüber
konservativ/liberalen Konzeptionen deutlich stärker auf das Prinzip der
Gleichheit gründenden Staats- und Gesellschaftsmodells. Obwohl die
Grundlagen des Wohlfahrtsstaates in einigen Ländern, unter ihnen
Deutschland, nicht von der Sozialdemokratie, sondern von den Konservativen gelegt wurden, gelten sozialdemokratische Parteien bis heute, und
überwiegend zu Recht, als der natürliche Anwalt eines hoch entwickelten
Sozialstaats. Das ursprünglich (wenn auch selten mit letzter Konsequenz)
vertretene Ziel einer weitreichenden Vergemeinschaftung privater Güter
verschwand ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend aus den Programmen sozialdemokratischer Parteien. Im Zuge fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierung dehnten viele sozialdemokratische Parteien ihr
traditionelles Streben nach Gleichheit stärker als die meisten bürgerlichen
Parteien auf den Bereich »gender equality« aus.
Grün-alternative Parteien entstanden im Zuge der Herausbildung eines
neuen »post-materialistischen« Wertekanons, dessen leidenschaftlichkämpferische Unterstützung sie in Gegnerschaft sowohl zu den bürgerli-
POLITISCHE PARTEIEN
59
chen als auch zu den sozialdemokratischen Parteien stellte. Zu den zentralen programmatischen Forderungen grün-alternativer Parteien zählen insbesondere die Unterordnung der Ökonomie unter die Ökologie, die Entwicklung umweltgerechter Lösungen politischer und ökonomischer Probleme, die Förderung alternativer Energien, die Stärkung direktdemokratischer Beteiligungsrechte und die radikale Verwirklichung geschlechterbezogener Gleichberechtigung. Hinzu kam vor allem in der Frühphase der
grün-alternativen Bewegung das Eintreten für gewaltfreien Widerstand,
pazifistische Konzeptionen internationaler Politik und militärische Abrüstung.
Die Bundesrepublik gehört zu jenen Systemen, in denen die beiden
»major players« dem Idealtypus der »Volkspartei« in weit überdurchschnittlichem Ausmaß entsprachen bzw. noch immer entsprechen.46
Nichtsdestotrotz sind CDU/CSU und SPD zugleich eindeutig Mitglieder
der Familie der christdemokratischen bzw. sozialdemokratischen Parteien.47 Ein solches Gegenüber einer christdemokratischen und einer
sozialdemokratischen Partei als Hauptakteuren des Parteiensystems ist
keineswegs selbstverständlich: Christdemokratische Parteien spielten eine
vergleichbare Rolle wie in der Bundesrepublik nur in wenigen westeuropäischen Ländern, darunter insbesondere Italien (bis 1994), Österreich, Belgien und die Niederlande. Vor allem in den meisten angelsächsischen Ländern (mit Ausnahme Irlands), aber auch in Japan, entspricht der Position
der Christdemokraten die einer »echten« konservativen Partei mit üblicherweise deutlich restriktiveren Vorstellungen insbesondere bezüglich der
konkreten Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates. Auch die Existenz einer
relativ starken Sozialdemokratie in der Bundesrepublik ist keineswegs für
sämtliche der liberalen Demokratien typisch. In Kanada und den USA etwa
bildet als Gegenüber des konservativen Pols des Parteiensystems keine
sozialdemokratische, sondern eine liberale Partei. Unter den größeren angelsächsischen Ländern fällt Großbritannien aus dem Rahmen, insofern es
——————
46 Maßgeblich mitverantwortlich dafür war neben günstigen Voraussetzungen auf der
Ebene der politischen Kultur maßgeblich der spezifische sozioökonomische
Kontext: Zum einen waren traditionelle soziale Grenzen durch die Erfahrung des
Drittes Reiches in erheblichem Maße erodiert; zum anderen wurde die klassenbezogene Konfliktlinie durch den Katholizismus modifiziert, wovon konkret die
Union bei der Werbung von Anhängern aus dem Arbeitermilieu profitierte. Vgl.
Smith (1982) und Padgett (2000a).
47 Vgl. mit hierzu mit zahlreichen weiteren Nachweisen Bösch (2002) und Walter
(2002).
60
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
der dortigen Arbeiterbewegung Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts schließlich gelang, die Liberalen aus der Rolle einer der beiden maßgeblichen Parteien des Systems zu verdrängen und durch die Labour Party
zu ersetzen. Allerdings gibt es unter den konsolidierten liberalen Demokratien auch solche, wie insbesondere die skandinavischen Länder und
Österreich, in denen die Sozialdemokratie im Durchschnitt der Jahrzehnte
seit 1945 noch eine deutlich stärkere Position innehatte als hierzulande.
Die Parteifamilien der Liberalen und Grün-Alternativen werden in der
Bundesrepublik durch die FDP und Bündnis 90/Die Grünen repräsentiert.
Die 1948 gegründete FDP gehört zu jenen liberalen Parteien, die die unterschiedlichen Strömungen des Liberalismus stets in sich vereinte, freilich
um den Preis zum Teil heftiger Auseinandersetzungen über den einzuschlagenden politisch-programmatischen Kurs und die damit verbundenen
Koalitionsoptionen (Dittberner 2005). Diese nach innen dynamische, aber
im Prinzip unumstrittene Einheit bzw. Konzentration des parteipolitisch
organisatorischen Liberalismus in der Bundesrepublik bildet einen Gegensatz zu der internen Fragmentierung des liberalen Lagers in einigen anderen Ländern wie Dänemark, Italien, Frankreich, den Niederlanden oder der
Schweiz, wo traditionell mehrere (links- und rechts)liberale Parteien nebeneinander existierten und auch parlamentarisch repräsentiert waren.
Die deutschen Grünen wurden zu einer der erfolgreichsten Parteien
ihrer Art (Müller-Rommel/Poguntke 2002). Die vor allem in der Frühphase heftigen Auseinandersetzungen zwischen »Fundis» und »Realos«
haben dem im internationalen Vergleich großen Zuspruch der Partei durch
die Wähler keinen Abbruch getan. Nur die grünen Parteien weniger Länder
erzielten langfristig ähnlich gute oder bessere Ergebnisse als die Grünen in
der Bundesrepublik (darunter vor allem deren Schwesterparteien in den
Benelux-Staaten). Selbst die Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die
Grünen auf der zentralstaatlichen Ebene während der Jahre 1998 bis 2005,
die vielen anderen Mitgliedern der grün-alternativen Parteifamilie vorenthalten blieb, produzierte bemerkenswert geringe elektorale Kosten – jedenfalls auf Bundesebene, im Gegensatz zum überwiegend miserablen Abschneiden der Grünen auf Landesebene.
Mit Ausnahme der frühen Nachkriegszeit gab es in der alten Bundesrepublik, zumindest im Bund, keinen parlamentarisch repräsentierten Vertreter aus der Familie der kommunistischen Parteien. Die im 1. und 2.
Bundestag noch vertretene KPD wurde 1956 verboten, wäre aber vermutlich auch ohne diese Maßnahme über kurz oder lang aus dem Bundestag
POLITISCHE PARTEIEN
61
ausgeschieden. Die DKP und andere kleinere Parteien der extremen Linken blieben weit davon entfernt, parlamentarischen Repräsentationsstatus
auf Bundesebene zu erringen – in besonders deutlichem Gegensatz zu
deren mächtigen Schwesterparteien in den romanischen Ländern Südwesteuropas. Erst die deutsche Vereinigung ermöglichte es in Gestalt der PDS
einer Partei aus der sozialistisch/kommunistischen Tradition, in den gesamtdeutschen Bundestag einzuziehen.48 Mit dem relativen Bedeutungsgewinn eines Akteurs aus dieser Parteifamilie hat die Bundesrepublik Anteil
an einem Trend, der – im Gegensatz zu der Situation in der Mehrzahl der
konsolidierten westlichen Demokratien – auch die Entwicklung des Parteienwettbewerbs in Norwegen, Schweden und den Niederlanden kennzeichnet (Stöss/Haas/Niedermayer 2006: 28).
Wie in den meisten anderen konsolidierten liberalen Demokratien – mit
der wichtigsten Ausnahme Italien, wo der faschistische »Movimento Sociale Italiano« nach 1945 dauerhaft in der italienischen Abgeordnetenkammer vertreten war und nach seiner Umbenennung in »Alleanza Nazionale«
1994 sogar den Sprung in den Kreis der Regierungsparteien schaffte – gab
es in der Bundesrepublik keine auf Bundesebene parlamentarisch repräsentierte Partei, die eindeutig dem rechtsradikalen bzw. rechtsextremen
Spektrum zuzurechnen war. Am stärksten in diese Nähe gelangte die NPD
bei der Bundestagswahl 1969. Bereits 1952 verboten wurde die (bei Wahlen ohnehin nur mäßig erfolgreiche) rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP); lediglich zu regionalen Wahlerfolgen gelangten später gegründete Parteien wie »Die Republikaner« und die DVU. Letztere wiesen bzw.
weisen einen stark rechtspopulistischen Zug auf und können daher mit
Parteien wie dem französischen »Front National«, der italienischen »Lega
Nord« oder der österreichischen FPÖ (nach 1985) verglichen werden. Ein
genauerer Vergleich der rechtspopulistischen Parteien in Deutschland mit
diesen (und anderen) Parteien verdeutlicht jedoch nicht nur Unterschiede
im jeweiligen programmatisch-organisatorischen Profil, sondern insbesondere solche auf der Ebene elektoralen Zuspruchs. Im internationalen Vergleich betrachtet blieb die Unterstützung rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien in der Bundesrepublik alles in allem sehr bescheiden
(Betz 1998; Decker 2000; Ignazi 2003). Als ursächlich dafür können so-
——————
48 Inwieweit die PDS, die sich 2005 in »Linkspartei« umtaufte, als kommunistisch,
post-kommunistisch oder aber bereits als vollständig demokratisierte Linkspartei
gelten kann, bleibt auch in der jüngeren Literatur umstritten (Lang 2003; Neu
2004).
62
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
wohl das positive Leistungsprofil des bestehenden Parteiensystems mit
seinem breiten ideologisch-programmatischen Spektrum als auch das wenig überzeugende programmatische und personelle Angebot von Akteuren
des rechtsextremen Spektrums gelten (Stöss 2006: 557).
3.2.2 Das Innenleben der Parteiorganisationen
Die Beschäftigung mit der Organisationsstruktur politischer Parteien war
von jeher stark auf die Erfassung historischer Wandlungsprozesse hin
ausgerichtet. Zu bedeutenden Schüben der Parteienforschung kam es jeweils im Zuge der Entdeckung eines neuen Parteientyps. Das gilt für die
Identifikation der »Massen(integrations)parteien« durch Maurice Duverger
(1959) und Sigmund Neumann (1956) ebenso wie für die »Entdeckung«
der »Electoral-Professional Party« durch Angelo Panebianco (1988) oder
der »Kartellpartei« durch Richard Katz und Peter Mair (1995).49 Ein Großteil der jeweils nachfolgenden Forschung war entweder damit beschäftigt,
im Rahmen von Fallstudien die Anwendbarkeit bzw. empirische Passgenauigkeit des Modells auf einzelne Parteien zu untersuchen oder aber die
von seinen »Erfindern« formulierten Thesen bezüglich der historischen
Entwicklungsdimension kritisch zu überprüfen. Gerade weil es bei den
international einflussreichsten Arbeiten dieser Richtung darum ging, länderübergreifend gültige Trends der Parteienentwicklung zu identifizieren, blieb
deren Bedeutung für die vergleichende Differenzierung von Parteien unterschiedlicher Länder begrenzt.50
Das wohl auffälligste länderübergreifende Kennzeichen der jüngeren
Entwicklungsgeschichte von Parteiorganisationen in den konsolidierten
liberalen Demokratien bildet der signifikante Rückgang der Mitgliederzah-
——————
49 Freilich ging es bei den international maßgeblichen Beiträgen nicht ausschließlich
(und nicht einmal immer primär) um organisatorische Aspekte. Charakteristisch
war vielmehr die in der jüngeren Literatur kritisierte, nicht selten unreflektierte
Vermischung unterschiedlicher – nämlich organisatorischer, programmatischer
und funktionaler – Klassifikationskriterien (Gunther/Diamond 2003: 170). Bei
Gunther und Diamond findet sich auch ein eigener organisationsbezogener Typologisierungsvorschlag, dessen Grundtypen lauten: »elite-based parties«, »massbased parties«, »ethnicity-based parties«, »electoralist parties« und »movement parties« (ebd.: 172).
50 Eine (vergleichende) Diskussion der unterschiedlichen Modelle ist im Rahmen
dieser Untersuchung nicht zu leisten. Vgl. als einschlägigen Überblick Jun (2004).
POLITISCHE PARTEIEN
63
len.51 Er kennzeichnet auch die Entwicklung der Parteien in der
Bundesrepublik, obwohl die deutschen Parteien – international vergleichenden Studien zufolge (Mair/van Biezen 2001) – schwerlich zu den
Extrembeispielen westeuropäischer »Mitgliedermisere« zählen. Letzteres
gilt eher für Länder wie Frankreich, Italien oder Großbritannien. Insgesamt
behauptet die Bundesrepublik hinsichtlich der durchschnittlichen Mitgliederzahlen ihrer Parteien ihren angestammten Platz im unteren Drittel
westeuropäischer Demokratien, weit hinter Ländern wie Österreich oder
Finnland, aber vor Frankreich oder Großbritannien. Speziellere Studien
zeigen, dass sich die Dynamik des Mitgliederschwunds in Deutschland in
den vergangenen Jahren deutlich abgeschwächt hat (Niedermayer 2006);
entgegen populärer Vermutungen ist es auch keineswegs zu einer vollständigen sozioökonomischen Nivellierung bzw. Konvergenz der Parteimitgliedschaften gekommen (Biehl 2006: 291). Insgesamt verdienen die Parteien der Bundesrepublik, trotz der Veränderungstendenzen der vergangenen Jahrzehnte, heute in höherem Maße als die Parteien manch anderer
Länder aus der Gruppe der konsolidierten liberalen Demokratien das Prädikat »Mitgliederpartei«.
Dabei bleibt ungewiss, welchen Wert diese Eigenschaft im Kontext
veränderter Rahmenbedingungen des Parteienwettbewerbs besitzt. Zwar
gelten Mitglieder aus Sicht der Parteieliten weiterhin verbreitet als »Garanten für die gesellschaftliche Beziehungsfähigkeit der Parteien« (Wiesendahl
2006: 173–174). Kaum zu bestreiten ist jedoch, dass Massenmitgliedschaften von Parteien teils als Ergebnis großzügiger staatlicher Parteienfinanzierung (vgl. Abschnitt 3.4), teils als Folge grundlegend veränderter Bedingungen politischer Mobilisierung in der »Mediengesellschaft« (vgl. Kapitel
5) eine Funktionseinbuße erlitten haben. Auch weiterhin von Bedeutung
erscheint eine gewisse Mitgliederdichte von Parteien nicht zuletzt mit Blick
auf innerparteiliche Selektions- und Rekrutierungsprozesse. Für die gelegentlich beschworene Gefahr, dass mitgliederarme Parteien mit dünner
——————
51 Zu den Kerndeterminanten der Entwicklung in Westeuropa zählte seit den siebziger Jahren die Entstehung und Etablierung eines alternativen unkonventionellen
Beteiligungsmarktes, das zum Teil skandalöse Fehlverhalten von Parteieliten in öffentlichen Ämtern und der daraus resultierende Vertrauensverlust der Bevölkerung
in die Parteien sowie schließlich die wachsende »weltanschauliche Beziehungsschwäche« der Parteien, welche sich in großer Zahl gezielt auf die Mitte des Wählermarktes hin bewegten und dabei zunehmend ihre ideologisch-programmatische
Kernidentität einbüßten (Wiesendahl 2006: 97–100).
64
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Personaldecke zur leichten Beute zielstrebiger Karrieristen werden könnten
(Zoll 1997: 34), gibt es hierzulande bislang kaum Anzeichen, aber das
könnte sich ändern.
Neben den unterschiedlichen Aspekten der Mitgliederentwicklung von
Parteien hat die jüngere internationale Parteienforschung vor allem die
Frage beschäftigt, ob es einen allgemeinen Trend hin zur Zentralisierung
von Entscheidungsmacht an der Spitze von Parteienorganisationen gibt.
Die Konzentration von politischer Macht an der Parteispitze bildet eine
zentrale Komponente des außerordentlich einflussreichen Modells der
»Kartellpartei« von Richard Katz und Peter Mair (1995: 19–20). Im Gegensatz zu vielen anderen Aspekten der »Kartellparteien«-These wurde die
behauptete Zentralisierungstendenz auch in kritischen Auseinandersetzungen mit den Bewertungen von Katz und Mair nicht prinzipiell in Frage
gestellt (vgl. Helms 2001a). Eine wichtige Quelle entsprechender Zentralisierungsdynamiken bilden gezielte organisatorische Reformen. Aus Sicht
von Vertretern der »Kartellparteien«-These steht ein Ausbau der Beteiligungsrechte von Parteimitgliedern einer faktischen Zentralisierung von
Entscheidungsmacht an der Parteispitze nicht zwingend entgegen. Vielmehr könne durch entsprechende Schritte und einen geschickten Einsatz
»plebiszitärer« Instrumente die Parteiführung neue Spielräume insbesondere gegenüber der mittleren Funktionärsebene und den lokalen Parteigliederungen hinzu gewinnen. Zusätzlich befördert wird eine Zentralisierung
von politischer Entscheidungsmacht an der Parteispitze nach verbreiteter
Einschätzung durch die direkten und indirekten Effekte der medialen Personalisierung von Politik.
Gemessen an der Hochkarätigkeit theoretischer Debatten gibt es wenige handfeste empirische Belege für die Richtigkeit der behaupteten Entwicklungstendenz. Zum internationalen »Lehrbeispiel« einer konsequenten
Modernisierungs- bzw. Zentralisierungsstrategie wurde die Organisationsreform der britischen Labour Party zwischen Mitte der achtziger und Ende
der neunziger Jahre (Seyd 1998). Nicht wirklich vergleichbar ist der ähnlich
prominente Fall der italienischen »Forza Italia«. Mit Blick auf diese kann
weder von einer evolutionären noch von einer revolutionären Zentralisierung politischer Entscheidungsmacht gesprochen werden. Vielmehr wurde
die Parteiorganisation (soweit es eine solche bei »Forza Italia« im klassischen Sinne überhaupt gibt) gleichsam um deren politischen Kopf, Silvio
Berlusconi, »herumgebaut« (Poli 2002; Grasmück 2005).
POLITISCHE PARTEIEN
65
Die Entwicklung der Parteien der Bundesrepublik ist in dieser Hinsicht
nicht eindeutig. Formale organisatorische Zentralisierungsschübe blieben
nahezu vollständig aus. Die dominante Entwicklungstendenz auf der
Ebene von Organisationsreformen seit den neunziger Jahren verlief bei
praktisch allen im Bundestag vertretenen Parteien52 in Richtung einer
formalen Stärkung von Mitgliedern im innerparteilichen Willensbildungsund Entscheidungsprozess (Kießling 2001; Poguntke 2002), womit sich die
deutschen Parteien mit einer gewissen Verzögerung dem allgemeinen
Trend westeuropäischer Parteientwicklung anschlossen. Die praktischen
Auswirkungen der unterschiedlichen Reformmaßnahmen, wie die Einführung von Mitgliederplebisziten über Sach- und Personalfragen, blieben
freilich denkbar bescheiden (Wiesendahl 2006: 157, 159). Eine wohl auch
nur von den wenigsten erwartete »Fundamentaldemokratisierung« innerparteilicher Willensbildung blieb aus. Andererseits gibt es praktisch keine
Anzeichen für eine systematische Ausbeutung der neu geschaffenen
Strukturen durch eine auf »plebiszitäre Führung« setzende Parteispitze.
Aus einer breiteren historischen Perspektive betrachtet, die auch den politisch-kulturellen Handlungskorridor von Akteuren berücksichtigt, scheint
es eher, als wenn sich die strukturellen Bedingungen »präsidialer« Parteiführung verschlechtert hätten (Lösche 2005).
Zumindest ein genereller Trend in Richtung eines Machtzuwachses in
den Händen der Parteivorsitzenden ist nicht erkennbar. Die eindeutigsten
Beispiele für besonders machtvolle Parteiführer finden sich in den ersten
Nachkriegsjahrzehnten. Dabei profitierten die Betreffenden nicht unerheblich von der vergleichsweise anspruchslosen Partizipationserwartung
der Parteibasis und der »gouvernementalistisch« geprägten politischen
Kultur jener Zeit. Jüngere Erfahrungen der Amtsführung von Parteivorsitzenden blieben zumeist deutlich ambivalenter. Paradigmatischen Charakter
erreichte in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten allein die einzigartige »Regentschaft« Helmut Kohls über die CDU. Sie wurde auf anspruchsvoller theoretischer Grundlage mit dem Prädikat des »uncharismatic personalism« belegt (Ansell/Fish 1999). Entscheidend für Kohls
Machtposition war ein über Jahrzehnte lang gewobenes, über sämtliche
regionale und funktionale Ebenen der Partei hinweg gespanntes Netz persönlicher Kontakte und Loyalitätsverhältnisse, auf das schon sein unmit-
——————
52 Eine Ausnahme bildeten die Grünen, die – von anderen Voraussetzungen ausgehend – die zunächst extrem basisdemokratisch geprägte Parteiorganisation
schrittweise stärker am Kriterium der Durchschlagskraft der Partei ausrichteten.
66
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
telbarer Nachfolger und langjähriger »Ziehsohn», Wolfgang Schäuble,
praktisch keinen Zugriff besaß. Auch die jüngste Entwicklungsgeschichte
der großen Volksparteien – unter ihren Vorsitzenden Müntefering,
Platzeck und Beck (SPD) bzw. Merkel (CDU) – weist keineswegs eindeutig
in Richtung einer strukturellen Stärkung der Parteispitze.53
Dass der innerparteilichen Machtkumulation beim jeweiligen Bundesvorsitzenden hierzulande offensichtliche Grenzen gesetzt sind, hat viel mit
einem weiterem Strukturmerkmal der deutschen Parteien zu tun, welches
aus international vergleichender Perspektive besehen zwar nicht einzigartig
ist, aber gleichwohl zu den strukturellen Besonderheiten gezählt werden
kann. Gemeint ist der stark föderativ geprägte Charakter der Parteiorganisationen in der Bundesrepublik, ein gleichsam selbstverständlicher institutioneller Reflex der föderativen Staatsordnung.54 Der organisatorische
Aufbau aller etablierten Parteien in der Bundesrepublik folgt dem staatlichen Aufbau der Bundesrepublik (Niclauß 2002: 148–163). Am deutlichsten ausgebildet ist der föderalistische Zug traditionell bei der CDU. Historisch war die starke Stellung vor allem der Landesparteien und ihrer Vorsitzenden gegenüber der Bundespartei entscheidend in der weitgehenden
Nichtexistenz einer voll ausgebauten Parteiorganisation auf Bundesebene
begründet. Auch die nach dem Wechsel in die Opposition ab 1969 »nachgeholte Parteigründung« führte jedoch kaum zu einer Konzentration von
Macht und Ressourcen bei der Bundespartei, sondern eher zu einer Intensivierung innerparteilicher Koordination und Verflechtung (Schmid 1990:
156–158).
Vor allem die jüngeren Wandlungen des bundesstaatlichen Entscheidungssystems (vgl. Kapitel 8) sind dafür verantwortlich, dass das politische
Gewicht der Landesparteien, und besonders der Ministerpräsidenten, in
den vergangenen Jahren – keineswegs ausschließlich in den Reihen der
Union – sogar noch zugenommen hat (Schneider 2001; Detterbeck/
Renzsch 2002). Es gilt jedoch, die Maßstäbe zu wahren: Nicht nur an ame-
——————
53 Vgl. zum thematischen Gesamtkontext politische Führung innerhalb der Parteien
auch den Band von Forkmann und Schlieben (2005).
54 Einigen Autoren zufolge besteht der entscheidende Dezentralisierungseffekt des
Föderalismus sogar weniger in der Aufteilung legislativer und administrativer
Kompetenzen zwischen unterschiedlichen Ebenen, als vielmehr in dem nachhaltig
machtdistributiven Effekt föderativer Strukturen auf die politischen Parteien. Vgl.
Truman (1955).
POLITISCHE PARTEIEN
67
rikanischen Standards55 gemessen sind die deutschen Parteien nach wie vor
durch ein insgesamt hohes Maß an institutioneller und funktionaler Integration und Zentralisierung gekennzeichnet. Auch in der Gruppe der parlamentarischen Bundesstaaten finden sich Länder, deren Parteien ungleich
stärker durch Anzeichen von Regionalisierung und vertikaler Fragmentierung gekennzeichnet sind als die Parteien in der Bundesrepublik (Renzsch
2001).
3.2.3
Parteien und Fraktionen
Auffallend stark im Zeichen der Integration steht eine andere Dimension
der internen Machtstruktur der Parteien in der Bundesrepublik: das Verhältnis zwischen Parteien (bzw. Parteiorganisationen) und Fraktionen. Die
Konstruktion einer länderbezogenen Typologie, welche dieses Charakteristikum des Verhältnisses zwischen Parteien und Fraktionen in Deutschland greifbar macht, wird in doppelter Hinsicht erschwert. Zum einen
durch die beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien
eines Systems; zum anderen durch die ausgeprägte historische Dynamik,
dem diese Komponente »innerparteilicher« Machtstruktur im weiteren
Sinne ausgesetzt war.
Gemäß der einflussreichen, am Beginn des Kapitels umrissenen These
Duvergers (1959: 12–14) wird die interne Machtstruktur des Verhältnisses
zwischen der Parteiorganisation und dem parlamentarisch repräsentierten
Teil der Partei (Fraktion) maßgeblich von der jeweiligen Evolutionsgeschichte politischer Parteien geprägt. Danach liegt das machtpolitische
Zentrum bürgerlicher Parteien eindeutig in der parlamentarischen Partei
bzw. der Fraktion, dasjenige sozialistischer bzw. sozialdemokratischer
Parteien hingegen eher innerhalb der Parteiorganisation. In international
vergleichenden Arbeiten wurde wenig empirische Evidenz für die (fort-
——————
55 Zum Standardrepertoire der Aussagen über das amerikanische Parteiwesen gehört
die (freilich zuspitzende) Feststellung, dass es ungeachtet der Persistenz des Zweiparteiensystems auf Bundesebene in den Vereinigten Staaten ebenso viele unterschiedliche Ausprägungen der Republikaner und Demokraten wie amerikanische
Einzelstaaten gäbe und die beiden Bundesparteien lediglich den Charakter von
»Dachverbänden« besäßen. Tatsächlich handelte es sich bei den nationalen Organisationen der Demokraten und Republikaner bis in die siebziger Jahre hinein auch
in rechtlicher Hinsicht lediglich um konföderative Strukturen. Vgl. statt vieler
Epstein (1986) und Mayhew (1986).
68
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
währende) Richtigkeit dieser These gefunden (Helms 1999a). Mit wenigen
Ausnahmen ist es über die Jahrzehnte hinweg zu einem weitreichenden
Annäherungsprozess bezüglich der grundlegenden innerparteilichen
Machtstruktur bürgerlicher und sozialdemokratisch/sozialistischer Parteien
gekommen. Ausnahmen von der Regel finden sich noch am ehesten in
Skandinavien und den Niederlanden, wobei einschlägige Unterschiede
auch in diesen Ländern vor allem die Ebene von Parteistatuten und weniger die Praxis der Parteipolitik kennzeichnen. Stärker ausgeprägt sind entsprechende Unterschiede zwischen bürgerlichen und sozialdemokratisch/sozialistischen Parteien einerseits und grün-alternativen Parteien
andererseits. Letztere weisen tatsächlich verbreitet »typisch genetische«
Merkmale auf, insofern bei ihnen der Idee außerparlamentarisch verankerter »Graswurzel-Demokratie« und dem »Primat der Bewegung« gegenüber
deren parlamentarischen Vertretern in der Regel ein besonderer Stellenwert
zuerkannt wird. Auch für die Grünen gilt jedoch, dass entstehungsgeschichtlich bedingte Strukturmerkmale wie diese im Zuge fortschreitender
Professionalisierung, gemessen am status quo ante, zum Teil bereits beträchtlich an Profil eingebüßt haben (Burchell 2002). Vollständig andere –
und dabei zumeist gravierend undemokratische – innerorganisatorische
Machtstrukturen wiederum weist die Mehrzahl der seit den achtziger Jahren zahlreich entstandenen rechtspopulistischen Parteien auf. Sie sind nicht
selten ganz auf eine einzelne charismatische Persönlichkeit hin ausgerichtet
sind und können von daher im Einzelfall zutreffend als »Persönlichkeitspartei« (Seißelberg 1994) beschrieben werden.
Zusätzlich zu diesen Strukturunterschieden zwischen Parteien unterschiedlichen Typs ist das Verhältnis zwischen Parteiorganisationen und
Fraktionen durch spezifische historische und die Grenzen einzelner Länder
überschreitende Entwicklungsdynamiken gekennzeichnet. Vom Beginn der
sechziger Jahre an bis in die frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts
hinein kam es in vielen Ländern zu einer signifikanten Aufwertung der
Machtposition der Parteiorganisationen gegenüber den Fraktionen. Verantwortlich hierfür waren im Wesentlichen die Tendenz zur Professionalisierung der Parteieliten, die Ausweitung der Funktionsanforderungen der
Parteien, der Ausbau staatlicher Finanzhilfen an die Parteiorganisationen,
die Einführung unterschiedlicher Komponenten innerparteilicher Demokratie und der Machtzuwachs von Regierungschefs (von Beyme 1984: 386–
389). In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre setzte jedoch vielerorts ein
gegenläufiger Trend ein, der nun umgekehrt die »innerparteiliche« Macht
POLITISCHE PARTEIEN
69
der Fraktionen stärkte. In vielen Ländern verbesserte sich die finanzielle
Situation der Fraktionen erheblich durch neue Formen der Parteienfinanzierung. Ferner wurde die politische Arbeit der Fraktionen als Ergebnis
von Parlamentsreformen – darunter sowohl Reformen der parlamentarischen Geschäftsordnungen als auch solche, die den Ausbau der Mitarbeiterstäbe der Fraktionen betrafen – deutlich effizienter. Schließlich
schwächte die um sich greifende Tendenz zur Entideologisierung des Parteienwettbewerbs, der Sieg des Pragmatismus über die ideologische Konfrontation, die Stellung der Parteiorganisationen, woraus wiederum ein
relativer Machtgewinn der Fraktionen resultierte (Heidar/Koole 2000).
Ungeachtet dieser länderübergreifend zu beobachtenden Entwicklungstrends lassen sich unterschiedliche Grundmuster im Verhältnis zwischen Parteiorganisationen und Fraktionen auch auf der Ebene ganzer
Systeme bzw. Länder erkennen. Unterschieden wurden Systeme mit ausgeprägter Fraktionsdominanz (wie Großbritannien), mit Parteidominanz (wie
Frankreich), mit Faktionsdominanz (wie Japan), ferner solche mit weitreichender funktionaler Autonomie (wie die Vereinigten Staaten und die
Schweiz) sowie schließlich solche mit ausgeprägt integrativer Struktur
(Helms 2000: 108–116). Die mit Abstand größte Zahl an Ländern aus der
Gruppe der konsolidierten liberalen Demokratien fällt entweder in die
Kategorie fraktionsdominierter Machtstrukturen oder in jene des integrativen Typs. Für die Gruppe der Systeme mit integrativer Struktur kann die
Bundesrepublik als ein paradigmatischer Fall gelten.
Bereits in den fünfziger Jahren konstatierte Rudolf Wildenmann (1954:
154) ein Ausmaß an personeller Verflechtung zwischen Partei- und Fraktionsführung, das es überhaupt nur in Ausnahmefällen sinnvoll erscheinen
lasse, von einer Beziehung zwischen beiden Einheiten zu sprechen. Entsprechende Diagnosen wurden in der jüngeren Literatur bekräftigt (Herzog
1997; Schüttemeyer 1999). Auf der Ebene der Spitzenrepräsentanten der
Parteien erreichte die Tendenz zur Verflechtung zwischen Parteiorganisation und Fraktion ihren historischen Höhepunkt im weiteren zeitlichen
Umfeld der Bundestagswahl 2005: Zwischen Anfang 2004 und Mitte 2006
gab es bei jedem der drei »Altakteure« des deutschen Parteiensystems
(CDU, SPD und FDP) eine Phase, in der das Amt des Partei- und Fraktionsvorsitzenden in den Händen einer Persönlichkeit (Merkel, Müntefering,
Westerwelle) vereint war.56 Praktisch von Beginn an zu den Manifestatio-
——————
56 Entsprechende Personalunionen gab es freilich bereits früher, jedoch nie für alle
drei Parteien im Rahmen eines Zeitfensters von nur zwei Jahren.
70
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
nen einer engen Verknüpfung der Partei- und Fraktionseliten gehörte die
Struktur innerparteilicher Entscheidungsprozesse über die Kanzlerkandidaturen von Union und SPD (Schüttemeyer 1998: 113–247). Nicht zuletzt
aber die (mit Unterbrechungen) seit dem Ausgang der fünfziger Jahre betriebene Praxis informeller Koalitionsgespräche am Schnittpunkt zwischen
Kernexekutive, Regierungsparteien und Mehrheitsfraktionen (vgl. Kapitel
7) trug auf seine Weise dazu bei, die funktionale Integration zwischen den
Partei- und Fraktionseliten der an der Regierung beteiligten Gruppen zu
befördern und zu befestigen.
3.3 Das Parteiensystem der Bundesrepublik aus der Sicht
der vergleichenden Parteiensystemforschung
In frühen Beiträgen der Parteiensystemforschung wurde vor allem, wenn
nicht gar ausschließlich, auf die bloße Anzahl der Parteien abgehoben. Erst
später wurden auch die Größenverhältnisse zwischen den zu einem System
gehörenden Parteien, der jeweilige Fragmentierungsgrad des Parteiensystems und das in ihm vorherrschende Ausmaß an Symmetrie bzw. Asymmetrie berücksichtigt. Der Fragmentierungsgrad eines Parteiensystems
bemisst sich nach der Anzahl der »effektiven Parteien« innerhalb eines
Systems.57 Dabei gilt: Je ungleicher das Machtverhältnis zwischen den
existierenden Parteien, desto geringer die effektive im Verhältnis zur realen
Anzahl von Parteien. Im Gegensatz zum Fragmentierungsgrad ist das jeweilige Ausmaß an Symmetrie bzw. Asymmetrie ausschließlich auf die
Stärkeverhältnisse zwischen den beiden größten Parteien nach Stimmen
bezogen.58 Veränderungen dieser Größenrelationen werden unter den
Begriff der Volatilität gefasst; je umfangreicher die Veränderungen, desto
——————
57 Die Anzahl der »effektiven Parteien« ergibt sich, gemäß des einflussreichen
Operationalisierungsvorschlags von Laakso/Taagepera (1979), aus dem Kehrwert
der Summe der quadrierten Stimmenanteile aller Parteien.
58 Wie gelegentlich angeregt wurde (Jesse 2006: 30), erscheint es jedoch in der Tat
sinnvoll, zumindest am Rande zu berücksichtigen, über welche konkreten Koalitionsoptionen die großen Parteien eines Systems im Einzelfall verfügen. Andernfalls
kann es zu Bewertungen kommen, nach denen die formal dominante Partei sich
gleichwohl de facto in einer strukturell schwächeren Position befindet als die nach
Stimmen und Mandaten »zweite Partei« des Systems.
POLITISCHE PARTEIEN
71
höher die Volatilität. Ein weiteres – inhaltliches – Klassifikationskriterium
bezieht sich auf den jeweiligen Polarisierungsgrad des Parteiensystems,
welcher sich nach der ideologischen Distanz zwischen den Parteien eines
Systems bemisst. Dabei kann unterschieden werden nach der ideologischen
Distanz zwischen den beiden größten Parteien einerseits und nach dem
Ausmaß an Polarisierung des Parteiensystems (unter Berücksichtigung
sämtlicher Parteien) andererseits. Auf der parlamentarisch-gouvernementalen Wettbewerbsebene können Parteiensysteme ferner nach dem Grad
der Segmentierung vergleichend klassifiziert werden. Damit ist der Grad
der »Abschottung« zwischen den unterschiedlichen Parteien eines Systems
in Bezug auf die prinzipielle Koalitionsfähigkeit bzw. -willigkeit gemeint. 59
Zu den Merkmalen des deutschen Parteiensystems der vergangenen
vier Jahrzehnte gehört zunächst ein vergleichsweise geringes Maß an
Fragmentierung und Polarisierung. Das war jedoch bekanntlich nicht immer so.60 Das Parteiensystem der späten vierziger und fünfziger Jahre wies
sowohl hinsichtlich der Anzahl parlamentarisch repräsentierter Parteien als
auch der ideologischen Polarisierung des Parteiensystems auffallende Parallelen zu der hochgradig fragmentierten und polarisierten Parteienlandschaft der Weimarer Republik auf (Falter 1981). Die große Anzahl parlamentarisch repräsentierter Parteien insbesondere während der ersten
Wahlperiode des Bundestages (1949–1953) war nicht zuletzt Ausdruck
einer Vielzahl gesellschaftlicher Konfliktlinien mit parteibegründender
Qualität. Ihre Wirkung wurde zunächst kaum durch restriktive Wirkungen
des Wahlsystems entschärft. Für den auch im internationalen Vergleich
beispiellosen Konzentrationsprozess im deutschen Parteiensystem von der
Mitte der fünfziger bis zum Beginn der sechziger Jahre waren das allmähliche Verblassen gesellschaftlicher Konfliktlinien (so vor allem der Konflikt
zwischen Einheimischen und Vertriebenen) und die außergewöhnlich
erfolgreiche Integrationspolitik der Unionsparteien alles in allem entscheidender als die Wirkungen der graduellen Verschärfung der Sperrklausel des
Wahlsystems.
Das Parteiensystem der Periode 1961 bis 1983 wurde oft als »Zweieinhalbparteiensystem« beschrieben. Während die normativen Ambitionen
der meisten deutschen Beobachter (nicht nur während dieser Phase) vor
——————
59 Vgl. zur Diskussion dieser Klassifikationskriterien statt vieler Niedermayer (1996a).
60 Vgl. für eine weiter ausgreifende Darstellung und Analyse der Entwicklungsstufen
des deutschen Parteiensystems, welche hier nur in groben Zügen nachgezeichnet
werden können, statt vieler von Alemann (2000: 41–77).
72
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
allem auf das britische Parteiensystem gerichtet waren, fand sich das in
empirischer Hinsicht vermutlich engste Pendant zum deutschen Parteiensystem jener Jahre in Österreich mit seiner Dreier-Konfiguration aus ÖVP,
SPD und FPÖ. Seit den siebziger Jahren kam es in der Bundesrepublik,
parallel zu der Entwicklung in vielen anderen Industrienationen, zur Etablierung einer ökologischen bzw. post-materiellen Konfliktlinie, der die
Grünen ihre Entstehung und ihren elektoralen Aufstieg verdankten. Die
deutsche Vereinigung beendete diese Entwicklungsphase des Parteiensystems, indem sie das bisherige System zu einem Fünfparteiensystem erweiterte.
Obwohl sich der Fragmentierungsgrad des Parteiensystems im Zeitraum 1990–2005 gegenüber den drei vorausgehenden Jahrzehnten durch
die Etablierung der PDS als fünfter dauerhaft im Bundestag vertretener
Partei moderat erhöhte, gibt es nach wie vor wenige westeuropäische Parteiensysteme, die einen deutlich geringeren Zersplitterungsgrad aufweisen
als das deutsche, darunter Griechenland, Österreich und Lichtenstein. Im
Hinblick auf die Stimmenverteilung handelt es sich selbst beim britischen
»Zweiparteiensystem« bereits seit Jahrzehnten um ein Mehrparteiensystem
mit beträchtlichem Fragmentierungsgrad. Deutlich stärker fragmentiert als
das deutsche Parteiensystem (sowohl auf Stimmen- als auch auf der Mandatsebene) sind vor allem die Parteiensysteme einiger der kleineren westeuropäischen Länder wie insbesondere Belgien und die Schweiz. Von den
größeren Ländern weist seit 1994 Italien ein auffallend hohes Maß an
Fragmentierung auf, nach einigen Indizes auch Frankreich (Dalton/
McAllister/Wattenberg 2000: 43).
Dem historischen Konzentrationsprozess im deutschen Parteiensystem
entsprach ein Trend in Richtung Entpolarisierung. Der Polarisierungsgrad
des deutschen Parteiensystems zwischen Ende der fünfziger und Anfang
der siebziger Jahre war deutlich geringer als im ersten Nachkriegsjahrzehnt.
Als von seinen Wirkungen her noch weitreichender als das Verschwinden
der zahlreichen Kleinparteien erwies sich die Annäherung zwischen den
beiden Volksparteien. Entscheidend verantwortlich für diese war freilich
vor allem die kontinuierliche ideologisch-programmatische Zentrumsbewegung der SPD. Die seit den achtziger Jahren wieder zunehmende Polarisierung des Parteiensystems (im Sinne einer Öffnung nach links) war nicht
so sehr ein Ergebnis der (nur vorübergehend) wachsenden Distanz zwischen Union und SPD, als vielmehr des Hinzutretens neuer Parteien, zunächst der Grünen und später der PDS. Aus international vergleichender
POLITISCHE PARTEIEN
73
Perspektive betrachtet erscheint jedoch auch der Polarisierungsgrad des
Parteiensystems im vereinigten Deutschland insgesamt als moderat, nicht
zuletzt deshalb, weil es in der Bundesrepublik auf der zentralstaatlichen
Ebene – anders als in Italien, Dänemark, Norwegen oder Österreich –
keine parlamentarisch repräsentierte radikale, extremistische oder populistische Rechtspartei gibt. Aber auch die Existenz gleich zweier großer »Sozialstaatsparteien«, wie die Union und SPD genannt wurden (Schmidt 2006),
ist international keineswegs selbstverständlich und trägt entscheidend zur
Konzentration des parteipolitischen Kräftefeldes mit Blick auf grundlegende Fragen staatlicher Politik bei.
Zu den klassischen Kennzeichen des deutschen Parteiensystems gehörte ferner eine ausgeprägte Asymmetrie zugunsten der CDU. Bis zum
Vorabend der Bundestagswahl von 1998 ging die Union mit nur einer
einzigen Ausnahme (1972) aus sämtlichen Bundestagswahlen als stimmenund mandatsstärkste Partei hervor. Während die Christdemokraten ihr
zwei Jahrzehnte lang ungebrochenes Monopol bei der Bestellung des Bundeskanzlers Ende 1969 einbüßten, bildete sich die »CDU-Lastigkeit« des
Parteiensystems (Kolinsky 1993: 46) auch während der sozial-liberalen Ära
nicht zurück. Die strukturelle Überlegenheit der Unionsparteien manifestierte sich dabei nicht nur auf Bundesebene, sondern in mindestens
vergleichbarem Maße in den Ländern. Von den vier Bundestagswahlen der
»sozial-liberalen Ära« (1969, 1972, 1976 und 1980) gelang es der SPD nur
ein einziges Mal (1976), die Union an der Wahlurne zu übertrumpfen. Im
Gegensatz zum Fortbestand christdemokratischer Vormacht in den meisten Ländern, kam es hinsichtlich der Stärkeverhältnisse zwischen Union
und SPD im Bund seit Ende der neunziger Jahre zu einem Wandel. Aus
den beiden ersten der drei Bundestagswahlen der Jahre 1998, 2002 und
2006 ging die SPD als stärkste Partei bzw. Fraktion hervor.61 Selbst die
Rückeroberung der Position der stimmen- und mandatsstärksten Partei
bzw. Fraktion durch die Union bei der Bundestagswahl 2006 markierte
keine Rückkehr zu früheren Hochphasen christdemokratischer Hegemonie. Mit einem Stimmenvorsprung von lediglich einem Prozentpunkt gegenüber der SPD fiel die Führung der CDU/CSU denkbar bescheiden aus,
insbesondere gemessen an den haushohen Wahlsiegen der fünfziger Jahre,
bei denen die Union im Einzelfall, so bei der Bundestagswahl 1957, um
mehr als 18 Prozentpunkte besser abschnitt als die SPD.
——————
61 Anders als 1998 stellten die Sozialdemokraten 2002 jedoch nur aufgrund einer
höheren Anzahl von Überhangmandaten die stärkste Fraktion.
74
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Mit der Entwicklung hin zu einem stärker symmetrischen Machtverhältnis der beiden größten Akteure des Parteiensystems steht die Bundesrepublik keineswegs allein. Eine Tendenz zu einer größeren Offenheit der
strukturellen Wettbewerbssituation kennzeichnet viele der westeuropäischen Parteiensysteme. Grundsätzlich ähnlich wie in der Bundesrepublik
kam es in vielen Ländern – von Belgien und den Niederlanden bis nach
Italien – vor allem zu einer deutlichen Schwächung angestammter Vormachtpositionen christdemokratischer Parteien (Walter 1999). Verschiebungen des Gravitationszentrums des Parteiensystems blieben jedoch nicht
auf Länder mit ehemals christdemokratischer Hegemonialposition beschränkt. Auch in einigen Ländern mit entgegengesetzten Vorzeichen, d.h.
einer langjährigen Asymmetrie zugunsten der Sozialdemokratie, wie in
Österreich, Norwegen und Schweden, kam es in den vergangenen Jahren
zu stärker ausgeglichenen Kräftekonstellationen bzw. zur Herausbildung
einer stärker bipolar geprägten Wettbewerbsstruktur (Stöss/Haas/
Niedermayer 2006: 24). Das wohl bemerkenswerteste Gegenbeispiel eines
hochgradig stabilen »hegemonialen Parteiensystems« verkörpert Japan, wo
es in den neunziger Jahren nur vorübergehend zu einer Schwächung der
jahrzehntelang behaupteten Vormachtstellung der Liberaldemokratischen
Partei kam. Seit 1995 ist die LDP erneut als dominante Kraft (wenn auch
nicht mehr als einzige Partei) an der Regierung beteiligt; ihr Status als
stimmen- und mandatsstärkste Partei stand seit deren Gründung im Jahre
1955 zu keiner Zeit in Frage (Köllner 2005).
Zu den weiteren Merkmalen des deutschen Parteiensystems gehört seit
den späten sechziger Jahren eine insgesamt geringe bis mäßig starke Segmentierung, ein relativ hohes Maß an prinzipieller gegenseitiger Koalitionsfähigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien. Weder die Zunahme der
parlamentarisch repräsentierten Parteien von drei auf fünf (von denen eine
nach wie vor als »nicht koalitionsfähig« gilt) noch die seit der Vereinigung
gewachsene Bipolarisierung des Parteiensystems hat zu einer problematischen Verringerung von Koalitionsoptionen geführt. Die jüngsten Entwicklungen deuten eher darauf hin, dass künftig weitere lagerübergreifende
Koalitionsoptionen (wie zwischen der Union und den Grünen) hinzukommen könnten. Die stark auf Kooperation und Kompromiss gestimmten Parameter des staatlichen Entscheidungssystems in der Bundesrepublik
tragen mit dazu bei, dass sich die unterschiedlichen Parteien selbst in
Hochphasen der Konkurrenz nicht vollständig einander entfremden und
zumindest prinzipiell gesprächsbereit bleiben.
POLITISCHE PARTEIEN
75
Der insgesamt moderate Segmentierungsgrad des deutschen Parteiensystems ist aus international vergleichender Perspektive betrachtet wenig
auffällig. Er findet vielerorts Entsprechungen, vor allem in der Mehrzahl
stark fragmentierter Systeme. Dabei macht die nicht nur in Deutschland
verbreitete Skepsis gegenüber Minderheitsregierungen im Hinblick auf
neue Koalitionsbündnisse, die die Bildung einer Mehrheitsregierung ermöglichen, zuweilen erfinderisch. Daneben gibt es jedoch Länder, unter
ihnen Frankreich und Italien, in denen die bipolare Struktur des Parteienwettbewerbs tatsächlich so fundiert ist, dass auch die Segmentierung des
Parteiensystems größer und die Palette politisch möglicher Koalitionsoptionen entsprechend kleiner ist als in der Bundesrepublik.
Erst recht einen länderübergreifenden Trend verkörpert die gewachsene Volatilität im Sinne von Veränderungen in den stimmenbezogenen
Stärkeverhältnissen der einzelnen Parteien zueinander. Sie ist maßgeblich
Ausdruck der fortschreitenden Ersetzung dauerhafter, milieubezogener
Bindungen an eine bestimmte Partei durch ein stärker kompetenzbasiertes
Abstimmungsverhalten (Drummond 2002). Für die Bundesrepublik kann
von einer gewachsenen Volatilität allerdings nur im historischen Vergleich
der letzten anderthalb Jahrzehnte mit den siebziger und frühen achtziger
Jahren gesprochen werden. Gemessen an den Zahlen für das erste Nachkriegsjahrzehnt ist das Ausmaß an elektoraler Volatilität im vereinigten
Deutschland noch immer gering. Dies wird insbesondere im Rahmen eines
historisch-internationalen Vergleichs greifbar. In den fünfziger Jahren lag
Deutschland hinsichtlich der Wählerfluktuation in der Spitzengruppe westlicher Länder, während der neunziger Jahre hingegen in der Gruppe mit
der vergleichsweise geringsten Volatilitätsrate (von Beyme 2000: 59). Für
alle Systeme gilt, dass steigende Volatilität nicht ohne weiteres mit einer
problematischen Destabilisierung des Parteiensystems gleichzusetzen ist.
Zu systemverändernden Wirkungen kommt es nur bei signifikanten Wählerbewegungen »zwischen den Blöcken«. In der Bundesrepublik war dies
vor allem 1998 der Fall, als es zu schweren Verlusten der Union und großen Gewinnen der SPD kam.
Ein weiteres Merkmal des Parteiensystems der erweiterten Bundesrepublik, das in der internationalen Parteiensystemforschung keine vergleichbar zentrale Rolle spielt wie die soeben diskutierten Kriterien, sei
abschließend erwähnt: die ausgeprägte regionale Asymmetrie in der elektoralen Unterstützung einzelner Parteien. Durch ein starkes regionales Ungleichgewicht ist keineswegs nur die Unterstützungsbasis der PDS gekenn-
76
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
zeichnet, bei der es sich noch immer ganz eindeutig um eine ostdeutsche
Regionalpartei handelt. Ihre Position als drittstärkste Partei des östlichen
Wahlgebietes ist unangefochten, während ihre Unterstützung selbst 2005,
wo sie mit der WASG paktierte, unterhalb der Fünfprozenthürde verblieb.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen (FDP 1990, SPD 2002) schneiden
alle übrigen im Bundestag vertretenen Parteien seit 1990 mehr oder minder
deutlich besser im westlichen Wahlgebiet ab. Auffallend stark entwickelt ist
das West-Ost-Gefälle bei der Union. Nach bescheidenen Differenzwerten
von unter vier Prozentpunkten bei den Bundestagswahlen 1990 und 1994
lag ihr im Westen erzieltes Ergebnis im Durchschnitt der drei Wahlen von
1998, 2002 und 2005 bei über elf Prozentpunkten unterhalb des Ergebnisses im östlichen Wahlgebiet. Bei den übrigen drei Parteien (FDP, Grüne
und SPD) gibt es, trotz weiterhin gravierender Unterschiede in der regionalen Stimmenverteilung, zumindest eine deutlich greifbare Tendenz in
Richtung größerer regionaler Symmetrie. Selbst in seiner gegenwärtigen
Form bleibt der spezifische Ost-West-Gegensatz eine deutsche Besonderheit, für die es in den übrigen Ländern Westeuropas keine wirkliche Entsprechung gibt. Durchaus üblich sind jedoch andere Ausprägungen regional stark unterschiedlich beschaffener Muster des Wahlverhaltens. Dabei
handelt es sich, wie in Großbritannien oder Italien, in der Regel um einen
ausgeprägten Nord-Süd-Gegensatz, für den es in Form der Strukturschwäche der Union im protestantisch geprägten Norden Deutschlands ein
(wenn auch nur mäßig stark ausgebildetes) Äquivalent auch hierzulande
gibt (Jesse 2006: 34–35). Durch noch deutlich markantere regionale Hochburgenbildungen gekennzeichnet sind die Parteienlandschaften der kulturell und sprachlich fragmentierten Systeme Spaniens oder Belgiens.
3.4 Die rechtliche Institutionalisierung von Parteien
und die Parteienfinanzierung
Anders als durch den Akt der Verfassungsgebung geschaffene Institutionen sind Parteien Ausdruck der gesellschaftlichen Wirklichkeit und durch
rechtliche Vorgaben nur in Grenzen regulierbar. Gleichwohl gibt es Ansätze zu einer rechtlichen Institutionalisierung politischer Parteien. Die
ausdrückliche verfassungsrechtliche Normierung von Parteien ist allerdings
auf einen recht kleinen Kreis von Ländern beschränkt. Zu ihnen gehört
POLITISCHE PARTEIEN
77
mit an erster Stelle die Bundesrepublik, wo den Parteien in Art. 21 GG
gleich eine doppelte verfassungsrechtliche Absicherung zuteil wurde – zum
einen über die Schaffung eines subjektiven politischen Grundrechts auf
Gründung einer Partei und Mitwirkung in dieser, zum anderen über den
Weg einer institutionellen Garantie der Partei und ihrer Funktionen
(Tsatsos 1990: 775). Eine vergleichbar weitreichende verfassungsrechtliche
Institutionalisierung ist selbst in der Mehrzahl jener Länder, in denen es
ebenfalls eine verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien gibt, selten.
Am ähnlichsten sind die einschlägigen Regeln in Portugal, in Frankreich
und (seit 1999) in der Schweiz, weniger umfassend in Spanien, Griechenland und Italien. Nicht in allen Ländern, die eine verfassungsrechtliche
Normierung der Parteien kennen, finden sich auch spezielle Parteiengesetze (wie in Deutschland, Spanien und Portugal). Andererseits bildet die
ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien keine Voraussetzung für eine rechtliche Institutionalisierung auf einfachgesetzlicher
Grundlage wie die Vielzahl von Ländern belegt, in denen es Parteiengesetze, aber keinen verfassungsrechtlichen Status von Parteien gibt.
Aus politikwissenschaftlicher Perspektive interessiert zunächst, warum
die Parteien in einigen Ländern (verfassungs)rechtlich institutionalisiert
sind, in anderen hingegen nicht. Von überragender Bedeutung erscheint
die historische Erfahrung von Ländern. Eine verfassungsrechtliche Normierung von Parteien findet sich mit auffallender Häufigkeit in Ländern
mit schwacher oder unterbrochener demokratischer Tradition. In diesen
Ländern ging es bei der verfassungsrechtlichen Anerkennung der Parteien
weniger um die zusätzliche Würdigung von in der Verfassungspraxis besonders prominent positionierten demokratischen Akteuren, sondern eher
um eine Normierung mit stark prospektivem Charakter. In Ländern mit
erfolgreich bewährter demokratischer Tradition wie Großbritannien oder
den Niederlanden erschien ein entsprechender Schritt dagegen verzichtbar
bzw. galt gerade die Fernhaltung des staatlichen Zugriffs durch die Mittel
des Rechts als eine zentrale politische Freiheitsgarantie (Morlok 1990:
783).62 Weniger einleuchtend sind funktionale Begründungen, die auf den
——————
62 Trotzdem kam es in der jüngeren Vergangenheit mit dem »Registration of Political
Parties Act 1998« und dem »Political Parties, Elections and Referendums Act
2000« selbst in Großbritannien zu einer gesetzesrechtlichen Anerkennung der
Parteien – ein Schritt, der im Urteil einiger Autoren nicht weniger als den späten
Übergang zur vollständigen Anerkennung der Parteien als Element der britischen
Verfassung markiert. Obwohl Parteien bereits früher in verschiedenen Gesetzen
78
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Zusammenhang zwischen der systemischen Bedeutung von Parteien und
deren verfassungsrechtlicher Anerkennung abheben. Den diesbezüglichen
Musterfall verkörpern die USA mit ihren stark auf die Erfüllung von Wahlfunktionen konzentrierten Parteien, welche weder verfassungsrechtlich
noch bundesgesetzlich in besonderer Weise hervorgehoben werden
(Lösche 2002).63 Nicht ganz in dieses Bild passt die erst vor wenigen Jahren erfolgte ausdrücklich funktionsbezogene verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien in der Schweiz. Als »funktionsarm« wird man die
schweizerischen Parteien jedoch nur im direkten Vergleich mit der herausragend zentralen Rolle von Parteien im politischen Entscheidungsverfahren der meisten parlamentarischen Demokratien bezeichnen können.
Nicht zuletzt aus rechtlicher Warte, im Hinblick auf andere Bestimmungen
der neuen Schweizerischen Bundesverfassung, erscheint die Berücksichtigung der Parteien angemessen. Speziell das in Art. 149, Abs. 2 der Bundesverfassung vorgeschriebene Proporzverfahren für die Wahl des Nationalrates wäre ohne politische Parteien nicht durchführbar.
Welchen Unterschied aber macht die rechtliche Institutionalisierung,
was folgt aus ihr? Die rechtliche Institutionalisierung allein stärkt die Parteien kaum, obwohl es eine auffallende Korrelation zwischen rechtlicher
Institutionalisierung und Parteienstaatlichkeit – im Sinne einer besonders
weitreichenden Durchdringung nicht nur des politischen Entscheidungssystems, sondern auch der staatsfernen Sektoren des Gemeinwesens – gibt
(Tsatsos 1990: 779).64 Von zentraler Bedeutung ist der Umstand, dass die
rechtliche Institutionalisierung die Grundlage für eine öffentliche Finanzierung der Parteien bildet. In der Bundesrepublik wurde das (keineswegs auf
Finanzierungsfragen beschränkte) Parteiengesetz vereinzelt schon vor
dessen parlamentarischer Verabschiedung als »Parteienfinanzierungsgesetz«
——————
Erwähnung fanden, existierten sie bis dahin nicht als »legal entities«. Vgl.
Bogdanor (2004: 717).
63 Allerdings gibt es in den USA unterhalb der zentralstaatlichen Ebene ein
umfangreiches gesetzliches Regelwerk zu den Parteien, insbesondere im Bereich
der Wahlkampfgesetzgebung, sowie eine lange Tradition gerichtlicher Entscheidungen, durch die die Existenz der Parteien institutionell befestigt wurde. In der
im amerikanischen Original bereits 1957 veröffentlichten großen Studie Karl
Loewensteins erscheinen die USA im Hinblick auf eine (für notwendig erachtete)
gesetzliche Institutionalisierung politischer Parteien gar als unerreichtes Vorbild
(Loewenstein 2000: 399–401).
64 Vereinzelt wurde die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien gar als
»wichtige Voraussetzung« (von Beyme 2002: 50) des Parteienstaates bezeichnet.
POLITISCHE PARTEIEN
79
bezeichnet. Ähnliche Erwägungen und Wahrnehmungen bestimmten die
einschlägigen Entscheidungen und Auseinandersetzungen auch in anderen
Ländern.
Die Parteienfinanzierung in den konsolidierten liberalen Demokratien
kennt viele Formen (Tsatsos 1992; Landfried 1994a; Naßmacher 2001).
Dem deutschen Modell wurde attestiert, dass es »die schlechteste beider
Welten« kumuliere: »großzügige Steuerbegünstigungen wie in Amerika
kombiniert mit öffentlicher Finanzierung wie in den kontinentaleuropäischen Ländern« (von Beyme 2002: 51).65 Entsprechend hoch sind die Einkünfte der deutschen Parteien im internationalen Vergleich. Auch für Länder, in denen sich die politischen Parteien mit bescheideneren Mitteln aus
öffentlichen Kassen begnügen müssen, gilt jedoch, dass sie im Zuge der
staatlichen Finanzfürsorge – nicht zuletzt in der Wahrnehmung der Bevölkerung – zunehmend den Charakter öffentlicher Einrichtungen mit ausgeprägter »Gesellschaftsferne« angenommen haben (van Biezen 2004).
Die (verfassungs)rechtliche Anerkennung und die ihr in aller Regel
nachfolgende öffentliche Finanzierung von Parteien fördert allem Anschein nach die Entwicklung des Parteienstaates mit allen daraus erwachsenden Problemen für das demokratische System.66 Aber führt die öffentliche Parteienfinanzierung auch zu einer Abschottung der etablierten Parteien auf der Ebene des Parteiensystems? Ungewöhnlich ausgeprägt ist eine
Tendenz dazu in Griechenland mit der spezifischen Zuspitzung, dass dort
nicht einmal alle etablierten Parteien, sondern nur die jeweilige Regierungspartei begünstigt wird (Foundethakis 2002: 161). Insgesamt scheint es
jedoch fraglich, ob die öffentliche Parteienfinanzierung tatsächlich entscheidend zur Institutionalisierung des status quo, zur »Versteinerung« von
Parteiensystemen beiträgt. Wichtige Gegenbeispiele liefern die skandinavischen Länder, aber auch Deutschland und Frankreich (Naßmacher 2006:
509). Im breiteren Vergleichskontext wurde sogar die These formuliert,
dass bei entsprechend niedrigen Zugangsschwellen (wie sie etwa Deutschland und Dänemark kennzeichnen) neue Parteien durch die Verfügbarkeit
öffentlicher Mittel begünstigt werden. Tatsächlich fanden auch Machtwechsel nach Einführung der öffentlichen Parteienfinanzierung nicht seltener, sondern häufiger statt als vorher (ebd.: 516).
——————
65 Vgl. zum deutschen System der Parteienfinanzierung statt vieler Adams (2005).
66 Vgl. zu den funktionalen und demokratietheoretischen Kosten des Parteienstaates
statt vieler Hennis (1998) und von Arnim (2001).
80
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
3.5 Konklusion
Politische Parteien entstanden im Zuge der Demokratisierung staatlicher
Herrschaftssysteme im Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.
Nicht nur in normativer Hinsicht bleiben die Parteien auch im Zeitalter der
»Etatisierung» mindestens zu einem Teil gesellschaftliche Institutionen.
Grundlegende Wandlungen auf der gesellschaftlichen Ebene, wie veränderte Partizipations- oder Kommunikationsbedürfnisse, gehen nicht spurlos an den Parteien vorüber, sie prägen ihr äußeres Erscheinungsbild und
mehr noch ihr Innenleben. Nichtsdestoweniger waren die Parteien in ihrer
konkreten Gestalt nie nur die »politischen Kinder gesellschaftlicher Konflikte«. Viele der spezielleren Wesensmerkmale von Parteien und des Parteiensystems sind in hohem Maße Reflexe anderer, nicht zuletzt institutioneller Eigenschaften des jeweiligen Regierungssystems. Das zeigt sich im
deutschen Fall insbesondere am organisatorischen Aufbau der Parteien wie
an deren hoch entwickelter Fähigkeit zum politischen Kompromiss, welche wesentlich ein Ergebnis der Einbettung des Parteiwesens in ein föderatives bzw. verhandlungsdemokratisches System sind.
So sehr die Parteien und das Parteiensystem eines Landes von den gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Parametern geprägt werden,
so stark ist ihr Einfluss auf das jeweilige Regierungssystem. Nicht nur die
politische Erfolgsgeschichte Deutschlands nach 1945 ist in hohem Maße
den Parteien zu verdanken; auch einige der spektakulären Krisen der liberalen Demokratie (wie in Italien) waren auf das Engste mit den Parteien
verknüpft. Die Einsicht in die offensichtlichen Grenzen der rechtlichen
Regulierbarkeit von im Kern gesellschaftlichen Institutionen erklärt mit,
warum Parteien und Parteiensysteme gleichwohl selten zum direkten Gegenstand ehrgeiziger Staatsreformen gemacht wurden. Weiter gehende
Annäherungen an bestimmte, bewunderte Eigenschaften von Parteiensystemen anderer Länder werden im politischen Reformprozess liberaler Demokratien üblicherweise über Wahlsystemreformen angestrebt.67 Davon
——————
67 Dies freilich mit gemischter Erfolgsbilanz. Die alte These von der gleichsam
beliebigen Kreierbarkeit von Parteiensystemen auf dem Wege der Wahlsystemreform wird zu Recht kaum noch ernsthaft vertreten. Die Anerkenntnis der maßgeblich politisch-kulturellen Bedingtheit der Wirkungen politischer Institutionen
gehört seit langem zum Basiskonsens der internationalen Demokratieforschung
(Przeworski 2004). Als erwähnenswert gelten heute eher die seltenen Ausnahmen,
POLITISCHE PARTEIEN
81
zeugen die Diskussionen in der Bundesrepublik während der sechziger
Jahre ebenso wie die öffentlichen Reformdebatten in vielen anderen Ländern, in denen nicht selten gerade das deutsche Wahlsystem als Schlüssel
zu einer erfolgreichen Demokratiereform betrachtet wurde.
Was den engeren Bereich der Parteiendemokratie in der Bundesrepublik betrifft, wurden im Ausland vor allem einige der spezielleren Aspekte
– wie die verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Parteien im
Grundgesetz und die 1959 eingeführte öffentliche Parteienfinanzierung –
zum Referenzmodell erhoben, obwohl es sich dabei nicht wirklich um
deutsche Erfindungen, sondern eher um die Weiterentwicklung andernorts68 ersonnener Maßnahmen handelte. In Teilen der politikwissenschaftlichen Literatur wurde darüber hinaus gelegentlich auch den deutschen
Parteien selbst Modellcharakter zugestanden, im Sinne einer modellhaften
Kumulierung bestimmter Eigenschaften. Als eine geradezu sinnbildliche
Verkörperung der Kirchheimer’schen »Allerweltspartei« erschien dabei in
den achtziger Jahren im Kontext eines weit ausgreifenden internationalen
Vergleichs die bayerische CSU (Schmidt 1985: 383).
Stärker noch als einzelne Parteien sind Parteiensysteme durch ein außerordentlich hohes Maß an dynamischer Energie gekennzeichnet. Dies
erschwert insbesondere das international vergleichende Studium von Parteiensystemen. Neben fortwährender Dynamik und gelegentlichen Anzeichen transnationaler Konvergenz gibt es jedoch eine bemerkenswerte Persistenz charakteristischer Strukturmuster. Die Teilhabe an länderübergreifenden Entwicklungstrends eines Systems führt selten zum vollständigen
Verlust von dessen zentralen Unterscheidungsmerkmalen. Das gilt für das
Parteiensystem der Bundesrepublik ebenso wie für die Parteiensysteme der
anderen liberalen Demokratien.69 Vor allem die in den neunziger Jahren
prominent formulierten Erwartungen, dass es auf breiter Front zu einer
tief greifenden De-Institutionalisierung von Parteiensystemen im Stile
——————
wie Italien in den neunziger Jahren, wo eine Restrukturierung des Parteiensystems
tatsächlich durch eine Reform des Wahlsystems gelang (Reed 2001).
68 Im Falle der öffentlichen Parteienfinanzierung war dies Puerto Rico (1957);
hinsichtlich der ausdrücklichen Anerkennung der Parteien in der Verfassung ist
Italien (1947) zu nennen.
69 Aus diesem Grund erweisen sich populäre Charakterisierungen jüngerer
Wandlungsprozesse im deutschen Parteiensystem mit Schlagworten wie »Amerikanisierung« und »Italienisierung« bei näherer Betrachtung – nicht zuletzt der amerikanischen und italienischen Parteipolitik! – als wenig substantiell und im Zweifelsfalle irreführend (Helms 2006b).
82
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
fundamentaler »Parteiensystemwechsel« kommen könne, haben sich nicht
bewahrheitet. Bei Anlegung der international üblichen Standards der theoretisch angeleiteten Parteiensystemwandelforschung (Smith 1989a: 353–
354, 1989b: 161) ließe sich von den hier interessierenden Ländern für die
Periode nach 1945 allenfalls Italien als Beispiel für ein System anführen, in
dem es innerhalb kurzer Zeit zu einer Veränderung des »institutionellen
Kerns« des Parteiensystems kam (Helms 1994). Selbst dort haben sich
einzelne Elemente der Parteienlandschaft unter der Oberfläche stärker
erhalten als dies zunächst den Anschein hatte.
All das schließt neue, unvorhersehbare Entwicklungen in den Parteiensystemen der liberalen Demokratien freilich nicht aus. Das Parteiensystem
der Bundesrepublik gehört auch nach dessen jüngeren Wandlungen weiterhin zu der großen Gruppe von Systemen vom Typ des »gemäßigten
Pluralismus« (Sartori 1976: 181). Auf mittlere Sicht erscheint eine Weiterentwicklung zu einem vollständig demokratisierten »Zwei-Block-System«
mindestens so wahrscheinlich wie – und dabei ungleich wünschenswerter
als – eine Rückkehr zum »polarisierten Pluralismus« Weimarer Prägung.
4 Interessengruppen: Agenten der
Zivilgesellschaft?
Stärker noch als die politischen Parteien, welche gelegentlich (vor allem im
Falle regierender Parteien) geradezu als Repräsentanten staatlicher Macht
erscheinen, sind Interessengruppen als eine alternative Ausprägung intermediärer Institutionen eindeutig in der Gesellschaft beheimatet. Das gilt
selbst für Systeme, in denen Interessengruppen in hohem Maße in das
staatliche Entscheidungssystem inkorporiert sind. Die maßgeblichen politikwissenschaftlichen Abgrenzungsversuche zwischen Interessengruppen
und Parteien sind jedoch zu Recht schwerlich auf deren jeweilige Nähe
zum Staat konzentriert.70 Als zentrales Unterscheidungsmerkmal gilt vielmehr das Ziel, politische Ämter zu besetzen, welches üblicherweise das
Bestreben von Parteien, nicht aber dasjenige von Interessengruppen kennzeichnet. Zweitens besitzen Parteien in Form von Wählerstimmen eine
spezifische Ressource von Parteien, auf die Interessengruppen nicht zurückgreifen können. Als ein drittes wichtiges Differenzierungskriterium gilt
schließlich der in aller Regel deutlich unterschiedlich weit dimensionierte
thematisch-programmatische Interessenfokus von Interessengruppen und
Parteien (vgl. Thomas 2001).
Freilich lässt sich auch innerhalb der großen Familie der Interessengruppen nach unterschiedlichen Mitgliedern differenzieren. Dabei ist hier
nicht zuerst an das gängige Unterscheidungskriterium der Sektorenzugehörigkeit von Interessengruppen (etwa zum Wirtschafts-, Sozial- oder Kulturbereich) gedacht, sondern an den Unterschied zwischen Interessenverbänden und sozialen Bewegungen. Verbände und Bewegungen unterschei-
——————
70 Dies erschiene fragwürdig insbesondere im Hinblick auf eine Abgrenzung von
Interessengruppen gegenüber oppositionellen, gegebenenfalls »staatsfeindlichen«
Parteien. Hinzu kommt, dass selbst in Ländern, deren politisches System durch ein
enges Verhältnis zwischen Interessengruppen und Staat gekennzeichnet ist, niemals alle oder auch nur die Mehrheit der Interessengruppen in dieses System inkorporiert sind.
84
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
den sich sowohl hinsichtlich ihrer internen Verfahrensgrundlage und ihres
Operationsmodus als auch im Hinblick auf ihre zentralen Ressourcen voneinander (Rucht 1993: 263–269): Ist die interne Verfahrensgrundlage von
Verbänden durch eine Satzung und eine hohe Rollenspezifikation einzelner
Akteure innerhalb dieser Organisation geprägt, so funktionieren interne
Prozesse in sozialen Bewegungen auf der Basis freien Aushandelns. Die
Rollenspezifikation von Mitgliedern sozialer Bewegungen ist eine deutlich
geringere als im Falle von Verbänden. Den zentralen Operationsmodus
von Verbänden bildet die Repräsentation von Mitgliederinteressen; bei den
Bewegungen sind es eher die Protesthandlungen ihrer Anhänger. Den
zentralen Ressourcen von Interessenverbänden wie Expertenwissen und
Geld, aber auch die Möglichkeit der Verweigerung bestimmter gesellschaftlich relevanter Leistungen, entspricht auf Seiten sozialer Bewegungen
die »Emphase der Anhängerschaft« (ebd.: 268).
Obwohl ein geringerer Institutionalisierungsgrad von sozialen Bewegungen zu den zentralen Abgrenzungsmerkmalen gegenüber Verbänden
zählt, führen Prozesse der fortschreitenden Institutionalisierung von Bewegungen in der Regel weniger zu einer Annäherung an den Interessengruppentypus der Verbände als vielmehr zu einer Institutionalisierung in
Form politischer Parteien wie sie in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik am Beispiel der Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung und
den Grünen zu beobachten war. Dieser Zusammenhang kennzeichnet im
Übrigen nicht nur das Verhältnis zwischen neuen sozialen Bewegungen
und politischen Parteien, sondern dasjenige zwischen Bewegungen und
Parteien überhaupt.71 Die Geschichte sozialer Bewegungen und politischer
Parteien zeigt jedoch, dass eine Bewegung keineswegs zwangsläufig zu
existieren aufhört, sobald sie eine Partei ausgebildet hat. In vielen Ländern
bildet eher die Koexistenz ideologisch-historisch »verschwisterter« Parteien
und Bewegungen den Normalfall (von Beyme 2000a: 18–21).72
——————
71 Als das Neue an den neuen sozialen Bewegungen kann nicht zuletzt die vergleichsweise geringere Eingriffstiefe in den gesellschaftlichen Prozess gelten. Während
viele der klassischen sozialen Bewegungen gesamtgesellschaftliche Ziele und Utopien vertraten, geht es den neuen sozialen Bewegungen im Allgemeinen lediglich
um eine zumeist thematisch begrenzte, dauerhafte Mitgestaltung des politischen
Prozesses innerhalb einer als solcher akzeptierten Grundordnung. Vgl. Rucht
(2002).
72 Eine weitere traditionelle Abgrenzung von Verbänden gegenüber anderen organisierten Gruppen, die jedenfalls am Rande erwähnt sei, bezieht sich auf den Unterschied zwischen Verbänden und Vereinen. Als konstitutives Bestimmungsmerkmal
INTERESSENGRUPPEN
85
Die nachfolgenden Betrachtungen konzentrieren sich auf die Interessenverbände. In Übereinstimmung mit dem Fokus der übrigen Kapitel
dieser Studie wird dabei wiederum eine Perspektive entwickelt, deren
Kernfokus auf den strukturellen Charakteristika von Interessenverbänden
und Verbandssystemen – verstanden als abhängige Variable – liegt. Dies
geschieht im Gegensatz zu der eindeutig vorherrschenden Ausrichtung der
Literatur über Interessengruppen in den liberalen Demokratien, welche
ganz überwiegend die Auswirkungen der Politik von Interessengruppen auf
das politische System, den politischen Prozess oder einzelne politische
Entscheidungen im Blick hat. Die beträchtliche funktionale Bedeutung von
Verbänden für den demokratischen Prozess wird hier vorausgesetzt. Sie
stand im Übrigen niemals wirklich in Frage – auch nicht im »verbandsprüden« Deutschland der Vorkriegsepoche und den frühen Jahren der Bundesrepublik. Lange gezweifelt wurde allein daran, ob es einen greifbaren
positiven Effekt von Interessenverbandspolitik für das Gemeinwesen gäbe.
Das einseitig negative Bild von politisch aktiven Verbänden, die als potentielle Feinde und als Gefährdung des Gemeinwohls erschienen, wurde in
der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren durch ein offeneres Verständnis von Interessengruppenpolitik ersetzt73 und unterscheidet sich
heute nicht mehr grundsätzlich von den vorherrschenden Einschätzungen
in anderen Ländern, in denen der Pluralismus und die Demokratie früher
heimisch wurden als hierzulande. Hier wie dort sind Interessenaggregation,
-selektion, -artikulation, und -integration als Teilkomponenten der gesellschaftlichen Repräsentationsfunktion von Verbänden sowie Partizipation,
Legitimation und sozioökonomische Selbstregulierung als sekundäre Verbandsfunktionen für das politische System74 prinzipiell anerkannt.
Der nächste Abschnitt beleuchtet einige theoretische und empirische
Aspekte der historischen Herausbildung von Interessengruppen. Im daran
——————
von Verbänden gilt aus dieser Perspektive »die nachhaltige, auf einen längeren
Zeitraum angelegte Einflußnahme auf den politischen Willensbildungsprozeß« (SchuettWetschky 1997: 9, Hervorhebung im Original), die kaum als typisch für die Vielzahl von Vereinen, etwa aus dem Freizeitbereich, angesehen werden kann.
73 Als in politikwissenschaftlicher Hinsicht maßgeblich erwies sich dabei der »NeoPluralismus« Ernst Fraenkels, der nach Einschätzung der meisten Autoren gedanklich im Wesentlichen bereits in den frühen dreißiger Jahren erschaffen wurde
(Buchstein/Kühn 1999: 16–17; Fraenkel 1932). Zum eigentlichen Referenzwerk
wurde gleichwohl Fraenkels Arbeit über den »Pluralismus als Strukturelement der
freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie« (Fraenkel 1964).
74 So der Funktionskatalog bei Sebaldt/Straßner (2004: 61–70).
86
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
anschließenden Teil geht es um die unterschiedlichen Ausprägungen von
Verbänden in den liberalen Demokratien. Dabei ist sowohl nach funktionalen Merkmalen wie nach Sektorenzugehörigkeit zu differenzieren. Ergänzt wird die Bestandsaufnahme durch einen Vergleich der Verbandssysteme in den konsolidierten liberalen Demokratien – eine Perspektive, die
erst in der jüngsten Vergangenheit zu einem festen Bestandteil der internationalen Interessengruppenforschung geworden ist.
4.1 Zur historischen Herausbildung von Interessengruppen
Die Bedingungen der Herausbildung von Interessengruppen waren bis in
die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein selten expliziter Gegenstand theoretischer Betrachtungen. Von den frühen Klassikern der Interessengruppenforschung bietet David B. Truman (1951) die ausführlichste
Beschäftigung mit den strukturellen Entstehungsbedingungen von Interessengruppen. Truman erklärt die Entstehung von Interessengruppen aus
dem Gefühl der Unzufriedenheit und Benachteiligung gesellschaftlicher
Gruppen, welches maßgeblich in einer signifikanten Veränderung makrosozialer Parameter begründet sei. Zu letzteren werden alle erdenklichen
Komponenten und Ebenen sozialen Wandels – Veränderungen ökonomischer, technologischer, logistischer Natur etc. – gerechnet. Die Konzentration auf Prozesse grundlegenden sozioökonomischen Wandels als zentrale
Ursache der Entstehung von Interessengruppen kennzeichnet auch das
Gros einschlägiger Arbeiten aus der Feder anderer Autoren. Die wichtigste
theoretische Gegenposition hierzu stellt der einflussreiche Beitrag Mancour
Olsons (1965) dar. Olson zufolge entstehen und entwickeln sich Interessengruppen nur dort, wo diese in der Lage sind, potentiellen Mitgliedern
einer Organisation einen spezifischen Vorteil zu bieten, in dessen Genuss
sie ohne Mitgliedschaft nicht gelangen. In international weniger beachteten
Arbeiten wurde eine Reihe anderer Faktoren identifiziert, die Einfluss auf
die Entstehung und Entwicklung von Interessengruppen haben. Dazu
gehören auf makro-sozialer Ebene die politische Kultur eines Landes
(Macridis 1961: 40-41), auf mikro-sozialer Ebene etwa die Existenz von
»entrepreneurs«, welche ein gewisses Maß an Kapitalressourcen investieren
(müssen), um damit möglichen Mitgliedern einer Organisation bestimmte
»selective benefits« zur Verfügung stellen zu können (Salisbury 1969).
INTERESSENGRUPPEN
87
Im Rahmen dieses kurzen historischen Abrisses sei nur an die wichtigsten makro-sozialen und makro-politischen Bedingungsfaktoren der
Entstehung von Interessengruppen erinnert. In politischer Hinsicht war
die Entstehung von Interessenverbänden wesentlich mit der Anerkennung
der Koalitionsfreiheit im Rahmen der Grundrechte verbunden; darüber
hinaus mit der politisch-gesellschaftlichen Anerkennung von Interessengruppen, die für bestimmte, sachlich begrenzte Anliegen eintraten. Bis
dahin war es selbst in den aus heutiger Sicht besonders »pluralismusfreundlichen« angelsächsischen Ländern ein weiter Weg. Was das ausdrückliche Verbot jeglicher Vereinigungen des Standes und des Berufes
betraf, kam ausgerechnet England (gemeinsam mit Frankreich) eine europäische Vorreiterrolle zu. Der »General Combination Act« (1799) wurde zu
einem der international bekanntesten und einflussreichsten Zeugnisse einer
kompromisslos-restriktiven staatlichen Interessengruppenpolitik, auch
wenn dieser in der englischen Verfassungspraxis nicht sehr lange wirksam
blieb (Schulz 1969: 229). Auch unterhalb der Ebene gesetzlicher Verbote
gab es zahlreiche Vorbehalte gegenüber den Interessengruppen. In den
USA war die verbreitete Abneigung gegen »factions«, wie sie aus den Beiträgen der »Federalists« sprachen, sogar noch stärker auf die Verbände als
auf die Parteien bezogen (von Beyme 1974a: 22).
Die von Land zu Land variierende staatliche Politik gegenüber Vereinen und Verbänden75 kann nur zum Teil die unterschiedliche
Geschwindigkeit erklären, mit der sich gesellschaftliche Gruppierungen
(jenseits der Geheimbündelei) etablierten. Wichtiger war das jeweilige Niveau der wirtschaftlichen Modernisierung, der Industrialisierung eines
Landes. Nicht nur in Deutschland waren die frühen Verbandsbildungen
»Konsequenz und Widerspruch zum liberalen Prinzip Wettbewerb«
(Varain 1973: 11). Praktisch überall kam es, freilich mit zum Teil gravierenden landesspezifischen Unterschieden, während der ersten beiden
Drittel des 19. Jahrhunderts zu Zusammenschlüssen mit dem Ziel der
Artikulation gesellschaftlicher Interessen, die zunehmend an die Stelle
personaler oder korporativer Formen der Interessenvertretung des »ancien
régime« traten. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Bürokratisierung
der politischen Willensbildung erwiesen sich sowohl die traditionellen
——————
75 In Deutschland gab es, anders als in vielen anderen Ländern, bemerkenswerter
Weise kein generelles Verbot ständischer oder berufsbezogener Vereinigungen.
Volle Vereinigungsfreiheit setzte sich hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch
(Ullmann 1988: 58–59).
88
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
ständischen Vertretungen als auch die auf persönliche Beziehungen zu
Entscheidungsträgern basierenden Formen der Einflussnahme immer
mehr als dysfunktional (Ullmann 1988: 21). Dass die ökonomisch-gesellschaftliche Entwicklungsstufe eines Gemeinwesens für die Entwicklung
der Interessengruppen im Zweifelsfalle wichtiger war als die staatliche
Vereinspolitik, belegt auch der Umstand, dass etwa die Fabrikarbeiter –
trotz der vergleichsweise liberaleren staatlichen Vereinspolitik – in
Deutschland viel später zu einer sozialen Macht wurden als im (zumindest
anfangs) betont repressiven England und Frankreich.
Im Rahmen transatlantisch orientierter historischer Vergleiche wird erkennbar, dass es, wie in anderen Bereichen auch, auffallende Unterschiede
zwischen den angelsächsischen Ländern (vor allem Großbritannien und
den USA) und jenen auf dem europäischen Kontinent gab. Im kontinentalen Europa gelangten viele Organisationen nicht zuletzt dank der Sanktionen der staatlichen Bürokratie zu ansehnlicher Macht. Viele von ihnen
wurden nicht nur in ihrer Entstehung gefördert, sondern anschließend
auch offiziell von staatlicher Seite anerkannt. Das gilt – nach Überwindung
der historischen Phase der Restriktion – besonders für berufsständische
Vereinigungen, Räte und Kammern. Hierfür gab es in den USA und
Großbritannien kaum wirkliche Entsprechungen. Nicht zu übersehen sind
andererseits die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden angelsächsischen Ländern. In den Vereinigten Staaten profitierten die Verbände
schon früh von den spezifischen Rahmenbedingungen ihres Handelns. Die
für das präsidentielle System kennzeichnende ausgeprägte Initiativmacht
des Kongresses in der Gesetzgebung und die Unbestimmtheit der Parteiprogramme gehörten zu jenen Faktoren, die in den Vereinigten Staaten
von Beginn an die Entwicklung starker Interessengruppen strukturell begünstigten. Freilich ist auch die geschichtliche Entwicklung Großbritanniens während des 19. Jahrhunderts nicht ohne den großen Einfluss durchsetzungsstarker Reformbewegungen und Interessengruppen vorstellbar.
Ein wichtiger Unterschied zu den amerikanischen Interessengruppen bestand jedoch darin, dass sie ihren Einfluss typischer Weise eher im Parlament ausübten, als dass sie auf dieses von außen einwirkten. Während die
Interessengruppen in den USA, unabhängig von bestimmten ideologischen
Affinitäten, von den Parteien getrennt blieben, verbanden sich die britischen Bewegungen und Gruppen mit den im Parlament vertretenen Parteien oder gründeten solche – dies wiederum eine Entwicklung, die auch
INTERESSENGRUPPEN
89
für die kontinentaleuropäischen Länder prägend wurde (Friedrich 1953:
543–545).
In Deutschland kam es zu entscheidenden Schritten in Richtung einer
modernen »Verbändelandschaft« während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts (Ullmann 1988: 116–119). Nun gewannen die frei (d.h. ohne
spezielle Hilfe von Seiten des Staates) gebildeten Verbände endgültig die
Oberhand gegenüber öffentlich-rechtlichen oder staatlich geförderten
Interessenvertretungsorganen. Ferner gelang eine Verstetigung der Verbandsarbeit, welche Kontinuität nicht mehr primär an einzelne Personen,
sondern an Organisationen knüpfte. Hinzu kam verbreitet eine Ideologisierung der Verbandsforderungen, welche nach außen die partikularen
Interessen der Organisation legitimieren, im Innern Mitglieder an die Organisation binden sollte. Der eigentliche »Gründungsboom« der Verbände
in Deutschland lag jedoch in der Zeit des Ersten Weltkrieges und in der
Nachkriegszeit. Der Krieg und die Entwicklung der Kriegswirtschaft intensivierten Prozesse der Verbandsbildung und begünstigten zugleich den
Zusammenschluss von Verbänden. Zu einem besonderen Kennzeichen
der Kriegs- und Nachkriegsjahre wurde die beispiellose Inkorporierung
von Interessengruppen in den staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Sie wurde auch später nur durch die – qualitativ nicht vergleichbare – Inkorporierung »gleichgeschalteter« Verbände zwischen 1933
und 1945 übertroffen, nicht hingegen durch Ansätze korporativer Politik
in der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik (ebd.: 278–288). Spitzenverbände, die einen ganzen Wirtschaftssektor umfassten, entstanden
erstmals in der Weimarer Republik. Die organisatorische Stärke einzelner
Verbände übertraf in dieser Phase jene der noch schwach entwickelten
politischen Parteien.
Der Wiederaufbau eines demokratischen Systems von Interessengruppen nach 1945 vollzog sich wie jener des Parteiensystems auf der Grundlage alliierter Lizensierung. Das zentrale Ziel dieser Politik bestand darin,
die Tätigkeit von NS-Verbänden vollständig zu unterbinden oder, in Ausnahmen, jedenfalls strikt zu kontrollieren. Hinzu trat das Bestreben nach
weitreichender (fachlicher oder regionaler) Dezentralisierung. Ungeachtet
des organisatorischen Bruchs mit der Vergangenheit gab es so etwas wie
eine »indirekte Kontinuität«. »Sie wurde vor allem durch Führungspersonen sowie Verbandsfunktionäre vermittelt. Diese trugen wesentlich dazu
bei, den Rekonstruktionsprozeß wieder in die Bahnen der historisch ge-
90
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
wachsenen Verbandsstrukturen einmünden zu lassen« (Ullmann 1988:
265–266).
4.2 Interessenverbände und »Verbändelandschaften«
Es gibt sehr unterschiedliche Versuche, die immense Vielfalt von Interessenverbänden in den liberalen Demokratien zu strukturieren. Gelegentlich
wurde auf der Grundlage einer funktionalen Bewertung versucht, zwischen
Verbänden zu differenzieren, die sich weitgehend auf Einwirkungen im
Vorhof des politischen Entscheidungssystems beschränken und solchen,
die auf der Grundlage ihrer Vetomacht selbst politische Entscheidungsmacht ausüben (von Winter 1995: 148). Diese Unterscheidung ist in beträchtlichem Maße an das subjektive Urteil des Betrachters geknüpft. Eine
entsprechende Verortung von Akteuren bleibt überdies zwangsläufig zeitlich konditioniert, da sie in hohem Maße von der im Einzelfall verfolgten
Strategie eines Akteurs sowie der Entwicklung von dessen strukturellen
Machtressourcen abhängig ist. In den siebziger Jahren galten verbreitet die
Gewerkschaften, seit einigen Jahren hingegen vor allem international agierende Großunternehmen als Akteure, die in hohem Maße direkte politische
Entscheidungsmacht ausübten bzw. ausüben. Nimmt man hingegen die
Existenz formaler Mitentscheidungsstrukturen (wie insbesondere tripartistische Arrangements) zum Kriterium und grenzt diese von sämtlichen
Formen der stärker lobbyistisch geprägten Einflussnahme ab, so wäre eher
zu konstatieren, dass selbst die in korporative Strukturen einbezogenen
Verbände zumeist zeitgleich auf beide Formen der Interessenvertretung
zurückgreifen (Traxler 2003: 558).
Ferner lässt sich unterscheiden in »private interest groups«, denen es
primär oder gar ausschließlich um die Durchsetzung ihrer exklusiven Eigeninteressen geht, und in »public interest groups«, welche um die Vertretung von Interessen der Allgemeinheit bemüht sind. Die (vor allem in
quantitativer Hinsicht) »typischere« Form des Interessenverbands verkörpern zweifelsohne die auf Durchsetzung spezieller Eigeninteressen ihrer
Mitglieder hin ausgerichteten Organisationen. In diese Gruppe gehören
Gewerkschaften und Unternehmerverbände ebenso wie Vertriebenenverbände. »Public interest groups«, wie etwa Naturschutzverbände, machen
zahlenmäßig nach wie vor einen vergleichsweise kleinen Teil der in den
INTERESSENGRUPPEN
91
entwickelten Demokratien anzutreffenden Interessenverbände aus. Sowohl
im Hinblick auf ihre Zahl als auch auf ihre gesellschaftliche Wahrnehmung
haben sie im Zuge der internationalen Ausbreitung post-materieller Interessen seit den siebziger Jahren jedoch länderübergreifend stark an Bedeutung gewonnen.
Die geläufigste Differenzierungsvariante (welche freilich mit den zuvor
genannten kombiniert werden kann) bleibt die Unterscheidung von Interessengruppen nach der Art des vertretenen Interesses. Unter Bezugnahme
darauf lassen sich Interessengruppen unterschiedlichen Sektoren (wie dem
Wirtschafts- und Arbeitsbereich, dem sozialen Bereich oder dem Freizeitbereich) zuordnen. Politisch mächtige Interessenverbände sind überwiegend im Bereich Wirtschaft und Arbeit konzentriert. Zu ihm gehören Arbeitgeberverbände, Arbeitnehmerverbände, aber auch einflussreiche Vereinigungen von Selbständigen. Auch in den anderen Bereichen finden sich
jedoch nicht selten politisch einflussreiche Verbände. Der »Allgemeine
Deutsche Automobil-Club« (ADAC) mit seinen über 15 Millionen Mitgliedern beispielsweise kann, trotz seiner Beheimatung im unverfänglich anmutenden »Freizeitbereich«, im Hinblick auf seinen Einfluss in der Verkehrspolitik kaum als harmloses politisches »Leichtgewicht« klassifiziert
werden. Noch deutlich größer ist die Zahl politisch einflussreicher Interessenverbände im bzw. aus dem Sozialbereich. In Deutschland gehören
hierzu etwa die unterschiedlichen Kriegsfolgenverbände. In einer älteren
Studie wurden zu den »Big Four« der mächtigen und politisch einflussreichen Interessengruppen in Deutschland auch die Kirchen gezählt (Edinger
1986: 183–194). Gegenüber den anderen drei – den Wirtschaftsverbänden,
den Gewerkschaften und den Bauernverbänden – haben die Kirchen angesichts einer anhaltenden Säkularisierungstendenz, welche im Fall der erweiterten Bundesrepublik durch den großen Anteil Konfessionsloser an
der Bevölkerung des östlichen Beitrittsgebiets noch deutlich verschärft
wurde, in den vergangenen Jahrzehnten vermutlich am stärksten an gesellschaftspolitischer Macht eingebüßt. Trotzdem bleiben die Kirchen, in
Deutschland wie in der Mehrzahl der übrigen etablierten Demokratien,
zweifelsohne soziale Akteure mit beträchtlichem politisch-gesellschaftlichen Einfluss (Abromeit/Wewer 1989; Minkenberg/Willems 2003).
Die weiteren Betrachtungen sind auf die drei zentralen Akteure bzw.
Akteursgruppen des Bereichs Wirtschaft und Soziales – Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und landwirtschaftliche Verbände – konzentriert.
92
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Die Interessenvertretung von Unternehmen ist in der Bundesrepublik
in hohem Maße ausdifferenziert. Besondere politische Bedeutung kam in
der Geschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI) und dem Deutschen Industrie- und Handelstag
(DIHT) zu. Der BDA als Dachverband der Arbeitgeber aller Sektoren
gehören heute über 1000 Arbeitgeberverbände an; ferner sind ihr 54 Bundesfachverbände und 14 Landesvereinigungen angeschlossen.76 Die BDA
begreift sich als sozialpolitische Interessenvertretung der Unternehmen
gegenüber dem Staat und den Gewerkschaften. Eines ihrer zentralen Ziele
besteht in der Koordinierung der Tarifpolitik der ihr angeschlossenen
Verbände. Der BDI ist demgegenüber der Dachverband von 36 industriellen Fachspitzenverbänden, darunter zwei Arbeitsgemeinschaften. Der
BDI agiert traditionell als Sprachrohr industrieller Interessen im Bereich
der gesamten Wirtschaftspolitik. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHT) schließlich ist als Dachorganisation der insgesamt 81
deutschen Industrie- und Handelskammern für die Interessenvertretung
der Wirtschaft gegenüber den entscheidungspolitisch relevanten Akteuren
auf der deutschen Bundesebene und gegenüber den europäischen Institutionen verantwortlich. Er ist die umfassendste Vertretung der Unternehmer
in Deutschland, da ihm – mit Ausnahme von Handwerksbetrieben, landwirtschaftlichen Betrieben und Freiberuflern – alle Unternehmen als
Pflichtmitglied angehören. Obwohl es eine Reihe von Ländern gibt, in
denen ebenfalls Kammern mit Pflichtmitgliedschaft existieren (darunter
etwa Österreich, Frankreich, Italien, die Niederlande und Spanien), ist das
Prinzip einer freiwilligen Mitgliedschaft international insgesamt weiter
verbreitet. Der international üblichen Norm entspricht hingegen der privatrechtliche Charakter des DIHK – im Gegensatz zur österreichischen
Wirtschaftskammer, bei der es sich um eine öffentlich-rechtliche Körperschaft handelt.
Die Existenz eines Industriedachverbands nach dem Muster des BDI,
neben dem zentralen Arbeitgeberverband, besitzt im internationalen Vergleich eher Ausnahmecharakter, obwohl sich eine entsprechende Ausdifferenzierung auch in einigen anderen westlichen Ländern, wie Dänemark
oder Irland, findet. Verbreiteter ist die Existenz von »integrierten« Unter-
——————
76 Der Organisationsgrad der BDA ist umstritten; die Zahlen schwanken zwischen 80
Prozent nach Eigenauskunft der BDA und kritischen Schätzungen in Höhe von
deutlich weniger als 50 Prozent (Schroeder 1997: 227; Reutter 2001: 84).
INTERESSENGRUPPEN
93
nehmerdachverbänden mit Arbeitgeberverbandsfunktionen (Hartmann
1992: 262). Dafür existiert in einigen anderen Ländern deutlich mehr als
ein zentraler Dachverband der Arbeitgeber; in Italien gibt es derer mehr als
zehn (Funk 2006: 27). Aber in fast allen Ländern mit einem Spitzenverband findet sich ein allgemeiner Verband ohne spezieller definierten Organisationsbereich, während die übrigen Verbände einen höheren Spezifikationsgrad bezüglich ihres Mitgliederprofils aufweisen. Das restriktive
Kompetenzprofil der BDA auf dem tarifpolitischen Terrain ist im internationalen Vergleich nicht untypisch; allerdings gibt es eine Reihe von Ländern (etwa Norwegen, Dänemark, Belgien und Griechenland), in denen die
Spitzenverbände über deutlich weiter reichende Kompetenzen im Bereich
der Tarifpolitik verfügen, bis hin zur Führung und zum Abschluss direkter
Tarifvereinbarungen (ebd.: 26).
Zu den zentralen Aspekten der jüngeren Diskussion über strukturelle
Wandlungsprozesse in der politischen Vertretung industrieller Interessen
gehört der Aufstieg von Großunternehmen als selbständigen Interessenvertretern in eigener Sache (Crouch/Menon 1997: 155–158; Crouch 2003:
201–203). In den Vereinigten Staaten gehört eine weitreichende Eigenständigkeit mächtiger Unternehmen seit langem zu den Kennzeichen amerikanischer Interessengruppenpolitik. In Europa steht dieser Entwicklungstrend eher noch am Beginn. Seine Effekte auf den Zustand der Arbeitgeberverbände bleiben bis auf weiteres ungewiss. Hinweise auf einen
länderübergreifenden Trend in Richtung eines signifikanten Rückgangs des
Organisationsgrades der Arbeitgeberverbände liegen bislang nicht vor. Für
einzelne Länder – darunter Deutschland – gibt es aber sehr wohl entsprechende Anzeichen (Funk 2006: 29). Als zentrale Faktoren, die den Verzicht
eines Unternehmens auf eine Mitgliedschaft in einem nationalen Arbeitgeberverband begünstigen, wurden im deutschen Kontext genannt: eine eher
bescheidene Größe eines Unternehmens, eine ausgeprägte Exportorientierung, ein geringes branchenspezifisches Arbeitskampfrisiko und ein geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad (Schnabel 2005: 187). Ungeachtet des im internationalen Vergleich auffälligen Trends eines abnehmenden
Organisationsgrades der BDA seit den neunziger Jahren, gehört Deutschland kaum zu jenen Ländern, die eine eindeutige Führungsrolle bei der
Neustrukturierung der Arbeitgeberrepräsentation auf Dach- und Mitgliedsebene spielen. Erwähnenswerte Innovationen gab es bei der Flexibilisierung von Mitgliedschaften (konkret die Ermöglichung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung); im Hinblick auf weiter gehende Fusionen inner-
94
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
halb der nationalen Verbändelandschaft hinkt die Bundesrepublik dem
internationalen Trend hingegen eher hinterher (Streeck/Visser 2006).
Gewerkschaften lassen sich vor allem anhand der jeweiligen politischideologischen Dimension unterscheiden, mittels derer sie ihre Domänenstruktur definieren. Differenziert werden kann dabei zwischen Richtungsgewerkschaften und Einheitsgewerkschaften. Richtungsgewerkschaften
leiten ihre interessenpolitischen Grundsätze und Prioritäten aus bestimmten weltanschaulichen Prinzipien ab, etwa dem sozialdemokratischen Gesellschaftsverständnis. Einheitsgewerkschaften wenden sich demgegenüber
an sämtliche Arbeitnehmer, unabhängig von deren politisch-weltanschaulichen Orientierungen. International mit Abstand am weitesten verbreitet
sind Richtungsgewerkschaften, vor allem solche sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Prägung. Vergleichsweise seltener sind Richtungsgewerkschaften mit anderer politisch-weltanschaulicher Orientierung, wobei das
Spektrum von der radikalen Linken bis hin zu christdemokratisch geprägten Verbänden reicht. Ungewöhnlich stark pluralisiert ist die Gruppe von
Richtungsgewerkschaften unterschiedlicher politisch-ideologischer Ausrichtung traditionell in den Ländern Südwesteuropas, wo sich die Mehrzahl
der bestehenden Verbände anhand dieses Kriteriums voneinander abgrenzen lässt (Traxler 2003: 545). In einigen Ländern sind die Beziehungen der
Gewerkschaften zu den in politisch-ideologischer Hinsicht »verschwisterten« politischen Parteien besonders eng, so in Großbritannien, Irland und
Schweden, wo es kollektive Mitgliedschaften von Verbänden bzw. deren
Mitgliedsgewerkschaften in den betreffenden Parteien gibt.
Die Gewerkschaftslandschaft der Bundesrepublik wird durch eine
mächtige Einheitsgewerkschaft – den Deutschen Gewerkschaftsbund
(DGB) – dominiert.77 Trotz seines Charakters als Einheitsgewerkschaft
weist der DGB traditionell enge Beziehungen zur Sozialdemokratie auf;
dies gilt mit gewissen Abstrichen auch nach dem viel berufenen »Ende der
privilegierten Partnerschaft« (Schroeder 2005). Ein »Gegengewicht« bildet
auf dieser Ebene der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB), der mit seinen rund 300,000 Mitgliedern indes nicht einmal fünf Prozent der Mitglieder des DGB aufweist. Weiter diversifiziert wurde die Gewerkschaftsland-
——————
77 Vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte Deutschland hingegen zu jenen Ländern,
deren Gewerkschaftslandschaft von Richtungsgewerkschaften bestimmt war, ohne
dass allerdings die politisch-weltanschauliche Fragmentierung ein Niveau erreichte
wie es bis heute vor allem für die romanischen Länder kennzeichnend ist. Vgl.
Schneider (2000).
INTERESSENGRUPPEN
95
schaft der Bundesrepublik jahrzehntelang durch die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), bei der es sich um eine berufsorientierte, parteipolitisch unabhängige Gewerkschaft für Angestellte – also letztlich um eine
Standesorganisation – handelte. Sie wurde 1949 gegründet und hatte zeitweilig mehr als 500,000 Mitglieder. Im Jahre 2001 fusionierte die DAG mit
vier DGB-Gewerkschaften zur Vereinigten Dienstleistungsgesellschaft
(ver.di), welche mit deutlich mehr als 2 Millionen Mitgliedern gemeinsam
mit der IG Metal zu den beiden mit Abstand größten der seither acht Einzelgewerkschaften unter dem Dach des DGB zählt. Freilich gibt es weitere
Verbände, gebildet von Gruppen, die ihre spezifischen Interessenlagen
nicht durch den DGB repräsentiert sehen wie etwa der Deutsche Beamtenbund oder der Deutsche Journalistenverband.
Die Binnendifferenzierung des DGB mit acht Mitgliedsgewerkschaften
und insgesamt 6,778,429 Mitgliedern (2005) ist im internationalen Vergleich betrachtet gering, insbesondere gemessen an der außerordentlich
stark fragmentierten Binnenstruktur der jeweiligen gewerkschaftlichen
Spitzenorganisationen in Portugal, Großbritannien oder Irland (Traxler
2003: 549–550). Auffälliger als dieses Merkmal, das der DGB mit Organisationen wie dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) teilt, ist die
geradezu spektakuläre Entwicklung seiner Mitgliederzahlen. Mit einer Veränderung der absoluten Mitgliederzahl von knapp –24 Prozentpunkten im
Zeitraum 1993 bis 2003 belegte Deutschland unter den westeuropäischen
Ländern praktisch konkurrenzlos den negativen Spitzenplatz (Behrens
2005: 30). Der signifikante Mitgliederschwund des DGB erscheint umso
dramatischer, wenn man berücksichtigt, dass viele der Spitzenverbände des
westlichen Auslands im selben Zeitraum Mitgliederzuwächse, zum Teil in
zweistelliger Höhe, zu verzeichnen hatten. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Bundesrepublik liegt zwar noch immer über dem der
USA oder Frankreichs, aber nichtsdestotrotz deutlich unter dem der meisten übrigen europäischen Länder (Ebbinghaus 2003: 196). Ein fairer Vergleich der Mitgliederentwicklung muss jedoch die spezifischen Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf die Organisationsfähigkeit des
DGB berücksichtigen. Der DGB profitierte kurzfristig von der ansehnlichen Mitgliederzahl des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB),
musste im Gefolge der Systemtransformation in Ostdeutschland anschließend aber mit einer drastischen Erosion seiner Mitgliedsbasis zurechtkommen. So waren Austritte in den ostdeutschen Ländern allein im Zeit-
96
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
raum 1991 bis 1995 für 75 Prozent des Mitgliederrückgangs auf Seiten des
DGB verantwortlich (Behrens 2005: 31).
Analog zu der Situation in den Arbeitgeberverbänden sind organisatorische Ressourcen und tarifpolitische Kompetenzen auch beim DGB auf der
Ebene der Einzelgewerkschaften, anstatt auf der Ebene des Dachverbands,
konzentriert. Grundlegende Abweichungen von diesem Muster gibt es
innerhalb Westeuropas nur vereinzelt, so in Belgien und Norwegen
(Traxler 2003: 556–557). Was die Struktur innerverbandlicher Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb des DGB betrifft, so gilt –
wiederum in Entsprechung zu der Situation in den Unternehmerverbänden
– dass wichtige Entscheidungen schwerlich auf der Ebene von Mitgliederbzw. Delegiertensammlungen gefällt werden. Maßgeblich sind vielmehr die
auf der obersten Organisationsebene, in aller Regel von den hauptberuflich
im geschäftsführenden Vorstand tätigen Akteuren getroffenen Entscheidungen. Obwohl empirisch gesicherte Einsichten über die Struktur innerverbandlicher Willensbildung- und Entscheidungsfindung kaum verfügbar
sind, spricht wenig dafür, im Hinblick auf andere Länder von stärker »basisdemokratisch« geprägten Entscheidungsverfahren auszugehen. Immerhin gibt es andererseits auch kaum Anzeichen dafür, dass die besonders
fragwürdigen Standards innergewerkschaftlicher Entscheidungspraxis im
Großbritannien der ersten Nachkriegsjahrzehnte, bei der auf innerverbandliche Demokratie praktisch vollständig verzichtet wurde (Fosh/Heery
1990), andernorts Schule gemacht hätten.
Der 1948 gegründete Deutsche Bauernverband (DBV) als ein weiterer
Akteur aus der Gruppe der traditionellen »Big Four« hat gegenüber der
Zeit vor 1945 ein auch für deutsche Verhältnisse hohes Maß an konzentrierter Einheitlichkeit landwirtschaftlicher Interessenvertretung geschaffen. Sein Organisationsgrad liegt bei rund 90 Prozent. Anders als zu Zeiten
der Weimarer Republik gibt es praktisch keine landwirtschaftlichen Konkurrenzvereinigungen. Die fortbestehenden Spannungen insbesondere
zwischen landwirtschaftlichen Großbetrieben und Kleinbauern, die in
einigen anderen Ländern bis heute Ausdruck auch auf der organisatorischen Ebene finden, haben sich dadurch nach innen verlagert. Der entscheidende Einfluss auf das strategische Handeln des DBV liegt bei den
einzelnen Landesverbänden, die dem Bundesverband zum Teil auch im
Hinblick auf organisatorische Ressourcen deutlich überlegen sind. Als
charakteristisch gilt dabei eine faktische Dominanz von in Norddeutschland konzentrierten Großbetrieben (Heinze 1992).
INTERESSENGRUPPEN
97
Die zentralisierte Struktur der landwirtschaftlichen Interessenvertretung
in Deutschland kontrastiert besonders deutlich mit stärker pluralisierten
Systemen wie jenem der Niederlande, wo es im Zuge der auch den landwirtschaftlichen Sektor betreffenden »Entsäulung« der neunziger Jahre zu
einer organisatorischen Aufsplitterung landwirtschaftlicher Interessenvertretung kam (Kleinfeld 2001: 302). Strukturelle Abweichungen von dem in
der Bundesrepublik realisierten Organisationsmodell des landwirtschaftlichen Sektors gibt es aber auch in institutionell verwandten Systemen wie
der Republik Österreich: Als Interessenvertretung der Bauern fungieren
dort die auf Landesebene verwurzelten Landwirtschaftskammern
(Krammer/Hovorka 2006). Diese gibt es (mit Ausnahme von Bayern und
Baden-Württemberg) auch in den Ländern der Bundesrepublik, doch stellen diese dort schwerlich die entscheidungspolitisch wichtigsten Akteure
des landwirtschaftlichen Sektors dar.
In vielen Ländern gelten die Bauernverbände als historisch und aktuell
besonders einflussreiche und effektive Interessenvertreter – vermutlich
nirgendwo mehr als in Irland (Elvert 2001: 210). Freilich korreliert, wie
nicht zuletzt der irische Fall suggeriert, der Einfluss landwirtschaftlicher
Interessenorganisationen in beträchtlichem Maße mit dem im Ländervergleich stark variierenden Stellenwert des Agrarsektors. Komparative Studien weisen darauf hin, dass es ebenfalls von großer Bedeutung ist, in welchem institutionellen und interessengruppenpolitischen Kontext Interessenverbände operieren. So konnte gezeigt werden, dass der Einfluss der
landwirtschaftlichen Lobby in den USA – entgegen der verbreiteten Annahme einer besonders ausgeprägten Anfälligkeit des dortigen staatlichen
Entscheidungssystems gegenüber der Beeinflussung durch »special interests« – im langfristigen Vergleich deutlich bescheidener blieb als in den
institutionell grundlegend unterschiedlich beschaffenen Systemen Frankreichs und Japans (Sheingate 2001).
Bei allen nationalen und regionalen Eigenheiten von Verbänden selbst
innerhalb eines Sektors gibt es doch auch größere länderübergreifende
Entwicklungstrends. Der aufälligste unter ihnen ist die zahlenmäßige Vermehrung von Interessenverbänden. Sie hat ihren wichtigsten Grund in der
international zu beobachtenden kontinuierlichen »Pluralisierung von objektiven Lebensbedingungen und subjektiven Lebensentwürfen« (von
Winter 1995: 147). Diese Erfahrung teilen so unterschiedliche Systeme wie
die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten (Sebaldt 2004). Zu den
verlässlichsten Quellen in Fragen der Anzahl potentiell relevanter Interes-
98
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sengruppen gehört hierzulande die seit den siebziger Jahren vom Präsidenten des Deutschen Bundestages geführte »Öffentliche Liste über die
Registrierung von Verbänden und deren Vertretern«. Auf ihr können sich
Verbände bzw. Verbandsvertreter auf Antrag registrieren lassen. Waren auf
dieser, regelmäßig im Bundesanzeiger veröffentlichten Liste 1974 lediglich
635 Verbände verzeichnet, so stieg deren Zahl bis zum Januar 2007 um
mehr als das Dreifache auf 2003 an.
Allerdings trifft die These von der wachsenden Pluralisierung und Ausdifferenzierung sektoraler Interessengruppenstrukturen, wie speziellere
Untersuchungen belegen, keineswegs flächendeckend zu. Entwicklungsmuster aus dem Bereich zumeist hoch spezialisierter Umwelt-, Sozial- und
Kulturverbände sind nicht ohne weiteres generalisierbar. Für die Ebene
gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen etwa gilt, dass die Differenzierungsprozesse auf der Ebene von Arbeitnehmerinteressen – ihrerseits eine
Folge vor allem der Flexibilisierung von Arbeitsprozessen und der Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen – nicht zu einer analogen Fragmentierung der Gewerkschaftsstrukturen führten. Die Zahl der Spitzenverbände
in den Ländern Westeuropas blieb nahezu konstant; auch die Veränderungen auf der Ebene der Mitgliedsgewerkschaften verliefen eher in Richtung
Konzentration statt Differenzierung (Traxler 2003: 561).
In Deutschland stieg im Gefolge der Vereinigung zwar die Zahl der regionalen Untergliederungen vieler Verbände an, kaum hingegen die Anzahl
der Verbände selbst (Rudzio 2006: 58). Ursächlich dafür war der beispiellose »Transfer« des westdeutschen Verbändesystems nach Osten. Er blieb
im Ergebnis freilich unvollständig. So gibt es sowohl auf der strukturellen
als auch auf der funktionalen Ebene spezifische Besonderheiten der Interessengruppenlandschaft in Ostdeutschland (Niedermayer 1996b; Czada
1998; Padgett 2000b) – darunter nicht zuletzt die Selbstorganisationsfähigkeit von Spitzenverbänden –, welche in ihren Auswirkungen so grundlegend sind, dass in vielen international vergleichenden Studien West- und
Ostdeutschland als zwei unterschiedliche »Fälle« behandelt werden.
Ganz unabhängig von den spezielleren Entwicklungen in der Bundesrepublik ist festzustellen, dass die Existenz länderübergreifender Trends
nicht zwangsläufig zu einer weitreichenden Angleichung unterschiedlicher
Verbandslandschaften in den etablierten Demokratien führt. Das gilt auch
im Hinblick auf die quantitative Dimension von nationalen Verbandspopulationen. Die nationale »Verbandsdichte« variiert im synchronen Ländervergleich sehr deutlich. Einen hohen Erklärungswert für die Größe
INTERESSENGRUPPEN
99
einer »Verbandspopulation« besitzt die jeweilige Größe einer Volkswirtschaft (Weßels 2004: 205).
Die Größe eines Landes bzw. die Höhe von dessen Bruttosozialprodukt ist im Übrigen nicht die einzige Variable auf der Ebene politischer
Systeme mit Einfluss auf den Charakter von Verbändelandschaften. Ebenfalls von Bedeutung ist die jeweilige Staatsstruktur, konkret die Existenz
eines Einheits- oder Bundesstaates. Der Einfluss der Staatsstruktur manifestiert sich konkret in der regionalen Homogenität bzw. Heterogenität der
Verbandslandschaft eines Systems. Zwar gilt, dass die Verbändelandschaften in den meisten der liberalen Demokratien interregional heterogen sind.
Allerdings sind sie in Einheitsstaaten alles in allem homogener als in Bundesstaaten, deutlich homogener allerdings nur im Vergleich mit nicht-unitarischen Bundesstaaten nach dem Muster der Schweiz oder den USA
(Armingeon 2002a: 223, 225–226).78
4.3 Verbandssysteme
Wie die Betrachtungen des vorausgehenden Abschnittes zeigen, gibt es
selbst in einem einzigen System eine unüberschaubare Anzahl unterschiedlicher Interessenverbände, die in scheinbar keinerlei strukturiertem Beziehungsverhältnis zueinander stehen. Dies erschwert nicht nur den über
einzelne Sektoren hinausgreifenden internationalen Vergleich, sondern hat
bis in die jüngste Vergangenheit hinein die These befördert, dass »Verbändelandschaften weitgehend die systemische Qualität« ermangele (Kropp
2003: 233).79 Seit einigen Jahren gibt es jedoch verstärkt Versuche, den
——————
78 Dass der jeweilige Charakter des Föderalismus in einem System – konkret das ihn
kennzeichnende Ausmaß an Unitarisierung – einen maßgeblichen Effekt auf die
Ausgestaltung des Systems organisierter Interessen besitzt, haben für den deutschen Fall vor allem Renate Mayntz (1990a) und Gerhard Lehmbruch (2003) gezeigt. Beide betonen jedoch, dass eher von einem interdependenten Entwicklungsprozess zwischen dem Trend zur Unitarisierung staatlicher Politik und den
Prozessen gesellschaftlicher Institutionenbildung als von einer einseitigen Prägung
der Verbändestruktur durch die föderative Staatsorganisation auszugehen sei.
79 Im Rahmen speziellerer theoretischer Reflexionen wurde argumentiert, dass die
relative Seltenheit internationaler Vergleiche innerhalb der Interessengruppenforschung einerseits und die besondere Schwierigkeit, Verbände in eine Systemper-
100
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
internationalen Vergleich innerhalb der politikwissenschaftlichen Verbändeforschung insbesondere durch die Entwicklung von Systemperspektiven
zu intensivieren. Das gilt zunächst für den Konfliktlinien-Ansatz.
Dass Verbände mit politischem Wirkungsanspruch dann und dort entstehen, wenn bzw. wo es ein gesellschaftliches Bedürfnis danach gibt, Interessen wirkungsvoll zu vertreten, ist eine Binsenweisheit. Die Theorie gesellschaftlicher Konfliktlinien »verlangt« aber, dass es nicht nur unterschiedliche Interessengruppen gibt, welche selbst Ausdruck gesellschaftlicher Interessen sind, sondern dass zugleich konfligierende Interessen existieren, dass
es also Interessenkonflikte gibt, um die herum sich direkt aufeinander
Bezug nehmende, gegnerische Gruppen organisieren (Weßels 2006: 15).
Das ist empirischen Untersuchungen über ausgewählte Länder Westeuropas80 zufolge keineswegs für jede Interessengruppe der Fall. Immerhin
sehen aber rund 60 Prozent derjenigen Befragten, die sich von (mindestens) einer Interessenorganisation vertreten fühlen, (mindestens) eine andere als ihren Interessen entgegenstehend an (ebd.: 16). Die Intensität und
Reichweite der in Frage kommenden Konflikte bzw. Konfliktlinien ist, wie
dieselbe Untersuchung zeigt, sehr unterschiedlich groß. Am mit Abstand
stärksten ausgeprägt ist der Konflikt zwischen Umwelt- und Wirtschaftsinteressen, gefolgt von dem zwischen Arbeit und Kapital. Die Bedeutung
der einzelnen Konfliktlinien variiert im Ländervergleich jedoch beträchtlich. Sowohl der Konflikt zwischen Wirtschaft und Umwelt als auch derjenige zwischen Arbeit und Kapital ist in Spanien am stärksten und in Großbritannien am schwächsten ausgeprägt. Hinsichtlich der Bedeutung der
konfessionellen Konfliktlinien besetzen Nordirland (stark) und Ostdeutschland (schwach) die Extrempole des Ländersamples. Westdeutschland liegt bezüglich der Stärke aller gemessenen Konflikte deutlich über
dem Durchschnitt des bearbeiteten Ländersamples. In einem weiteren
Schritt gelingt es Weßels (ebd.: 17–20) zu zeigen, dass Verbände nicht
lediglich ein System der Interessenvermittlung formen, welches durch
konfligierende Interessenkonstellationen geprägt ist, sondern dass in den
——————
spektive zu integrieren andererseits in engem Zusammenhang miteinander stehen
(von Alemann/Weßels 1997: 11).
80 Berücksichtigt wurden Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien. Für Deutschland wurde zwischen Ost- und Westdeutschland differenziert.
Ferner wurde Nordirland, trotz seiner Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich,
getrennt ausgewiesen.
INTERESSENGRUPPEN
101
Augen der Bürger zugleich starke »Vertretungsallianzen« im Verhältnis
zwischen bestimmten Parteien und Verbänden bestehen. So fühlen sich
beispielsweise Bürger, die ihre Interessen von den Gewerkschaften vertreten sehen, in überdurchschnittlich hohem Maße von linken Parteien, solche, die sich in besonderem Maße durch die Kirchen vertreten sehen, hingegen vor allem von christdemokratischen Parteien repräsentiert. Sowohl
für Deutschland als auch für die anderen berücksichtigten Länder deuten
die verfügbaren Daten darauf hin, dass es sich um Strukturen von beträchtlicher Persistenz handelt.
Abgesehen vom Konfliktlinien-Ansatz sind Systemverständnisse innerhalb der Interessengruppenforschung vor allem im Rahmen der Erforschung und Bestimmung des Verhältnisses zwischen Verbänden und Staat
verbreitet. In der Literatur herrschte lange die Tendenz vor, zwischen Pluralismus und Korporatismus zu unterscheiden und diese als streng voneinander geschiedene gegensätzliche Grundformen der Interessenvertretung
in den etablierten Demokratien zu begreifen. Aus der Perspektive des Pluralismus bzw. Neo-Pluralismus streben miteinander konkurrierende Verbände danach, von außen auf den Staat Einfluss zu nehmen und dadurch
ihre Interessen in gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen
umzusetzen. Im korporatistischen Modell nehmen Interessengruppen
hingegen nicht nur Einfluss auf politische Entscheidungen eines mehr oder
minder als »black box« gedachten staatlichen Steuerungszentrums, sondern
sind zudem an der Formulierung, Ausarbeitung und Implementierung
staatlicher Entscheidungen und legislativer Projekte mitbeteiligt. Zumindest der »idealtypische Korporatismus« – welcher eine tripartistische
Konstellation (zwischen zwei gegnerischen Interessenverbänden und dem
Staat) bezeichnet – ist deshalb »Interessenvermittlungs- und Steuerungsinstrument in einem« (Abromeit 1993: 147–148).
In jüngeren Arbeiten der vergleichenden Forschung wurde die Vorstellung eines theoretisch und empirisch ergiebigen Dualismus zwischen
Pluralismus und Korporatismus weitgehend aufgegeben. In um Differenzierung bemühten Annäherungen an die Realität des komplexen Verhältnisses zwischen Verbänden und Staat in den liberalen Demokratien wurde
etwa zwischen Pluralismus, Elitismus, Etatismus, Neo-Korporatismus und
Konsoziationismus unterschieden (Crouch/Menon 1997: 151–155). Selbst
in Arbeiten, denen der Gegensatz zwischen Pluralismus und Korporatismus weiterhin als zentrale Ordnungskategorie dient, regiert die Einsicht,
dass in der Realität »korporatistische Strukturen […] auf bestimmte Politik-
102
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
felder beschränkt sind und zumeist mit pluralistischer Nachbarschaft koexistieren« (Abromeit/Stoiber 2006: 201).
Angesichts der großen Bedeutung, die das korporatistische Paradigma
insbesondere für das international vergleichende Studium von Interessenvermittlungsstrukturen spielte bzw. noch immer spielt81, erscheint es sinnvoll, an dieser Stelle die wichtigsten theoretischen und empirischen Aspekte der Korporatismusdebatte in aller Kürze zu rekapitulieren. Dem
Begründer des Korporatismus-Paradigmas, Philippe Schmitter, ging es vor
allem um die Erfassung der strukturellen Voraussetzungen bzw. Komponenten korporatistischer Interessenvermittlung. Dabei wurde Korporatismus als ein System der Interessenvermittlung definiert, dessen wesentliche
Bestandteile in einer begrenzten Zahl singulärer Zwangsverbände organisiert sind, die nicht miteinander in Wettbewerb stehen, über eine hierarchische Struktur verfügen und nach funktionalen Aspekten voneinander abgegrenzt sind. Sie verfügen über staatliche Anerkennung oder Lizenz, sofern sie nicht sogar auf Betreiben des Staates hin gebildet worden sind.
Innerhalb der von ihnen vertretenen Bereiche wird ihnen ausdrücklich ein
Repräsentationsmonopol zugestanden, wofür sie als Gegenleistung bestimmte Auflagen bei der Auswahl des Führungspersonals und bei der
Artikulation von Ansprüchen oder Unterstützung zu beachten haben
(Schmitter 1974, 1977). Bei Gerhard Lehmbruch, dem Mitbegründer des
korporatistischen Paradigmas, ging es – in komplementärer Ergänzung zu
den auf die strukturellen Komponenten des Korporatismus konzentrierten
Arbeiten Schmitters – stärker um die prozessualen Komponenten der
Absprache und Einbindung als Steuerungsinstrument staatlicher Wirtschaftspolitik (Lehmbruch 1974, 1977). Die jüngere vergleichende Korporatismusforschung ist von dem Bemühen geprägt, sowohl die strukturelle
als auch die prozessuale Dimension gebührend zu berücksichtigen, zumeist
unter stärkerer Betonung der zuletzt genannten.
Die internationale Forschung hat in den vergangenen drei Jahrzehnten
zahlreiche unterschiedliche Indizes entwickelt, auf deren Grundlage versucht wurde, den »Korporatismusgrad« in unterschiedlichen liberalen Demokratien zu bestimmen. Zu den in empirischer Hinsicht bemerkenswerten Befunden gehört der Umstand, dass zwischen den unterschiedlichen
Indizes ein ausgesprochen hohes Maß an Übereinstimmung besteht. Als
hochgradig korporatistisch wurden – auch unter Berücksichtigung unter-
——————
81 Vgl. hierzu statt vieler Traxler (2001) und Molina/Rhodes (2002).
INTERESSENGRUPPEN
103
schiedlicher Bewertungszeitpunkte zwischen den sechziger und späten
neunziger Jahren – insbesondere Österreich, Norwegen und Schweden
klassifiziert. Übereinstimmend als nicht-korporatistisch bewertet wurden
hingegen die angelsächsischen Demokratien (USA, Kanada, Neuseeland,
Australien, Großbritannien, Irland) und Italien. Deutschland gilt, gemeinsam mit Ländern wie Dänemark und den Niederlanden, als Beispiel für ein
moderat korporatistisches System (Armingeon 2002b: 153–155).82
Detaillierte Einschätzungen lassen sich nur für einzelne Länder und –
nicht minder wichtig – für einzelne Perioden formulieren. Signifikante
Veränderungen bezüglich des Grades an Korporatismus innerhalb eines
Landes blieben den international maßgeblichen Bewertungen zufolge eine
große Seltenheit. Innerhalb eines von relativ hoher Stabilität geprägten
Gesamtszenarios waren Veränderungen in Richtung einer Intensivierung
korporatistischer Interessenvermittlung während der vergangenen rund 20
Jahre vor allem für einige der südwesteuropäischen Länder kennzeichnend
(Royo 2002; Crouch 2003: 200–201). In Deutschland verblieben Anläufe
zu einer Neugeburt tripartistischer Steuerung in Gestalt des »Bündnisses
für Arbeit« hingegen weitgehend, wenn auch nicht vollständig, auf der
Ebene symbolischer Politik (Fickinger 2005).
Manifestationen von sektoralem Korporatismus im weiteren Sinne hat
es in der Bundesrepublik praktisch immer gegeben. Als die eigentliche
Hochphase des Korporatismus in der Bundesrepublik gilt jedoch zu Recht
die Periode zwischen dem Ende der sechziger Jahre und der Mitte der
siebziger Jahre. Während dieser Zeit wurde im Rahmen der sogenannten
»Konzertierten Aktion« nach einem tripartistischen Konsens vor allem
über Fragen einer gesamtwirtschaftlich verantwortungsvollen Lohnpolitik
gesucht. Neben der österreichischen »Sozialpartnerschaft« und dem niederländischen »Sozialökonomischem Rat« galt die »Konzertierte Aktion«
vorübergehend als »eins der Paradebeispiele korporatistischer Steuerung«
(Abromeit 1993: 166). Ursächlich für ihr frühes Scheitern waren sowohl
organisatorische Defizite (insbesondere die Größe und Heterogenität des
Teilnehmerkreises) als auch nur kurzfristig überbrückbare inhaltliche Differenzen, speziell über die Frage einer angemessenen Gewinnbeteiligung
der Arbeitnehmer an Umsatzzuwächsen der Unternehmen. Eher das Prä-
——————
82 »Sonderfälle« verkörpern Japan, Frankreich und die Schweiz, da in diesen Ländern
entweder die institutionellen Voraussetzungen des Korporatismus oder die Einbeziehung der Gewerkschaften in die bestehenden Verhandlungssysteme vermisst
werden (ebd.).
104
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
dikat »Multipartismus« verdienen die im weiteren Sinne »korporatistischen
Arrangements« in der Gesundheitspolitik (Wiesenthal 1981), welche sich
als deutlich langlebiger erwiesen.
Die historischen Konjunkturen der Konzertierung in der Bundesrepublik sprechen, zumindest auf den ersten Blick, für die These vom sozialdemokratischen Charakter des Korporatismus (Lehmbruch 1982). Die
strukturellen Voraussetzungen korporatistischer Interessenvermittlung und
Steuerung auf Seiten des Staates wurden erst im Zuge der erstmaligen Beteiligung der Sozialdemokraten an der Bundesregierung geschaffen (Weßels
1999: 93). Dazu zählte nicht zuletzt das 1967 von der großen Koalition
verabschiedete Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der
Wirtschaft (»Stabilitätsgesetz«), welches der Regierung erstmals ein konjunkturpolitisches Instrumentarium an die Hand gab, um die vier potentiell
einander widerstrebenden gesamtwirtschaftlichen Kernziele Preisstabilität,
Vollbeschäftigung, Wachstum und Außenhandelsgleichgewicht in koordinierter Weise zu verfolgen. Es wurde ergänzt durch die Entwicklung einer
mehrjährigen, an gesamtgesellschaftlichen Zielprojektionen orientierten
staatlichen Finanzplanung (ebd.: 93). Die in den sechziger Jahren um sich
greifende »Planungseuphorie« als eine der Triebfedern des »Makrokorporatismus« verflüchtigte sich lange vor dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Bundesregierung im Herbst 1982. Gleichwohl schienen die
langen Jahre der Regierung Kohl die These vom sozialdemokratischen
Charakter des Korporatismus gleichsam ex negativo zu bestätigen. Zum
Kennzeichen der christlich-liberalen Regierung wurde ein Politikstil, der
auf korporatistische Formen der Interessenvermittlung und Steuerung
weitestgehend verzichtete. Zu den wichtigsten Lehren des Scheiterns des
unter der Regierung Schröder praktizierten »Bündnisses für Arbeit« gehört
dagegen die Einsicht, dass auch eine führende Regierungsbeteiligung der
Sozialdemokratie keinerlei Erfolgsgarantie für korporatistische Interessenvermittlung und Steuerung bietet. Freilich lässt sich über die Ernsthaftigkeit diesbezüglicher Bestrebungen auf Seiten der rot-grünen Koalition
spekulieren. Für viele Betrachter ging es der Regierung und insbesondere
dem Kanzler bei der gesamten Veranstaltung schon lange vor dem endgültigen Scheitern des Bündnisses im Frühjahr 2003 primär um medienwirksame Selbstpräsentation. Entscheidender war jedoch gewiss die Auflösung der interessenpolitischen und mentalen Voraussetzungen korporatistischer Interessenvermittlung – der Verpflichtungsfähigkeit nach innen
und der Kompromissfähigkeit nach außen – auf Seiten der Eliten von
INTERESSENGRUPPEN
105
Arbeit und Kapital, die auch ein beherzteres Agieren der Bundesregierung
kaum hätte verhindern können (Streeck 2005).
Neues Licht auf das spezifische Leistungsprofil des Interessengruppenvermittlungssystems in der Bundesrepublik wirft eine vergleichende Untersuchung von Heidrun Abromeit und Michael Stoiber, in der es vor allem
um das bestehende Verhältnis zwischen dem Inklusivitätsgrad eines Interessenvermittlungssystems einerseits und dessen Grad an Symmetrie bzw.
Asymmetrie bei der Berücksichtigung der Interessen von Arbeit und Kapital andererseits geht (Abromeit/Stoiber 2006). Das in demokratietheoretischer Hinsicht wünschenswerteste Profil wäre ein System mit hoher Inklusivität und geringer Asymmetrie. Von den neun bei Abromeit und
Stoiber untersuchten westeuropäischen Ländern kommt bzw. kam Schweden dieser »Wunschkombination« am nächsten. Das bis in die neunziger
Jahre hinein bemerkenswerte Maß an Symmetrie in der politischen Repräsentations- und Einflussstärke zwischen Arbeit und Kapital war dort vor
allem Ergebnis der engen Verbindungen zwischen den Gewerkschaften
(LO) und der regierenden Sozialdemokratischen Partei Schwedens (SAP).
Dadurch konnte die für kapitalistische Gesellschaften typische Vormacht
der Arbeitgeberseite ausgeglichen bzw. sogar vorübergehend übertrumpft
werden. Für den hohen Inklusionsgrad waren demgegenüber spezifische
institutionelle Gelegenheitsstrukturen – darunter insbesondere die »verbändefreundliche« Struktur des Gesetzgebungsverfahrens mit einem zugangsoffenen Vernehmlassungsverfahren und die Existenz von Minderheitsregierungen – verantwortlich.83
Deutschland erscheint dagegen als ein formal relativ stark auf Inklusion
gestimmtes System, das jedoch aufgrund der geringen Anzahl institutionalisierter Vetopunkte für den Einfluss von Interessengruppen, der unterschiedlich ausgeprägten Anfälligkeit der politischen Parteien für bestimmte
Interessenteneinflüsse sowie den unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen der Interessenorganisation gleichwohl zu hoher Selektivität
führt.
»Während die grundlegende Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit den meisten
Interessenvermittlungssystemen gemeinsam ist, ergeben sich spezifische Selektivitäten in Deutschland zum einen aus dem asymmetrischen Parteiensystem, in dem
die Gewinnchancen ungleich verteilt sind […], zum zweiten aus der Bremswirkung
des mit einer einzigen historischen Ausnahme (1990er Jahre) bürgerlich dominierten Bundesrats, und zum dritten schließlich aus der besonderen Funktion der
——————
83 Vgl. hierzu auch Czada (1993)
106
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Kammern, die sektorale Selbstregulierung aufs Beste mit quasi autoritativer Interessenvertretung im staatlichen Entscheidungssystem verbinden. Solche Kammern
gibt es für Industrie und Handel, für Landwirtschaft, für Ärzte etc. – nicht aber für
Arbeit.« (Abromeit/Stoiber 2006: 238)84
4.4 Konklusion
Die schillernde Vielfalt bunter Blüten, die der interessenpolitische Pluralismus in Deutschland und den anderen konsolidierten liberalen Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten hervorgetrieben hat, ist symbolhaftes
Zeugnis der großen Bedeutung, die den unterschiedlichen Gruppen für die
politische Lebendigkeit eines demokratischen Gemeinwesens zukommt.
Die Artenvielfalt demokratischer Interessengruppen in den entwickelten
liberal-demokratischen Systemen ist nicht zuletzt den zahllosen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Vereinigungen mit überwiegend geringem
Institutionalisierungsgrad zu verdanken, denen im Rahmen dieser Bestandsaufnahme zugunsten einer tiefer schürfenden Behandlung der etablierten Interessenverbände des Wirtschafts- und Arbeitsbereichs nur ganz
am Rande Aufmerksamkeit geschenkt werden konnte. Im Zuge der vielerorts zu beobachtenden Tendenz zur schleichenden Etatisierung der politischen Parteien haben sie im Hinblick auf die gegenwärtige und künftige
Gewährleistung des gesellschaftlichen Pluralismus jenseits des staatlichen
Institutionensystems sogar an Bedeutung gewonnen.
Auch was die Entwicklungsgeschichte von im engeren Sinne politischen Interessengruppen unterschiedlichen Schlags betraf, kann Deutschland kaum zu den internationalen Wegbereitern gezählt werden. Zumindest
im Falle von Organisationen des industriellen Sektors stand dem die, vor
allem im Vergleich zu England, verzögerte Industrialisierung entgegen.
Anders als die politischen Parteien gehörten die Interessengruppen in
Deutschland aber auch nicht zu den abgeschlagenen Spätentwicklern. Spezifisch unterentwickelt blieb lediglich das Verständnis für den potentiell
——————
84 Die Nichtexistenz einer Arbeiterkammer in der Bundesrepublik (mit Ausnahme
des Landes Bremen) gehört jedoch zu den Kennzeichen nicht nur des deutschen
Systems, sondern der Verbändesysteme praktisch sämtlicher westlicher Länder.
Lediglich in Österreich gibt es Arbeiterkammern, die erstmals 1920 geschaffen und
1945 neu errichtet wurden.
INTERESSENGRUPPEN
107
positiven Beitrag von Interessengruppen zur Demokratie. Vor allem unter
intellektuellen Beobachtern und politischen Akteuren hielten sich einschlägige Vorbehalte noch länger als der »Antiparteienaffekt« und das eigentümliche Unverständnis für die parlamentarische Regierungsweise.
Nicht nur in Deutschland lange Zeit unterentwickelt blieb die international vergleichende Erforschung von Interessengruppen und Interessengruppenpolitik. Zu einem Katalysator wurde die Begründung des Korporatismusparadigmas in den siebziger Jahren. Der komparative Impuls hat
sich jedoch auch nach der Bedeutungseinbuße des Korporatismus als makroökonomischem Steuerungssystem nicht verflüchtigt und seither die
unterschiedlichsten Bereiche der Interessengruppenforschung bis hin zu
den neuen sozialen Bewegungen und NGOs erobert (Kriesi u.a. 1995;
Guigni 2004).
Zu den zentralen Befunden der historisch und international vergleichenden Interessengruppenforschung gehört die eigentümliche Ambivalenz zwischen dem scheinbar unaufhaltbar voranschreitenden Prozess der
stetigen Vermehrung von Akteuren einerseits und den sektoralen Fusionsund Konzentrationstendenzen andererseits. Hinzu kommt, speziell auf der
Ebene international agierender Großunternehmen, eine markante Tendenz
zur Individualisierung der Interessenpolitik und -wahrnehmung. Umstritten bleibt vor allem, welche theoretischen Folgerungen aus diesen Entwicklungen zu ziehen sind. Viele Autoren attestieren, nicht selten mit kritischem Unterton, einen Wandel »vom Korporatismus zum Lobbyismus«
(von Winter 2004), der von Anhängern der klassischen Pluralismustheorie
eher wie eine normativ zu begrüßende Rückkehr zur »Normalität« betrachtet wird. Beides ist so vermutlich nicht haltbar. Einerseits bestehen
korporatistische Strukturen in gewandelter Form vielerorts auch nach dem
Ende des »makrokorporatistischen Zeitalters« fort (Traxler 2001). Andererseits lässt sich selbst im Hinblick auf Länder, in denen es in den vergangenen Jahren zu einem besonders weitreichenden Rückbau korporatistischer
Strukturen gekommen ist, kaum von einem »neuen Gleichgewicht« unterschiedlicher Akteure und Interessen sprechen.
Die als Folge vor allem ökonomischer Internationalisierungsprozesse
potenzierte Macht global agierender Unternehmen geht mit Herausforderungen einer neuen Dimension einher (vgl. Kapitel 10). Das spezifische
Veto- und Drohpotenzial mächtiger Unternehmen macht den Staat zwar
nicht zwingend zur leichten Beute ökonomischer Partikularinteressen, aber
es hat auch in Europa zu Formen des »reverse lobbying« (Shaiko 1998), der
108
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
gezielten Einflussnahme des Staates auf Akteure des privaten Sektors,
geführt, die bislang so nur aus den USA bekannt waren. Die Suche nach
geeigneten Antworten auf die im doppelten Sinne (auf Seiten der Interessengruppen wie des Staates) veränderten Bedingungen von Interessenpolitik gehört ohne Zweifel zu den komplexesten Gegenständen auf der internationalen Agenda zur »Demokratisierung der Demokratie« (Offe 2003).
5 Massenmedien: Spiegel und
Katalysatoren politischer Macht
Von allen großen Institutionen des intermediären Sektors wurden die Medien als letzte zu einem Gegenstand der politikwissenschaftlichen Demokratieforschung. Nach traditionellem politikwissenschaftlichen Verständnis, wie es sich noch immer im thematischen Zuschnitt vieler Referenzwerke zum deutschen Regierungssystem offenbart (vgl. etwa Schmidt
2003; von Beyme 2004), zählen die Medien nicht zum Kreise der genuin
politischen Institutionen. Aus dieser Perspektive erscheint auch das Mediensystem weniger als ein Teilbereich des politischen Systems denn als
eine eigenständige Sphäre, deren Erforschung vorrangig der Medienwissenschaft obliegt. Während der vergangenen ein bis zwei Jahrzehnte hat
sich das Interesse der internationalen Politikwissenschaft an den Medien
jedoch unübersehbar deutlich intensiviert. Dabei dominieren Arbeiten,
denen es um die Erfassung der vielfältigen Effekte der Medien auf einzelne
politische Akteure, das politische Institutionensystem und den politischen
Prozess geht. Die in diesem Kontext formulierten Diagnosen reichen von
Veränderungen im strategischen und taktischen Verhalten einzelner Akteure, so im Falle der (vermeintlichen) »Präsidentialisierung« politischer
Führung in den parlamentarischen Demokratien (Poguntke/Webb 2005),
bis zu grundlegenden systemischen Wandlungen der gesamten politischen
Ordnung wie sie mit der Rede von der »Mediendemokratie«, der »Mediokratie« oder der »Mediengesellschaft« 85 zum Ausdruck gebracht werden.
——————
85 Dabei handelt es um den vielleicht treffendsten Begriff zur Bezeichnung der
verbreitet wahrgenommenen Veränderungen. Nach Jarren (2001: 11) ist die »Mediengesellschaft« insbesondere durch folgende Charakteristika gekennzeichnet:
eine quantitative und qualitative Ausbreitung der publizistischen Medien, die Entstehung neuer Medienformen, eine signifikante Zunahme der Vermittlungsleistung
und -geschwindigkeit von Informationen durch Medien, eine immer stärkere
Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Medien sowie schließlich eine gewachsene Aufmerksamkeit der Gesellschaft gegenüber den Medien,
110
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt demgegenüber auf den Medien
bzw. den Mediensystemen der liberalen Demokratien als abhängiger Variable. Die mangelnde Berücksichtigung länderspezifischer Charakteristika
der »Medienlandschaft« markiert einen der zentralen Schwachpunkte vieler
der auf die konsolidierten Demokratien konzentrierten Arbeiten des Forschungsfeldes. Während die Demokratisierungsforschung durchaus nach
Differenzierung strebt, insofern sie gezielt nach dem jeweils verwirklichten
Grad der politischen Freiheit der Medien in »Transformationsländern« und
jungen Demokratien fragt (Voltmer 2005), wird die Existenz eines pluralistisch strukturierten Mediensystems als Grundmerkmal freiheitlicher
Demokratie in vielen Arbeiten über politische Kommunikationsstrukturen
in den alten Demokratien gleichsam als selbstverständlich vorausgesetzt
und den teils gravierenden Unterschieden zwischen Mediensystemen einzelner Länder dieser Gruppe allenfalls am Rande Beachtung geschenkt.
Spezifische Konfigurationen im Zusammenspiel etwa von Regierungen
und Medien, oder ganz allgemein der Stellenwert der Medien im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, werden primär mit den
institutionellen Unterschieden auf der Ebene des Verfassungssystems, wie
insbesondere dem Gegensatz zwischen parlamentarischer und präsidentieller Regierung, und den kulturellen Eigenheiten politisch-gesellschaftlicher Systeme erklärt (Beyme/Weßler 1998; Pfetsch 2003).
Im Folgenden ist zunächst nach den potentiellen politischen Funktionen der Medien in der bzw. für die Demokratie zu fragen. In den daran
anschließenden Abschnitten geht es um die Vergegenwärtigung der historischen Grundlagen und Evolution der unterschiedlichen Massenmedien
sowie um einen typologisierenden Vergleich der »Medienlandschaften« in
den heute etablierten Demokratien.
5.1 Der Stellenwert und die politischen Funktionen
der Medien in der Demokratie
Als die im engeren Sinne politischen Funktionen der Massenmedien in der
Demokratie gelten gemeinhin die Informationsfunktion, die Mitwirkung an
——————
welche mit einer steigenden gesellschaftlichen Anerkennung medialer Akteure einhergeht.
MASSENMEDIEN
111
der Meinungsbildung sowie die Kontrolle und Kritik anderer politischer
Akteure, vor allem der Regierung (Meyn 2004: 24). Weitere Differenzierungen sind freilich möglich, etwa durch die Unterscheidung einer spezielleren Thematisierungsfunktion im Funktionskontext von Kritik und Kontrolle (ebd.: 27). Andere Autoren unterscheiden Primär-, Sekundär- und
Tertiärfunktionen (Strohmeier 2004a: 72–75). Als Primärfunktion von
Massenmedien erscheint dabei die Herstellung von Öffentlichkeit. Zu den
politischen Sekundärfunktionen werden Information und Kontrolle gerechnet. Bei den Tertiärfunktionen – genannt wurden: politische Sozialisation und Integration, politische Meinungs- und Willensbildung sowie »politische Bildung und Erziehung« (ebd.: 73) – handelt es sich um eher mittelbar wirksam werdende Funktionen, sofern sie im Einzelnen überhaupt
empirisch nachgewiesen werden können und nicht lediglich als normativ
erwünscht gelten.
Die Kontroll-, Kritik- und Thematisierungsfunktion von Massenmedien erinnert stark an das Funktionsprofil der parlamentarischen Opposition in der parlamentarischen Demokratie. Es fehlt lediglich die Alternativfunktion, über die die Massenmedien freilich nicht verfügen, auch wenn
einige Beobachter den Medien vereinzelt so etwas wie eine effektive Teilhabe an der Regierungsfunktion zuerkennen. Tatsächlich ist es in der internationalen Literatur keineswegs unüblich, die Medien als funktionales
Äquivalent effektiv agierender Oppositionsparteien zu betrachten. Entsprechende Bewertungen wurden, kaum überraschend, vor allem für Japan
für die Zeit der jahrzehntelangen Alleinherrschaft der LDP formuliert
(Krauss 1996: 360); auf einschlägige Interpretationen stößt man jedoch
auch in der jüngeren Debatte über die Politik in der Bundesrepublik
(Dahrendorf 2002).
Die Existenz eines nicht selten ansehnlichen Kontroll- bzw. Oppositionspotentials der Massenmedien gegenüber der Regierung spricht gleichwohl nicht für die populäre Klassifizierung der Massenmedien als »vierte
Gewalt«. Als fehlgeleitet erscheint eine solche Klassifikation nicht so sehr
deshalb, weil die Medien als Kontrollinstanz sämtlichen der verfassungsrechtlich konstituierten Gewalten gegenüberstehen. Die allseitige Machtbegrenzung, bei der jede der drei konstitutionellen Gewalten (Exekutive,
Legislative und Judikative) den übrigen gegenübergestellt ist, bildet gerade
das zentrale Kennzeichen klassischer Konzeptionen der institutionellen
Gewaltenteilung wie sie bis heute das Regierungssystem der USA prägen
(Goldwin/Kaufman 1986; Knight 1989). In struktureller Hinsicht er-
112
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
scheint eine Bezeichnung der Medien als »vierte Gewalt« vielmehr deshalb
als verfehlt, weil die Massenmedien in keinem Land den drei konstitutionellen Gewalten im Hinblick auf ihren normativen Status und ihre institutionelle Unabhängigkeit auch nur annähernd gleichgestellt sind. Das gilt
schon für den Sektor des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der in einigen
Ländern, wie Spanien oder lange Zeit auch Frankreich, sogar in besonderem Maße als faktischer Hoheitsbereich regierender Mehrheiten betrachtet
wurde (Humphreys 1986: 111–158). Vorbehalte gegenüber einem Verständnis der Medien als »vierter Gewalt« sind aber selbst dann angezeigt,
wenn es ausschließlich um die Erfassung der funktionalen Dimension der
Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteuren geht. Dann nämlich
wären die Medien, ganz im Sinne unterschiedlicher Ansätze der »aufgeklärten« Gewaltenteilungslehre, in einem Kontext mit zahlreichen unterschiedlichen nicht-staatlichen Akteuren zu verorten, die alle im weiteren
Sinne kontrollierenden Einfluss auf das Handeln von Akteuren des staatlichen Entscheidungssystems zu nehmen trachten (Loewenstein 1957; von
Arnauld 2001; Helms 2006c).
In der jüngeren Literatur wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass weder das Gewaltenteilungsparadigma noch das Instrumentalisierungsparadigma der Rolle der Medien in der Demokratie bzw. dem Verhältnis zwischen Massenmedien und politischem System gerecht werden. Vielmehr
besteht zwischen dem politischen System im engeren Sinne und dem Mediensystem »ein Interaktions- und Handlungszusammenhang mit wechselseitigen Abhängigkeiten« (Sarcinelli 2005: 111). Im Zentrum dieser Interaktionsbeziehung steht das Prinzip des Tausches zwischen Information
gegen Publizität. Freilich wird das dynamische Kräfteverhältnis einer solchen Beziehung maßgeblich durch den jeweiligen Tauschwert der angebotenen Güter bestimmt. Nur auf den ersten Blick mag es so scheinen, als
wenn sich das Bedürfnis der Medien nach Informationen und das Streben
nach Publizität auf Seiten staatlich-politischer Akteure86 die Waage hielten
und gleichsam von selbst ein »harmonisches Miteinander« erzeugten. In
den gegenwärtigen konsolidierten Demokratien gibt es stattdessen vielfältige Anzeichen dafür, dass sich Akteure des staatlichen Entscheidungssystems gezwungen sehen, den Medien ganz bestimmte, nicht zuletzt ökono-
——————
86 Für die Akteure des politischen Entscheidungs- und Einflusssystems kommt
hinzu, dass die Massenmedien wichtige »Umweltbeobachtungsysteme« darstellen,
welche sowohl der Selbstbeobachtung der Politik als auch der Beobachtung der
gesellschaftlichen Umwelt dienen (Sarcinelli 2005: 267).
MASSENMEDIEN
113
misch verwertbare Leistungen mit hohem Nachrichten- und Unterhaltungswert anzubieten, um dafür im Gegenzug die begehrte Ressource
Öffentlichkeit zu erhalten. Das ist im Kern gemeint, wenn in Teilen der
Literatur von einer Annäherung und teilweisen Ersetzung der »Logik der
Politik« durch die »Logik der Medien« oder einer »Kolonisierung der Politik durch die Medien« die Rede ist (Th. Meyer 2001; Kriesi 2003).
Ohne politische Kommunikation, ohne kommunikative Begründungsleistung entbehrt das Handeln politischer Entscheidungseliten in der repräsentativen Demokratie der Legitimität. Politische Entscheidungsträger, die
danach streben, eine größtmögliche Legitimität ihres Handelns zu gewährleisten, sind dabei zwingend auf die spezifische Vermittlungsleistung der
Massenmedien angewiesen. Das war in gewisser Weise schon immer so,
jedenfalls seit der Entstehung der Massendemokratien im 19. Jahrhundert.
Bereits in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bezog der weitaus
größere Teil der Bevölkerung sein Wissen über das Handeln des Staates
und andere gesamtgesellschaftlich relevante politische Entwicklungen aus
den Medien (in diesem Fall der Presse) und nur im Einzelfall über die persönliche Teilnahme an politischen Versammlungen oder ähnlichem. Insofern überrascht es ein wenig, dass die Politikwissenschaft erst seit einigen
Jahren mehr oder minder übereinstimmend eine »Mediatisierung« von
Politik konstatiert (Bennett/Entman 2001). In der Tat gibt es jedoch Anzeichen dafür, dass die Kommunikationsempfindlichkeit der Gesellschaft,
die Kommunikationsabhängigkeit von als legitim empfundener Politik in
den konsolidierten Demokratien zugenommen hat (Sarcinelli 2005: 90). Im
Zuge dessen haben sich auch die Anforderungen an die Fähigkeiten politischer Spitzenakteure in der jüngeren Vergangenheit sukzessive erhöht. Die
erfolgreiche Durchsetzung politischer Vorhaben ist heute weitgehend an
das Vermögen geknüpft, sowohl den spezifischen Herausforderungen auf
der Ebene von Entscheidungspolitik als auch jenen auf der Ebene von
Darstellungspolitik gerecht zu werden. Zwischen beiden besteht ein dynamisches und spannungsgeladenes Verhältnis. Als problematisch muss insbesondere die mögliche – durch die Funktionslogik der »Mediendemokratie« begünstigte – Abkoppelung der Darstellungspolitik von der Entscheidungspolitik gelten (Korte/Hirscher 2000).
Über die vielfältigen Herausforderungen der Demokratie durch die
Massenmedien – nicht allein die »traditionellen Medien« (Presse, Radio,
Fernsehen), sondern auch die »neuen Medien« (wie insbesondere das In-
114
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
ternet) – ließe sich lange handeln.87 In den weiteren Teilen dieses Kapitels
geht es stattdessen schwerpunktmäßig um eine Rekonstruktion der historischen Herausbildung der Massenmedien und die Beleuchtung der strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Mediensysteme der konsolidierten Demokratien.
5.2 Die Evolutionsgeschichte der Massenmedien in
den heute etablierten Demokratien
Am Beginn der Geschichte der Massenmedien stand die Presse. Sie ist das
älteste und bis heute in hohem Maße politisch relevante Massenmedium.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein handelte es sich bei den zum
Teil seit dem 17. Jahrhundert existierenden Zeitungen (wie der Leipziger
Zeitung oder der London Gazette) nicht wirklich um Massenmedien, sondern eher um Medien, die dem mehr oder minder geschlossenen Diskurs
innerhalb der herrschenden bürgerlichen Schicht dienten. Für die Entwicklung der Presse zu einem wirklichen Massenmedium war ein Bündel
unterschiedlicher Faktoren verantwortlich. Dazu gehörten verschiedene
technische Innovationen wie die Telegrafie und das Telefon, ferner die
Begründung internationaler Nachrichtenagenturen (wie Reuter in London
oder Wolff in Berlin) während der dreißiger und vierziger Jahre des 19.
Jahrhunderts, schließlich die schrittweise Abschaffung rechtlicher Restriktionen wie insbesondere hohe staatliche Gebühren bzw. Steuern für Werbeanzeigen und Druckpapier (Gorman/McLean 2003: 7–8). Bemerkenswerter Weise entsprach der in vielen Ländern parallel zur Demokratisierung politischer Ordnungen sich vollziehenden Herausbildung einer Massenpresse in den seltensten Fällen eine eindeutig auf die Gesellschaft als
Ganze bezogene »Politisierung« der Presse.
»Ironically, at the very time when the vote was extending democratic national
political life in most countries, and when consequently the voice of larger groups in
society needed to be heard more than ever, many newspapers were turning their
backs on the requirement to service public life. […] (A)s the economic function of
newspapers grew, the imperative for revenue that advertising provided made the
——————
87 Vgl. hierzu statt vieler mit zahlreichen weiteren Nachweisen die einschlägigen
Forschungsberichte von Street (2005) und Corner/Robinson (2006).
MASSENMEDIEN
115
newspaper indispensable to consumers of goods rather than to citizens.«
(Chapman 2005: 104)
Die Besonderheiten der historischen Entwicklung der Presse in Deutschland waren zu einem beträchtlichen Teil Abglanz der starken regionalen
Zerklüftung des Landes während des gesamten 17., 18. und großer Teile
des 19. Jahrhunderts. Die regionale Fragmentierung stand der Entwicklung
der Presse zu einem echten Massenmedium lange Zeit im Wege. Nicht
minder schwer wogen die restriktiven Wirkungen der vergleichsweise späten Anerkennung einer unbeschränkten Pressefreiheit, welche in Schweden
bereits 1766, nur wenig später auch in den USA rechtlich institutionalisiert
wurde (Hallin/Mancini 2004: 147). Zu einem Meilenstein der Pressegeschichte in Deutschland wurde die Verabschiedung des Reichspressegesetzes 1874. Es ersetzte das ausufernde Geflecht regionaler Pressegesetze und
schuf damit gleichsam die rechtliche Grundlage für eine landesweite
Presse. Nicht minder wichtig waren die Abschaffung der berüchtigten
»Vorzensur« und der staatlichen Lizenzierung der meisten Zeitungen.
Gleichwohl blieb das Bismarck-Reich bekanntlich weit davon entfernt, die
heute als selbstverständlich geltenden Standards der Meinungs- und Pressefreiheit zu gewährleisten. Bereits im ersten Jahrzehnt des neu geschaffenen Reiches kam es in Form von »Kulturkampf« und »Sozialistengesetz« zu
kompromisslos-repressiven Aktionen gegen die katholische Minderheit
und die Sozialisten bzw. Sozialdemokraten. Noch die Weimarer Reichsverfassung betrachtete die Pressefreiheit nicht als ein absolutes Grundrecht.
In Art. 118 WRV war lediglich ein Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung festgeschrieben. Selbst dieses konnte, insbesondere durch das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten, im Bedarfsfall eingeschränkt
werden, wozu es vor allem in der Schlussphase der Weimarer Republik im
großen Stile kam. Umfangreiche Presseverbote wurden jedoch selbst auf
der Grundlage einfacher Gesetze wie dem Republikschutzgesetz aus dem
Juli 1922 durchgesetzt (Altendorfer 2001: 20). Eine zusätzliche schwere
Hypothek erwuchs der Presse während der Weimarer Republik aus der
Übermacht demokratiefeindlich gesinnter Medienunternehmer, ganz besonders in Gestalt Alfred Hugenbergs.
In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand der Hörfunk als
ein weiteres Massenmedium. Als das »goldene Zeitalter« des Hörfunks
gelten international die dreißiger und vierziger Jahre. Das trifft hinsichtlich
des gesellschaftlichen Stellenwertes und der Reichweite des Mediums – im
Gegensatz zum Inhalt der Sendungen! – auch für Deutschland zu. In der
116
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
vergleichenden Mediengeschichte werden (neben der Variante eines »totalitären Hörfunks«) zumeist zwei institutionelle Grundmodelle mit weitreichender internationaler Ausstrahlungswirkung unterschieden: das amerikanische Modell eines kommerziellen Rundfunks und das in Großbritannien
entwickelte Modell eines »public service«-Rundfunks (Gorman/McLean
2003: 49–55). Der ausschlaggebende Impuls für die Entstehung des privaten Rundfunks amerikanischer Prägung stand niemals in Frage. Die Entwicklungsdynamik speiste sich eindeutig aus den Profitmaximierungsstrategien privater Unternehmen. Weniger Konsens besteht hinsichtlich der
historischen Entstehungsbedingungen des britischen Modells des »public
service broadcasting«. Einer verbreiteten Lesart zufolge ging es in Großbritannien von Anfang an darum, ein System zu kreieren, das dem »öffentlichen Interesse«, den Bedürfnissen einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft in besonderem Maße gerecht werden würde. Unbestritten ist, dass
der Staat genau diese Linie ab Mitte der zwanziger Jahre gezielt verfolgte.
Gelegentlich bezweifelt wurde jedoch, ob damit tatsächlich der maßgebliche Impuls der Frühgeschichte des britischen Rundfunks bezeichnet ist.
Nach Einschätzung von Paddy Scannell und David Cardiff waren auch auf
der britischen Insel bei allen Beteiligten zunächst ausschließlich ökonomische Erwägungen ausschlaggebend. »The thinking at first was all on the
trade side of broadcasting and the creation of a market, and not on the
broadcasting side and the nature and content of a programme service«
(Scannell/Cardiff 1991: 6). Davon war auch der Staat nicht ausgenommen:
»The Post Office, as the state’s major revenue-producing department, foresaw the
possibility of considerably increasing its revenues through the licence fee. Indeed,
one of the most scandalous features of early broadcasting was the percentage of
the licence fee retained by the Post Office to increase the annual amount it earned
for the Treasury.« (ebd.: 5–6)
In der internationalen Mediengeschichte gilt nicht zuletzt Deutschland als
ein Land, in dem der Staat von Beginn an eine führende Rolle bei der
Entwicklung des Hörfunks spielte. Obwohl bis in die zweite Hälfte der
zwanziger Jahre der private Rundfunk vorherrschend war, gab es zahlreiche »Einmischungen« des Staates, vor allem in Gestalt umfangreicher Genehmigungspflichten. Diese waren nicht immer ausschließlich machtpolitisch motiviert; zumindest vereinzelt spielten auch weiter gehende Ideen
wie der Wunsch nach staatlichem Schutz der Gesellschaft vor egoistischen
Einzelinteressen eine Rolle (Humphreys 1990: 125). Im Gefolge der
Zweiten Weimarer Rundfunkverordnung von 1932 kam es zur Zentralisie-
MASSENMEDIEN
117
rung und Verstaatlichung des Rundfunks. Als maßgeblicher Akteur trat
dabei das Reichsinnenministerium in Erscheinung, das mehr oder minder
offen den gezielten Ausbau des Rundfunks zum politischen Sprachrohr der
Regierung propagierte (Altendorfer 2001: 18). Im Rückblick mag dies wie
eine Vorbereitung der nationalsozialistischen Rundfunkpolitik erscheinen.
Der zentrale Stellenwert, den die Nationalsozialisten dem Hörfunk zumaßen, manifestierte sich auch in quantitativer Hinsicht. So hatte Deutschland zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die höchste Anzahl von Hörfunkempfängern in ganz Europa vorzuweisen (Humphreys 1990: 127).
Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts trat das Fernsehen als
weiteres Medium hinzu. Während das Radio von Beginn an international
ausgerichtet war, blieb das Fernsehen bis zum Beginn der fünfziger Jahre
in seiner Reichweite – schon technisch bedingt – im günstigsten Fall auf
die jeweiligen nationalen Grenzen, zum Teil auf deutlich überschaubarere
regionale Ballungsräume beschränkt. Zu den internationalen Vorreitern der
Fernsehentwicklung gehörte auch Deutschland, wo es bereits 1935 zur
Aufnahme eines zunächst freilich denkbar bescheidenen Sendebetriebs
kam. Eine Besonderheit der deutschen Variante bestand nicht nur in den
überwiegend nationalsozialistisch eingefärbten, propagandistischen Programminhalten, sondern auch in der institutionellen Ausgestaltung des
Fernsehens: Zu sehen waren die eigens hergestellten Sendungen zunächst
ausschließlich an ausgewählten öffentlichen Orten, in sogenannten »Fernsehstellen« oder »Fernsehstuben« rund um Berlin (Hickethier 1998: 40).
Ähnliche Praktiken gab es während der Frühzeit des Fernsehens auch in
Italien. Bis in die späten vierziger Jahre hinein hielten es Beobachter nicht
nur mit Blick auf autoritäre bzw. totalitäre Regime für möglich, ja sogar
wahrscheinlich, dass das Fernsehen seinen »natürlichen Platz« in den großen Lichtspieltheatern (statt in privaten Haushalten) finden werde
(Gorman/McLean 2003: 127–128; Briggs 1995).
Seine erste Blüte als Massenmedium erlebte das Fernsehen während der
fünfziger Jahre in den Vereinigten Staaten. Wie das amerikanische Radio,
war auch das amerikanische Fernsehen im Wesentlichen eine Angelegenheit der privaten Wirtschaft. Stärker noch als für die jüngere Vergangenheit
gilt dies für die Anfänge des Fernsehens. Die Geschichte des staatlichen
Fernsehens begann in den Vereinigten Staaten erst 1951. Damit verkörpern die USA das einzige größere Land der Welt, in dem die Entstehung
des privaten, kommerziellen Fernsehens der des staatlichen Fernsehens um
viele Jahre vorausging (Bitterman 2006: 14). Und bis heute ist es letzterem
118
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
– bei einem Zuschaueranteil von stets deutlich unter fünf Prozent – nicht
einmal ansatzweise gelungen, aus dem langen Schatten des privaten Fernsehens herauszutreten.
Das »Urmodell« eines staatlichen (und dabei zugleich staatsfernen)
Fernsehens mit ausdrücklicher »public service«-Orientierung verkörperte,
analog zu den Entwicklungen im Hörfunksektor, Großbritannien bzw. die
British Broadcasting Corporation (BBC). Dieses, nicht die amerikanische
Variante, wurde zum zentralen Vorbild der Fernsehentwicklung in den
meisten Ländern Europas, vor allem aber in den Commonwealth-Ländern
Kanada, Australien und Neuseeland. Zu einem internationalen Referenzmodell wurde Großbritannien jedoch nicht nur wegen der Hochkarätigkeit
seines öffentlichen Fernsehens. Bemerkenswerter Weise waren die Briten
zugleich europäische Vorreiter bei der Entwicklung des privaten Rundfunks. Bereits 1954 entstand ein kommerzieller Sender, Independent Television (IT), der im Vergleich zu vielen späteren Erscheinungen in diesem
Sektor durch eine außerordentlich starke »public service«-Orientierung und
hohe Qualitätsstandards gekennzeichnet war (Gorman/McLean 2003:
132). Eine ähnlich frühe Einführung des kommerziellen Fernsehens gab es
innerhalb Europas nur in Finnland (1957), wo die Gründung eines privaten
Senders sogar den Beginn der »Fernsehgeschichte« des Landes markierte
(Österlund-Karinkanta 2004: 56). Außerhalb Europas sind unter den
»Frühstartern« zu erwähnen: Australien, wo 1956 ein duales System geschaffen wurde und Japan, wo bereits Ende 1953, nur wenige Monate nach
der Etablierung des mächtigen staatlichen Fernsehens (NHK), mehrere
kommerzielle Sender den Betrieb aufnahmen (Dunning 2004: 43).
Anfang der achtziger Jahre erfasste die Kommerzialisierung des Fernsehens die große Mehrzahl der westeuropäischen Länder. Für den internationalen Trend in Richtung Kommerzialisierung gab es unterschiedliche
Gründe: Einer von ihnen war das beständige Drängen einer starken Lobby,
insbesondere aus dem Werbesektor, die sich für einen Wandel der Medienstrukturen stark machte. Dabei ging es konkret um die Schaffung und
Sicherung ihres Zugangs zu den elektronischen Medien als einer zentralen
Komponente des Werbemarktes. Nicht ohne Wirkung war auch das Streben verschiedener sozialer Bewegungen nach einer eigenen Plattform auf
der Ebene des Fernsehens. Dabei konnte verschiedentlich an frühere Erfahrungen mit privaten Radiostationen angeknüpft werden. Ferner gab es
vielerorts ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis nach einer größeren Zahl
an Fernsehprogrammen und größerer Programmvielfalt, jenseits des An-
MASSENMEDIEN
119
gebots, das durch Einkünfte aus staatlich erhobenen Fernsehgebühren zu
finanzieren war. Ein zusätzlicher Impuls insbesondere für die Entstehung
des transnationalen Fernsehens entwickelte sich aus dem anhaltenden
Trend zu ökonomischer Globalisierung, der sich in Europa nicht zuletzt in
Gestalt der europäischen Integration manifestierte (Hallin/Mancini 2004:
274–276).
Seit den achtziger Jahren werden die »traditionellen« Medien (Presse,
Rundfunk und Fernsehen) durch das Internet ergänzt. Ob das Internet als
neues Massenmedium gelten kann, ist nicht unumstritten. Kritiker weisen
insbesondere darauf hin, dass die Masse der Bevölkerung in den konsolidierten liberalen Demokratien zwar über eine prinzipielle Zugangsmöglichkeit, nicht aber über einen tatsächlichen Zugang zum Internet verfüge
(Strohmeier 2004a: 45–46). Dieses Argument entbehrt nicht grundsätzlich
der Substanz; der in den meisten Ländern zu beobachtende rasante Anstieg
der Zahl von Internetnutzern nimmt ihm jedoch zunehmend den Wind
aus den Segeln.
Laut einschlägiger internationaler Statistiken88 gab es im September
2006 die größte Internetnutzerdichte in Skandinavien, besonders in Island
(86,8 Prozent der Bevölkerung) und Schweden (74,9 Prozent). Ebenfalls
eine Internetnutzerquote von über 70 Prozent der Bevölkerung besaßen
Länder wie Neuseeland (76,3), Australien (70,7) und, gewiss überraschend,
Portugal (74,1). In der Gruppe mit Quoten zwischen 70 und 65 Prozent
fanden sich Länder wie die USA (69,3), Kanada (67,9) und Japan (67,2),
etwas dahinter Großbritannien (62,5) und Deutschland (61,3). Am vergleichsweise bescheidensten war der Anteil an Internetnutzern in den
meisten Ländern Südwesteuropas (mit Ausnahme Portugals). Sowohl in
Spanien als auch in Italien und Frankreich lag die Quote bei (zum Teil
deutlich) unter 50 Prozent. Gerade in einigen der zuletzt genannten Länder
gab es, gemessen an den Zahlen für 2000, jedoch besonders spektakuläre
Zuwachsraten. So stieg die Internetnutzerquote im Zeitraum 2000–2006 in
Frankreich nur um knapp unter, in Spanien sogar deutlich über 250 Prozent. Bescheidener blieben die Zuwachsraten in den alten »Internethochburgen« Skandinaviens; sie lagen im Durchschnitt der fünf skandinavischen
Länder bei etwas über 65 Prozent und damit noch unter den ebenfalls
vergleichsweise moderaten Zahlen für Länder wie Kanada und Japan.
——————
88 Zahlen nach: http://www.internetworldstats.com, 06.01.2007; zum Teil eigene Berechnungen des Autors.
120
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Wichtig zu sehen ist ferner, dass sich das Internet nicht als selbständiges, von den übrigen Medien vollständig losgelöstes Medium entwickelt
hat. So nutzen vor allem die großen Tages- und Wochenzeitungen das
Internet, um ihre Berichterstattung auch online zugänglich zu machen. Ob
sich die Präsenz der traditionellen Massenmedien im Internet für diese
tatsächlich vorteilhaft auswirkt, bleibt indes fraglich. Zum einen verursacht
die Internetpräsenz beträchtliche finanzielle Kosten, die kaum durch die
insgesamt bescheidenen Zuwachsraten der jeweiligen Leserschaft gerechtfertigt werden können. Zum anderen gibt es spezifische Einbußen bei der
Agendakontrolle durch die Herausgeber etablierter Printmedien und problematische Rückwirkungen auf die journalistische Qualität der Berichterstattung. Die Qualität des Online-Journalismus bleibt, nicht zuletzt bedingt
durch den erheblich gesteigerten Zeitdruck, mit dem »breaking news« produziert werden müssen, zum Teil deutlich hinter den traditionellen Standards zurück (Gorman/McLean 2003: 203).
Die populäre Rede vom »Internet-Zeitalter« erscheint im Lichte jüngerer Entwicklungen betrachtet als Übertreibung. Zwar gibt es auf internationaler Ebene Anzeichen für eine deutliche Veränderung der Mediennutzung. So ist vor allem die Zirkulationsrate von verkauften Tageszeitungen
international rückläufig. Das gilt – bei zum Teil gravierenden Unterschieden zwischen einzelnen Ländern – für Westeuropa wie für die USA und
Japan. Während der Periode 2001 bis 2005 kam es in Griechenland, den
Niederlanden und Dänemark zu einem Rückgang im zweistelligen Prozentpunktbereich. Die Vergleichswerte für Deutschland und Großbritannien lagen bei jeweils knapp unter –10 Prozentpunkten. Ein bemerkenswerter Trend, der kaum dadurch entschärft wird, dass – dank der massenhaften Entstehung und Verbreitung von Gratiszeitungen89 – die
Zeitungsleserrate nicht in gleichem Umfang abnahm wie jene der Zeitungskäufer (World Association of Newspapers 2006). Aus der schleichenden Krise von Teilen des Pressesektors lässt sich jedoch kein überzeugender Beleg für einen Durchbruch des Internets zum internationalen Leitmedium des 21. Jahrhunderts gewinnen. Für die Bundesrepublik zeigen Fallstudien vielmehr, dass das Fernsehen – trotz der scheinbaren Allgegenwart
——————
89 Gratiszeitungen gelten mittlerweile als eine der ernsthaftesten Herausforderungen
für die etablierten Zeitungsverlage, aber auch für die Entwicklung des Printmedienjournalismus insgesamt. In Deutschland ist die Bedeutung von Gratiszeitungen, gemessen an den Vergleichsdaten aus dem europäischen Ausland, bislang auffallend gering (Haas 2006; Röper 2006).
MASSENMEDIEN
121
des Internets – eindeutig das dominante Leitmedium der Bürger geblieben
ist (van Eimeren/Ridder 2005: 503). Obwohl es wenige vergleichbar anspruchsvolle Longitudinalstudien über das Mediennutzungsverhalten in
anderen Ländern gibt, gilt das Fernsehen auch andernorts nach wie vor als
die mit Abstand wichtigste Quelle politischer Information (Gerstlé 2002:
94).
5.3 Die Vielfalt der Mediensysteme in den konsolidierten
Demokratien und das Mediensystem der Bundesrepublik
In ihrer bahnbrechenden Studie über die Strukturmerkmale unterschiedlicher Mediensysteme in den westlichen Demokratien unterscheiden Daniel
Hallin und Paolo Mancini (2004) drei unterschiedliche Grundtypen von
Mediensystemen: ein liberales Modell, ein demokratisch-korporatistisches
Modell und ein polarisiert-pluralistisches Modell. Dabei handelt es sich, wie
an den gewählten Bezeichnungen erkennbar wird, nicht um Klassifizierungen, die ausschließlich Aspekte des Mediensystems im engeren Sinne berücksichtigen; einbezogen werden auch dessen jeweiliger politischer Kontext und eine Reihe verhaltensbezogener Variablen von Akteuren. Den im
engeren Sinne politischen Faktoren kommt dabei der Stellenwert von unabhängigen Variablen zu (ebd.: 47). Die unterschiedenen Modelle werden
im Übrigen auf bestimmte Länder bzw. Ländergruppen bezogen.
Das liberale oder nordatlantische Modell, dem Hallin und Mancini die
USA, Kanada, Großbritannien und Irland zurechnen, zeichnet sich idealtypisch durch ein eindeutig marktdominiertes Mediensystem aus (obwohl es
in Großbritannien und Irland eine starke Säule des öffentlichen Rundfunks
gibt), in dem sowohl Printmedien als auch elektronische Medien eine zentrale Rolle spielen. Zu den grundlegenden Strukturmerkmalen der Mediensysteme des liberalen Typs gehören ferner: die Vorherrschaft einer neutralen kommerziellen Presse (mit Ausnahme der hochgradig »parteiisch« auftretenden britischen Presse), die Existenz eines professionellen, politisch
autonomen Rundfunk(kontroll)systems sowie ein ausgeprägter interner
Pluralismus90 als funktionalem Organisationsprinzip des Mediensystems
——————
90 Gemeint ist die Repräsentation unterschiedlicher inhaltlicher Positionen innerhalb
eines bestimmten Mediums. Im Gegensatz dazu realisiert sich pluralistische Viel-
122
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
(wiederum mit Ausnahme Großbritanniens, für das eher ein externer Pluralismus kennzeichnend ist). Auf der journalistischen Ebene ist das liberale
Modell gekennzeichnet durch eine eher informationsorientierte Form des
Journalismus und ein insgesamt hohes Maß an Professionalisierung91 sowie
ein System der nicht-institutionalisierten Selbstregulierung. Zu faktischen
Einschränkungen journalistischer Autonomie kommt es in diesem System
eher aufgrund kommerziellen Drucks als durch Versuche politischer Instrumentalisierung der Medien (ebd.: 198–248).
Besonders deutlich unterscheidet sich das liberale/nordatlantische Modell vom polarisiert-pluralistischen oder mediterranen Modell, zu dem bei
Hallin und Mancini Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien gerechnet werden. Zu den Merkmalen dieses Systems gehört eine
stark politisierte Presse und ein Rundfunksystem, das in hohem Maße von
parlamentarischen Mehrheiten bzw. Regierungen gesteuert und kontrolliert
wird. Der intensiven Kontrolle des Rundfunkbereichs durch politische
Mehrheiten in den staatlichen Leitungsorganen entspricht eine weitreichende staatliche Intervention in anderen Bereichen des Mediensystems;
sie manifestiert sich insbesondere in Form staatlicher Subventionszahlungen an die Printmedien. Kennzeichnend für dieses Modell ist eine deutliche
Neigung zum externen Pluralismus des Mediensystems. Das historisch
außerordentlich hohe Maß an »politischem Parallelismus«, welches das
polarisiert-pluralistische Modell kennzeichnet, hat sich im Laufe des 20.
Jahrhunderts in fast allen zu dieser Gruppe gehörenden Ländern zurückgebildet.92 Auf der Ebene des Journalismus gehört zu diesem Modell eine
eher geringe Professionalisierung, eine ausgeprägte Tendenz zur politischen Instrumentalisierung des Journalismus und eine Tradition des stärker
kommentarorientierten und nicht selten im engeren Sinne Partei nehmenden Journalismus. Ein weiteres auffallendes Merkmal des pluralistischpolarisierten Modells bildet die vergleichsweise geringe Bedeutung der
——————
falt beim externen Pluralismus erst auf der Systemebene, als Folge des Zusammentreffens unterschiedlicher, für sich allein betrachtet einseitiger Positionen.
91 Dabei geht es nicht um formale Kriterien der Professionalisierung (wie einschlägige berufsqualifizierende Abschlüsse oder die Mitgliedschaft in Berufsverbänden),
sondern um verhaltensleitende Dimensionen der Professionalisierung wie insbesondere der jeweilige Grad an journalistischer Autonomie gegenüber dem Einfluss
anderer Akteure.
92 Die große Ausnahme bildet Spanien, wo es im Gefolge der Demokratisierung in
den vergangenen Jahrzehnten eher zu einer Verstärkung entsprechender Tendenzen mit einer Spaltung der Medien in zwei rivalisierende Lager kam (ebd.: 104).
MASSENMEDIEN
123
Presse (abzulesen insbesondere an den ausgesprochen bescheidenen Auflagezahlen von Tageszeitungen), woraus sich in den betreffenden Ländern
eine ausgeprägte Vormachtstellung der elektronischen Medien als den
einzigen wirklichen Massenmedien ergibt (ebd.: 89–142).
Zum demokratisch-korporatistischen oder nordeuropäischen Modell
schließlich rechnen Hallin und Mancini neben den skandinavischen Ländern, den Niederlanden und Belgien auch Österreich, Deutschland und die
Schweiz. Die Mediensysteme dieser Länder kennen zwar verbreitet Formen staatlicher Intervention (etwa Subventionszahlungen an die Presse93);
sie sind jedoch zugleich durch ein hohes Maß an institutionalisierter Pressefreiheit gekennzeichnet. Zu den historischen Merkmalen des demokratisch-korporatistischen Modells zählt eine mächtige Parteipresse, die jahrzehntelang in Nachbarschaft zu einer hoch entwickelten kommerziellen
Presse existierte. Seit den siebziger Jahren kam es jedoch flächendeckend
zu einem weitreichenden Bedeutungsverlust der Parteipresse, der längst
auch einstige Hochburgen wie Österreich erfasst hat. Vor allem das System
der landesweit vertriebenen bzw. gelesenen Presse ist jedoch stellenweise
noch immer durch eine Neigung zum externen Pluralismus gekennzeichnet. Zu den zentralen Merkmalen der Mediensysteme der demokratischkorporatistischen Länderfamilie gehört ferner ein ausdifferenziertes und im
Hinblick auf den Marktanteil entsprechend zentral positioniertes System
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dieses erhält seine spezifische Note
durch ein System der Kontrolle des Rundfunks, welches auf Machtteilung
und Inklusion unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen setzt und damit
zwischen das stärker mehrheitsdemokratisch geprägte Modell der mediterranen Länder und das professionelle Modell der nordatlantischen Ländergruppe fällt. Mit Blick auf eine Reihe weiterer Merkmale ist das demokratisch-korporatistische Modell dem liberalen deutlich näher als dem polarisiert-pluralistischen Modell – so hinsichtlich des hohen Professionalisierungsgrades des Journalismus (welcher verbreitet mit einer stark institutionalisierten Form der Selbstregulierung kombiniert wird) wie auch der historisch frühen Entwicklung einer Massenpresse, der bis heute eine ausgesprochen hohe Zirkulationsrate von Tageszeitungen entspricht (ebd.: 144–
197).
——————
93 Das gilt vor allem für Schweden, während Deutschland und die Schweiz die einzigen Länder dieser Gruppe sind, in denen es überhaupt keine direkten staatlichen
Subventionen für die Presse gibt (ebd.: 161).
124
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Wie bereits durch die Differenzierungen am Rande deutlich geworden
sein sollte, gibt es selbst innerhalb der Grenzen der von Hallin und
Mancini unterschiedenen Modelle einen beträchtlichen Pluralismus und
gelegentlich Fälle mit einem signifikanten Abweichungspotential gegenüber
den jeweils als relevant erachteten Bestimmungsmerkmalen.94 In der
Gruppe von Systemen des liberalen/nordatlantischen Typs betrifft dies vor
allem Großbritannien, welches im Rahmen einer detaillierten Einzelfallstudie vermutlich an der Grenze zwischen dem liberalen und dem demokratisch-korporatistischen Modell zu verorten wäre. Aus der polarisiert-pluralistischen Gruppe ist hingegen vor allem Frankreich zu nennen, das ebenfalls eine auffallende Nähe zum demokratisch-korporatistischen Modell
aufweist. Innerhalb der Gruppe von Ländern, die von Hallin und Mancini
dem demokratisch-korporatistischen bzw. nordeuropäischen Modell zugeordnet werden, kann nicht zuletzt Deutschland als ein System mit einer
Reihe markanter Besonderheiten gelten. Dem soll im restlichen Teil dieses
Abschnittes, im Rahmen einer Rekonstruktion der wichtigsten Strukturentwicklungen des deutschen Mediensystems nach 1945 nachgegangen
werden.
Aus breiterer historischer Perspektive betrachtet erwies sich die Zeit
der Nazi-Herrschaft als ein so einschneidender Bruch mit dem deutschen
Pressewesen, dass die heutige Presselandschaft Deutschlands – im Gegensatz zu der Situation in vielen anderen Ländern mit größerer Kontinuität
der Demokratiegeschichte – zum größten Teil ein Produkt der Entwicklungen nach 1945 ist (Koszyk 1986).95 Wie in anderen Bereichen stand
auch am Beginn des Wiederaufbaus des deutschen Mediensystems die
——————
94 Die Autoren selbst bieten hierfür eine Fülle von weiterem Anschauungsmaterial.
In der Tat gehört es zu den besonderen Stärken der Studie von Hallin und
Mancini, dass entsprechende Besonderheiten im Rahmen des Möglichen ausdrücklich berücksichtigt werden und konzeptuelle Stringenz nicht auf Kosten empirischer Genauigkeit angestrebt wird.
95 Unterschiede kennzeichnen jedoch auch die Mediengeschichte der frühen Nachkriegszeit in Deutschland und Japan und dabei inbesondere die Medienpolitik der
amerikanischen Besatzungsmacht. Anders als in Deutschland kam es in Japan
nicht zu einem radikalen Neubeginn des Pressewesens. Sämtliche Zeitungen blieben bestehen, wenngleich es zu personellen »Säuberungen« innerhalb von Verlagen kam. Für die geringe Zahl neuer Zeitungen in Japan waren somit nicht primär
restriktive medienpolitische Entscheidungen der Amerikaner, sondern vor allem
Rohstoffmangel und veraltete Produktionsanlagen verantwortlich (PlitschKußmaul 1995: 325).
MASSENMEDIEN
125
Politik der Alliierten. Die Westmächte entschieden sich für den Weg einer
strikt kontrollierten Neugründung einer privatwirtschaftlich-kommerziell
organisierten Presse, die vollständig frei von staatlicher Kontrolle sein
sollte. Größter Wert wurde auf ein Maximum an Dezentralisierung gelegt,
im Sinne eines radikalen Gegenentwurfs zu der hochgradigen Pressekonzentration während der Weimarer Republik. Zu den Kernzielen beim Wiederaufbau der Presse gehörte ferner das Bestreben, der in Deutschland bis
dahin weithin unbekannten Tradition einer Trennung zwischen Nachricht
und Kommentar, wie sie den angelsächsischen Journalismus seit langem
kennzeichnete, zum Durchbruch zu verhelfen.
Selbst die Pressepolitik von Briten und Amerikanern in den jeweils von
ihnen kontrollierten Zonen wies jedoch beträchtliche Unterschiede zueinander auf. Die Amerikaner verfolgten einen Ansatz, der auf die Etablierung
überparteilicher Zeitungen zielte. Aus diesem Grunde wurden entweder
Lizenzen an Pressevertreter vergeben, die eine strikt »unparteiische« Linie
vertraten, oder es wurde versucht, über die Vergabe von Lizenzen einen
Pluralismus zwischen unterschiedlich positionierten Kräften innerhalb des
Herausgeberkreises eines Blattes zu gewährleisten. Anders als die Amerikaner sahen die Briten keine Probleme darin, in ihrer Zone Zeitungen mit
einer eindeutigen politischen Richtung zuzulassen. Sie vertrauten darauf,
dass sich ein pluralistisches Gefüge der Meinungen auf der Ebene des
Marktes von Anbietern und Lesern gleichsam von selbst, aus dem freien
Spiel der Kräfte ergeben würde. Die Franzosen verfolgten einen Mittelweg,
der sich zunächst in größerer Nähe zum amerikanischen Modell bewegte,
nach 1947 jedoch stärker dem britischen Ansatz zuneigte.
Die politische Liberalisierung des Pressesektors vollzog sich in mehreren Schritten. Die »Vorzensur« von für die Veröffentlichung vorgesehenen
Materialien wurde zum Teil bereits ab September 1945 aufgegeben, zunächst von den Amerikanern, wenig später auch in der britischen und
französischen Zone. Die »Nachzensur« blieb vorerst bestehen, und vereinzelt wurde gar argumentiert, dass der Umfang an Korrekturen durch die
Alliierten nach Abschaffung der »Vorzensur« deutlich zunahm
(Humphreys 1990: 32). Ab September 1949 konnte jeder Deutsche (mit
Ausnahme der als im Rahmen von Entnazifizierungsverfahren als »Hauptschuldige« identifizierten Personen) wieder eine Zeitung oder Zeitschrift
herausgeben, ohne dass hierfür eine spezielle Genehmigung der Alliierten
126
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
erforderlich war.96 Diese Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen schlug sich in einer geradezu dramatischen Zunahme unterschiedlicher
Presseerzeugnisse nieder. Verantwortlich für diese war im Kern die Rückkehr der »Altverleger«, welche ganz überwiegend keine Lizenzen erhalten
hatten. Innerhalb eines Jahres entstanden rund 750 neue Zeitungen (ebd.:
39). Den sich entwickelnden Auflagenkrieg zwischen den Lizenzblättern,
von denen es zu diesem Zeitpunkt im westlichen Teil Deutschlands insgesamt 165 gab, und den über 500 neu hinzugekommenen Zeitungen überstanden die Lizenzblätter deutlich besser als ihre Konkurrenten. In der
amerikanischen Zone, die die mit Abstand größte Dynamik erlebte, ging
ihre Zahl bis zum Herbst 1951 nur um rund zehn Prozent zurück, vor dem
Hintergrund wesentlich größerer Verluste auf Seiten der Altverleger
(Koszyk 1986: 320). Die institutionell-organisatorische Konkurrenz zwischen Lizenz- und Altverlegern, die sich zunächst in unterschiedlichen
Verbänden – dem Gesamtverband der Deutschen Zeitungsverleger (der
Organisation der Lizenzträger) und dem Verein Deutscher Zeitungsverleger – zusammenschlossen, war nicht von langer Dauer. Das zweigleisige
System wurde durch die Gründung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger im Jahre 1954 überwunden.
Zu den während des ersten Jahrzehnts der Bundesrepublik geschaffenen Institutionen der Presse gehört auch der im Herbst 1956 gegründete
Deutsche Presserat. Die Initiative für die Gründung des Presserates kam
vom Deutschen Journalisten Verband. Er war dem international einflussreichen Modell des British Press Council nachempfunden und sollte für die
Presse »so etwas Ähnliches wie ihr moralisches Gewissen« (Meyn 2004: 58)
darstellen. Ihm gehören heute zehn Journalisten und eine gleiche Zahl von
Verlegern an. Nutznießer des Presserates waren in den vergangenen Jahrzehnten nach verbreiteter Einschätzung jedoch eher die Verleger als die
Journalisten. Sein Erfolg bei der Fernhaltung einer expansiveren und intensiveren Kontrolle der Presse durch den Staat wird als deutlich größer be-
——————
96 Formal ausschlaggebend hierfür war das »Gesetz Nr. 5 der Alliierten Hohen Kommission über die Presse, den Rundfunk, die Berichterstattung und die Unterhaltungsstätten« vom 21. September 1949. Die verfassungsrechtliche Garantie entsprechender Aktivitäten bietet Art. 5 GG, der jedem das Recht zuspricht, seine
Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Ferner werden ebendort auch
die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film
ausdrücklich gewährleistet.
MASSENMEDIEN
127
wertet als seine Leistungen auf dem Gebiet der Selbstregulierung des Pressesektors (Humphreys 1990: 59–60; Baum 2006).97
Ein zentrales Charakteristikum der deutschen Presse nach 1945 bildete
stets die begrenzte Bedeutung der nationalen, landesweit gelesenen Presse
– im Gegensatz insbesondere zu der stark »nationalisierten« Presselandschaft in Großbritannien, Österreich, Italien oder Spanien und grundsätzlich ähnlich wie in Skandinavien oder Frankreich. Lediglich in den Vereinigten Staaten, Kanada und der Schweiz, wo es kaum oder erst seit kurzem
eine nationale Tagespresse von nennenswertem Gewicht gibt, besaß bzw.
besitzt die regionale Presse einen noch größeren Stellenwert als in
Deutschland (Hallin/Mancini 2004: 25). Die große Mehrzahl der Deutschen liest eine regionale Tageszeitung. Entsprechend groß ist das zahlenmäßige Angebot an Presseerzeugnissen. Die tatsächliche Vielfalt auf dem
deutschen Zeitungsmarkt wird jedoch seit langem bezweifelt. Dass sich ein
beträchtlicher Teil der regionalen Journalisten hinsichtlich der Themenauswahl an den Vorgaben der maßgeblichen überregionalen Titel – auf der
Ebene von Tageszeitungen insbesondere der (liberal-konservativen) Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der (linksliberalen) Süddeutschen Zeitung
– orientiert, erscheint unproblematisch. Kritischer bewertet wurde der
Umstand, dass der Vielzahl an Zeitungsausgaben kein adäquates Maß an
redaktioneller Selbständigkeit von Zeitungen entspricht. Das schwerwiegendste Problem wird jedoch in der Herausbildung lokaler Pressemonopole gesehen; sie bergen die Gefahr struktureller Informationsdefizite, der
die betroffene Leserschaft weitgehend machtlos gegenübersteht (Meyn
2004: 79–80).98
Dem Konzentrationstrend im Pressesektor der Bundesrepublik wurde
durch die deutsche Vereinigung kein Einhalt geboten. Im Gegenteil. Die
mit der »Abwicklung« auch dieses Sektors beauftragte Treuhand verkaufte
die ehemals von DDR-Organisationen herausgegebenen Zeitungen in der
——————
97 Eine nur bescheidene Kontrollwirkung ging von den Landespressegesetzen aus.
Der Zurückhaltung des Staates auf Landesebene entsprach allenfalls phasenweise
eine aktivere Rolle des Bundes in der Pressepolitik. Vor allem mit Blick auf die
jüngere Vergangenheit wurde dem Bund gar pointiert ein weit reichender »Politikverzicht« attestiert (Jarren/Donges 2006: 391).
98 International vergleichend ausgerichtete Studien zeichnen ein anderes Bild. Bei
Voltmer (2000: 21) erscheint Deutschland im Vergleich der OECD-Länder neben
Norwegen, Schweden und der Schweiz als eines der wenigen Länder, in denen –
jedenfalls noch zu Beginn der neunziger Jahre – eine überdurchschnittlich große
Auswahlmöglichkeit von Informationsquellen auf regionaler Ebene bestand.
128
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Mehrzahl an die großen westdeutschen Verlagshäuser, so dass es allenfalls
zu einer gewissen Modifizierung, nicht aber zu einer grundsätzlichen Veränderung der Monopol- bzw. Oligopolverhältnisse kam. Die gelegentlichen
»Überraschungseffekte«, die sich im Zuge der Transformation bei der Zuweisung von Verkaufsobjekten zu bestimmten Käufern ergaben, wurden
von kritischen Beobachtern eher auf die besondere Inkompetenz der
Treuhand als auf irgendeine rationale Strategie zurückgeführt: »Der Verkauf der Zeitungen war ein Lehrstück der Intervention in den Pressemarkt
durch eine Stelle, die dazu weder durch ihre Sachkunde noch durch ihre
Aufgabe prädestiniert und legitimiert war« (ebd.: 93). Die Pressestrukturen
in den neuen Bundesländern ähneln nach verbreiteter Einschätzung denen
vergangener DDR-Zeiten weitaus mehr als denen in der alten Bundesrepublik. Eine aufwendige Untersuchung gelangte für das Gebiet der ehemaligen DDR zu dem Ergebnis, dass »lokale Zeitungsmonopole inzwischen
die Regel, Wettbewerbsgebiete hingegen die seltene Ausnahme« bildeten
(Schneider/Stürzebecher 1998: 212).99 Der ausgesprochen hohe Konzentrationsgrad der ostdeutschen Presselandschaft wird auf spezifische Weise
ergänzt durch die Existenz einer (ansonsten praktisch ausgestorbenen)
Parteipresse in Form des PDS-Organs, »Neues Deutschland«. Als größeres
Problem gilt einigen Beobachtern das »Presseimperium« der SPD (Rudzio
2006: 391–392), welches im Zuge der Entschädigung für NS-Enteignungen
entstand. Auf diesem Wege gelangte die SPD zu umfangreichen Beteiligungen an Zeitungsverlagen und Druckereien in den neuen Bundesländern.
Der Einfluss der Alliierten auf die Neugründung des deutschen Rundfunks nach 1945 war mindestens vergleichbar groß wie jener im Bereich
der Presse. Wie die Presse wurde auch der Rundfunk als ein zentrales Instrument für die »demokratische Umerziehung« der Deutschen betrachtet.
Entsprechend deutlich war der Bruch mit den Strukturen und Werten des
deutschen Rundfunksystems der Vorkriegszeit (Humphreys 1990: 128–
136). In strukturbildender Hinsicht überwog dabei auf der Markoebene
eindeutig der britische Einfluss: Die Institutionen des neu zu schaffenden
deutschen Rundfunks wurden nach dem Vorbild der BBC modelliert, als
»public service«-Organisationen, die sich weder im Privatbesitz noch unter
——————
99 Ostdeutsche Besonderheiten wurden auch jenseits institutioneller Spezifika, auf
der Ebene des Journalismus identifiziert. Als auffällig und problematisch wurde
dabei insbesondere »die Fixierung auf Staat und Obrigkeit als prägendes Merkmal
der Berichterstattung von Tageszeitungen« (ebd.: 220) bewertet.
MASSENMEDIEN
129
direkter Kontrolle des Staates befinden sollten.100 Dieses Grundmerkmal
teilten die Rundfunkorganisationen in allen drei Besatzungszonen.
Daneben gab es jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Zonen.
Während die Amerikaner in ihrem unmittelbaren Einflussbereich den Aufbau einer stark dezentralisierten Rundfunkstruktur forcierten, etablierten
die Briten in ihrer Zone eine hochgradig zentralisierte und hinsichtlich
ihrer Proportionen geradezu »monströse« Korporation: den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) mit Sitz in Hamburg. Er versorgte außer
Hamburg selbst auch Schleswig-Holstein, Niedersachsen und NordrheinWestfalen. Das System in der kleineren französischen Zone folgte eher
dem britischen Modell. Den schon von ihrer äußeren Struktur her deutlich
voneinander verschiedenen Konzepten entsprachen unterschiedliche institutionelle Lösungen auf der Ebene der internen Kontrollstrukturen.101
Trotz ihres unübersehbar großen Einflusses im Rundfunkbereich zogen
sich die Siegermächte auffallend früh, deutlich vor Gründung der Bundesrepublik, beinahe vollständig aus diesem Sektor zurück. Bereits der Aufbau
der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der
Bundesrepublik Deutschland (ARD) im Sommer 1950 – die ab 1954 ein
gemeinschaftlich verwaltetes Fernsehprogramm ausstrahlte – ging in
Selbstregie der beteiligten Landesrundfunkanstalten vonstatten. Erst recht
die wichtigste weitere Strukturveränderung der fünfziger Jahre – die Aufspaltung des NWDR in den Sender Freies Berlin (SFB), den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und den Norddeutschen Rundfunk (NDR) –
hatte nichts mehr mit den Siegermächten zu tun, war aber nichtsdestoweniger in beträchtlichem Maße Ausdruck politischer Bestrebungen. Das gilt
——————
100 Das gilt, wie weiter oben angemerkt, auch für zahlreiche andere westeuropäische
Länder. Ein tiefer gehender internationaler Vergleich zeigt jedoch, dass der Begriff
und das Konzept des »public service« dabei üblicherweise auf die Funktionsbestimmung oder Widmung von Anbietern bezogen werden, während hierzulande
die Zuordnung als »öffentlich-rechtliche Anstalt«, also eine juristische Definition,
prägend wurde – nach Einschätzung einiger Autoren nur ein Symbol dafür, »dass
in keinem anderen Vergleichsland rechtliche Sichtweisen (bis hin zum Bundesverfassungsgericht) eine derartige Bedeutung für die Ausgestaltung der Rundfunkordnung haben wie in Deutschland« (Kleinsteuber 2003: 392).
101 Die Rekrutierung der Rundfunkräte in den von den Amerikanern begründeten
Rundfunkanstalten folgte dem »ständischen Prinzip«, das auf eine ausgewogene
Repräsentation unterschiedlicher relevanter gesellschaftlicher Gruppen setzte; diejenige in der britischen basierte hingegen auf dem »parlamentarischen Prinzip«, der
Wahl von Mitgliedern des Rundfunkrates auf der Grundlage einer Mehrheitsentscheidung der Landesparlamente.
130
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
besonders für die Schaffung des WDR. Der NWDR wurde von Adenauer
und anderen prominenten Vertretern der Union wiederholt als unerträglich
»SPD-freundlich« kritisiert. Die Begründung des WDR im Jahre 1954 erfolgte deshalb kaum zufällig in einer Phase, in der die Union die Regierungszügel in Nordrhein-Westfalen führte (Kleinsteuber 1982: 21) – eine
frühe Episode, die einen ersten Vorgeschmack auf die späterhin zunehmend unverhohlene Politisierung des Rundfunks bzw. die Parteipolitisierung der Rundfunkpolitik geben sollte. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang vor allem an das am Einspruch des Bundesverfassungsgerichts
gescheiterte Ansinnen der Regierung Adenauer, eine regierungsnahe Rundfunkanstalt auf Bundesebene mit der Bezeichnung »Deutschland-Fernsehen« zu schaffen. Das erste Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Jahre 1961 erwies sich als wegweisend, insofern es die Basis für
die verfassungsrechtliche Rundfunkhoheit der Länder schuf bzw. befestigte (Altendorfer 2001: 129–132). Nicht zuletzt einige der institutionellen
Manifestationen der (seither vielfach bestätigten) Entscheidungshoheit der
Länder im Rundfunkbereich – darunter die Struktur von nicht weniger als
15 Landesmedienanstalten, denen die Aufgabe der Rundfunkaufsicht zugewiesen ist – erscheinen aus international vergleichender Perspektive als
»weltweite Einzigartigkeit der deutschen Situation« (Kleinsteuber 2003:
389).
Die Begründung des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) durch die
Länder im Jahre 1963 fällt nach dem Urteil wichtiger Autoren schon nicht
mehr in die Phase der Institutionalisierung des deutschen Rundfunksystems, sondern in jene der Korrektur, welche auf die Jahre 1961 bis Anfang
der achtziger Jahre terminiert wurde (Jarren/Donges 2006: 392). Zu den
weiteren Entwicklungen dieser Phase gehörten insbesondere zahlreiche
Organisationsreformen im Bereich der Rundfunkkontrolle, ferner das –
lange Zeit erfolglose – Streben verschiedener Medienakteure und einzelner
Gruppen innerhalb der Union nach Errichtung eines privaten Rundfunks.
Erst 1984 schlug die Geburtsstunde der »dualen Rundfunkordnung«, in der
sich ARD und ZDF zunächst SAT-1 und RTL (anfangs noch aus Luxemburg sendend) gegenübersahen.102 Die erforderlichen infrastrukturellen
——————
102 Die für die Bundesrepublik charakteristische Entstehung einer dualen Ordnung
durch den Eintritt neu gegründeter privater Sender in das bestehende System verkörpert den Normalfall der westeuropäischen Entwicklung. Die Begründung eines
dualen Systems durch die Transformation von öffentlich-rechtlichen Sendern in
private, wie in Frankreich, bildet hingegen die Ausnahme (Voltmer 2000: 29).
MASSENMEDIEN
131
Voraussetzungen (wie die Bereitstellung neuer terrestrischer Frequenzen
und die Verkabelung) wurden im Gefolge des bundespolitischen Machtwechsels von 1982 geschaffen und zunächst in den von der Union regierten Bundesländern umgesetzt. Zur erstmaligen Durchbrechung des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols kam es jedoch im Sendebereich des
von internen, nicht zuletzt parteipolitischen Querelen gezeichneten NDR.
»Als Preis für den Fortbestand der Dreiländeranstalt ließ sich das damals
sozialdemokratisch regierte Hamburg auf die Zulassung privater Rundfunk- und Fernsehsender ein« (Hartmann 2004: 102).
Die später zahlreich hinzukommenden privaten Sender lassen sich mit
wenigen Ausnahmen (wie Viva oder ntv) einer der beiden großen »Senderfamilien«, der heute von ausländischen Investoren kontrollierten ehemaligen Kirch-Gruppe (etwa SAT-1, Pro-7, Kabel 1) oder der von Bertelsmann
beherrschten »RTL-Familie« (darunter RTL, RTL-2 und Vox) zurechnen.
Vor allem im Osten haben die privaten Anbieter in der Zuschauergunst die
öffentlich-rechtlichen Sender (mit Ausnahme der regionalen dritten Programme) mittlerweile deutlich hinter sich gelassen (Zubayr/Gerhard 2006),
während »Pay-TV« bislang nirgendwo in Deutschland einen Markt nennenswerter Größenordnung gefunden hat. Letzteres hat nicht unerheblich
etwas mit den – aus Sicht entsprechender Anbieter – besonders ungünstigen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik zu tun. Die im Vergleich
mit der Situation in den anderen großen westeuropäischen Ländern ausgesprochen weite Verbreitung von Kabel und Satellit und die ungewöhnlich
breite Palette frei verfügbarer Programme lassen hierzulande kostenintensive Zusatzangebote bei vielen potentiellen Kunden als verzichtbaren Luxus erscheinen (Kleinsteuber 2004: 82; Limmer 2005: 479–480).
Mindestens so auffällig sind die Eigenheiten des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks in Deutschland. Dazu gehören, neben dessen föderaler Struktur, die sehr weitgehende Verrechtlichung des Rundfunkbereichs (nicht
zuletzt als Ergebnis zahlreicher Rundfunk-Urteile des Bundesverfassungsgerichts) und vor allem das außerordentlich hohe Maß an Parteipolitisierung.
»Faktisch haben CDU/CSU und SPD ihren Einflussbereich auf den öffentlichen
Rundfunk ständig vergrößern und vielfach monopolisieren können. Die Zusammensetzung von Gremien führt sogar dazu, dass hochrangige Staatsvertreter Einfluss auf Hauhalts-, Programm- und Personalentscheidungen nehmen. […] Damit
hat sich im öffentlichen Rundfunk ein Stück weit jene Parteipolitisierung vollzogen, die das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung gegen das so ge-
132
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
nannte »Adenauer-Fernsehen« 1961 verhindern wollte.« (Jarren/Donges 2006:
393–394)103
Zumindest formal gehört Deutschland zu der großen Mehrheit von Ländern, in denen die konkrete Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dem Prinzip des Binnenpluralismus folgt.104 Die breit geführte Debatte über die politische Ausrichtung der öffentlich-rechtlichen Sender
suggeriert jedoch etwas anderes. Einigen wissenschaftlichen Beobachtern
zufolge rechtfertigt es die intensive Parteipolitisierung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Sender, diese als ein gewaltenkonzentrierendes
Element im Regierungssystem der Bundesrepublik zu bewerten (Schmitt
Glaeser 2002). Auch die Entwicklungen in der politischen Arena selbst
sind kaum dazu angetan, eine gegenteilige Einschätzung zu befördern. Vor
allem die ARD wurde von der Union verbundenen oder nahe stehenden
Akteuren immer wieder mit dem Vorwurf politischer Unausgewogenheit,
konkret der »Linkslastigkeit«, konfrontiert. Anfang 1995 forderten die
Ministerpräsidenten Bayerns und Sachsens, Edmund Stoiber und Kurt
Biedenkopf, gar die Einstellung des Ersten Programms der ARD – freilich
ohne damit in der breiteren Öffentlichkeit auf große Zustimmung zu stoßen (Meyn 2004: 164).
Die gewachsene Konkurrenzierung der öffentlich-rechtlichen Medien
durch private Sender wird bislang – nicht nur in Deutschland – überwiegend unter dem Aspekt ökonomischer Herausforderungen und daraus
folgender programmbezogener Adaptionsprozesse (auf beiden Seiten)
betrachtet (Syvertsen 2003: 158–159). Aus einer stärker politischen Perspektive ließe sich die wachsende Bedeutung privatwirtschaftlicher Sender
wie multimedialer Großkonzerne auch als eine schleichende Verschiebung
des politischen Koordinatensystems zugunsten bürgerlich-liberaler Positionen deuten (Hallin/Mancini 2004: 292–293).
——————
103 Gleichwohl wurde von »Insidern« verschiedentlich die Position vertreten, dass der
politische Druck auf die öffentlich-rechtlichen Sender in der jüngeren Vergangenheit nachgelassen habe (Meyn 2004: 153). Als Ursache dafür wird neben der relativen Bedeutungseinbuße der öffentlich-rechtlichen Sender im dualen System auf
die gestiegenen Chancen von Politikern, in irgendeinem der zahlreichen Programme zu Wort zu kommen, verwiesen.
104 Zu den wenigen Fällen, in denen auch im Bereich von »public broadcasting« Formen des externen Pluralismus dominieren, gehören die Niederlande und Italien
(Voltmer 2000: 36).
MASSENMEDIEN
133
5.4 Konklusion
Die historische Bilanz Deutschlands bis 1945 auf dem Feld der Entwicklung »demokratiefreundlicher« Medien fällt vergleichbar bescheiden aus
wie auf dem Gebiet der Parteiengeschichte. Exemplarischen Charakter
erreichten am ehesten einige der negativen Auswüchse des Mediensektors
wie der Hugenberg-Konzern der Weimarer Jahre, der in der internationalen Literatur als das erste wirkliche »›multimedia‹ empire« gilt (Humphreys
1990: 14), ganz zu schweigen von der einzigartigen nationalsozialistischen
Progaganda-Maschinerie der Jahre 1933 bis 1945.
Der mit alliierter Starthilfe nach 1945 eingeleitete Aufbau eines Mediensystems »westlicher Prägung« stand der Ausformung deutscher Besonderheiten nicht im Wege. Zu ihnen gehört – trotz des starken britischen
Einflusses in diesem Bereich – vor allem der föderalistische Charakter der
Medienlandschaft. Ebenfalls dazu gerechnet werden kann die starke Parteipolitisierung in den Kontrollgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie hat dem Ansehen der öffentlichen Sender im In- und Ausland
im Hinblick auf die Qualität des Programms wie deren Glaubwürdigkeit als
Informationsquelle jedoch keinen Abbruch getan. Ähnlich wie einzelne
Titel der überregionalen Qualitätspresse haben sich auch der öffentlichrechtliche Rundfunk und das Fernsehen den Ruf erworben, zu den international Besten ihrer Art zu zählen. In einer aufwendigen international
vergleichenden Untersuchung über die Mediensysteme unterschiedlicher
OECD-Staaten erscheint Deutschland (1990) als eines von sieben der
insgesamt 17 klassifizierten Systeme, die sowohl im Bereich der Presse als
auch des Rundfunks durch gute Werte hinsichtlich der Struktur des politischen Informationsangebots auffielen (Voltmer 2000: 43–44).105 Nicht
verschwiegen werden kann in diesem Zusammenhang allerdings, dass
——————
105 Auf der Ebene der Presse wurde danach differenziert, ob die Verbreitung der zehn
wichtigsten sich zum Prinzip des internen Pluralismus bekennenden Blätter, gemessen am internationalen Durchschnittswert, unterdurchschnittlich oder überdurchschnittlich weit verbreitet sind. Eine gute Bewertung im Bereich des Rundfunksystems setzt voraus, dass dieses ebenfalls eindeutig am Prinzip des internen
Pluralismus ausgerichtet und nicht dem direkten Einfluss bzw. der versuchten
»Einmischung« von Regierungen ausgesetzt ist. Gemeinsam in einer Gruppe mit
Deutschland befanden sich den Befunden dieser Studie zufolge Österreich, Belgien, Finnland, Japan, Norwegen und die USA. Ganz am Ende der Vergleichsskala
mit schlechten Werten in beiden Bereichen standen Griechenland, Irland, Italien
und Spanien.
134
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
insbesondere die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens in der Bundesrepublik ihren Preis hat: Sie gelten als die teuersten
öffentlich-rechtlichen Funkmedien der Welt (Rudzio 2006: 399).
Stärker noch als manch andere Bereiche bleibt der Mediensektor durch
eine hohe Veränderungsdynamik bestimmt. Die international vergleichende Medienforschung konstatiert mit Blick auf die grundlegenden
Entwicklungstendenzen unterschiedlicher Mediensysteme einen »Triumph
des liberalen Modells« (Hallin/Mancini 2004: 251). Gemessen am status
quo ante der frühen Nachkriegszeit hat sich die Mehrzahl der Mediensysteme in den konsolidierten liberalen Demokratien mehr oder minder weit
auf das liberale/nordatlantische Modell, wie es prototypisch von den Vereinigten Staaten verkörpert wird, zu bewegt. Die beiden wichtigsten Komponenten dieses Trends, und zugleich die Ursachen der relativen Homogenisierung der Mediensysteme der westlichen Länder, bilden die intensive
Kommerzialisierung im Bereich der elektronischen Medien und der wachsende Stellenwert privater Radio- und Fernsehsender in den Angebotsund Nutzungsstrukturen der Mediensysteme. Ausnahmen von diesem
Trend betreffen aus der Gruppe der OECD-Staaten lediglich einige der
kleineren Länder wie Österreich, die Schweiz und Irland, die über die größeren Nachbarländer Deutschland und Großbritannien jedoch zumindest
indirekt an den internationalen Entwicklungen Anteil nehmen.
Obwohl von einer internationalen Tendenz zur Annäherung an das
amerikanische Modell gesprochen werden kann, weisen die meisten Autoren die These von der »Amerikanisierung« der Mediensysteme anderer
Länder zurück. Mit Recht: Zum einen speisen sich viele der maßgeblichen
Veränderungsimpulse aus anderen Quellen, im Falle Deutschlands und der
anderen europäischen Länder aus innereuropäischen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Zum anderen gibt es
Anzeichen für eine partielle Annäherung des amerikanischen Systems an
europäische Strukturen und journalistische Standards, die der »Amerikanisierungs«-These entgegensteht (ebd.: 255).
Vor allem im Hinblick auf die konkreten Effekte der globalen Transformation von Mediensystemen ist jedoch Skepsis gegenüber populären
Diagnosen der »Amerikanisierung« angezeigt. Überall hat die Kommerzialisierung der Medien deren Charakter als selbständige, genuin politische
Akteure gestärkt (Mancini/Swanson 1996: 11). Aber die neue Macht der
Medien bleibt eingebunden in unterschiedliche institutionelle und politisch-kulturelle Kontexte, die nur begrenzte Modifikationen der bestehen-
MASSENMEDIEN
135
den Systeme zulassen. Das zeigen auch speziellere Studien über die Bundesrepublik: Zwar erscheint das Mediensystem als das vergleichsweise
flexibelste und »adaptionsfreudigste« Teilsystem des politischen Systems.
Veränderungen auf dieser Ebene werden aber nicht unvermittelt weitergegeben. Angleichungseffekte bleiben weithin auf die allgemeine Ebene ähnlicher Darstellungsformen politischer Akteure beschränkt. Schon »Kampagnestrategien, die stark von der politischen Kultur und Institutionen
geprägt sind, erwiesen sich als zu nationalspezifisch, um auch nur Teilaspekte von Übernahmen zu erlauben« (Wagner 2005: 401). Auch und gerade die Evolutionsdynamik der Massenmedien und deren Effekte auf den
politischen Prozess in Deutschland sind mit den in anderen Kontexten
geprägten Topoi der »Verwestlichung« (Söllner 1999) oder »Westernisierung« (Doering-Manteuffel 1999) besser beschrieben als mit jenem der
»Amerikanisierung«.
6 Das Parlament: Die demokratische
Herzkammer des gezähmten
Leviathan
Jahrzehntelang standen die Parlamente im Zentrum der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Demokratie. Und dies nicht von ungefähr – handelt es sich beim Parlament doch gleichsam um den institutionellen Sitz des demokratischen Prinzips, von dem in der parlamentarischen
Demokratie (mit der gelegentlichen Ausnahme direkt gewählter Staatsoberhäupter) alle weiteren Staatsorgane ihre demokratische Legitimation
herleiten.106 Im viel beschworenen Zeitalter des »Post-Parlamentarismus«
scheint die Behandlung der Parlamente hingegen geradezu der besonderen
Rechtfertigung zu bedürfen. Die verbreitete Skepsis gegenüber den Parlamenten speist sich vor allem aus der vielfach formulierten (wenn auch nur
selten gut belegten) Vermutung über deren schleichenden Einflussverlust
im politischen Entscheidungsprozess. Selbst dort, wo es Anzeichen einer
ernstzunehmenden entscheidungspolitischen De-Parlamentarisierung
gibt107, verliert das Parlament jedoch zumindest in normativer Hinsicht
——————
106 Dass die Formel vom »demokratischen Parlament«, wie Ernst Fraenkel (1973: 114)
es ausgedrückte, sich im Laufe der Geschichte »aus einem Paradoxon in einen Pleonasmus« verwandeln konnte, war gleichwohl nicht allein der institutionellen Geburt der parlamentarischen Demokratie zu verdanken, sondern hatte ferner einen
grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungen von Repräsentation
und Demokratie zur Voraussetzung. Im Zuge dessen galt es, die antidemokratischen Aspekte des englischen Parlaments bzw. Parlamentarismus mit der antirepräsentativen demokratischen Ideologie Frankreichs miteinander zu versöhnen
und zur Idee der repräsentativen Demokratie zu verknüpfen (Fraenkel 1973: 155).
107 Einige der diesbezüglich relevanten Aspekte werden in Kapitel 10 beleuchtet. Nur
begrenzt als eine problematische Einschränkung der Bedeutung des Parlaments
akzeptiert werden kann – verbreiteten Klagen zum Trotz – dessen untergeordnete
Stellung gegenüber der Regierung innerhalb der parlamentarischen Arena, welche
gleichsam ein konstitutives Merkmal parlamentarischer Regierungssysteme darstellt.
DAS PARLAMENT
137
nicht an Bedeutung. Im Gegenteil. Auch die theoretischen Vordenker der
»post-parlamentarischen Demokratie« wie Arthur Benz (1998) möchten
auf die genuin demokratischen Ressourcen des Parlaments und des Parlamentarismus deshalb nicht verzichten, während die Befunde der empirisch
vergleichenden Demokratisierungsforschung gar darauf hindeuten, dass
eine hinreichende Institutionalisierung der Parlamente den Schlüssel zur
Konsolidierung »junger Demokratien« bildet (Fish 2006).
Der zentralen Position des Parlaments in der repräsentativen Demokratie entspricht der breite, potentiell das gesamte politische System umspannende Fokus der politikwissenschaftlichen Parlamentarismusforschung. Stärker als die gängigen Klassifikationsvorschläge der Politikwissenschaft in anderen Teilbereichen der Institutionenforschung sind einige
der zentralen Verortungskategorien in Bezug auf das Parlament an dessen
Verhältnis zu anderen institutionellen Akteuren des Regierungssystems
orientiert. Das gilt ganz besonders für die geläufige Unterscheidung von
Volksvertretungen in Parlamente und Legislaturen. Als Parlamente werden
dabei nur solche Volksvertretungen betrachtet, die über das Recht verfügen, die Regierung aus politischen Gründen abzuberufen. Der Legislatur
fehlt dieses Recht; gleichzeitig allerdings ist deren Rolle in anderen Bereichen, so insbesondere bei der Gesetzgebung, eine deutlich stärkere (von
Beyme 1999a: 179).108 Da sich die Bezeichnung »Legislatur« für die
Volksversammlungen in nicht-parlamentarischen Systemen im Deutschen
kaum durchgesetzt hat, wurde vorgeschlagen, das spezifische Funktionsprofil von Parlamenten in parlamentarischen Systemen durch die Hinzusetzung des Adjektivs »parlamentarisch« zu verdeutlichen. In diesem Sinne
ist bei Winfried Steffani (1988: 261) im deutsch-amerikanischen Vergleichskontext von »parlamentarischen Parlamenten« die Rede. Die
deutschsprachige Literatur erscheint in diesem Punkt rigoroser als die angelsächsische. Obwohl die Differenzierung zwischen »parliaments« and
»legislatures« eleganter anmutet als jene zwischen Parlamenten und Legislaturen, stößt man gerade in englischsprachigen Studien auf die Tendenz
zur synonymen Verwendung beider Begriffe (etwa Norton 2002: 16, FN
4). Als Oberbegriff dient dann die Bezeichnung »legislative institutions«.
Diese ist als funktionsorientierte Bezeichnung freilich ungenau, da ein
wesentlicher Anteil an der Gesetzgebungsfunktion, zumindest faktisch,
sowohl im parlamentarischen als auch im präsidentiellen System der Exe-
——————
108 Hier geht es, wie unschwer zu erkennen ist, um die Unterscheidung von Volksversammlungen in parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen.
138
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
kutive zufällt.109 Als akzeptabler stilistisch-inhaltlicher Kompromiss erscheint es deshalb eher noch, die Vertretungskörperschaften sämtlicher
liberaler Demokratien als Parlamente zu bezeichnen.
Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Analyse dreier institutioneller
Komponenten, welche die Eigenart von Parlamenten und des Parlamentarismus in besonderer Weise prägen: die Struktur und Funktionsweise des
Ausschusssystems, der Stellenwert des einzelnen Abgeordneten und der
Fraktion(en) im parlamentarischen Verfahren sowie die institutionelle und
politische Chancenstruktur der parlamentarischen Opposition. Alle drei
Aspekte werden seit der wegweisenden Studie Nelson Polsbys (1968) über
die Institutionalisierung des amerikanischen Repräsentantenhauses und den
frühen Adaptionen des Konzepts im Kontext parlamentarischer Demokratien (Gerlich 1973) zu den Kernkomponenten legislativer Institutionalisierung gerechnet. Wie die übrigen Kapitel beginnt auch dieses mit einer
Vergewisserung der historischen Grundlagen.
6.1 Historische Wege zur parlamentarischen Demokratie
Die Entstehungsgeschichte der parlamentarischen Regierungsform ist
außerordentlich komplex. Hier ist nicht der Ort für ausgreifende evolutionsgeschichtliche Betrachtungen110; einige wenige Hinweise müssen genügen. Zentral ist zunächst die Unterscheidung zwischen revolutionären und
evolutionären Pfaden zur parlamentarischen Demokratie. Ersterer wird
durch Länder wie Großbritannien, Schweden und die Niederlande, die
revolutionäre Variante hingegen vor allem durch Frankreich repräsentiert.
Deutschland verkörpert unter den heute konsolidierten parlamentarischen
Demokratien in historischer Hinsicht einen Sonderfall, insofern hier die
ersten Schritte in Richtung auf eine Konstitutionalisierung des Systems (als
Vorstufe der Parlamentarisierung) weder im Zuge einer erfolgreichen Re-
——————
109 Davon abzugrenzen sind andere funktionsbezogene Klassifikationen, die an der
Leistungsfähigkeit parlamentarischer Versammlungen orientiert sind. So schlägt
etwa Patzelt (2003: 14) vor, weitgehend machtlose Vertretungskörperschaften als
»Minimalparlamente« zu bezeichnen.
110 Verwiesen sei insbesondere auf von Beyme (1970, 1999a). Speziellere Aspekte wie
die historische Beziehung zwischen Parlamentarisierung und Demokratisierung
werden in anderen Teilen dieser Studie beleuchtet (vgl. Kapitel 2 und 7).
DAS PARLAMENT
139
volution noch als Ergebnis eines beständigen Drängens liberaler Kräfte des
Bürgertums erfolgten, sondern auf der Grundlage fürstlicher »Willkürakten« – eine Form des Regimewandels, die in der angelsächsischen Literatur
mit dem Prädikat des »self-limited absolutism« (Finer 1997: 1598) bedacht
wurde. In der Staatstheorie jener Zeit galten die Parlamente als »gesellschaftliche, nicht staatliche Institutionen« (Oberreuter 1990a: 15), von
denen aus – mit Ausnahme des Rechts auf Mitbestimmung in Steuerfragen
– lediglich Forderungen an den Staat erhoben werden konnten. Gleichwohl konnten die vom Monarchen einmal etablierten Selbstbeschränkungsrechte nicht ohne weiteres wieder von diesem zurückgenommen
werden. Sie waren vielmehr politisch wie rechtlich bindend und nur im
Rahmen des formalrechtlich fixierten Verfahrens unter Zustimmung der
Volksvertretung revidierbar (Böckenförde 1992: 34).111
Zum Durchbruch der parlamentarischen Demokratie – verfassungsrechtlich manifestiert im Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit
der Regierung – kam es in Deutschland spät, formal erst unmittelbar vor
dem Ende des Ersten Weltkriegs durch das verfassungsändernde Gesetz
vom 28. Oktober 1918. Dieser Schritt stand am Ende einer mehrjährigen
Entwicklung. Der seit August 1914 tobende Krieg brachte die konstitutionelle Monarchie zwar nicht unmittelbar zum Einsturz, offenbarte aber in
zunehmendem Maße die inhärenten organisatorischen und funktionellen
Schwächen des Systems (Boldt 1990: 214). Die das Reich stabilisierende
Idee eines politisch-gesellschaftlichen »Burgfriedens« wurde durch den
Kriegszustand nach und nach ausgehöhlt. In politisch-gesellschaftlicher
Hinsicht führte der Krieg zu einem Machtzuwachs der alten Eliten aus
Adel und Militär. In politisch-institutioneller Hinsicht profitierten der Kaiser, dem der militärische Oberbefehl zustand, und die Oberste Heeresleitung (OHL) mit ihrem Weisungsrecht gegenüber der Verwaltung – auf
Kosten des Kanzlers und des Reichstags (Gusy 1997: 2). Am Ende spielte
vor allem die drohende militärische Niederlage Deutschlands eine ent-
——————
111 Bemerkenswerter Weise konnten es sich gerade etablierte Staaten leisten, zunächst
vollständig auf eine Verfassung zu verzichten, ohne damit in besonderem Maße zu
einem Ort unbeschränkter Willkür des Staatsapparates gegenüber den Untertanen
zu werden. So bildete sich im verfassungslosen Preußen der Jahre 1815 bis 1840
bereits die Tendenz heraus, insbesondere Eingriffe in Freiheit und Eigentum an
eine gesetzliche Grundlage zu binden. In diesem Sinne konnte sich der »Gesetzesstaat« im Einzelfall als begrenztes funktionales Äquivalent des noch nicht verwirklichten Verfassungsstaates erweisen (Reinhard 2000: 420).
140
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
scheidende Rolle bei der Beseitigung jener Machtfaktoren, die einer Parlamentarisierung lange entgegenstanden. Zu den wichtigen Wegmarken der
Entwicklung zur parlamentarischen Regierungsform vor der Verfassungsänderung vom Oktober 1918 gehörten zunächst die Friedensresolution des
Reichstags aus dem Jahre 1917, die Bildung des Interfraktionellen Ausschusses und die Reform des konstitutionellen Budgetrechts (Böckenförde
1988: 214–215). All diese Schritte waren Ausdruck der politisch bestimmend gewordenen Devise, »innere Reformen als Preis weiterer Unterstützung der Kriegsführung« (Gusy 1997: 5). Ab dem Sommer 1918 wirkte
schließlich auch die Konzentration von Entscheidungsmacht in der OHL
in Richtung einer Parlamentarisierung der Reichsregierung – wenn auch
nur insoweit, als diese ein Bestreben entwickelte, die Verantwortung für die
unabwendbar scheinende militärische Niederlage auf die Politik abzuwälzen. Ergebnis dieser Politik war die Ernennung Max von Badens zum
Reichskanzler am 3. Oktober 1918. Die politischen Umstände der Regierungsbildung lassen es kaum als Übertreibung erscheinen, diesen Schritt als
faktische Transformation des Reichs in eine parlamentarische Demokratie
zu bewerten (ebd.: 7).112
Ungeachtet der Vielfalt historischer Entstehungsmuster parlamentarischer Demokratien stand der Status Großbritanniens als des »Mutterlandes
des Parlamentarismus« nie in Frage. Hier traten viele der entscheidenden
Merkmale der parlamentarischen Regierungsweise erstmals in Erscheinung,
bevor sie die historisch-politische Entwicklung auch in anderen Ländern
prägten. Dazu gehörte seit dem frühen 18. Jahrhundert nicht zuletzt die
Herausbildung unterschiedlicher Lager innerhalb des Parlaments als Vorstufe des Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition (Foord
1964; Jäger 1971). 1741 kam es erstmals zu einem Misstrauensantrag der
Opposition gegen die Regierung, der nicht auf einer rechtlichen Anklage
——————
112 Der Krieg begünstigte jedoch nicht lediglich die Parlamentarisierung der Monarchie, sondern trug überdies zumindest indirekt zur Entstehung einer parlamentarischen Republik bei, insofern die westlichen Alliierten in der berühmten Note des
amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom 23. Oktober 1918 erklärt hatten, dass sie weder mit der militärischen noch mit der monarchischen Machtelite
Deutschlands verhandeln würden. Bei der nun auch seitens der deutschen Öffentlichkeit erhobenen Forderung nach Abdankung des Kaisers ging es jedoch beinahe
ausschließlich um die Person Wilhelms II., nicht um die Staatsform. Das rasche
Ende der Monarchie durch die Ausrufung der Republik durch Philip Scheidemann
am 9. November 1918, unmittelbar nach dem Thronverzicht Wilhelms II., hätte
noch wenige Tage vor diesem Ereignis kaum jemand vorherzusagen gewagt.
DAS PARLAMENT
141
(»impeachment«), sondern auf einer allgemeinen Anschauung von Politik
gründete. Seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde der Weg zu
einer parlamentarisch verantwortlichen Kabinettsregierung beschritten. Bis
zur endgültigen Durchsetzung des Parlaments gegenüber der Krone dauerte es freilich noch mehr als ein weiteres halbes Jahrhundert. Der Viscount Melbourne, der im August 1841 von seinem Amt zurücktrat, war der
letzte (und dabei politisch weitgehend außer Gefecht gesetzte) Premierminister, der zwar das Vertrauen der Krone besaß, aber gegen das Parlament
regierte (Kluxen 1991: 485–486, 562).
Von einer hinreichenden Erfüllung der heute an das Modell der parlamentarischen Demokratie üblicherweise herangetragenen Bewertungsmaßstäbe blieb das britische Regierungssystem indes gleich in doppelter Hinsicht lange entfernt. Auf die erste Einschränkung wurde bereits im zweiten
Kapitel dieser Studie, im Rahmen der Rekonstruktion der Genese des
demokratischen Wahlrechts hingewiesen: Die Parlamentarisierung politischer Herrschaft ging der vollständigen Demokratisierung des britischen
Regierungssystems um viele Jahrzehnte voraus. Noch 1910 verfügten nach
Zahlen von Robert Goldstein (1983: 4) lediglich 18 Prozent der Gesamtbevölkerung des Vereinigten Königreichs über das Wahlrecht.
Der zweite Aspekt ist kaum minder bedeutend. In dem Maße wie parlamentarische Demokratie mit dem Prinzip demokratischer Öffentlichkeit
verknüpft gesehen wird – und das gilt heute als geradezu selbstverständlich
–, sind Vorbehalte an der historischen Vorbildfunktion Großbritanniens
angezeigt. Wie Philip Manow (2006: 159–165) uns erinnert, gehörte Öffentlichkeit der parlamentarischen Beratungen des britischen Unterhauses
gerade nicht zu den frühen und international wegweisenden Merkmalen
des Parlamentarismus britischer Prägung. Eine historische Vorreiterrolle in
diesem Punkt kam vielmehr Frankreich zu. Während im (nach-)revolutionären Frankreich die Entscheidung zugunsten unbeschränkter Öffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlungen gleichsam selbstverständlich aus
der Doktrin der Volkssouveränität folgte, womit eine strikte Abgrenzung
gegenüber der absolutistischen Praxis gesucht wurde, bildete in Großbritannien das Prinzip der Nichtöffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlungen bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein ein
zentrales Merkmal des Westminster-Parlamentarismus. Hierzu gehörte (bis
1875) nicht nur der kategorische Ausschluss von Fremden aus dem House
of Commons, sondern auch eine in vielfältiger Weise durch Gesetze und
142
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Konventionen beschränkte Presseberichterstattung über parlamentarische
Verhandlungen.
»In England ging es eben nicht um die Etablierung eines politischen Kommunikationszusammenhangs zwischen Parlament und Gesellschaft, zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, sondern um die Frage, wo der angemessene Ort für
eine kritische Betrachtung des Regierungshandelns war. Die Vertreter eines strikten
Publizitätsverbots im House of Commons argumentierten ganz im Sinne der alten
secret-du-roi Doktrin, dass der richtige Platz für die Diskussion jeglicher Beschwerden das Parlament und nicht die Presse sei.« (Manow 2006: 163)
Aus deutscher Perspektive ist diese Komponente der historischen Entwicklung des britischen Parlamentarismus umso bemerkenswerter, als die
praktisch unbeschränkte Öffentlichkeit parlamentarischer Verhandlungen
im britischen Unterhaus – welches heute nicht nur die Beratungen des
Plenums, sondern auch die der Ausschüsse in Westminster kennzeichnet –
den Gegnern der Nicht-Öffentlichkeits-Regel für Beratungen der Fachausschüsse des Bundestages nicht selten als strahlendes Vorbild wünschenswerter Parlamentsreformen vorgehalten wurde. Freilich: Mehr noch als ein
kurzes historisches Gedächtnis ließe sich den Vertretern entsprechender
Reformvorschläge vorwerfen, dass sie die Bedeutung der Kontextgebundenheit einzelner institutioneller Regeln unterschätzen. Den Ausschüssen,
ja dem Parlament überhaupt, kommt in Großbritannien eine andere Systemfunktion zu als den parlamentarischen Einrichtungen in den stärker
gewaltenteilig angelegten parlamentarischen Demokratien des europäischen
Kontinents wie der Bundesrepublik. Kaum jemand in Großbritannien
erwartet, dass die entscheidungspolitisch maßgeblichen Weichen im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens gestellt werden. Solange es stabile
parlamentarische Mehrheiten gibt (und das war in Großbritannien von
wenigen Ausnahmen abgesehen nach 1945 stets der Fall), wird über den
Inhalt von Gesetzen ganz überwiegend innerhalb der Regierung und damit
in aller Regel bereits vor der Eröffnung des parlamentarischen Verfahrens
entschieden. Gerade deshalb kann auf die Nicht-Öffentlichkeit der Ausschüsse – als einer institutionellen Vorkehrung, die nicht zuletzt parteiübergreifende Formen der Verhandlung und Kompromissfindung strukturell begünstigt – in Großbritannien verzichtet werden. Dies setzt freilich
wiederum eine ausgeprägte politisch-kulturelle Toleranz gegenüber dem
Prinzip der unbeschränkten Mehrheitsherrschaft voraus, von der
DAS PARLAMENT
143
Deutschland noch immer bedeutend weiter entfernt ist als viele andere
Länder aus der Familie der konsolidierten liberalen Demokratien.113
6.2 Institutionelle und funktionale Merkmale
des Ausschusssystems
Von wenigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich bei den Ausschüssen
eines Parlaments, unabhängig von deren speziellen Kompetenzen bzw.
Funktionen, um »true sub-sets of the legislature« (Strøm 1998: 40), also
gleichsam um verkleinerte Spiegelbilder des jeweiligen Hauses.114 Damit
werden die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse, die die Zusammensetzung des Plenums kennzeichnen, prinzipiell auch auf der Ausschussebene
gewahrt. Gerade die institutionellen Charakteristika von Ausschüssen bzw.
Ausschusssystemen haben jedoch einen beträchtlichen Einfluss darauf, in
welchem Maße der politische Entscheidungsprozess in den Ausschüssen
lediglich die Machtverhältnisse des Plenums reproduziert.
Nach von Beyme (1999a: 224) sind im Hinblick darauf vor allem die
Zahl, Größe und Kompetenzen parlamentarischer Ausschüsse von Belang.
——————
113 Hiervon abweichende Positionen wurden auch von Autoren formuliert, die keineswegs in dem Verdacht stehen, die historischen und funktionalen Spezifika des
deutschen und britischen Regierungssystems aus dem Blick zu verlieren. Bei
Wolfgang Jäger (1994: 105–127), der die lange umstrittene Einführung der Öffentlichkeitsregel in Großbritannien sogar ausdrücklich als mögliches historisches
Vorbild einer Parlamentsreform in Deutschland heranzieht, erscheint das Eintreten für ein Öffentlichkeitsgebot der Ausschüsse des Bundestages im Rahmen einer
sorgsam abwägenden Reformempfehlung gleichsam als funktionales Äquivalent
einer als dysfunktional erachteten plebiszitären Öffnung des Grundgesetzes. Angesehene angelsächsische Beobachter wie Anthony King (2001: 95) bewerten stattdessen – nicht zuletzt im Hinblick auf die Qualität der Gesetzgebung bzw. der Gesetze – gerade die Nichtöffentlichkeit der Verhandlungen in den Bundestagsausschüssen als entscheidenden Vorteil gegenüber dem britischen System.
114 Zwei Ausnahmen hiervon sind zu erwähnen: Die erste bezieht sich auf die in der
Familie der Westminster-Demokratien verbreitete Erscheinung des sogenannten
»Committee of the Whole House«; dabei fungiert das Plenum als Ausschuss. Die
zweite Ausnahme bezieht sich auf die mögliche, aber in der Praxis seltene Einbeziehung von Personen, die keinen Sitz in der betreffenden Kammer haben. Am
vergleichsweise häufigsten ist dabei die Einbeziehung von Ministern ohne Parlamentsmandat (ebd.).
144
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Auf diese Aspekte ist sogleich näher einzugehen. Jedenfalls am Rande der
Erwähnung wert erscheinen zwei weitere Variablen. Von Bedeutung ist
zunächst, ob ein Ausschuss öffentlich oder nicht-öffentlich berät. Wie im
vorausgehenden Abschnitt bereits angemerkt wurde, ist davon auszugehen,
dass der Ausschluss der Öffentlichkeit die Erzielung parteiübergreifender
Kompromisse – unter sonst gleichen Bedingungen – begünstigt. Eine
grundsätzliche Öffentlichkeit der Ausschussberatungen kennen außer
Großbritannien nur einige Länder aus der Familie der Westminster-Demokratien. Deutschland gehört zu der großen Mehrzahl von Systemen, in
denen die Ausschüsse – von wenigen möglichen Ausnahmen abgesehen –
unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen.115
Nicht minder wichtig ist eine zeitbezogene Variable. Der Faktor »Zeit«
wird in der vergleichenden Parlamentarismusforschung noch immer primär
im Kontext der Analyse des parlamentarischen »agenda-setting« und der
Frage, wer die Entscheidungshoheit über die Beendigung von Ausschussberatungen besitzt, diskutiert (Döring 1995a). Es gibt jedoch weitere bedeutende zeitbezogene Aspekte des parlamentarischen Verfahrens. Für den
Einfluss, den die Position eines Ausschusses auf den Inhalt einer Maßnahme hat, ist – wiederum ceteris paribus – nicht zuletzt entscheidend, in
welchem Stadium des legislativen Verfahrens die Ausschüsse in den Entscheidungsprozess eingebunden werden. Grundsätzlich gilt: Je früher Ausschüsse mit einer Vorlage befasst werden, desto größer ihr Einfluss auf das
Endergebnis parlamentarischer Beratungen und Entscheidungen. Das
Verfahren im Bundestag entspricht der in der Mehrheit der konsolidierten
liberalen Demokratien üblichen Praxis, dass die Ausschüsse, vor der ausführlichen Beschäftigung des Plenums mit einer Vorlage, tätig werden. In
Großbritannien (wie in einigen anderen Ländern vor allem aus der Familie
der Westminster-Demokratien) werden Vorlagen hingegen erst im Anschluss an die entscheidende zweite Lesung im Plenum von den Ausschüssen beraten. Dabei gilt für das britische Unterhaus, dass eine in zweiter
——————
115 Gemäß § 69 der Geschäftsordnung des Bundestages finden Beratungen der
Bundestagsausschüsse »grundsätzlich nicht öffentlich« statt. Seit 1969 kann ein
Ausschuss jedoch die Öffentlichkeit einer Sitzung beschließen, sofern er dies hinsichtlich des Beratungsgegenstandes für angezeigt hält – eine Kann-Bestimmung,
die in der Praxis kaum eine Rolle spielt. Im Zuge der Parlamentsreform 1995 erhielten die Ausschüsse überdies die Möglichkeit, im Einverständnis mit dem Ältestenrat und den mitberatenden Ausschüssen im Rahmen der Schlussberatung einer überwiesenen Vorlage öffentliche Aussprachen durchzuführen.
DAS PARLAMENT
145
Lesung angenommene Vorlage im Zuge der anschließenden Beratungen in
ihrem Kerngehalt nicht mehr verändert werden darf (Helms 2001b: 410).
Von beträchtlicher Bedeutung ist die Anzahl der Ausschüsse. Sie wurde
in einen Zusammenhang mit der Macht der Parteien über einzelne Abgeordnete gerückt, wobei – so die These – eine große Anzahl von Ausschüssen der Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten zugute komme (von
Beyme 1999a: 229). Traditionell klein ist die Zahl parlamentarischer Ausschüsse mit lediglich sechs in Frankreich und Irland, deutlich größer vor
allem in den Niederlanden, Österreich oder Dänemark. In den Niederlanden existierten zwischen 1970 und Ende der neunziger Jahre zwischenzeitlich bis zu 35 Ausschüsse (Schnapp/Harfst 2005: 355). Mit (im selben
Zeitraum) durchschnittlich 21 Ausschüssen liegt die Bundesrepublik etwas
oberhalb des für 23 konsolidierte Demokratien ermittelten Durchschnittswertes (ebd.).
Die Anzahl der Ausschüsse ist sinnvoller Weise im Kontext der grundlegenden organisatorischen Struktur des Ausschusssystems zu betrachten.
Als ein wichtiges Kennzeichen »starker« Ausschüsse gilt die Orientierung
der Ausschussstruktur an der Ressortstruktur der Regierung. Die Vorteile
dieses Systems liegen auf der Hand: Auf Dauer ist eine effektive Kontrolle
der Exekutive durch einen parlamentarischen Ausschuss praktisch nur auf
der Basis von Konzentration und Spezialisierung auf ein bestimmtes Sachgebiet möglich. Dieser Einsicht haben sich wenige Länder verschlossen.
Aus international vergleichender Perspektive hervorhebenswert sind heute
eher Länder, in denen es eine solche »Spiegelbildlichkeit« zwischen Ausschuss- und Ressortstruktur nicht gibt (Frankreich, Großbritannien, Irland,
Belgien, Neuseeland, Portugal und die Schweiz). Die Bundesrepublik gehört zur großen Gruppe jener Systeme, für die eine ressortorientierte Ausschussstruktur seit Jahrzehnten kennzeichnend ist (Schnapp/Harfst 2005:
355).
Auch hinsichtlich der durchschnittlichen Ausschussgröße liegt
Deutschland im Mittelfeld der konsolidierten liberalen Demokratien. Die
Gruppe jener Länder mit der größten Zahl an Mitgliedern pro Ausschuss
ist keineswegs identisch mit jenen Ländern, die durch eine besonders geringe Anzahl von Ausschüssen auffallen (ebd.: 358). Das gilt ohne Einschränkung praktisch nur für Frankreich und Griechenland. Zu den wichtigen Variablen, die der simplen Gleichung »wenige Ausschüsse = große
Ausschüsse« entgegenstehen, gehören die unterschiedliche Größe von
146
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Parlamenten116 und die unterschiedlich hohe »Ausschussbelastung« von
Abgeordneten. Durch auffallend wenige und gleichwohl zahlenmäßig
kleine Ausschüsse sind vor allem die Systeme Großbritanniens, Australiens
und Neuseelands gekennzeichnet.
Die gerade von deutschen Autoren oft hervorgehobene Stärke der
Bundestagsausschüsse – die sich zu einem guten Teil aus deren Charakter
als Fachausschüssen mit langjähriger Zugehörigkeit von Politikfeldspezialisten der Fraktionen ergibt – wird durch einen internationalen Vergleich
von deren Kompetenzen ein Stück weit relativiert. Weder auf der Ebene
von Informationsrechten der Ausschüsse noch in Bezug auf deren Initiativrechte und abschließenden Entscheidungsrechte im Gesetzgebungsverfahren nehmen die Ausschüsse des Bundestages eine internationale Spitzenposition ein. Hinsichtlich der Informationsrechte wurde für die Bundesrepublik in Studien mit quantitativem Zugriff ein Platz im oberen Mittelfeld ermittelt (ebd.: 367). Legislative Initiativrechte von Ausschüssen
hingegen sind dem Grundgesetz wie der Geschäftsordnung des Bundestages unbekannt; allerdings gilt Entsprechendes für die meisten übrigen Systeme. Nur die Ausschüsse einiger weniger Länder (darunter Schweden,
Griechenland und Japan, ferner die Schweiz und die USA) kennen ein
selbständiges Gesetzesinitiativrecht, welches angesichts alternativer Wege
der Gesetzesinitiative jedoch als »überflüssig« (von Beyme 1999a: 232)
bewertet wurde. Noch ungewöhnlicher ist das Recht von Ausschüssen,
kleinere Gesetze in letzter Instanz verabschieden zu können, welches in
der parlamentarischen Praxis nur in Italien zu größerer Bedeutung gelangt
ist.
Immerhin gehören die Ausschüsse des Bundestages zu jenen, in denen
Regierungsvorlagen gegebenenfalls vollständig umgeschrieben werden
können. Dem Plenum dient als Beschlussgrundlage der neue vom Ausschuss verabschiedete Text (an dem freilich weitere Änderungen möglich
sind). Entsprechende Regeln finden sich in etwa der Hälfte der hier interessierenden Systeme. In einer ganzen Reihe von Ländern – von Dänemark über die Niederlande und Frankreich bis nach Großbritannien und
Irland – berät das Plenum im Anschluss an die Ausschussberatungen hin-
——————
116 Der Bundestag gehört dabei freilich zu den nach absoluten Zahlen großen
Volksvertretungen. Angesichts der Bevölkerungsgröße der Bundesrepublik ist indes auch die Zahl von knapp unter 600 Abgeordneten (ohne mögliche Überhangmandate) kaum spektakulär. Als verhältnismäßig groß können an diesem Kriterium gemessen eher das schwedische und das portugiesische Parlament gelten.
DAS PARLAMENT
147
gegen die ursprüngliche Regierungsvorlage; die vom Ausschuss gewünschten Änderungen sind der Vorlage lediglich angeschlossen und werden nur berücksichtigt, sofern der verantwortliche Minister keinen Einspruch dagegen erhebt (Strøm 1998: 48–52).
Die Funktion parlamentarischer Ausschüsse ist offensichtlich: Selbst in
politisch-institutionellen Kontexten, in denen die Ausschüsse nicht Orte
des regelmäßigen Zusammentreffens von Politikfeldspezialisten sind, wird
durch die Existenz eines verzweigten Systems gleichzeitig tagender Ausschüsse die Gesamtzeit, während der das Parlament mit der Kontrolle der
Regierung und deren Gesetzgebungsprogramm befasst ist, faktisch vervielfacht. In aller Regel bewirken die Ausschüsse jedoch nicht nur eine signifikante Verbreiterung der zeitlichen Basis parlamentarischer Kontrolle und
Mitregierung, sondern produzieren auch konkrete inhaltliche Kontroll- und
Mitregierungsleistungen. Diesbezüglich wurde die funktionale Bedeutung
der Ausschüsse mit dem Effekt zweiter Kammern verglichen (von Beyme
1999a: 222–223).
Zwei Fragen haben die international vergleichende Ausschussforschung
der vergangenen Jahre besonders beschäftigt. Zum einen ging es darum,
inwieweit Ausschüsse tatsächlich so etwas wie Strukturen zur Ermöglichung von Kompromiss und (parteiübergreifendem) Konsens darstellen.
Nach einer Studie von Erik Damgaard und Ingvar Mattson (2004) erzeugen Ausschüsse – entgegen der prominenten These Giovanni Sartoris
(1992: 223–224) – keineswegs mehrheitlich konsensuelle Lösungen. Vor
allem in institutionell »starken« Ausschüssen regiere stattdessen der Konflikt. Das markiert einen gleichermaßen überraschenden wie bemerkenswerten Befund. Zu berücksichtigen bleibt jedoch, dass sich die vergleichende Analyse Damgaards und Mattsons lediglich auf die Ausschusstätigkeit in einem einzigen Politikfeld, der Arbeitsmarktpolitik, während der
achtziger Jahre stützt, so dass die nach wie vor plausible These Sartoris bis
auf weiteres nicht als grundsätzlich widerlegt gelten kann.
Eine zweite Kontroverse über die Rolle der Ausschüsse in den Parlamenten der konsolidierten Demokratien betrifft das Gewicht und den
Einfluss der Ausschüsse im präsidentiellen System der USA und in den
parlamentarischen Demokratien Westeuropas (und anderswo). Der klassischen These eines gleichsam »natürlichen« und entsprechend deutlichen
Vorsprungs der Ausschüsse im präsidentiellen System gegenüber jenen in
parlamentarischen Systemen (Strøm 1998: 21) wurde in der jüngeren Literatur widersprochen, am entschiedensten in einer empirisch vergleichenden
148
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Untersuchung von Kai-Uwe Schnapp und Philipp Harfst (2005). Die von
den Autoren präsentierten Daten unterstreichen zwar die Stärke und
Macht der Ausschüsse des US-Kongresses als legislativen Kontrolleuren.
Allerdings gibt es diesen Daten zufolge eine ganze Reihe von Parlamenten
aus der Familie der parlamentarischen Demokratien, deren Ausschusssysteme an das US-amerikanische Referenzmodell mehr oder minder nah
heranreichen bzw. dieses im Hinblick auf einzelne Indikatoren sogar übertreffen. Dazu gehören die Bundesrepublik, Dänemark, aber auch Japan –
in krassem Gegensatz besonders zu Ländern wie Frankreich und Irland
(ebd.: 369–370).
Freilich vermag eine statistisch-empirische Bestandsaufnahme im Stile
der Studie von Schnapp und Harfst kein »ganzheitliches« Bild zu zeichnen.
Das gilt nicht zuletzt wegen der vollständigen Ausblendung historischpolitischer Entwicklungsdynamiken jenseits institutioneller Regeln. Relevant für einen transatlantischen Vergleich sind dabei insbesondere die
jüngeren Wandlungen im amerikanischen Regierungssystem. Sie stützen im
Ergebnis die Assimilationsthese: Die einst durch Senioritätsregeln und
sektorale Interessen zu sprichwörtlicher Macht gelangten Ausschüsse des
US-Kongresses gehören zu den großen Verlierern der für amerikanische
Verhältnisse geradezu dramatischen »Parteipolitisierung« des legislativen
Verfahrens seit den neunziger Jahren, welche ihrerseits Abglanz tief reichender Veränderungen der sozialen und ideologischen Basis der amerikanischen Parteien sind (Layman/Carsey/Horowitz 2006). Sowohl die Anzahl der Kongressausschüsse als auch deren Sitzungsfrequenz hat in den
vergangenen anderthalb Jahrzehnten deutlich abgenommen; auch der einst
immense eigenständige Einfluss der Ausschüsse auf legislative Maßnahmen
bewegt sich mittlerweile tief im Schatten der gewachsenen parteipolitischen
Polarisierung der legislativen Arena (Cohen u.a. 2004). In diesem Sinne
verlief die jüngere Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Kongresses
in Richtung eines stärker »qualified exceptionalism« (Owens/Loomis
2006).
6.3 Abgeordnete und Fraktionen
Deutschland zählt zu jenen Ländern, in denen »das freie Gewissen« des
Abgeordneten ausdrücklich verfassungsrechtlich anerkannt ist (von Beyme
DAS PARLAMENT
149
1984: 375).117 Auch in der öffentlichen Debatte über den Zustand des
Parlamentarismus in der Bundesrepublik genießt die in Art. 38 GG niedergelegte Norm der Gewissensfreiheit traditionell einen hohen Stellenwert.118
Wie ein internationaler Vergleich belegt, entspricht dem jedoch weder
quantitativ noch qualitativ eine besonders starke Stellung des einzelnen
Abgeordneten.
Unabhängige Abgeordnete (ohne Fraktionszugehörigkeit) kennt der
Bundestag – abgesehen von Akteuren, die nach erfolgter Wahl von ihrer
jeweiligen Fraktion ausgeschlossen werden oder ihre Mitgliedschaft zu
dieser von sich aus kündigen – praktisch nur insoweit, als möglicherweise
einzelne Abgeordnete (kleinerer Parteien) per Direktmandat in den Bundestag gewählt werden, ihre Partei jedoch an den Hürden des Wahlrechts
scheitert und infolgedessen keine Fraktion bilden kann (so zuletzt geschehen bei der Bundestagswahl 2002). Als fraktionslose Abgeordnete im weiteren Sinne ließen sich ferner solche Mitglieder des Bundestages bezeichnen, die Repräsentanten einer Partei sind, deren Mandatsanteil lediglich die
Bildung einer parlamentarischen Gruppe erlaubt (so im Falle der PDS
während der 12. und 13. Wahlperiode des Bundestages). Angesichts der
geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Parlamentsorganisation in
der Bundesrepublik verfügen fraktionslose Mitglieder des Bundestages –
gemessen an den Standards fraktionell organisierter Abgeordneter – über
lediglich stark eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten (Klein 2004;
Morlok 2004).
Selbst der autonome Handlungsspielraum fraktionell eingebundener
Abgeordneter ist jedoch institutionell eng beschränkt. Das gilt insbesondere für die Rechte des einzelnen Abgeordneten im parlamentarischen
Gesetzgebungsverfahren. Gemeinsam mit Österreich, Italien und Spanien
ist Deutschland eines der wenigen Länder, in denen einzelne Abgeordnete
nicht über das Recht zur Gesetzesinitiative verfügen, dieses vielmehr den
Fraktionen bzw. einer Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke vorbehalten ist. Die Anforderungen hinsichtlich der numerischen Unterstützung einer parlamentarischen Gesetzesinitiative sind in der Bundesrepublik
zudem besonders hoch. Die Erlangung des Fraktionsstatus setzt (nach
anfänglich geringeren Hürden) seit 1969 eine Stärke von mindestens fünf
——————
117 Das »freie Mandat« wurde erstmals in der französischen Verfassung von 1791
verfassungsrechtlich normiert. Es bildete einen festen Bestandteil der deutschen
Verfassungstradition seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
118 Vgl. mit zahlreichen weiteren Nachweisen Schuett-Wetschky (2005).
150
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Prozent der Mitglieder des Bundestages voraus. Zu Beginn der 16. Legislaturperiode waren dies (trotz der in den neunziger Jahren vollzogenen
Verkleinerung des Bundestages) noch immer 30 Abgeordnete. Erschwerend kommt hinzu, dass hierzulande – im Gegensatz etwa zu der Situation
in Italien oder Spanien, aber auch in der Schweiz (Helms 1999b: 11–12) –
ein ausdrückliches Verbot der Bildung von »gemischten Gruppen« existiert. Zu einer Fraktion dürfen sich nur Vertreter von Parteien vereinen, die
in keinem Bundesland im Wettbewerb miteinander stehen.
Durch eine institutionell befestigte Vormachtstellung der Fraktionen
sind im Übrigen keineswegs nur die Regeln der Gesetzesinitiative gekennzeichnet; Entsprechendes gilt für die Formulierung von Änderungsanträgen in späteren Stadien des Gesetzgebungsverfahrens. Eher noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass in der Praxis auch viele parlamentarische
Kontrollrechte gegenüber der Regierung – einschließlich solcher, die formal nicht zur Prärogative der Fraktionen gehören – nur »nach Abstimmung« zwischen einzelnen Abgeordneten und ihrer Fraktion zum Einsatz
gelangen (Ismayr 2000: 343).
Insgesamt lässt sich der Bundestag, mehr noch als die meisten übrigen
Parlamente der konsolidierten parlamentarischen Demokratien, treffend als
»Fraktionenparlament« (Schüttemeyer 1992) beschreiben.119 Es kann jedoch offenbar nicht oft genug wiederholt werden, dass es sich bei dieser
Form der Selbstorganisation von Parlamenten nicht lediglich um eine rationalisierte »Ersatzlösung« für ein eigentlich zu forderndes »Abgeordnetenparlament« handelt. Erst ein hinreichendes Maß an fraktioneller Geschlossenheit vermag die politische Wettbewerbsfähigkeit konkurrierender kollektiver Akteure und damit zugleich die Funktionsfähigkeit parlamentarischer Demokratie als eines im Kern gruppenbasierten Entscheidungssystems zu gewährleisten. Zusätzlichen institutionellen »Rückenwind« erfährt
die Position eines primär gruppenbezogenen, »parteienstaatlichen« Repräsentationsmodells in Systemen, in denen die Mandatsverteilung auf der
Grundlage von Parteilisten erfolgt (Helms 1999b: 13). Die theoretisch
begründbare Relevanz dieses Faktors in der Praxis wird durch die Ergebnisse einschlägiger empirischer Untersuchungen bestätigt: So antworteten
Mitte der neunziger Jahre bemerkenswerte 49 Prozent der befragten Mit-
——————
119 Für andere Länder trifft eine solche Charakterisierung freilich zumeist nur im
Hinblick auf die funktionale Dimension des Parlamentsbetriebs zu, während der
unabhängige rechtliche Status der Fraktionen gegenüber ihren jeweiligen Parteien
eine deutsche Besonderheit darstellt (Hauenschild 1968; Hagelstein 1992).
DAS PARLAMENT
151
glieder des Deutschen Bundestages auf die Frage, ob ein Abgeordneter mit
seiner Partei stimmen solle, falls die Abstimmung zwar für die Partei wichtig sei, ihn selbst aber im Wahlkreis politische Unterstützung kosten könne,
mit »eher ja«, hingegen nur 17 Prozent mit »eher nein« (Patzelt 1998a: 339).
Die Fraktionsdisziplin im Bundestag war praktisch seit den Anfängen
der deutschen Nachkriegsdemokratie stark, freilich mit gewissen Schwankungen (Saalfeld 1995). Die im Gefolge der deutschen Vereinigung gewachsene interne Heterogenität der Fraktionen schwächte die Abstimmungsdisziplin nur vorrübergehend (von Beyme 2000b: 40–41). Die auffallend knappen Mehrheiten regierender Parteien im 13. und besonders im
15. Bundestag haben den internen Zusammenhalt der Fraktionen, vor
allem der Mehrheitsfraktionen, neuerlich befördert. Insgesamt gehört die
Bundesrepublik zweifelsfrei zum international dominierenden Typus der
parlamentarischen Demokratien mit ausgeprägter Fraktionsdisziplin. Die
wichtigsten Ausnahmen von der Regel bilden Frankreich und Italien
(Torbjörn u.a. 2003: 129), aber selbst die Fraktionen in diesen Ländern
erscheinen noch als vergleichsweise stark integrierte Kollektivakteure,
wenn das Abstimmungsverhalten von französischen und italienischen
Parlamentariern mit den »voting records« der Abgeordneten im US-Kongress verglichen wird. Das gilt auch nach der Neugeburt des »party government« amerikanischer Prägung in den neunziger Jahren.
6.4 Die institutionelle und politische Chancenstruktur
der parlamentarischen Opposition
Anders als man erwarten könnte, ist das für den Parlamentarismus konstitutive Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition keineswegs in
allen betreffenden Systemen unmittelbar aus dem formal-rechtlichen Regelwerk ablesbar. Das gilt auch für die Bundesrepublik. Grundgesetz und
Geschäftsordnung des Bundestages kennen lediglich Minderheitenrechte,
nicht aber spezifische Oppositionsrechte nach dem Muster der Parlamente
des Westminster-Typs. Unabhängig davon folgt auch das parlamentarische
Geschehen im Bundestag eindeutig der Logik eines gruppenbasierten und
im Kern bipolar geprägten Wettbewerbsmodells.
Zu den zentralen Merkmalen der deutschen Variante eines parteiendemokratischen Parlamentarismus gehört nicht zuletzt die institutionell starke
152
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Position der nicht an der Regierung beteiligten Kräfte. Das betrifft zunächst die institutionelle Opportunitätsstruktur der parlamentarischen
Opposition innerhalb der parlamentarischen Arena im engeren Sinne und
dabei ganz besonders die Ebene der Mitwirkungs- und Vetorechte. Vor
allem vier Komponenten sind zu nennen: das Recht der Opposition zur
Mitgestaltung der parlamentarischen Tagesordnung über die Institution des
Ältestenrates, das abgesehen von den erwähnten numerischen Restriktionen uneingeschränkte Gesetzesinitiativrecht der Opposition, die proporzmäßige Berücksichtigung der Opposition bei der Vergabe von Vorsitzendenpositionen in den ständigen Ausschüssen des Bundestages sowie insbesondere das Vetopotential, das der parlamentarischen Opposition aus dem
Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für die Verabschiedung verfassungsändernder Gesetze erwächst (vgl. Helms 2002a: 42–49).120 Es gibt wenige
Systeme, in denen die parlamentarische Minderheit bei Anlegung dieser
Bewertungskriterien über ähnlich weitreichende oder gar darüber hinausgehende parlamentarische Mitwirkungs- und Vetorechte verfügt. Der destruktiven Macht der Opposition innerhalb der parlamentarischen Arena
im eigentlichen Sinne sind in Gestalt des »konstruktiven Misstrauensvotums«, welches die parlamentarische Ablösung eines Kanzlers und dessen
Regierung nur um den Preis einer unmittelbaren Wahl eines Nachfolgers
gestattet, hingegen ungewöhnlich enge Grenzen gesetzt.121 Vergleichbar
strenge Regeln kennen innerhalb Westeuropas nur Spanien und Belgien,
welche das deutsche Modell in modifizierter Form adaptierten.
——————
120 Als internationale Besonderheit kommt auf der Ebene von Kontrollrechten die als
verfassungsrechtlich kodifiziertes Minderheitenrecht ausgestaltete Möglichkeit eines Viertels der Mitglieder des Bundestages hinzu, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu erzwingen. Vgl. hierzu ausführlich Glauben/Brocker (2005)
121 Die Bedeutung dieser Regel für die Regierungsstabilität in der Bundesrepublik
bleibt umstritten. Insgesamt scheint mehr dafür zu sprechen, die ausgeprägte Regierungsstabilität nach 1949 primär mit der Struktur des deutschen Parteiensystems
zu erklären. Dieses Urteil wird auch durch die Befunde vergleichender Arbeiten
gestützt, nach denen weniger parlamentarische Misstrauensvoten als vielmehr Koalitionszerfall den wichtigsten Grund für das Ende von Regierungen in parlamentarischen Demokratien darstellen (von Beyme 1999a: 504–514). Sogar während der
durch chronische Regierungsinstabilität geplagten Weimarer Republik, die das
»konstruktive Misstrauensvotum« zwar in den Köpfen intellektueller Vordenker,
nicht aber auf verfassungsrechtlicher Ebene kannte (Berthold 1997), gab es insgesamt nur einige wenige Fälle, in denen eine Regierung durch ein parlamentarisches
Misstrauensvotum aus dem Amt getrieben wurde.
DAS PARLAMENT
153
Ein signifikanter Teil der politischen Chancenstruktur der parlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik speist sich aus Quellen, die außerhalb des Bundestages liegen. Zu ihnen zählt an erster Stelle der Bundesrat, dessen imposantes Machtpotential an anderer Stelle dieser Studie ausführlich behandelt wird (vgl. Kapitel 8).122 Als kaum minder bedeutend hat
sich im Lichte der Erfahrung von mehr als fünfzig Jahren das Recht einer
parlamentarischen Minderheit (oder einer Landesregierung, daneben auch
der Bundesregierung) erwiesen, ein abstraktes Normenkontrollverfahren
vor dem Bundesverfassungsgericht anzustreben. Die abstrakte Normenkontrolle ist freilich nicht die einzige, aber nach weithin einhelliger Einschätzung die für das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition
wichtigste Verfahrensart. Obwohl auch die Bilanz der im Gefolge verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zustande gekommenen Korrekturen am
Gesetzgebungsprogramm von Regierungen ansehnlich ist, entwickelt das
Instrument der abstrakten Normenkontrolle vor allem – und dies nicht nur
im deutschen Kontext – signifikante Vorwirkungen: Es führt zu einer Sensibilisierung regierender Mehrheiten gegenüber den Vorstellungen antragsberechtigter Minderheiten, welche sich üblicherweise in einer deutlich
wahrnehmbaren Neigung zu politischer Selbstbeschränkung manifestiert
(Landfried 1984; Stüwe 1997; Stone Sweet 2000: 75–79).123
Prinzipiell ähnliche Wirkungen entfalten Referenden, die von einer
parlamentarischen Minderheit oder einer bestimmten Anzahl von Bürgern
——————
122 Ebenfalls zu erwähnen sind einige weitere Ressourcen der Opposition, die sich
ebenfalls aus der föderativen Staatstruktur des deutschen Regierungssystems ergeben. Auf Bundesebene in Opposition stehende Parteien können in der Regel auf
Länderebene Regierungserfahrung sammeln und auf diese Weise entsprechend geschultes Personal rekrutieren. Die von der eigenen Partei geführten Regierungen in
den Ländern dienen der Opposition auf Bundesebene zudem als wichtige administrative Ressource für die bundespolitische Oppositionsarbeit. Von Bedeutung
ist schließlich auch das im internationalen Vergleich ungewöhnliche Recht von
Mitgliedern des Bundesrates, im Bundestag sprechen zu dürfen und jederzeit gehört werden zu müssen (Art. 43, Abs. 2 GG).
123 Besonders groß ist die Wirkung der abstrakten Normenkontrolle in institutionellen
Kontexten, in denen die Opposition – anders als im Deutschen Bundestag – ansonsten über wenige Veto- und Mitwirkungsrechte verfügt. Für die V. Republik
Frankreich wurde gar die These formuliert, dass die Möglichkeit zur Anrufung des
Verfassungsrates durch eine qualifizierte Minderheit der Nationalversammlung
bzw. des Senats das einzige ernstzunehmende Vetorecht der parlamentarischen
Opposition darstelle (Vandendriessche 2001: 66).
154
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
initiiert werden können.124 Geradezu legendär sind die weitreichenden
Effekte des Referendums in der Schweiz, wo die Einrichtung des fakultativen Referendums nicht nur die Struktur des alltagspolitischen Gesetzgebungsprozesses maßgeblich bestimmt, sondern überdies zur historisch
wichtigsten Determinante der Regierungsbildung wurde (vgl. Kapitel 7).
Aus der Familie der parlamentarischen Demokratien Westeuropas kommen den Schweizer Volksrechten die direktdemokratischen Einrichtungen
in den Regierungssystemen Italiens, Dänemarks und Irlands am nächsten
(Gallagher/Uleri 1996; LeDuc 2002). Die Bundesrepublik gehört in dieser
Hinsicht – was die zentralstaatliche Ebene betrifft – zu jenen Ländern, die
nach wie vor vollständig auf repräsentative Entscheidungsverfahren setzen.125 Im Rahmen eines Vergleichs des institutionellen Chancenprofils der
parlamentarischen Opposition fällt dies umso mehr auf, als die Möglichkeit, parlamentarische Mehrheitsentscheidungen auch auf direktdemokratischem Wege zu bekämpfen, praktisch das einzige institutionelle Instrument darstellt, das der Opposition im Bundestag nicht zu Gebote steht.
Angesichts dieser spezifischen institutionellen Bedingungen lässt sich das
Oppositionsmodell der Bundesrepublik aus vergleichender Perspektive als
»parlamentszentriert mit starken Mitwirkungs- und Vetorechten« charakterisieren (Helms 2002a: 40).
Wie steht es aber um die politischen, insbesondere die parteipolitischen
Parameter, durch die die institutionellen Regeln der parlamentarischen
Arena erst eigentlich zum Leben erweckt werden? Die Bundesrepublik teilt
mit den meisten anderen westeuropäischen Demokratien – die wichtigste
Ausnahme bildet Skandinavien – die Tradition, dass Regierungen in aller
Regel über eine stabile parlamentarische Mehrheit verfügen und zugleich
Koalitionsregierungen sind. Einparteienregierungen und Minderheitsregierungen waren hierzulande auf Ausnahmephasen von kurzer Dauer beschränkt (vgl. Kapitel 7). Die Eigentümlichkeiten der Regierungszusammensetzung und der parlamentarischen Unterstützungsbasis unterschiedlicher Bundesregierungen spiegeln sich in der parteipolitischen Zusammensetzung des Oppositionslagers und dessen Stimmen- und Mandatsstärke
wider: In der Frühphase der Bundesrepublik gab es mit der SPD, der Bay-
——————
124 Davon abzugrenzen sind Plebiszite, die nur von der Regierung bzw. einer
parlamentarischen Mehrheit initiiert werden können, ferner sämtliche Spielarten
direktdemokratischer Instrumente, mit denen lediglich ein bestimmter Gegenstand
auf die politische bzw. parlamentarische Agenda gesetzt werden kann.
125 Dies im Gegensatz zu der Situation in den Bundesländern; vgl. Weixner (2002).
DAS PARLAMENT
155
ernpartei (BP), den Kommunisten (KPD), der Wiederaufbau-Vereinigung
(WAV), des Zentrums, der Deutschen Reichspartei (DRP) sowie des
Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) insgesamt sieben Oppositionsparteien und zusätzlich drei unabhängige Abgeordnete. Von 1961 bis 1983
saß jeweils nur eine Oppositionspartei im Bundestag (von 1961–1966 und
1982–1983: SPD; von 1966–1969: FDP; von 1969–1982: CDU/CSU).
Zwischen 1983 und 1990 gab es zwei Oppositionsparteien (SPD und
Grüne), während seit 1990 jeweils drei unterschiedliche Oppositionsparteien im Bundestag vertreten waren (1990–1998: SPD, Grüne, PDS; 1998–
2005: CDU/CSU, FDP, PDS; seit 2005: FDP, Grüne, PDS).
In Bezug auf die Stärke der parlamentarischen Opposition sind zum einen die 2., 6. und 16. Wahlperiode (1953–1957, 1966–1969 und seit 2005)
hervorhebenswert, während derer die Opposition über weniger als ein
Drittel der Bundestagsmandate verfügte und aus diesem Grund viele der
besonders wichtigen Minderheitenrechte nicht in Anspruch nehmen
konnte. Aus entgegengesetztem Grund erwähnenswert sind die 13. und 15.
Wahlperiode; in ihnen besaß die Opposition mit über 49 Prozent der Gesamtheit aller Mandate eine außergewöhnlich starke parlamentarische Repräsentationsbasis.126
Neben der Struktur des Parteiensystems und den von ihm bestimmten
Mehrheitsverhältnissen in den politischen Entscheidungsorganen kommt
vor allem den gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber politischen Konflikt- und Konsensbildungsprozessen eine herausragende Bedeutung für
die Praxis politischer Opposition in einem Land zu, denn keine Oppositionspartei, der es um den Gewinn von Regierungsmacht geht, kann es sich
leisten, die in der Bevölkerung vorherrschenden grundlegenden Einstellungen gegenüber unterschiedlichen politischen Verhaltensweisen zu vernachlässigen. Die politische Kultur der Bundesrepublik ist noch immer
durch ein auffallendes Maß an »Harmoniebedürftigkeit«, im Sinne einer
gewissen Konfliktscheu, geprägt (Grosser 1975; Leggewie 1990). Eine
Mehrheit der Bevölkerung erwartet von der Opposition, dass sie sich konstruktiv an der Lösung politischer Probleme beteiligt, und kaum eine deutsche Oppositionspartei verzichtet vollständig darauf, ihre »Regierungstauglichkeit« durch konstruktive Vorstöße zu demonstrieren. Welch ein Unterschied zu der in den Westminster-Demokratien obwaltenden Logik, der
——————
126 Unberücksichtigt bleiben dabei die kurzen Übergangsphasen, in denen Minderheitsregierungen amtierten. Während dieser Phasen verfügten die nicht an der Regierung beteiligten Parteien über eine Mehrheit im Bundestag (vgl. Kapitel 7).
156
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
gemäß Oppositionsparteien der Regierung so viel Freiheit wie nur irgend
möglich lassen – in der Hoffnung, dass sie übermütig, träge oder korrupt
werde, um dafür am Ende vom Wähler zur Verantwortung gezogen zu
werden.127
Das spezifische »Dilemma der Opposition« (Werner 1993) in der Bundesrepublik ergibt sich aus dem doppelten Erfordernis, einerseits den stark
kompromissorientierten Präferenzen der Bevölkerung entsprechen zu
müssen, andererseits genügend kompetitiv aufzutreten, um sich gegenüber
der Regierung in ausreichendem Maße zu profilieren. Die damit verbundenen Herausforderungen wurden in der Geschichte der Bundesrepublik auf
unterschiedliche Weise gelöst. Lagerübergreifende Kompromisse in wichtigen Sachfragen gab es in jeder Phase – jedoch in unterschiedlichem Ausmaß und im Kontext unterschiedlicher politischer »Großwetterlagen« und
»Generalstrategien« der relevanten Akteure (von Beyme 1997; Helms
2002a: 55–65). Die historischen Hochphasen »leiser« bzw. »konstruktiver«
Opposition fallen in den Zeitraum der späten fünfziger bis zur Mitte der
sechziger Jahre und vom Ausgang der sechziger bis zum Beginn der siebziger Jahre.
Die erste und eigentliche Hochphase einer betont konsensusbetonten
Opposition war im Wesentlichen ein Ergebnis der grundlegenden programmatisch-ideologischen Neupositionierung der SPD, welche ihrerseits
viel mit der schmerzlichen Erfahrung einer letztlich erfolglosen »Frontalopposition« gegen die Regierung Adenauer zu tun hatte. Zur geradezu
symbolhaften Wendemarke wurde das Godesberger Programm der Sozialdemokraten aus dem November 1959. Es wurde außenpolitisch ergänzt
durch die programmatische »Friedensrede« Wehners vom 30. Juni 1960 im
Deutschen Bundestag. Vor allem in der Spätphase der Regierung Erhard
erreichte die demonstrativ zur Schau getragene Kooperationsbereitschaft
der Sozialdemokraten ein kaum mehr zu überbietendes Ausmaß. Am Ende
dieser »Verwandlung« stand der lang ersehnte Eintritt der SPD in die Bundesregierung, wenn auch zunächst lediglich als Juniorpartner der Union.
Ambivalenter war die Erfahrung der Jahre 1969 bis 1972. Zum ersten
Mal mit der Oppositionsrolle im Deutschen Bundestag betraut, verfolgte
——————
127 Selbst diese dem deutschen Oppositionsverständnis so offensichtlich entgegengesetzte Logik des Westminster-Parlamentarismus schließt vereinzelte Manifestationen einer »konstruktiven Opposition wider Willen« nicht aus. Zu ihnen kommt es,
wenn Regierungen sich im großen Stil der Ideen der Opposition bedienen, ohne
formal oder auch nur informal mit dieser zu kooperieren.
DAS PARLAMENT
157
die CDU/CSU während der 6. Legislaturperiode zunächst eine Oppositionsstrategie, aus der die Weltsicht einer »verhinderten Regierungspartei«
sprach. In keiner früheren oder späteren Legislaturperiode brachte eine
Oppositionspartei mehr eigenständige Gesetzesinitiativen in das parlamentarische Verfahren ein als die Christdemokraten im 6. Bundestag, und
entsprechend hoch war die Erfolgsquote von Vorlagen aus den Reihen der
Minderheit (Veen 1976). Für die Außenwirkung der Opposition entscheidender war freilich die überaus scharfe Opposition der CDU/CSU gegenüber der »Neuen Ostpolitik« der sozial-liberalen Opposition (Jäger 1986:
62–67), aber selbst in der Innenpolitik überwogen streng genommen eher
konstruktive als konsenssuchende Töne.
Die zahlreichen stärker konfliktgeprägten Phasen im Verhältnis zwischen Regierung und Opposition (gemeint ist primär immer die Beziehung
zwischen den beiden großen Parteien) belegen, dass intensive Kooperation
und parteienübergreifender Konsens sich nicht gleichsam von selbst aus
den grundlegenden institutionellen Parametern ergeben. Diese prägen das
Verhalten politischer Akteure nachhaltig, determinieren es jedoch nicht
und machen Kompromiss und Konsens somit letztlich zu einer Frage
politischen Willens (Oberreuter 2002: 60). Das veranschaulichen insbesondere die jüngeren Erfahrungen aus der Geschichte des Parlamentarismus in
der Bundesrepublik, darunter die Spätphase der Regierung Kohl ebenso
wie weite Strecken der Regierungszeit Gerhard Schröders und der rotgrünen Koalition, welche beide im Zeichen von intensivem Wettbewerb
und Konflikt und wenig Konsens und Kooperation standen (Helms 2005a:
143–144).
Gerade die weitgehende Stabilität der im engeren Sinne institutionellen
Parameter lenkt den Blick auf längerfristig wirksame Veränderungen in
anderen Bereichen, vor allem des Parteiensystems. Die tendenzielle Herausbildung eines »Zwei-Block-Systems« dürfte zumindest primär strategisch motivierte, auf einen »dosierten Machtwechsel« hin spekulierende
Formen der kooperativen Opposition künftig unwahrscheinlicher machen.
Wo das Ziel der Opposition darin besteht bzw. angesichts einer im Kern
bipolaren Struktur des Parteiensystems darin bestehen muss, die Regierungsparteien vollständig aus dem Amt zu treiben – eine »wholesale alternation« (Mair 2002: 94) wie sie die Bundesrepublik auf Bundesebene erstmals 1998 erlebte –, dort ist ein quasi-institutioneller Anreiz gegeben, sich
auf die Verfolgung eindeutig konfliktorientierter bzw. wettbewerbsbezogener Oppositions- und Machterwerbsstrategien zu konzentrieren. Die
158
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
jüngsten institutionellen Reformen im deutschen Regierungssystem – vor
allem die Reform des Bundesstaates (vgl. Kapitel 8) – könnten eine solche
Entwicklung begünstigen; sie stellen ihr zumindest keine zusätzlichen institutionellen Hemmnisse in den Weg. Aus international vergleichender
Perspektive betrachtet könnte sich das Verhältnis zwischen Regierung und
Opposition damit ein Stück weit dem französischen System annähern,
welches neben einer bipolaren Mehrparteienkonstellation durch eine hohe
Machtwechselwahrscheinlichkeit gekennzeichnet ist (Cole 2003).
6.5 Konklusion
Der prägende Einfluss von Institutionen auf das Verhalten von Akteuren
wird heute in der Parlamentarismusforschung ebenso wenig mehr prinzipiell in Frage gestellt wie in anderen Teildisziplinen der Politikwissenschaft.
Das erscheint vielfacht gerechtfertigt, ist gleichwohl nicht immer unproblematisch. Selbst anspruchsvolle Beiträge zur Erforschung der »Parlamentskultur«, die sich um Differenzierung und Sensibilisierung für den
Sachverhalt bemühen, dass Institutionen nur nach Maßgabe von deren
Wahrnehmung und Deutung durch Akteure praktische Wirkung entfalten
(vgl. etwa Lemke-Müller 1999), stehen in der Gefahr, die Bedeutung des
Erbes älterer institutioneller Entwicklungsstadien zu unterschätzen. Hierzu
gehört mit Blick auf die deutsche Entwicklung vor allem die vergleichsweise späte Parlamentarisierung der staatlichen Herrschaftsordnung. Sie
war nicht nur dafür verantwortlich, dass der im internationalen Vergleich
frühen Demokratisierung des Wahlrechts in Deutschland lange keine wirkliche Teilhabe des Volkes an der Selektion, Rekrutierung und politischen
Kontrolle der staatlichen Entscheidungselite entsprach. Wie schon Ernst
Fraenkel (1973: 24) aufgezeigt hat, führte der – insbesondere im Rahmen
eines deutsch-britischen Vergleichs augenfällige – Umstand, dass sich das
parlamentarische Regime in Deutschland deutlich später als die moderne
staatliche Bürokratie herausbildete, zu spezifischen Defiziten etwa des
parlamentarischen Debattenstils oder auch der parlamentarischen Taktik,
die den deutschen Parlamentarismus über die institutionelle Geburt der
parlamentarischen Demokratie hinaus prägten.
Davon war auch die Bundesrepublik zunächst noch betroffen. Bis in
die Mitte der fünfziger Jahre hinein erschien der Bundestag Betrachtern als
DAS PARLAMENT
159
eine jener politischen Institutionen der deutschen Nachkriegsdemokratie,
die durch ihre relativ geringe Institutionalisierung die Entstehung und
Etablierung der »Kanzlerdemokratie« Adenauers begünstigten. Dies änderte sich seit den sechziger Jahren. Aus einer historisch-funktionalen
Perspektive betrachtet verlief die graduelle Institutionalisierung des Bundestages in Richtung wachsender Effizienz und Hierarchisierung
(Schüttemeyer 1994). Mindestens drei Elemente bestimmen das institutionelle Profil der parlamentarischen Arena in der Bundesrepublik heute: eine
insgesamt größere Bedeutung der Ausschüsse als des Plenums, eine klare
Unterordnung des einzelnen Abgeordneten unter die Fraktion sowie eine
insgesamt großzügige Ausstattung parlamentarischer Minderheiten mit
unterschiedlichen Kontroll-, Mitwirkungs- und Vetorechten. In diesem
Sinne lässt sich der Bundestag im Kontext anderer Parlamente der konsolidierten liberalen Demokratien betrachtet als ein auf die Fraktionen zentriertes und in diesem Sinne »rationalisiertes« Arbeitsparlament mit einem
relativ weitreichenden Mitregierungspotential im legislativen Entscheidungsprozess charakterisieren.
Zu den Themen der jüngeren internationalen Forschungsdebatte gehört die Frage, ob Parlamente an einer übermäßigen Institutionalisierung
leiden können (Norton 1998a: 201). Die Antwort darauf hängt nicht zuletzt vom Begriff der Institutionalisierung ab, der gerade innerhalb der
vergleichenden Parlamentarismusforschung schillernd geblieben ist (vgl.
Judge 2003). Bei Philip Norton (1998a: 196) gilt als wichtigster Indikator
eines hohen Institutionalisierungsgrades von Parlamenten das Ausmaß der
Spezialisierung des Ausschusssystems. Im Rahmen eines engeren, auf ausgewählte europäische Länder konzentrierten Vergleichs erscheint der Bundestag dabei als ein außerordentlich stark institutionalisiertes Parlament
(Norton 1998b).
Entsprechende Befunde mögen auf den ersten Blick wie Wind in den
Segeln von Kritikern des Bundestages wirken, dem seit langem eine Vernachlässigung öffentlichkeitswirksamer Plenumsarbeit vorgeworfen wird –
freilich nicht selten auf der Grundlage realitätsfremder (oder zumindest
»parlamentarismusfremder«) Erwartungen und Bewertungsmaßstäbe
(Schuett-Wetschky 2005). Es ist jedoch offensichtlich, dass ein – im Sinne
Nortons – geringer Institutionalisierungsgrad eines Parlaments keineswegs
automatisch dessen Leistung und Bedeutung als »Redeparlament« zugute
kommt. Das lehrt das Beispiel der französischen Nationalversammlung,
welche traditionell über schwache Ausschüsse und eine schwache Position
160
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
im öffentlichen politischen Bewusstsein des Landes verfügt. Aber nicht
nicht nur der deutsch-französische Vergleich führt aus Sicht der Bundesrepublik zu akzeptablen Ergebnissen. In der Summe seiner Leistungen gehört der Bundestag ohne Zweifel zu jenen Komponenten des deutschen
Demokratiemodells, die dessen Erfolg über Jahrzehnte hinweg zu begründen geholfen haben (Lösche 2000).
7 Die Exekutive: Institutionen und
Akteure am Gipfel des staatlichen
Herrschaftssystems
Gemessen an der amorphen Struktur manch anderer Komponenten und
Akteure der liberalen Demokratie scheint die Exekutive auf den ersten
Blick in hohem Maße der verbreitet an sie herangetragenen Vorstellung
einer hochgradig zentralisiert-integrierten Systemstruktur zu entsprechen.
Die strukturelle Überlegenheit der Exekutive gegenüber der Legislative,
welche die parlamentarische Demokratie kennzeichnet, wird gerne mit
deren größerer interner Geschlossenheit erklärt, während die Wahrnehmung der Exekutive im Präsidentialismus amerikanischer Prägung ohnehin
mehr oder minder vollständig auf den Präsidenten als dem einzigen der
Verfassung bekannten Repräsentanten der Exekutive konzentriert ist. Die
Personalisierung der Medienberichterstattung über Politik tut ein Übriges,
um den Eindruck einer hochgradig konzentrierten Exekutivstruktur zu
verstärken.
Eine solche Sicht entspricht nur bedingt der Realität. Der charakteristische Machtvorsprung der Exekutive im parlamentarischen System hat
überwiegend andere institutionelle Ursachen. Und gerade die um Differenzerung bemühte politikwissenschaftliche Exekutivforschung bietet
zahlreiche Belege dafür, dass selbst von außen betrachtet strikt hierarchisch
organisierte Exekutiven im Innern durch ein dynamisches und multipolares
Machtgefüge gekennzeichnet sein können. Bei all diesen Deutungen und
Gegendeutungen geht es aber ohnehin lediglich um die politische Exekutive. Zu ihren Mitgliedern werden (in parlamentarischen Demokratien)
nach einem engen Verständnis die Kabinettsminister einschließlich des
Regierungschefs, nach einem weiteren funktionalen Verständnis außerdem
parlamentarische Staatssekretäre bzw. sogenannte »Juniorminister« ohne
Sitz im Kabinett gezählt.128
——————
128 Ihnen entspricht in der Bundesrepublik das 1967 geschaffene Amt des parlamentarischen Staatssekretärs. Vgl. hierzu grundlegend Hefty (2005). In einigen Ländern,
162
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Die vielleicht wichtigste Differenzierung der Politikwissenschaft im
Rahmen der Analyse von Exekutivstrukturen bezieht sich jedoch auf die
Unterscheidung zwischen politischer Exekutive (Regierung) und administrativer Exekutive (Verwaltung). Den funktionsorientierten Kategorien der
klassischen Gewaltenteilungslehre, nach der es sich bei der Exekutive (in
Abgrenzung gegenüber der Legislative und Judikative) um die »ausführende Gewalt« handelt, entspricht die administrative Exekutive in sehr viel
höherem Maße als die politische Exekutive. Schon für die Ministerialverwaltung gilt indes, dass sie zusätzlich zu ihren rein vollziehenden Tätigkeiten beträchtlichen Anteil an der Formulierung politischer Maßnahmen und
Programme hat.129 Diese Funktion charakterisiert umso mehr die politische Exekutive, deren eigentliche Aufgabe in der Führung bzw. Steuerung
des politischen Entscheidungsprozesses besteht. Dabei kommt vor allem
in parlamentarischen Demokratien der Umsetzung von parteipolitisch
definierten Programmzielen durch Parteivertreter in Exekutivpositionen –
als politisch-institutionellem Kern des »party government« – eine zentrale
Bedeutung zu (Katz 1987; Blondel/Cotta 1996, 2000).
Kaum eine heute übliche Vorstellung der politischen Exekutive reicht
jedoch so weit, dass sie ohne speziellere Differenzierung auch das Staatsoberhaupt mit einbezöge – ungeachtet der Tatsache, dass die Systemlehre
mit Blick auf die Ämtertrennung zwischen Regierungschef und Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie von der Existenz einer »doppelköpfigen Exekutive« spricht.130 In Abgrenzung zur politischen Exekutive lassen sich Staatsoberhäupter in parlamentarischen Demokratien –
——————
wie Frankreich, gehören parlamentarische Staatssekretäre auch formal zu den Mitgliedern der politischen Exekutive.
129 Außer Frage steht vor allem die mächtige Position der Regierungsbürokratie in den
frühen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens, ganz besonders bei der Formulierung des sogenannten »Referentenentwurfs«. Vgl. Mayntz/Scharpf (1975).
130 Das gilt noch am ehesten für Systeme aus der Kategorie der sogenannten »semipräsidentiellen Demokratie« (Duverger 1980; Elgie 2004), welche – gemäß einer
Minimaldefinition – durch die Kombination einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung mit einem direkt gewählten Präsidenten gekennzeichnet sind. In
Systemen dieses Typs, der für viele Autoren lediglich einen Untertyp der parlamentarischen Demokratie darstellt (von Beyme 1999a: 52; Siaroff 2003), gilt das
präsidiale Staatsoberhaupt oftmals gar als der eigentliche Kopf der politischen
Exekutive, so im Falle des Präsidenten der V. Republik Frankreich zu Zeiten einheitlicher parteipolitischer Mehrheitsverhältnisse. Dabei handelt es sich jedoch um
einen Ausnahmefall, der insbesondere mit Blick auf die Bundesrepublik keine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen kann.
DIE EXEKUTIVE
163
ganz gleich, ob es sich um Erbmonarchen oder gewählte republikanische
Staatsoberhäupter handelt – in Anlehnung an einen Vorschlag Harold
Laskis (1925: 340–356) als konstitutionelle Exekutive bezeichnen.
Zentrale Gegenstände dieses Kapitels sind die politische und die konstitutionelle Exekutive. Aspekte der administrativen Exekutive werden
lediglich am Rande behandelt. Der nächste Abschnitt ist der Regierung im
engeren Sinne, also der politischen Exekutive, gewidmet. Darauf folgt ein
kurzer Exkurs über die administrative Exekutive, unter Konzentration auf
deren Verhältnis mit der politischen Exekutive. In einem weiteren Teil
werden schließlich die Strukturcharakteristika und Handlungsparameter der
Staatsoberhäupter in den heute konsolidierten liberalen Demokratien beleuchtet.
7.1 Die politische Exekutive: Regierungschef und Kabinett
Die historischen Vorläufer heutiger Kabinette in den parlamentarischen
Demokratien sind älter als das Amt des Premierministers. Schon die Bezeichnung »erster Minister« deutet darauf hin, dass es vor dessen Auftauchen eine Gruppe unterschiedlicher Persönlichkeiten gab, die zum Beraterkreis des Monarchen gehörten. Die historische Herausbildung der
Strukturen der politischen Exekutive war hochgradig komplex und verlief,
selbst innerhalb eines Landes, selten geradlinig und frei von Rückschlägen
– dies in deutlichem Gegensatz zu der auf einen Schlag vollzogenen
Schöpfung des Präsidentenamtes in den Vereinigten Staaten durch die
Verfassung von 1787.131
Der historische Entstehungsprozess der Position eines Premierministers in Europa gilt in Teilen der jüngeren Geschichtswissenschaft als be-
——————
131 Freilich hat auch die politische Exekutive im präsidentiellen System der USA im
Laufe der Geschichte tief greifende Veränderungen erfahren, darunter insbesondere die Schaffung einer »institutional presidency« (Burke 2000) seit den dreißiger
Jahren des 20. Jahrhunderts, ein umfangreiches Arsenal institutionalisierter Ressourcen zur politischen und administrativen Unterstützung des Präsidenten. Die
verfassungsrechtliche Struktur des Präsidentenamtes ist in ihren Grundzügen, trotz
zahlreicher wichtiger Urteile des Supreme Court, jedoch bis heute erhalten geblieben. Durch grundlegende Kontinuität ist auch die Geschichte des in der Verfassung nicht erwähnten, aber gleichwohl seit 1787 kontinuierlich existierenden Kabinetts gekennzeichnet (Helms 1999c).
164
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sonders erhellendes Beispiel dafür, wie eine informelle Beziehung zur
Grundlage einer formalen Institution werden kann. Wolfgang Reinhard
unterscheidet in seiner großen Geschichte der Staatsgewalt zwischen
»Günstlingspremierministern des langen 17. Jahrhunderts« und »Premierministern der neuen Generation«, des (späten) 18. Jahrhunderts: »[W]enn
›Minister‹ im 17. Jahrhundert häufiger mit politischer Bedeutung auftaucht,
dann ist fast nie ein Amt oder eine Institution gemeint, sondern eine ad
hoc entstandene Funktion, ein Auftrag, der allein vom jederzeit widerrufbaren Willensentschluß eines Herrschers abhing« (Reinhard 2000: 166). Als
der prominenteste Vertreter dieser Gattung gilt Richelieu. Auch für die
Premierminister der neuen Generation – unter ihnen Walpole und
Newcastle in England, Kaunitz in Österreich und Münchhausen in Hannover – waren nicht so sehr die Ämter, die sie bekleideten, als das Vertrauen des Monarchen, das sie genossen, ausschlaggebend. »Aber das Vertrauensverhältnis zum Herrscher hatte jetzt stärker sachlich-funktionalen
als personal-emotionalen Charakter« (ebd.: 166, 180).
Bis zur Herausbildung der Institution eines ressortfreien Premierministers war es von dort freilich noch ein weiter Weg. Das gilt selbst für die
singuläre Entwicklung Englands, wo die Etablierung eines Kabinetts im
engeren Sinne mit dem Auftreten eines politisch potenten Premierministers in Gestalt Sir Robert Walpoles gegen Ende des ersten Drittels des 18.
Jahrhunderts zeitlich in etwa zusammenfiel. Erst nach 1868, während der
Regierungszeit Benjamin Disraelis, tauchte der Titel »Prime Minister«
erstmals in einem amtlichen Dokument auf, und erst Henry CampbellBannerman (1905–1908) führte den offiziellen Titel.
In Ländern, in denen es früh zu einer Parlamentarisierung der staatlichen Ordnung kam, ging es häufig zunächst darum, die Führung des Kabinetts durch eines seiner Mitglieder durchzusetzen. Bis zur ausdrücklichen
rechtlichen Anerkennung des Premierministers als Regierungschef war es
nicht ungewöhnlich, die Führung der Kabinettsgeschäfte auf die Schultern
von zwei Ministern zu verteilen. Ein entsprechender Modus kennzeichnete
selbst die ersten Jahre der langen Amtszeit Walpoles in England; er musste
sich bis 1729 die Macht mit Lord Townshend teilen. In anderen Ländern,
wie Italien, blieben entsprechende Praktiken bis zum Ende des 19. Jahrhunderts üblich. Im deutschen Kaiserreich, dem exemplarischen Fall einer
nicht-parlamentarisierten konstitutionellen Monarchie, gab es demgegenüber im strengen Sinne nur einen politisch verantwortlichen Minister, den
Reichskanzler, aber kein echtes Kabinett. Gerade die Erfahrung der älteren
DIE EXEKUTIVE
165
parlamentarischen Demokratien lehrt, dass die verfassungsrechtliche Anerkennung des Amtes des Premierministers im Zweifelsfall nicht von annähernd vergleichbarer Bedeutung für die politische Durchsetzungsfähigkeit
eines Amtsinhabers ist wie die politischen Rahmenbedingungen seiner
Amtszeit. Tatsächlich folgten die Ereignisse, wie in Belgien, nicht selten
dem Bestreben, mit der Konstitutionalisierung eine »Flucht nach vorn«
anzutreten: »Juristisch gesicherte Kompetenzen sollten eine verlorene politische Machtstellung ersetzen« (von Beyme 1999a: 448).
Zu den wichtigsten politischen Determinanten der Stärke eines Regierungschefs zählen neben dem Rückhalt in seiner eigenen Partei die Anzahl
und Stärke der an der Regierung beteiligten Parteien und das Ausmaß der
parlamentarischen Unterstützung der Regierung. Die beiden zuletzt genannten Aspekte sind zu grundlegenden Kategorien der politikwissenschaftlichen Exekutivforschung geworden. Die zentrale Unterscheidung
auf der ersten Achse bezieht sich auf den Gegensatz zwischen Einparteienund Koalitionsregierungen. Für letztere gilt, bei zahlreichen weiteren Differenzierungsmöglichkeiten, dass mindestens zwei Parteien an der Regierung
beteiligt sind. Die Alternativoptionen auf der zweiten Achse werden durch
Mehrheits- und Minderheitsregierungen repräsentiert, wobei es um die
jeweilige parlamentarische Unterstützungsbasis einer Regierung in der
ersten Kammer des Parlaments geht. Schon dieses vergleichsweise simple
Koordinatensystem lässt die Unterscheidung von mindestens vier Grundtypen zu: (1) Einparteienregierungen mit parlamentarischem Mehrheitsstatus, (2) Koalitionsregierungen mit parlamentarischem Mehrheitsstatus,
(3) Einparteienregierungen mit parlamentarischem Minderheitsstatus sowie
(4) Koalitionsregierungen mit parlamentarischem Minderheitsstatus.
Ein vergleichender Blick auf die parlamentarischen Demokratien Westeuropas lässt deutliche regionale Hochburgen der unterschiedlichen Regierungsformen erkennen: Die eigentliche Heimat von Einparteienregierungen mit parlamentarischer Mehrheitsbasis ist das Vereinigte Königreich.
Diesem Muster folgen auch die außereuropäischen Westminster-Demokratien und (jedenfalls der Tendenz nach) Japan, wo zwischen 1955 und
1993 ausschließlich die LDP regierte. Koalitionsregierungen mit parlamentarischem Mehrheitsstatus bilden den »Normalfall« in den meisten
Ländern des westeuropäischen Festlands. Minderheitsregierungen – sei es
in Form von Einparteienregierungen oder, seltener, Koalitionsregierungen
– charakterisieren vor allem die Geschichte der parlamentarischen Demo-
166
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
kratien des »metropolitanen Skandinaviens« (Dänemark, Norwegen und
Schweden).
Deutschland repräsentiert den in Westeuropa dominanten Typus der
Koalitionsregierung mit Mehrheitsstatus. Die übergroße Mehrzahl aller seit
1949 amtierenden Bundeskabinette wurde von mindestens zwei Parteien
getragen, die gemeinsam über eine parlamentarische Mehrheit im Bundestag verfügten. Sowohl Einparteienregierungen (worunter man in der Bundesrepublik, vereinfachend, auch Regierungen unter ausschließlicher Beteiligung von CDU und CSU fassen kann) als auch Minderheitsregierungen
bildeten Ausnahmen. Kommt es zu diesen Ausnahmesituationen, dann
treten Einparteienregierungen und parlamentarischer Minderheitsstatus der
Regierung hierzulande zumeist gemeinsam auf. Nach dem in der Bundesrepublik vorherrschenden Parlamentarismusverständnis handelt es sich
dabei – im Gegensatz vor allem zur skandinavischen Lesart – um einen
untrüglichen Krisenindikator. Tatsächlich resultierten Einparteien-Minderheitsregierungen auf Bundesebene ausschließlich aus dem vorausgehenden
Zusammenbruch der bisherigen Regierungskoalition, so im November/Dezember 1962 (CDU/CSU-Regierung unter Konrad Adenauer), im
Oktober/November 1966 (CDU/CSU-Regierung unter Ludwig Erhard)
und im September 1982 (SPD-Regierung unter Helmut Schmidt). Die
Kürze ihres Bestandes – und nicht zuletzt ihre faktische Handlungsunfähigkeit – unterstreichen ihren Ausnahmecharakter noch zusätzlich.
Ebenfalls als ungewöhnlich gelten muss die Existenz einer großen Koalition, ein Regierungsbündnis der beiden größten Parteien des Systems
(CDU/CSU und SPD). Die erste große Koalition unter Kanzler Kiesinger
(1966–1969) kam als Ergebnis des vorzeitigen Auseinanderbrechens der
letzten Regierung Erhard gegen Ende des ersten Drittels einer laufenden
Legislaturperiode zustande. Aus Sicht der Union bildete sie die einzige
Möglichkeit, weiterhin an der Regierung zu bleiben, aus Sicht der Sozialdemokraten zwar nicht die einzig mögliche, wohl aber die mittelfristig
aussichtsreichste Option einer Regierungsbeteiligung. Im Gegensatz zur
ersten großen Koalition, die bei aller Konkurrenz zwischen Union und
SPD doch ein Willensbündnis beider Seiten war, verkörperte die nach der
Bundestagswahl von 2005 gebildete große Koalition unter Angela Merkel
weitaus stärker eine »von den Umständen«, konkret dem Wahlergebnis
vom September 2005, diktierte Notlösung (Helms 2006a).
Große Koalitionen stellten jedoch nicht nur hierzulande eine Ausnahmeerscheinung dar. In der Gruppe der parlamentarischen Demokratien
DIE EXEKUTIVE
167
Westeuropas erlangten sie die vergleichsweise größte Bedeutung in Österreich. Dort regierten zwischen 1945 und Mitte 2006 für rund 34 Jahre lang
Koalitionen aus SPÖ und ÖVP (von 1945–1947 unter Einschluss der
KPÖ). Nach der Nationalratswahl vom Oktober 2006 kam es vor dem
Hintergrund einer weiteren Ausdifferenzierung des Parteiensystems erneut
zur Bildung einer großen Koalition.
Die international vergleichende Koalitionsforschung hat Kategorien zur
Klassifikation von Regierungen bzw. von Kabinetten vorgeschlagen, die
deutlich differenzierter sind als die alltagssprachliche Unterscheidung zwischen kleinen und großen Koalitionen. Unterschieden werden innerhalb
der Gruppe von Regierungen mit parlamentarischem Mehrheitsstatus in
der Regel: »minimum-winning coalitions«, »minimal-winning coalitions«
und »surplus majority coalitions« (Laver/Schofield 1990; Müller 2004).132
Blickt man auf den gesamten Zeitraum seit 1949, so fällt auf, dass es
sich bei deutschen Bundesregierungen keineswegs immer um »minimumwinning coalitions« handelte. Tatsächlich waren nur die erste Regierung
Brandt (1969–1972), die Regierungen Schmidt der Jahre 1976 bis 1982 und
die letzte Regierung Kohl (1994–1998) kleinstmögliche Gewinnerkoalitionen. In allen anderen Fällen wäre rechnerisch, aber eben nicht politisch, die
Bildung kleinerer Koalitionen möglich gewesen. Auffallend ist ferner die
phasenweise Existenz von Koalitionen, denen mehr Parteien angehören,
als gebraucht würden, um der Regierung einen parlamentarischen Mehrheitsstatus zu garantieren (»surplus majority coalitions«). Solche übergroßen Koalitionsmehrheiten gab es vor allem in der Ära Adenauer, zwischen
1953 und 1960. Für die Entscheidung Adenauers bzw. der Union, einige
auf den ersten Blick »entbehrliche« kleinere Parteien in die Regierungsverantwortung einzubinden, sprachen unterschiedliche Gründe. Zum einen
ging es darum, der Regierung eine größtmögliche parlamentarische Mehrheitsbasis zu sichern, die selbst auf der Ebene verfassungsändernder Maßnahmen möglichst souverän zu handeln in der Lage sein würde. Bei der
Einbindung der DP, trotz des Gewinns einer absoluten Mehrheit der
——————
132 Bei einer »minimal-winning coalition« handelt es sich um eine Mehrheitskoalition,
die durch das Ausscheiden eines ihrer Mitglieder ihre Mehrheit einbüßen würde.
Unter einer »minimum-winning coalition« wird eine (nach Sitzanteilen) – relativ
zur absoluten Mehrheit – kleinstmögliche Gewinnerkoalition verstanden. Eine
»surplus majority coalition« schließlich ist eine Koalition mit einer »übergroßen«
parlamentarischen Mehrheit; sie umfasst mehr Mitglieder als nötig wären, um diese
Mehrheit zu garantieren.
168
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1957, spielte das Bestreben der Union
eine Rolle, ihr auch in Gebieten mit einem geringen Anteil katholischer
Wähler eine ausreichende Anhängerschaft zu sichern (Saalfeld 2000: 44–
45). Das einzige spätere Beispiel einer »surplus majority coalition« auf
Bundesebene ist den spezifischen Umwälzungen im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der deutschen Vereinigung zu verdanken. So gehörten dem
christlich-liberalen Regierungsbündnis unter Helmut Kohl zwischen Oktober 1990 und Januar 1991 nicht nur die CDU/CSU und die FDP, sondern
auch die ostdeutsche Schwesterpartei der Union, die DSU, an.
Beispiele für übergroße Koalitionen finden sich in den meisten westeuropäischen Ländern. Deutlich geringer als in der Bundesrepublik ist deren
Anteil im historischen Vergleich nur in den skandinavischen Ländern (außer Finnland), in Irland, Luxemburg und Spanien. In Belgien, den Niederlanden, Finnland, Frankreich und Italien machten »surplus majority coalitions« zwischen 1945 und dem Ende des 20. Jahrhunderts mehr als ein
Drittel aller Regierungen aus (Mitchell 2001; Mattila/Raunio 2004: 271).
Die Hochburg überdimensionierter Koalitionen bildet jedoch eindeutig
und mit großem Abstand vor allen anderen konsolidierten liberalen Demokratien innerhalb und außerhalb Europas die Schweiz. Dort sind die
drei bürgerlich-konservativen Parteien (FDP, CVP, SVP) und die Sozialdemokraten (SPS) bereits seit 1959 ununterbrochen an der Regierung beteiligt. Die in der Schweiz als Revolution mittleren Ausmaßes wahrgenommenen Ereignisse im Gefolge der Nationalratswahl von 2003 – die
geringfügige Veränderung des Stärkeverhältnisses der vier an der Regierung
beteiligten Parteien als Ergebnis signifikanter Zugewinne der SVP
(Dardanelli 2005) – stellen aus vergleichender Perspektive betrachtet lediglich eine bescheidene Modifikation des schweizerischen Modells dar. Das
»institutionelle Geheimnis« hinter der jahrzehntelangen Vorherrschaft einer
faktischen Allparteienregierung ist in dem weit überdurchschnittlich ausgebauten System der direkten Demokratie und ganz besonders dem fakultativen Gesetzesreferendum schweizerischer Prägung zu sehen (Neidhart
1970; Papadopoulos 2001). Dieses gestattet es, jede beliebige Gesetzesentscheidung des Parlaments einem Referendum zu unterwerfen und damit
potentiell zu »kippen«. Historisch lässt sich die Geschichte der Regierungsbildungen in der Schweiz als ein Prozess beschreiben, in dem sukzessive all
jene Parteien aus der Opposition in die Regierung »kooptiert« wurden, die
das Potential besaßen, die Politik der Regierungsparteien durch Erzwin-
DIE EXEKUTIVE
169
gung eines Referendums zu durchkreuzen.133 Seinen Ausgang nahm das
Proporzmodell von einem ausschließlich von den Liberalen dominierten
Regierungsgremium. Dieses wurde 1891 zunächst durch die Einbeziehung
des katholischen Zweiges der damaligen konservativen Opposition (CVP)
erweitert; seit 1929 zählt auch die SVP zu den ständigen Bundesratsparteien. Die schweizerischen Sozialdemokraten (SPS) schließlich schafften
erstmals 1943 (zunächst lediglich vorübergehend) den Sprung in eine von
den Konservativen dominierte Regierung.
Werfen wir, bevor wir zur Betrachtung des Innenlebens der politischen
Exekutive kommen, zunächst einen Blick auf die wichtigsten Aspekte der
Regierungsbildung. Anders als in einer Reihe westeuropäischer Systeme
(etwa Belgien, den Niederlanden oder Schweden) gibt es in der Bundesrepublik kein formales »Auskundschaftungsverfahren«, das dem Prozess der
eigentlichen Regierungsbildung vorgeschaltet wäre. Der Einsatz von »Informateuren«, denen andernorts die Aufgabe zukommt, die möglichen
Alternativen der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung auszuloten, besitzt hierzulande keine Tradition. Ein entsprechendes Verfahren
hat sich angesichts der vergleichsweise überschaubaren Anzahl relevanter
Kräfte des Parteiensystems als entbehrlich erwiesen. Seit 1961 ist es – mit
Unterbrechungen während der Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition – üblich, dass ein schließlich erzielter Konsens über Programm- und
Personalfragen in Form eines schriftlichen Koalitionsvertrages fixiert wird.
Als Funktion von Koalitionsverträgen wurde, zusätzlich zu der Dokumentation der in den Koalitionsverhandlungen vereinbarten politischen
Positionen und der Schaffung einer »Arbeitsgrundlage« für die Regierungsarbeit, vor allem deren Bedeutung für die innerparteiliche Vermittlung von
Verhandlungsergebnissen durch die Parteieliten genannt (Saalfeld 2000:
65). Der Umfang entsprechender Vereinbarungen hat im Zeitverlauf deutlich zugenommen (ebd.: 56).
Der durchschnittliche Zeitaufwand für Regierungsbildungen in der
Bundesrepublik ist im internationalen Vergleich betrachtet verhältnismäßig
gering und liegt im Allgemeinen bei wenigen Wochen. Außergewöhnlich
lang war der Regierungsbildungsprozess im Gefolge des schwierigen Ergebnisses der Bundestagswahl vom September 2006; zwischen dem Wahl-
——————
133 Die Abhaltung eines fakultativen Gesetzesreferendums setzt die Unterstützung
durch 50,000 (bis 1977: 30,000) Unterschriften oder durch acht Kantone voraus;
ein zur Abstimmung stehendes Gesetz tritt nur in Kraft, wenn eine (einfache)
Mehrheit der Abstimmenden dies billigt.
170
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
tag und der Ernennung Angela Merkels zur Bundeskanzlerin lagen mehr
als 60 Tage. In den meisten Ländern, in denen die Regierungsbildung im
Durchschnitt deutlich schneller vor sich geht als in der Bundesrepublik
(innerhalb Westeuropas vor allem in Dänemark, Schweden und Norwegen), gibt es einen ungleich höheren Anteil von Einparteienregierungen,
die hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen kaum sinnvoll mit Koalitionsregierungen verglichen werden können. In der Mehrzahl von Ländern,
in denen – wie in der Bundesrepublik selbst – unterschiedliche Spielarten
von Koalitionsregierungen die typische Regierungsform darstellen, zieht
sich der Kabinettsbildungsprozess deutlich länger hin als hierzulande. Dies
gilt vor allem für Länder wie die Niederlande, Belgien oder Finnland, in
denen die Anzahl beteiligter Regierungsparteien signifikant höher ist als in
der Bundesrepublik; Verhandlungen über mehr als drei Monate hinweg
stellen dort keine Seltenheit dar (Müller/Strøm 2000b: 561, 570). Den
eigentlichen Sonderfall Westeuropas bezüglich der Regierungsbildungsdauer bildet jedoch die V. Republik Frankreich. Dort dauert die Regierungsbildung – trotz der vorherrschenden Existenz von Koalitionsregierungen – im Durchschnitt nicht einmal drei Tage. Sowohl über die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung als auch über den künftigen
Premierminister wird faktisch direkt durch die Wahl zur französischen
Nationalversammlung entschieden; innerhalb der einzelnen Lager werden
selbst die konkreten Inhalte des Regierungsprogramms vor der Wahl zur
Nationalversammlung verbindlich geregelt (Thiébault 2000: 506–514).
Die in der Bundesrepublik (mit Unterbrechungen) seit den frühen
sechziger Jahren üblichen schriftlichen Koalitionsabkommen gehören in
einigen anderen Ländern noch stärker als hierzulande zu den zentralen
Kennzeichen des jeweiligen Regierungsmodells. In Finnland, Luxemburg,
Norwegen, Portugal und Schweden arbeiteten sämtliche Koalitionsregierungen seit Beginn der Nachkriegszeit auf der Grundlage von schriftlichen
Verträgen. Die Ausnahme in der Familie der westeuropäischen »Koalitionsdemokratien« bildet in dieser Hinsicht eher Italien, wo es nach 1945
kaum schriftliche Koalitionsverträge zwischen den an der Regierung beteiligten Parteien gab (Müller/Strøm 2000b: 574).
Eine deutsche Besonderheit verkörpern im internationalen Vergleich
weniger die Gepflogenheiten der Koalitionsbildung als vielmehr die verfassungsrechtlich fixierten Modalitäten der Bestellung des Regierungschefs.
Die vom Grundgesetz vorgeschriebene geheime Wahl eines Kandidaten
für das Amt des Kanzlers durch eine absolute Mehrheit der Mitglieder des
DIE EXEKUTIVE
171
Bundestages ist ungewöhnlich.134 Zwar kennen eine Reihe anderer
westeuropäischer Demokratien sowie Japan ebenfalls eine Investiturabstimmung über den Regierungschef bzw. die von ihm gebildete Regierung.
In der Regel erfolgt diese jedoch weder geheim noch zwingend mit absoluter Mehrheit und überdies häufig eher nach erfolgter Ernennung anstatt
im Vorfeld bzw. als deren Voraussetzung. In zahlreichen anderen Ländern
(von Großbritannien über die Niederlande und Österreich bis nach Dänemark oder Norwegen) gilt eine Regierung für so lange im Besitz des Vertrauens der parlamentarischen Mehrheit, bis durch ein erfolgreiches Misstrauensvotum das Gegenteil bewiesen ist (Helms 1996: 699–700).
Regierungsbildungen und -umbildungen in der Bundesrepublik sind ansonsten durch eine sehr weitreichende formale Organisationsgewalt des
Kanzlers gekennzeichnet. Aus historisch-vergleichender Perspektive wurde
die Neubemessung der verfassungsrechtlichen Ressourcen bei der Regierungsbildung gegenüber Weimar gar als der wichtigste Schritt zur Stärkung
der Position des Regierungschefs unter dem Grundgesetz bewertet
(Niclauß 1999: 31). Als großzügig erscheinen die verfassungsrechtlichen
Ressourcen des Kanzlers aber auch im internationalen Vergleich. Während
hierzulande gelegentlich die faktische Machtlosigkeit des Kanzlers bei der
Auswahl des Regierungspersonals aus den Reihen des Koalitionspartners
oder beim Zuschnitt einzelner Ressorts beklagt wurde, verfügen einige der
Regierungschefs anderer Länder nicht einmal über das Recht zur Festlegung der Ressortzuständigkeiten oder zur Entlassung einzelner Minister
(Helms 1996: 703–704).
Wo es um die Bestimmung des Handlungsspielraums des Regierungschefs bei der Regierungsbildung geht, genügt es freilich nicht, dessen formale Kompetenzen zu studieren. Auch die Existenz bzw. Nichtexistenz
von Koalitionsverträgen ist kein zuverlässiger Indikator der Macht des
Regierungschefs. Nicht überall dort, wo es eine entsprechende Praxis nicht
gibt, sind dessen Handlungsspielräume automatisch größer. Dies verdeutlicht auf besonders beeindruckende Weise der Fall Japan: Obwohl es dort
——————
134 Dem Verfassungsgesetzgeber ging es offenbar darum, in Abgrenzung gegenüber
dem Weimarer Modell die direkte parlamentarische Legitimation des Kanzlers zu
stärken und zugleich den repräsentativdemokratischen Charakter der Selektion des
Regierungschefs zu unterstreichen. In der Verfassungspraxis wird über den künftigen Kanzler nichtsdestotrotz üblicherweise durch den Ausgang der Bundestagswahl entschieden – ein Phänomen, das als plebiszitäre Komponente der Kanzlerdemokratie klassifiziert wurde (Niclauß 1987).
172
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
bis in die frühen neunziger Jahre hinein eine einzigartige Phase hegemonialer Einparteienregierung – und mithin keinerlei Informalisierung durch
Koalitionspolitik – gab, bestimmte keineswegs der Premierminister über
die Ministerauswahl. Die Entscheidungsgewalt über Kandidaten für Ministerämter lag vielmehr in den Händen der mächtigen innerparteilichen
Gruppierungen (Faktionen) der langjährigen Regierungspartei LDP, die
sich dabei an im Voraus vereinbarten Nominierungsquoten orientierten
(Hirose 1994: 59).135 Am nächsten an die japanischen Standards reichten in
Westeuropa historisch die ebenfalls stark »faktionalisierten« christdemokratischen Parteien Belgiens und Italiens heran; über Erfahrungen faktionenbasierter innerparteilicher Machtfragmentierung verfügt von den älteren Demokratien außerhalb Europas vor allem Australien (Andeweg 1997:
81).
Die Personalkompetenz und die auf die Ressortstruktur der Regierung
bezogene Organisationsgewalt des Bundeskanzlers verkörpern wesentliche
Komponenten des sogenannten Kanzlerprinzips, welches gemäß Art. 65
GG neben dem Ressortprinzip und dem Kabinettsprinzip eines der drei
verfassungsrechtlichen Organisationsprinzipien der Bundesregierung bildet. Viele Beobachter assoziieren mit dem Kanzlerprinzip jedoch primär
die Zuweisung der Richtlinienkompetenz an den Kanzler – sie gilt gleichsam als die Krönung verfassungsrechtlich definierter Kanzlermacht.136
Vergessen scheinen heute die Motive für die Einführung der Richtlinienkompetenz nach dem Ersten Weltkrieg. Im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung zielte die verfassungsrechtliche Zuweisung der bis in den
Wortlaut hinein identisch gefassten Richtlinienkompetenz an den Kanz-
——————
135 Genau genommen beschränkte das ungewöhnliche Ausmaß innerparteilicher
Faktionalisierung der LDP nicht nur den personalpolitischen Handlungsspielraum
des japanischen Premiers, sondern machte zugleich dessen Position selbst zum
Spielball innerparteilicher Machtpolitik. Tatsächlich ist das Amt des japanischen
Regierungschefs ist durch ein im internationalen Vergleich exorbitantes Maß an
personeller Diskontinuität gekennzeichnet (Masuyama/Nyblade 2004: 254–256);
zwischen 1947 und Ende 2006 gab es nicht weniger als 26 unterschiedliche Amtsinhaber.
136 Vor allem in der Rechtswissenschaft hat sich eine weitverzweigte Diskussion über
die Natur der Richtlinienkompetenz entsponnen, welche hier nicht im Detail
nachzuzeichnen ist. Vgl. für entsprechende Nachweise Schuett-Wetschky (2003,
2004).
DIE EXEKUTIVE
173
ler137 weniger auf dessen politische Ermächtigung als vielmehr auf eine
Eingrenzung von dessen Handlungsspielraum zugunsten des (ebenfalls neu
geschaffenen) Ressortprinzips (Gusy 1997: 135–136). Wie für ihre Weimarer Vorläuferin gilt auch für die Bestimmung des Grundgesetzes, dass diese
»zwar eine Verfassungsnorm«, aber »ein politisches, kein rechtliches
Schwert« (Oberreuter 1990b: 226) ist. In der jüngeren Literatur räumen
mittlerweile selbst Verfassungsrechtler ein, dass der Richtlinienkompetenz
letztlich nur eine »Reservefunktion« zukomme, die dem Kanzler in politisch schwierigen Situationen gegebenenfalls eine zusätzliche verfassungsrechtliche Autorität verleihen könne (Maurer 1993: 126–127).
Maßgeblich für die politische Durchsetzungsfähigkeit eines Regierungschefs innerhalb der Regierung sind freilich andere Faktoren. Zu ihnen zählt
neben allgemeiner politischer Begabung, politischem Sachverstand und
hinlänglicher Ausdauer bei der Verfolgung politischer Ziele nicht zuletzt
das Ausmaß an Unterstützung durch die eigene Partei (Helms 2005c). Die
in der Literatur zum deutschen Regierungssystem häufig gestellte Frage
nach der Bedeutung der Personalunion zwischen Bundeskanzler und Parteivorsitzendem138, spielt in den meisten anderen Ländern keine Rolle, weil
eine entsprechende Ämterkonzentration die Regel ist. Nicht selbstverständlich ist hingegen die britische Zuspitzung, nach der das Amt des Regierungschefs nach herrschender Verfassungskonvention zwingend an das
des Parteivorsitzenden geknüpft ist und ein Verlust des Parteivorsitzes
unweigerlich den Rücktritt vom Amt des Regierungschefs nach sich
zieht.139 Spezifisch modifiziert, nicht aber prinzipiell aufgehoben ist die
zentrale Bedeutung des Parteienfaktors im Falle von parteilosen Regierungschefs (etwa den italienischen Premiers Ciampi und Dini während der
neunziger Jahre) oder von Regierungschefs aus kleineren Koalitionsparteien. In diesen Konstellationen entscheidet vor allem der Rückhalt in der
——————
137 Gegenüber Art. 65, Satz 1 GG spezifizierte Art. 56 WRV lediglich dahingehend,
dass der Reichskanzler für die von ihm zu bestimmenden Richtlinien der Politik
die Verantwortung »gegenüber dem Reichstag« trage, womit das Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit besonders herausgestellt wurde.
138 Ein historischer Vergleich der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Kanzlern
und ihren Parteien zeigt, dass der Parteivorsitz für sich allein betrachtet kaum als
bedeutende Machtressource des Kanzlers betrachtet werden kann (Helms 2002b,
2005a: 145–148).
139 Das mit Abstand bekannteste Beispiel dieser Form des Machtverlusts bildet
zweifellos der Sturz der britischen Premierministerin Margaret Thatcher durch die
konservative Unterhausfraktion im November 1990.
174
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Koalition regierender Parteien über die politische Handlungsfähigkeit des
Regierungschefs.
Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die einem Regierungschef zu
Gebote stehenden administrativen Ressourcen innerhalb der Regierungszentrale, im deutschen Fall des Kanzleramts. Das (im Grundgesetz nicht
erwähnte) Bundeskanzleramt besitzt historische Wurzeln, die bis in die
Frühphase des Bismarck-Reichs zurückreichen. Zu einer im engeren Sinne
politischen Regierungszentrale mit einem parteipolitisch ausgewiesenen
Spitzenpersonal wurde die Reichskanzlei als Vorläuferin des Bundeskanzleramts erstmals in der Weimarer Republik. Sie verlor in den Jahren der
Nazi-Herrschaft den Großteil ihres potentiellen Einflusses freilich bald an
die weitaus mächtigere Parteikanzlei (Schöne 1968). Während der ersten
zwanzig Jahre der Bundesrepublik blieb das Kanzleramt ein im Hinblick
auf seine personellen und administrativen Ressourcen bescheidenes Haus,
aus dem zuweilen gleichwohl, so vor allem unter Adenauers drittem
Kanzleramtschef Hans Globke (1953–1963), ein außerordentlich hohes
Maß an Führung und Koordination des Regierungsprozesses hervorging.
Die eigentliche »Geburtsstunde« des modernen Kanzleramtes schlug zu
Beginn der sozial-liberalen Ära (Müller-Rommel 1994: 119). Innerhalb nur
eines Jahres verdreifachte sich dessen Personal. Die eigentliche Modernisierungsleistung betraf jedoch die Organisationsstruktur des Kanzleramts,
das bis 1958 nur eine einzige Abteilung beherbergte. Unter Kanzler Brandt
und dessen ersten Kanzleramtschef Ehmke (1969–1972) wurden erstmals
fünf unterschiedliche Abteilungen geschaffen, darunter ein eigener Bereich
für die politische Planung. Bei wechselndem Stellenwert des Kanzleramts
im Regierungsprozess – als Hochphasen von dessen Einfluss gelten historisch die Regierungsjahre Adenauers und Schmidts sowie die erste Amtszeit Brandts (Müller-Rommel 2000) – betrug dessen Mitarbeiterzahl zu
Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels 450 Personen, die in sechs unterschiedlichen Hauptabteilungen tätig waren (Roll 2006).140
Das Bundeskanzleramt fällt im westeuropäischen Vergleich, auch mit
anderen großen Ländern, als eine in personeller Hinsicht besonders großzügig ausgestattete Institution auf; Entsprechendes gilt für einen Vergleich
der Bundesrepublik mit Japan (besonders vor den dortigen Reformen
1999/2001) und den außereuropäischen parlamentarischen Demokratien
des Westminster-Typs. Hinzu kommen der überdurchschnittlich weit be-
——————
140 Vgl. zum Gesamtkomplex mit einem zeitlichen Fokus auf das Bonner Kanzleramt
der Jahre 1949 bis 1999 die umfangreiche Studie von Knoll (2004).
DIE EXEKUTIVE
175
messene Aufgabenbereich des Kanzleramts und dessen starker Einfluss
innerhalb der Exekutive (Müller-Rommel 1993: 133, 135).141 Angesichts
der ansehnlichen verfassungsrechtlichen und administrativen Ausstattung
des Amtes kann es nicht überraschen, dass deutsche Kanzler in einer vergleichenden (dabei allerdings ausschließlich subjektiven Bewertungen vertrauenden) Untersuchung zu jenen Regierungschefs Westeuropas gerechnet wurden, die über einen auffallend großen Einfluss innerhalb der Regierung verfügen (King 1994: 153). Bemerkenswert ist dies insoweit, als die
Bundesrepublik im Gegensatz zu den übrigen fünf genannten Ländern –
Großbritannien, Irland, Portugal, Spanien und Griechenland – das einzige
System mit praktisch permanenter Koalitionsregierung darstellt.142 Zu
jenen Ländern mit einem in struktureller Hinsicht starken Premierminister
können ferner Australien und ganz besonders Kanada gezählt werden.
Nach Einschätzung einiger Autoren war die Macht kanadischer Premiers
dabei bis in die jüngere Vergangenheit hinein sogar (noch) weitreichender
als jene britischer Premierminister (Thunert 2000: 102; Malloy 2004: 207).
Auch für Systeme mit einer potentiell starken Stellung des Regierungschefs gilt freilich, dass es andere Akteure innerhalb der Exekutive gibt, die
über ansehnliche – verfassungsrechtliche und/oder politische – Ressourcen, verfügen. Als wichtigste Einschränkung der autonomen Handlungsmacht von Regierungschefs gilt in den meisten parlamentarischen Demokratien, und so auch in der Bundesrepublik, die Gegenmacht einzelner
Minister. Viele Systeme kennen die Zuweisung spezieller Rechts- und Ve-
——————
141 Von »amerikanischen Standards« – sowohl bezüglich der Personalausstattung als
auch im Hinblick auf die Personalhoheit des Regierungschefs – bleiben jedoch
selbst die Regierungszentralen der größeren westeuropäischen Länder weit entfernt (Patterson 2000). Diesem Sachverhalt entsprechend gibt es in Westeuropa
kein echtes Äquivalent für die amerikanische Diskussion über das White House
Office des Präsidenten, dessen Personalstärke und funktionale Ausdifferenzierung
in jüngeren Arbeiten immer häufiger als Schwächungsmoment, und weniger als
Kernressource, präsidentieller Macht erscheinen (Neustadt 2001).
142 Die Existenz von Koalitionsregierungen gilt – unter sonst gleichen Bedingungen –
zu Recht als zentrale Variable, durch die der Handlungsspielraum des Regierungschefs tendenziell begrenzt wird (Weller 1997: 44). Wie immer, gibt es jedoch markante Ausnahmen, die vor allem dadurch erklärlich werden, dass die Bedingungen
der Koalitionsregierung in unterschiedlichen Ländern deutlich verschieden voneinander sind. So wurde die Rolle des Premierministers in vielen skandinavischen
Koalitionsregierungen gerade durch die Komplexität von Koalitionen und die besondere Schwierigkeit, alternative Koalitionen zu bilden, faktisch gestärkt (Arter
2004: 123–125).
176
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
topositionen an einzelne Minister, insbesondere an den Justizminister. In
der Praxis erweisen sich andere – persönliche, politische und insbesondere
parteipolitische – Faktoren für das Gewicht und Durchsetzungsvermögen
eines Ministers indes oftmals als relevanter. Einzelne Minister, gegen die
auch ein starker Regierungschef nicht dauerhaft Politik machen kann, finden sich in praktisch jeder Regierung (gelegentlich auch auf formal wenig
bedeutenden Positionen). Erwähnenswert sind eher die seltenen Ausnahmen von dieser Regel. Für die Bundesrepublik ließe sich diesbezüglich
noch am ehesten auf das erste Jahrzehnt der Kanzlerschaft Konrad
Adenauers verweisen.143 Die größte »Narrenfreiheit« genießen in der Regel
Minister aus den Reihen des kleineren Koalitionspartners der Partei des
Regierungschefs, gegen die nur indirekt vorgegangen werden kann. Aber
selbst die Kombination aus formaler Kompetenzstärke und günstigen
politischen Rahmenbedingungen führt selten zu einer annähernd vollständigen Neutralisierung von individueller Ministermacht. Sogar für Großbritannien wurde überzeugend argumentiert, dass die ultimative Entscheidungsmacht britischer Regierungen im Allgemeinen in den Händen einer
jeweils kleinen Gruppe besonders einflussstarker Minister (unter Einschluss des Premierministers) ruhe (Norton 2000).
Im Vergleich zum Ressortprinzip hat das Kabinettsprinzip zwar einen
hohen normativen, aber kaum einen vergleichbar zentralen empirischen
Stellenwert für die Funktionsweise der politischen Exekutive in der parlamentarischen Demokratie behaupten können (Weller 2003). Anders als
Teile der einschlägigen Literatur suggerieren, stellt die in den meisten Ländern zu beobachtende Abkehr vom »textbook cabinet government« indes
keineswegs eine Erscheinung der jüngeren Vergangenheit dar. Schon zu
Beginn der fünfziger Jahre konstatierte Carl Joachim Friedrich (1953: 421)
eine Tendenz der parlamentarischen Systeme, sich allmählich von der kollegialen zur monokratischen Herrschaft zu entwickeln. Die Transformation
des klassischen Kabinettsmodells vollzog sich freilich auf unterschiedliche
Weise und mit unterschiedlichen Auswirkungen hinsichtlich der Machtverteilung zwischen den entscheidungsrelevanten Akteuren. In einigen
Ländern – allen übrigen voran Großbritannien – wurde die ehemals zen-
——————
143 Ausländische Beobachter erkannten damals mehr Gemeinsamkeiten zwischen den
Bundesministern und den Reichsstaatssekretären des Bismarck-Reichs bzw. den
amerikanischen »cabinet secretaries« als zwischen den zuerst genannten und den
Kabinettsministern anderer parlamentarischer Demokratien der Nachkriegszeit
(Ridley 1966: 456).
DIE EXEKUTIVE
177
trale Stellung des »full cabinet« vor allem durch die konsequente Verlagerung des Entscheidungsprozesses in Kabinettsausschüsse geschwächt.
Daraus resultierte zugleich ein faktischer Machtzuwachs des Premierministers, da dieser den Vorsitz in sämtlichen Ausschüssen führt und auf
dieser Grundlage seinen Informationsvorsprung vor sämtlichen übrigen
Regierungsmitgliedern signifikant erweitert.
In anderen Ländern – zu ihnen gehört die Bundesrepublik – erlangten
vor allem informelle Koalitionsgremien wichtige Vorentscheidungsfunktionen auf Kosten des Kabinetts. Überdurchschnittlich bekannt wurde das
informale Entscheidungsgremium der ersten großen Koalition, der sogenannte »Kressbronner Kreis«, benannt nach dem Sommersitz Kanzler
Kiesingers in der Nähe des Bodensees, wo das erste Treffen dieser Runde
im Frühsommer 1967 stattfand (Knorr 1975: 223–229; Schneider 1999:
95–96). Seinen eigentlichen Höhepunkt erreichte das Regieren mit »Koalitionsrunden« jedoch während der Ära Kohl (Schreckenberger 1994). Ab
Mitte der achtziger Jahre begannen die Medien damit, den Entscheidungen
dieses Gremiums eine deutlich größere Aufmerksamkeit beizumessen als
den nachfolgenden, zumeist lediglich formal bestätigenden Beschlüssen
des Kabinetts. Auch bei den »Koalitionsrunden« der Regierung Kohl handelte es sich um regelmäßige Zusammenkünfte der Partei- und Fraktionsspitzen der Koalitionspartner. Auffallend im Vergleich mit ähnlichen Einrichtungen unter anderen Kanzlern war die schwache Repräsentation von
Ressortministern. Bereits in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bildete
die Anwesenheit von Ministern in der Koalitionsrunde eher eine Ausnahme als die Regel. Während der 13. Legislaturperiode des Bundestages
war Außenminister Klaus Kinkel als einziger führender Bundesminister
dauerhaft in der Koalitionsrunde vertreten (Ismayr 2001: 380). Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem »System Kohl« und den informellen
Entscheidungssystemen unter anderen Kanzlern bestand darin, dass Kohl
von der Existenz dieser Gremien machtpolitisch nachhaltig profitierte. In
anderen Fällen, so insbesondere im Rahmen der Kanzlerschaft Schmidts,
symbolisierte die Etablierung entsprechender Einrichtungen eher einen
schleichenden »Machtverfall« des Kanzlers. Für sämtliche der nach 1949 zu
beobachtenden Konstellationen gilt, dass die Verwirklichung des Kanzlerprinzips im Rahmen von informellen Koalitionsgremien nur auf der
Grundlage hinreichend großer parteipolitischer Ressourcen des Kanzlers
funktionierte.
178
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Einen echten Sonderfall im Hinblick auf das Einflusspotential von
Premierminister, Ministern und Kabinett im exekutiven Entscheidungsprozess verkörperte lange Zeit Japan: Das dort unter der hegemonialen
Herrschaft der LDP installierte System ließ keinen der genannten Akteure
echte politische Handlungsmacht gewinnen. Eine denkbare Charakterisierung dieses Systems als »cabinet government« wurde in der Literatur
ebenso vehement zurückgewiesen wie die alternativen Klassifikationen als
»prime ministerial government« oder »departmental government«. Charakteristisch war vielmehr eine duale Machtstruktur, die sich aus der Bürokratie einerseits und der Regierungspartei andererseits konstituierte und im
Vergleich zu der die gesamte politische Exekutive von untergeordneter
Bedeutung war bzw. ist (Mulgan 2003: 84). Erst in der jüngsten Vergangenheit kam es – teils als Folge einer verbesserten Ausstattung des Premiers mit administrativen Ressourcen, teils als Ergebnis eines veränderten
Führungsstils – zu Entwicklungen, die einige Beobachter gar von einer
Hinwendung zu einem »Westminster style« politischer Führung in Japan
sprechen ließen (Köllner 2006).
7.2 Exkurs: Die administrative Exekutive
Wenn in den vorausgehenden Abschnitten vom Einfluss einzelner Mitglieder der politischen Exekutive die Rede war, so war damit deren Rolle innerhalb des im engeren Sinne politischen Exekutivterrains gemeint. Die
Frage nach dem Einfluss von Mitgliedern der politischen Exekutive lässt
sich jedoch auch auf deren Steuerungspotential gegenüber der Ministerialverwaltung beziehen. Eine solche Perspektive eröffnet einen guten Zugriff
auf zentrale Charakteristika unterschiedlicher Strukturtypen der administrativen Exekutive.144
——————
144 Nicht berücksichtigt werden im Rahmen dieses kurzen Exkurses die sehr unterschiedlichen Evolutionsgeschichten und Traditionen der Verwaltung in den konsolidierten liberalen Demokratien, die sich bis heute nicht zuletzt auf der Ebene
»administrativer Interessenvermittlung« manifestieren (Lehmbruch 1987). Die
historisch und international vergleichende Verwaltungsforschung orientiert sich an
den üblicherweise unterschiedenen vier Rechtstraditionen: einer anglo-amerikanischen, einer kontinentaleuropäisch-französischen, einer kontinentaleuropäischdeutschen und einer skandinavischen Tradition. Japan kann wegen des direkten
und nachhaltigen Einflusses preußischer Berater beim Aufbau der modernen japa-
DIE EXEKUTIVE
179
Ein wichtiges Strukturmerkmal bildet das Größenverhältnis zwischen
der Leitungsgruppe innerhalb der Ministerialverwaltung, dem sogenannten
»Senior Executive Service«, und dem Kabinett. Dabei gilt: Je geringer das
zahlenmäßige Gefälle zwischen Mitgliedern des Kabinetts und der leitenden Ministerialverwaltung, umso höher die politische Steuerbarkeit der
Ministerien durch die Minister. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es in
einigen der konsolidierten liberalen Demokratien spezifische Erweiterungen des Kabinetts durch Positionen wie »junior ministers« gibt. Ihnen
entspricht in der Bundesrepublik das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs. Signifikante Erweiterungen des Kabinetts durch nachgeordnetes
politisches Personal sind jedoch nur für die parlamentarischen Demokratien angelsächsischer Prägung typisch. Deutschland gehört mit Norwegen,
den Niederlanden und Griechenland zu jenen Ländern mit einer gewissen,
aber insgesamt eher schwachen Kabinettserweiterung durch Regierungspersonal im weiteren Sinne. In zahlreichen anderen Ländern, von Schweden über Österreich bis Spanien, existieren keine vergleichbaren Strukturen. Unter Berücksichtigung der gegebenenfalls bestehenden spezifischen
Erweiterungen des Kabinetts ergibt sich, dass das auf dieser Grundlage
bestimmte Steuerungspotential der politischen Exekutive am größten ist in
Ländern wie Neuseeland, Schweden, Norwegen und Irland, erheblich geringer dagegen insbesondere in Österreich und der Schweiz. Die Bundesrepublik kommt in deutlich größerer Nähe zu ihren deutschsprachigen
Nachbarländern als zu den Ländern der ersten Gruppe zu liegen (Schnapp
2001: 20–21). Die USA, die ein extrem hohes Gefälle im zahlenmäßigen
Verhältnis von »Topbürokraten« und Mitgliedern der politischen Exekutive
aufweisen, können angesichts der exorbitant hohen Durchsetzung der
Verwaltung mit politischen Stelleninhabern nur bedingt mit den parlamentarischen Demokratien verglichen werden.
Damit ist zugleich ein weiterer, außerordentlich wichtiger Aspekt angesprochen: In der Tat interessieren aus Sicht der politischen Exekutive nicht
zuletzt die jeweils bestehenden Spielräume für die Rekrutierung (partei-)
politisch gleich gesinnten Personals. Hinsichtlich der formalen Strukturen
der Verwaltungselite in den liberalen Demokratien bilden die Vereinigten
Staaten und Großbritannien die Extrempole eines gedachten Kontinuums
(Derlien 1996). Während im amerikanischen »spoils system« im Gefolge
von personellen Wechseln im Präsidentenamt traditionell eine riesige Zahl
——————
nischen Verwaltungsstrukturen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in systematischer Hinsicht als Vertreter der kontinentaleuropäisch-deutschen Tradition gelten.
180
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
von Positionsinhabern ausgetauscht wird, bleiben personelle Veränderungen im Verwaltungssektor nach Machtwechseln in Großbritannien minimal. Konstitutiver Bestandteil des britischen Modells ist jedoch zugleich
die Idee, dass der »Civil Service« parteipolitisch vollständig neutral ist und
politische Impulse ausschließlich von der jeweils auf Zeit bestellten Regierungselite bezieht. Die Bundesrepublik nimmt in dieser Hinsicht eine Mittelposition zwischen dem britischen und dem amerikanischen Modell ein.
Gemessen an amerikanischen Standards ist der Anteil der politischen Verwaltungselite in den Bundesministerien ausgesprochen gering; immerhin
aber existiert ein gesetzlich geregeltes Verfahren, welches es der Regierung
gestattet, die Spitzenpositionen in der Ministerialverwaltung mit Personen
ihres Vertrauens zu besetzen. Aus politischen Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können potentiell sämtliche »politischen
Beamten« (Karrierebeamten in der Ministerialverwaltung bis hinunter zur
Besoldungsstufe A 16).145 Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, allen
voran Frankreich, gibt es in der Bundesrepublik dafür keine Tradition von
»cabinets ministériels« (einer größeren Gruppe von persönlich und politisch vertrauten offiziellen Mitarbeitern des Ministers), denen unter anderem eine wichtige Brückenfunktion im Verhältnis zwischen politischer
Führungsebene und Ministerialverwaltung zukommt.
Als hochgradig ungewöhnlich können, nicht nur aus deutscher Perspektive, die Beziehungen zwischen politischer und administrativer Exekutive in Japan gelten: Mangels eigener politischer und administrativer Ressourcen fungierten Minister dort in einem für amerikanische wie westeuropäische Verhältnisse gleichermaßen unvorstellbarem Ausmaß als »Ausführungsgehilfen« ihrer Ministerialbürokratie, welche ihre Positionen in langwierigen Verhandlungen mit der LDP-Parteibürokratie formulierte. Die
Bildung von Koalitionsregierungen ab Mitte der neunziger Jahre änderte an
diesem Muster wenig; vielmehr wurde die etablierte Praxis der LDP von
den kleineren Parteien erfolgreich imitiert (Mulgan 2003: 80, 86). Die im
Zuge der vor wenigen Jahren durchgeführten Verwaltungsreform, in deren
——————
145 Dies eine Möglichkeit, von der nach allen Regierungswechseln, bei denen es zu
einer signifikanten Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung kam, ein mehr oder minder großzügiger Gebrauch gemacht wurde
(Derlien 2001). Die besonders hohe Austauschrate im Gefolge des Regierungswechsels von 1998 erklärt sich zumindest teilweise aus dem Umstand, dass es bei
dieser Gelegenheit erstmals zu einer vollständigen Auswechslung der Regierungsparteien kam.
DIE EXEKUTIVE
181
Rahmen unter anderem die Position »parlamentarischer Vizeminister« in
den Ministerien geschaffen wurde (Köllner 2006: 291), haben die institutionellen Bedingungen des Zusammenspiels zwischen politischer und administrativer Exekutive ein kleines Stück weit zugunsten der erstgenannten
verändert, ohne bislang einen entscheidenden Wandel zu bewirken.
Für alle Länder gilt, dass es informale Formen der Politisierung der
Verwaltungselite gibt, die sich auf spezifische Weise mit den formalen
institutionellen Strukturen verbinden. In einer vergleichenden Studie, die
sowohl die formalen als auch die informalen Strukturparameter im Verhältnis von politischer und administrativer Exekutive berücksichtigt, wurden die »minister/mandarin relations« in den USA als »separate, very politicized« charakterisiert, diejenigen in Großbritannien als »separate, not
politicized« und jene in Deutschland als »separate and fairly politicized«
(Pollitt/Bouckaert 2000: 42). Die Ergebnisse jüngerer Studien weisen darauf hin, dass die informale Politisierung und besonders die informale Parteipolitisierung in den vergangenen Jahren auf breiter internationaler Front
zugenommen hat (Peters/Pierre 2004a) – wobei eines der (nur scheinbar
paradoxen) Antriebsmomente der gestiegenen Parteipolitisierung der Verwaltung gerade im schleichenden Terrainverlust der Parteien auf der gesellschaftlichen Ebene gesehen wird: »If there is a declining identification of
the public with political parties then it may make sense for the parties to
provide some tangible benefits for membership in the form of jobs; if
parties cannot attract members with policy, they can at least offer jobs«
(Peters/Pierre 2004b: 287).
Das Steuerungspotential der politischen Exekutive gegenüber der administrativen Exekutive bestimmt sich jedoch nicht ausschließlich nach
dem zahlenmäßigen Stärkeverhältnis beider Seiten und dem formalen und
informalen Politisierungsgrad der Ministerialverwaltung. Es kommt ein
weiterer Faktor hinzu, der sich in gewisser Weise sogar am unmittelbarsten
aus der parteipolitischen Durchdringung der politischen Exekutive im
Sinne des »party government« ergibt: die Dauer der Amtszeit von Ministern, ganz besonders die Verweildauer innerhalb eines bestimmten Ressorts. Je länger diese, so größer ist – unter sonst gleichen Bedingungen –
die Wahrscheinlichkeit, dass sich tatsächlich »party government« (anstelle
von »administrative government«) einstellt (Rose 1968). Im internationalen
Vergleich sind die Amtszeiten deutscher Bundesminister lang; vor allem
der Anteil an Ministern mit langjährigen Karrieren innerhalb eines bestimmten Ressorts ist in der Bundesrepublik überdurchschnittlich hoch
182
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
(Bakema 1991: 75, 90). Da deutsche Bundesminister zudem in der Regel
schon zum Zeitpunkt ihrer Ernennung ein beträchtliches Maß an Expertise
in dem betreffenden Politikfeld vorzuweisen haben – eine Eigenschaft, die
im internationalen Vergleich keineswegs selbstverständlich ist, ja nicht
einmal überall als normatives Ziel Geltung beansprucht (Laver/Shepsle
1994) – lässt sich insgesamt von einer stark ausgeprägten Professionalisierung der politischen Exekutivelite in der Bundesrepublik sprechen, der ein
vergleichsweise hohes Steuerungspotential gegenüber der administrativen
Exekutive entspricht.
Ein auf weitere Strukturmerkmale der Verwaltung ausgedehnter Vergleich lässt innerhalb Westeuropas Frankreich und Großbritannien als die
großen Alternativmodelle erkennbar werden (Heywood/Wright 1997: 79–
86). In mancher Hinsicht, so etwa bezüglich der Abhängigkeit der Zentralregierung von sub-zentralstaatlichen Ausführungsbehörden, ist Deutschland Großbritannien ähnlicher als Frankreich, Italien oder Spanien. Mit
Blick auf speziellere Strukturmerkmale der Ministerialverwaltung teilt die
Bundesrepublik hingegen mehr mit den kontinentaleuropäischen Ländern
als mit Großbritannien, so etwa hinsichtlich des verwirklichten Hierarchiegrades in den Ministerien. Kaum eines der übrigen westeuropäischen Länder weist einen vergleichbar hohen Hierarchisierungsgrad innerhalb von
Ministerien auf wie das britische Modell (ebd.: 84–85). Mitverantwortlich
für die hohe Autorität und ausgeprägte Fähigkeit britischer »permanent
secretaries« in den Ministerien, wirkungsvolle interne Konfliktschlichtung
»von oben« zu betreiben, ist dabei nicht zuletzt ihre langjährige Diensterfahrung unter Ministern unterschiedlicher parteipolitischer Couleur. Ungeachtet der ausgeprägten Strukturunterschiede zwischen den administrativen
Exekutiven der liberalen Demokratien gibt es, wie jüngere Studien zeigen,
jedoch auch gemeinsame Entwicklungstrends. Dazu gehört vor allem die
insgesamt gestiegene Kontrolle der politischen Exekutive gegenüber der
Verwaltungselite (Page/Wright 1999). Ein entsprechender Trend ist mittlerweile selbst in Großbritannien (Wilson/Barker 2003) und in Japan
(Mulgan 2003: 89) unverkennbar.
DIE EXEKUTIVE
183
7.3 Die konstitutionelle Exekutive: Monarchen
und Präsidenten
Wie zahlreiche andere institutionelle Elemente der liberalen Demokratie in
Westeuropa entstand auch das Konzept eines institutionell ausdifferenzierten Staatsoberhaupts in Großbritannien. Dort bildete sich im frühen
18. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen parlamentarischer Regierung
und Staatsoberhaupt heraus. Die späteren Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent knüpften – auf der Grundlage teils fragwürdiger Interpretationen der englischen Verfassungswirklichkeit und von dem Bestreben geleitet, die konkrete Ausgestaltung des Amtes des Staatsoberhauptes
den landesspezifischen Bedürfnissen anzupassen – an das englische Vorbild an.
Aus der Gruppe der konsolidierten liberalen Demokratien ist die
Schweiz das einzige Land, das auf ein institutionell ausdifferenziertes
Staatsoberhaupt verzichtet. Nach der Schweizer Bundesverfassung, und so
auch in der Verfassungspraxis, ist der für die Dauer eines Jahres bestellte
Bundespräsident lediglich Sprecher des vollständig kollegial ausgestalteten
Bundesrates und ausdrücklich weder Regierungschef noch Staatsoberhaupt
(Altermatt 1992). Die grundsätzliche Frage, ob neben einer demokratisch
legitimierten Regierung zusätzlich ein Staatsoberhaupt erforderlich sei,
wurde nur in wenigen europäischen Ländern ernsthaft gestellt. Auch in der
jüngeren deutschen Geschichte wurde der Verzicht auf ein Staatsoberhaupt stets nur von politisch unbedeutenden Minderheiten angeregt bzw.
gefordert – während der Beratungen der Weimarer Nationalversammlung
von Vertretern der USPD, nach 1945 von der in der Schweiz gegründeten
»Arbeitsgemeinschaft ›Das demokratische Deutschland‹« (Morsey 1999:
47).
Das Amt eines funktionell von der Regierung unterschiedenen Präsidenten wurde in Europa zuerst 1875 im Rahmen der III. Republik Frankreich verwirklicht.146 Das französische Modell einer parlamentarischen
——————
146 Der für Europa charakteristische Entwicklungspfad steht in auffallendem Gegensatz zu den historischen Entwicklungen in Amerika. Dort wurde das ältere englische Modell der Tudor-Monarchie, in dem es noch keine institutionell ausdifferenzierte Unterscheidung zwischen Regierung und Staatsoberhaupt gab, zum maßgeblichen Referenzkonzept. Dies zeigte sich zunächst an den verfassungspolitischen Entwicklungen in den Kolonien, später auch bei der Ausgestaltung des Präsidentenamtes in der Verfassung von 1787. Damit behielten die Amerikaner einer-
184
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Republik wurde in der Folgezeit zu einer fruchtbaren Quelle »konstitutionellen Plagiats« (Lane 1996: 68) für all jene Länder, die sich gegen die englische Variante einer parlamentarischen Monarchie entschieden. Dem französischen Modell lag die Vorstellung des Monarchen als »pouvoir neutre«
zugrunde, welche – vermeintlich – dem britischen Modell entlehnt war.
Die Kernkompetenz einer monarchischen »pouvoir neutre«, wie auch eines
republikanischen Staatsoberhaupts dieser Prägung, wurde von der französischen Staatslehre jener Zeit im Recht der Parlamentsauflösung gesehen –
eine Prärogative, über die das britische Staatsoberhaupt bereits ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts faktisch nicht mehr verfügte. Die III. Republik Frankreich verkörpert bis heute das klassische Beispiel einer Verfassungskonstruktion mit vollständig unkonditioniertem Auflösungsrecht des
Staatsoberhaupts. Hinter ihr blieb selbst die Weimarer Variante zurück. In
keiner der gegenwärtigen westeuropäischen Demokratien – mit Ausnahme
der V. Republik Frankreich – existiert ein vergleichbar weitreichendes
Auflösungsrecht des Staatsoberhaupts wie in der französischen Verfassung
von 1875.147 In Finnland als dem einzigen anderen westeuropäischen System, in dem es lange Zeit eine orleanistische Konstruktion des Staatsoberhaupts gab, die in der Verfassungspraxis zeitweilig zu einem Regime des
»aufgeklärten Despotismus« (Arter 1981) gedieh, wurde die Macht des
Präsidenten durch eine Verfassungsreform im Jahre 2000 deutlich reduziert
(Nousiainen 2001). In dieselbe Richtung wie die finnische Reform zielten
entsprechende Verfassungsänderungen in Portugal und Griechenland in
den achtziger Jahren, durch die die zunächst starke Stellung des Staatsoberhaupts deutlich geschwächt wurde. Im Vergleich mit einigen anderen
Ländern kann schon die in der Bundesrepublik verwirklichte alleinige
Auflösungsbefugnis des Bundespräsidenten nach gescheiterter Kanzlerwahl (Art. 63, 4 GG) als bemerkenswert gelten (Kaltefleiter 1991) – eine
Option, die in der Verfassungspraxis freilich bislang nicht virulent geworden ist.148
——————
seits das traditionelle Konzept der geschlossenen Exekutive bei, demokratisierten
es jedoch zugleich und generierten dadurch das bis dahin unbekannte Modell der
singulären republikanischen Exekutive (Lehmbruch 1999a).
147 Vgl. zum Gesamtkomplex der Parlamentsauflösung auf aktueller und breiter
international vergleichender Basis Patzelt (2006).
148 Die ohnehin stärker eingeschränkte Entscheidungsgewalt des Bundespräsidenten
bei der Bundestagsauflösung gemäß Art. 68, 1 GG – von der nach negativ beantworteter Vertrauensfrage des Bundestages nur »auf Vorschlag des Bundeskanzlers«
Gebrauch gemacht werden kann – hat sich durch die jüngere Verfassungspraxis
DIE EXEKUTIVE
185
Im Hinblick auf die Rolle des Staatsoberhaupts im politischen System –
oder präziser: im politischen Entscheidungsprozess – kommt dem Strukturunterschied zwischen parlamentarischer Monarchie und parlamentarischer Republik eine zentrale Orientierungsfunktion zu. Für einen kompetenzstarken Monarchen ist in der konsolidierten parlamentarischen Demokratie kaum Platz. Ausnahmen – insbesondere Luxemburg und bis zum
Ende des Zweiten Weltkrieges Belgien – bestätigen die Regel (Lehmbruch
1999a: 122). Situativ und zeitlich begrenzt gelangten monarchische Staatsoberhäupter auch in anderen Ländern zu bemerkenswertem Einfluss auf
die Geschicke des betreffenden Landes, so exemplarisch im Falle König
Juan Carlos’ während der spanischen »transición« (Bernecker 1998). Unter
sonst gleichen Bedingungen gilt jedoch, dass es, von der erwähnten Ausnahme Luxemburgs abgesehen, kein monarchisches Staatsoberhaupt gibt,
das kompetenzstärker wäre als eines der in Westeuropa ansässigen republikanischen Staatsoberhäupter. Erst recht keine »Konkurrenz« droht den
republikanischen Staatsoberhäuptern Westeuropas vom politisch vollständig neutralisierten japanischen Kaiser. Ebenfalls schwach blieb die Rolle
des kanadischen Generalgouverneurs als dem ernannten Stellvertreter der
englischen Königin. Eine echte Ausnahme unter den Ländern mit nichtgewähltem Staatsoberhaupt bildet Australien. Der australische Generalgouverneur, der (wie sein kanadisches Pendant) ebenfalls als Stellvertreter
der britischen Krone fungiert, verfügt über so weitreichende verfassungsrechtliche Kompetenzen und politische Handlungsspielräume, dass einige
Beobachter den Sinn der offiziellen Klassifikation Australiens als parlamentarische Monarchie in Frage gezogen und stattdessen von einem »governor-generalate« gesprochen haben (Nelson 2000: 132). In krassem Gegensatz zu der Situation im britischen Mutterland kann der australische
Generalgouverneur noch immer einen Premierminister entlassen, selbst
wenn dieser über eine Mehrheit in der ersten Kammer des Parlaments
verfügt (ebd.: 121).
Für die Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers, ein kompetenzstarkes republikanisches Staatsoberhaupt zu schaffen wird aus vergleichender
——————
weiter reduziert. Nach den Vorkommnissen aus dem Sommer 2005, als es nach einer »unechten Vertrauensfrage« Kanzler Schröders am 1. Juli 2005 schließlich zur
Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Köhler am 21. Juli 2005 und
ein bestätigendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. August 2005 kam,
hat sich der faktische Spielraum des Bundespräsidenten in vergleichbaren künftigen Situationen verringert (Schenke 2006: 47–48; Schneider 2006a: 135–136).
186
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Perspektive eine zentrale Variable erkennbar: die Struktur des Parteiensystems bzw. die Wahrnehmung desselben als potentielle Gefahr für die Regierbarkeit des Landes (Lehmbruch 1999a: 123). Verstärkend hinzutreten
kann der historisch bedingte Wunsch, einer befürchteten Desintegration
des Landes durch eine starke personalisierte Autorität ein institutionelles
Hemmnis entgegenzusetzen. Im Kreise der westeuropäischen Demokratien verkörpert Frankreich das »Paradebeispiel« für das effektive Zusammenwirken dieser beiden Faktoren. Ähnliche institutionelle Antworten wie
bei der Begründung der V. Republik wurden im Rahmen der Verfassungsgebungsprozesse in zahlreichen der hier nicht weiter berücksichtigten jungen Demokratien Osteuropas gegeben (Elgie 1999).
Die Struktur des Parteiensystems bildet jedoch eine wichtige Variable
nicht nur im Hinblick auf die Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen
Kompetenzprofils von Staatsoberhäuptern; sie bestimmt auch den Einfluss
eines Staatsoberhaupts in der Verfassungspraxis mit. Gutes Anschauungsmaterial liefern die italienischen Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts.
Dort kam es zu einer vorübergehenden Aufwertung des Präsidenten, für
die maßgeblich Umwälzungen auf der Ebene des Parteiensystems verantwortlich waren (Pasquino 2003). Nicht lediglich vorübergehender Natur
war der Wandel der Rolle des Staatsoberhaupts in Finnland. Hier führte
das Anwachsen des Koalitionsbildungspotentials der Parteien und die
Herausbildung klarer Regierungsmehrheiten (schon vor der Verfassungsreform) zur Verdrängung eines stark auf den Präsidenten zugeschnittenen
Modells durch ein majoritär geprägtes System der Parteienregierung
(Paloheimo 2003). In allen Ländern kommt darüber hinaus der Persönlichkeit des Amtsinhabers eine wichtige Rolle zu. Ihr Einfluss wird vor allem
greifbar, wenn das Handeln unterschiedlicher Amtsinhaber in politischinstitutionell stabilen Kontexten studiert werden kann, wie dies weitgehend
für die Bundesrepublik gilt.
In kaum einem anderen Bereich wird der Charakter des Grundgesetzes
als eines ausdrücklichen Gegenentwurfs zur Weimarer Reichsverfassung so
deutlich wie bei der Ausgestaltung des Präsidentenamtes.149 Unabhängig
von den veränderbaren personellen Konstellationen machen die verfassungsrechtlichen Parameter präsidentieller Macht nach dem Grundgesetz
jede Form präsidentiellen Regierens im engeren Sinne unmöglich. In Ge-
——————
149 Zum tertium comparationis der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes erhoben wird die fundamental unterschiedliche Stellung des Staatsoberhauptes
in der grundlegenden Studie von Fromme (1960: 24–163).
DIE EXEKUTIVE
187
genüberstellung mit den Kompetenzen anderer gegenwärtiger Staatsoberhäupter der westlichen Länder erscheint das Kompetenzprofil des Bundespräsidenten gleichwohl nicht als vollständig bedeutungslos. In einer
vergleichenden Untersuchung von Paul Heywood und Vincent Wright
(1997: 80) wird der Bundespräsident als Staatsoberhaupt mit nicht ausschließlich »symbolischen«, sondern wichtigen »prozeduralen« Funktionen
klassifiziert.
Das Grundgesetz sieht die Wahl des Bundespräsidenten durch die
Bundesversammlung, ein Gremium aus sämtlichen Mitgliedern des Bundestages und einer gleich großen Anzahl von den Landesparlamenten gewählter Vertreter, für die Dauer von fünf Jahren vor. Möglich ist lediglich
eine einmalige Wiederwahl. Die aus der ungewöhnlichen Popularität des
ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss (FDP), geborene Idee, die zulässige Amtszeit über die maximal mögliche Dauer von zehn Jahren hinaus
zu verlängern, wurde bereits Ende der fünfziger Jahre fallen gelassen,
nachdem sich die SPD für die Aufstellung eines eigenen Kandidaten für
die Bundespräsidentenwahl 1959 entschieden hatte. Auch eine Amtszeit
von zehn Jahren wurde nur von drei der acht bis 2004 ausgeschiedenen
Präsidenten (Heuss, Lübke und von Weizsäcker) erreicht.
Im Gegensatz zum Weimarer Reichspräsidenten besitzt der Bundespräsident bekanntlich keine speziellen Notstandsbefugnisse. Anders als die
meisten Staatsoberhäupter der gegenwärtigen Demokratien verfügt er auch
nicht über den militärischen Oberbefehl. Bemerkenswert ist dies insbesondere im Rahmen eines Vergleichs der Kompetenzen republikanischer
Staatsoberhäupter. Aus der Gruppe der parlamentarischen Republiken
Westeuropas verwehrt außer der Bundesrepublik nur Irland dem Präsidenten den militärischen Oberbefehl. Weitere Beschränkungen des Amtes
ergeben sich aus der »institutionelle(n) Einmauerung des Bundespräsidenten« (von Beyme 1999b: 24), zu der auch Einrichtungen wie das Bundesverfassungsgericht gehören. In Abkehr vom Weimarer Modell verkörpert
nunmehr dieses, nicht mehr der Präsident, die »pouvoir neutre« im deutschen Regierungssystem.
Das größte politische Potential erwächst dem Präsidenten aus seinen
verfassungsrechtlichen Kompetenzen bei der Regierungsbildung (Nominierung und Ernennung eines vom Bundestag gewählten Kandidaten für
das Amt des Bundeskanzlers sowie die Ernennung von Bundesministern),
des – freilich mehrfach konditionierten – Rechts zur Parlamentsauflösung
188
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sowie des formalen und (in begrenztem Maße) materiellen Prüfungsrechts
in der Bundesgesetzgebung.
Mindestens zwei historisch-politische Faktoren sind dafür verantwortlich, dass die bisherigen Bundespräsidenten ihre ohnehin mäßigen Amtsbefugnisse in aller Regel nicht einmal voll ausschöpften. Von Bedeutung war
zunächst, dass der erste Amtsinhaber, Theodor Heuss, das neu geschaffene
Amt in seinen Möglichkeiten machtpolitisch eher defensiv interpretierte
und damit – gleichsam spiegelbildlich zur umgekehrten Ausdeutung des
Handlungsspielraums des Kanzlers durch Konrad Adenauer – die grundsätzlichen Parameter des Amtes für alle seine Nachfolger festlegte und
überdies eine persönliche Vorbildrolle schuf (Wengst 1999). Zweitens
spielte eine Rolle, dass die stabilen und im Allgemeinen durch klare Mehrheitsverhältnisse geprägten politischen Konstellationen der deutschen
Nachkriegsgeschichte insgesamt wenig Gelegenheit boten, um die verfassungsrechtlich bestehenden Handlungsoptionen des Präsidenten voll zur
Entfaltung zu bringen. Dies gilt besonders für die Nominierung des vom
Bundestag zu wählenden Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers
(Rudzio 2000: 57–58).
Die insgesamt bescheidenen Möglichkeiten des Amtes prägten auch die
Präsidentschaft des 2004 gewählten neunten Amtsinhabers, Horst Köhler,
der sich in den Augen vieler Beobachter rasch den Status eines »ungewöhnlich politischen« Präsidenten erwarb. Gerade die Episode des doppelten präsidentiellen Vetos gegen zwei Gesetze der großen Koalition (das
Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung und das Verbraucherinformationsgesetz) schien zu lehren, dass ein betont offensiver Einsatz institutioneller Kompetenzen kaum (oder möglicherweise gar invers) mit dem politischen Einfluss und Ansehen des Präsidenten korreliert.
Eine breitere Zusammenschau der Erfahrungen präsidentieller Amtsführung während der vergangenen Jahrzehnte (vgl. Helms 2005a: 166–168)
gestattet die Formulierung einer Reihe allgemeinerer Bewertungen: Vor
allem die populäre These einer gleichsam »natürlich konflikthaften« Beziehung zwischen Amtsinhabern unterschiedlicher Parteizugehörigkeit – welche durch den beträchtlichen Ehrgeiz der Parteien, bei der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung ihren Kandidaten durchzusetzen (Helms 1998: 54–59; Oppelland 2001), scheinbar genährt wird –
erweist sich bei genauerer Betrachtung als kaum haltbar. Blickt man auf die
Präsidentschaften Lübkes und von Weizsäckers, scheint sich eher die gegenteilige These aufzudrängen, nach der sich Präsidenten aus den Reihen
DIE EXEKUTIVE
189
der Regierungsparteien um so freier fühlen, die Regierung vorbehaltlos zu
kritisieren und zu attackieren, da ihnen nicht der Vorwurf droht, sich damit
aus parteipolitischen Motiven heraus zum willfährigen »Handlanger« der
parlamentarischen Opposition zu machen. Selbst der weniger eindeutige
Fall der Präsidentschaft Horst Köhlers böte Belege zur Stützung dieser
These.
Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Kanzler und Bundespräsident zu
Zeiten unterschiedlicher parteipolitischer Kontrolle beider Ämter von
»divided government« oder »cohabitation« zu sprechen, erschiene vor allem
angesichts des strukturellen Machtungleichgewichts beider Akteure wenig
angemessen. Tatsächlich wurden die Bezeichnungen »divided government«
und »cohabitation« in der Literatur über die Bundesrepublik eher auf das
Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat bezogen (Kimmel 1998;
Sturm 2001). Auch in vielen anderen Ländern, in denen angesichts ansehnlicher präsidentieller Machtbefugnisse von geteilter Macht zwischen Regierung und Staatsoberhaupt gesprochen werden könnte, blieb die tatsächliche Rolle des Präsidenten in der Verfassungspraxis auffallend bescheiden.
Einen exemplarischen Fall verköpert Österreich (Müller 2006).
Ob aus diesen Beobachtungen gefolgert werden kann, dass das Amt
des Staatsoberhaupts zu jenen institutionellen Einrichtungen konsolidierter
liberaler Demokratien gehört, denen im Hinblick auf ihre Rolle im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess ein »stilles Ende« bevorsteht, erscheint fraglich. Zum einen gilt, dass das Veränderungspotential
vor allem des Parteiensystems selbst in konsolidierten Demokratien so
beträchtlich bleibt, dass mit einer Revitalisierung der »Reservefunktionen«
des Staatsoberhaupts stets zu rechnen ist. Vorbehalte gegenüber einer
möglicherweise voreiligen Verabschiedung der Vorstellung eines mehr als
lediglich symbolisch handelnden Staatsoberhaupts werden von nüchternen
Beobachtern selbst in Großbritannien geltend gemacht (Brazier 1999: 35–
44) – in jenem Land, in dem das Staatsoberhaupt seitens der Verfassungslehre historisch als erstes zu einem »dignified part of the constitution«
erklärt wurde.
Hinzu kommt ein anderer Aspekt, auf den Roland Czada nachdrücklich
hingewiesen hat: Auch wenn es in der Mehrzahl parlamentarischer Demokratien bei einer überwiegend symbolischen Funktion von Staatsoberhäuptern bleiben sollte, mag daraus – im Kontext anderer, internationaler
Entwicklungen betrachtet – möglicherweise gar ein faktischer Bedeutungsgewinn der konstitutionellen Exekutive innerhalb von Gemeinwesen er-
190
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
wachsen. Staatsoberhäupter könnten zu »Relikt(en) nationaler Staatlichkeit
in einer von Transnationalität und Europäischer Integration geprägten
Umwelt« werden und »zumindest eine Empfindung historischer Kontinuität vermitteln« (Czada 1999: 141), die im Dienste identitätsstiftender Funktionen steht. Vor allem für die republikanischen Staatsoberhäupter der
parlamentarischen Demokratien könnte überdies gelten, dass sie einen
faktischen Bedeutungszuwachs auch angesichts der Kombination von
tagespolitischer Abgehobenheit ihres Amtes und der gestiegenen gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gegenüber telegenen Auftritten politischer
Amtsinhaber in den entwickelten Demokratien erfahren (Jäger 1994: 182–
183).
7.4 Konklusion
Die Demokratisierung der Exekutive bildete historisch das eigentliche
Herzstück bei der Erschaffung des demokratischen Verfassungsstaates.
Deutschland gehört zu jenen Ländern aus der Gruppe der heute konsolidierten liberalen Demokratien, in denen die politische Exekutive als Institution lange außerhalb des demokratischen Kräftefelds verblieb. Auch die
historische Entstehung des Amtes des Regierungschefs wies auffallende
Unterschiede zu den Entwicklungen in den meisten anderen Ländern auf.
Lange bevor sich »echte« Minister und ein kollegiales Entscheidungsgremium herausbilden konnten, etablierte sich der Reichskanzler als eigentlicher politischer Kopf der Exekutive (wenn auch lediglich vorübergehend
und ohne hinreichende institutionelle Absicherung gegenüber den Regierungsfunktionen des Kaisers). Erst ab 1918 wurde eine Demokratisierung
der Exekutive konsequent angestrebt und institutionell verwirklicht. Der
dabei gefundenen Konstruktion eines direkt gewählten Präsidenten als
Staatsoberhaupt eines parlamentarischen Systems wuchs sogar beträchtlicher internationaler Einfluss zu (Loewenberg 1997: 2–3). Weit davon entfernt, einen wie auch immer gearteten Vorbildcharakter zu entfalten, blieb
die Position des Reichskanzlers im Weimarer System, wenngleich für die
»Dauerschwäche« des Kanzlers nur zum Teil verfassungsrechtliche Regeln,
stattdessen primär politische Gründe wie insbesondere die brüchige parlamentarische Basis der meisten Regierungen und das ausufernde Netzwerk
DIE EXEKUTIVE
191
informaler Regeln der Koalitionsregierung (Haungs 1968: 161–174) verantwortlich waren.
Umso mehr Respekt wurde im Ausland der Exekutiv-Konstruktion des
Parlamentarischen Rates, vor allem der Institutionalisierung eines handlungsmächtigen Regierungschefs zuteil. Auch für die gegenüber Weimar
signifikant erhöhte Durchsetzungsfähigkeit des Kanzlers waren freilich vor
allem politische Faktoren wie die signifikant gesteigerte Regierungswilligkeit und -fähigkeit der Parteien ausschlaggebend. Der erste Kanzler und
Präsident der Bundesrepublik taten ein Übriges, um die bewusst asymmetrisch konstruierte »doppelköpfige Exekutive« im Sinne des Parlamentarischen Rates zum politischen Leben zu erwecken. Spätere Entwicklungen
vermochten die grundlegende Machtkonfiguration in ihrem Bestand nicht
zu gefährden. Selbst das Auftreten starker Präsidenten wie Richard von
Weizsäcker ging kaum mit einer Schwächung der politischen Position des
Kanzlers einher. In der Tat wurde gerade mit Blick auf das Zusammenspiel
zwischen Präsident und Kanzler in der Ära Weizsäcker/Kohl die These
formuliert, dass der Präsident, indem er öffentlichen Verdruss über die
Regierungspolitik gleichsam »absorbiert« habe, indirekt zur Stabilisierung
der Position Kohls beigetragen habe (Leicht 1993).
Zu den weiteren Kennzeichen der Bundesrepublik gehört das im historischen und internationalen Vergleich hohe Maß an Regierungsstabilität.
Das gilt nicht nur für die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung, sondern auch für die personelle Struktur der politischen Exekutive.
Im Vergleich mit den Regierungschefs und den Ministern anderer konsolidierter liberaler Demokratien erreichten deutsche Bundeskanzler und Bundesminister deutlich überdurchschnittlich lange Amtszeiten. Zu den wichtigsten Systemeffekten der ausgeprägten personellen Kontinuität auf der
politischen Leitungsebene von Ministerien zählt ein ansehnliches parteipolitisches Steuerungspotential von Ministern gegenüber der Ministerialbürokratie, welches freilich zusätzlich durch die Existenz politischer Beamter
und die starke informale Parteipolitisierung der administrativen Exekutive
strukturell begünstigt wird.
Davon abgesehen teilt die Bundesrepublik viele der durchschnittlichen
Merkmale der anderen konsolidierten parlamentarischen Demokratien,
darunter insbesondere die Vorherrschaft von Koalitionsregierungen mit
parlamentarischem Mehrheitsstatus. Der Informalisierungsgrad im Rahmen von Koalitionsregierungen, aber auch der Institutionalisierungsgrad
des Informalen, ist in der Bundesrepublik überdurchschnittlich ausgeprägt.
192
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Dies mag in der politischen Kultur der Bundesrepublik begründet sein,
sagt aber zugleich etwas über die strategisch günstige Positionierung und
ansehnliche Macht der kleineren Parteien als den eigentlichen Nutznießern
etablierter informaler Entscheidungsstrukturen im Exekutivbereich.
Die weitreichende Informalisierung der Regierungsorganisation und des
Regierungsprozesses, welche potentiell (wenn auch keineswegs zwingend)
zu Lasten der politisch-institutionellen Vormachtstellung des Kanzlers
geht, hat die jüngere Forschung nicht daran gehindert, Deutschland als
eines jener Länder mit ausgeprägter Neigung zur »Präsidentialisierung«
politischer Führung zu charakterisieren (Lütjen/Walter 2000; Poguntke
2005). Die empirische Evidenz zur Untermauerung entsprechender Thesen
bleibt freilich bescheiden. Die Mehrzahl einschlägiger Studien, auch über
andere parlamentarische Demokratien innerhalb und außerhalb Europas,
krankt nicht zuletzt an einer angreifbaren Operationalisierung, bei der
Indikatoren der »Präsidentialisierung« zugrunde gelegt werden, die zum
Teil schon für das Ursprungsland des Präsidentialismus, die Vereinigten
Staaten, als kaum zutreffend erscheinen (Helms 2005b). Die internationale
Konvergenz zwischen den konkurrierenden Modellen parlamentarischer
und präsidentieller Regierung bleibt begrenzt; ihr Studium kann gleichwohl
viel zum Verständnis unterschiedlicher institutioneller Lösungen und ihrer
Funktionsbedingungen in unterschiedlichen politischen und politisch-kulturellen Kontexten beitragen.
8 Der Bundesstaat:
Die Institutionalisierung des
territorialen Pluralismus
Anders als die in den bisherigen Kapiteln behandelten Institutionen zählen
föderative Institutionen nicht zu den im engeren Sinne konstitutiven
Strukturmerkmalen der liberalen Demokratie, ohne die der demokratische
Verfassungsstaat im Kern unvollständig bliebe. Bei ihnen handelt es sich
lediglich um eine spezifische Manifestation der vertikalen Gewaltenteilung,
die grundsätzlich auch andere Formen annehmen kann, sofern nicht ganz
auf eine Ergänzung der grundlegenden horizontalen Gewaltenteilungsmechanismen verzichtet wird. In Ländern, in denen es föderative Strukturen
gibt, entwickeln diese jedoch regelmäßig einen außerordentlich großen
Einfluss – sowohl auf den politischen Prozess und andere politische Institutionen des Systems als auch auf die politisch-materielle Dimension von
Politik (Braun 2000; Wachendorfer-Schmidt 2000; Castles/Obinger/
Leibfried 2005).
Bundesstaat und Föderalismus werden heute weitgehend als Synonyme
verwandt. Der ursprüngliche Bedeutungsgehalt des Wortes »Föderalismus«
war breiter und nahm unter anderem Bezug auf Autonomie und Selbstbestimmung kleinerer Einheiten oder besaß, wie bei Kant, starke Anklänge
von Internationalismus bzw. Kosmopolitismus. Nicht zuletzt unter dem
Eindruck der amerikanischen Entwicklungen konzentrierte sich der Begriff
»Föderalismus« seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die innerstaatliche, bundesstaatliche Bedeutung (Maier 1990: 213–214). Es macht
gleichwohl bis heute Sinn, begrifflich zwischen Föderalismus einerseits und
Bundesstaat bzw. Bundesstaatlichkeit andererseits zu differenzieren
(Frenkel 1984: 94). Meint der erste Begriff (»Föderalismus«) eine im Kern
pluralistische »Ideologie« (Smith 1987) bzw. ein pluralistisch geprägtes
Organisationsprinzip zur Strukturierung des politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozesses, so bezeichnet der zweite (»Bundesstaat«) eine
institutionelle Ausprägung dieses Prinzips auf verfassungsrechtlicher bzw.
staatsorganisatorischer Ebene. Da es unterschiedliche historische Wege der
194
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Institutionalisierung föderaler Ordnungen gibt – darunter auch die stark
von außen beeinflusste Föderalisierung eines Gemeinwesens –, müssen die
institutionellen Manifestationen des Föderalismus und das auf gesellschaftlicher bzw. politisch-kultureller Ebene angesiedelte Föderalismusverständnis einander nicht vollständig entsprechen. Unabhängig davon besitzt
letzteres einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Struktur der
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb eines föderalen
Systems; dieser tritt vor allem im Rahmen historischer Evolutionsprozesse
der föderativen Ordnung selbst zutage. Dabei wird seit Heinrich Triepel
(1907) zwischen »Föderalismus« und »Unitarismus« als den beiden entgegengesetzten Triebkräften unterschieden, die das innere und äußere Erscheinungsbild eines Bundesstaates prägen.
Weiterer Differenzierungsbedarf besteht bezüglich der institutionellen
Manifestationen von Föderalismus auf der staatsrechtlichen Ebene. Er
kann unterschiedliche föderal geprägte Typen der Staatsorganisation hervorbringen, vom Staatenbund, über den konföderalen und unitarischen
Bundesstaat bis zum dezentralen Einheitsstaat (Schultze 1992: 96). Als die
nach verbreitetem Verständnis »eigentliche« institutionelle Manifestation
des Föderalismus kann jedoch der Bundesstaat gelten. Weber (1980: 28)
spricht in diesem Zusammenhang vom »Bundesstaat als der staatsrechtlichen Konkretisierung des Föderalismus«. Nur für bundesstaatliche Ordnungen sind eine Aufteilung der Staatsfunktionen zwischen Bund und
Gliedstaaten und eine institutionalisierte Mitwirkung der Gliedstaaten an
der Politik des Bundes im Rahmen eines völkerrechtlich souveränen Gesamtstaates konstitutiv.150
——————
150 Aus einer solchen Definition ergeben sich wichtige Abgrenzungsmerkmale
bundesstaatlicher Ordnungen gegenüber nicht-föderativen Systemen, in denen es
lediglich Regionalisierung oder Dezentralisierung gibt (Oberreuter 1986: 633). Einige Autoren begreifen Dezentralisierung gar explizit als »Antithese zum Föderalismus« (Fassa 1996: 102), da Dezentralisierung die Existenz eines starken, unilateral handlungsfähigen Zentrums voraussetze. In diesen Systemen fehlt, was Renate
Mayntz (1990b: 235) als »interdependente Gleichzeitigkeit einer zentralen und regionalen Entscheidungsebene« bezeichnet hat. – Mit Blick auf die Kritik prominenter Vertreter der jüngeren politikwissenschaftlichen Föderalismusforschung,
die – zu Recht – auf die Unterkomplexität eines solchen ausschließlich strukturorientierten Merkmalskatalogs zur Beschreibung föderativer Ordnungen hinweisen
(Benz 2002: 16), sei festgehalten, dass hier keineswegs davon ausgegangen wird,
damit den dynamischen Charakter föderativer Systeme in der Verfassungspraxis
einfangen zu können. Es geht lediglich um eine strukturorientierte Minimaldefinition zum Zwecke der Fallauswahl, die im Weiteren zu differenzieren ist.
DER BUNDESSTAAT
195
Nur solche Länder aus der Gruppe der konsolidierten liberalen Demokratien, die jedenfalls der Tendenz nach in diese Kategorie fallen, sind
Gegenstand dieses Kapitels. Berücksichtigt werden somit, neben der Bundesrepublik, die Regierungssysteme der USA, Kanadas, Australiens, Österreichs, der Schweiz, Belgiens und Spaniens. Dabei gilt gerade Spanien zu
Recht als Grenzfall eines »echten« bundesstaatlichen Systems.151 Der Vorteil eines breiten Ländersamples wird hier jedoch höher bewertet als die
begründeten Vorbehalte gegenüber einer Klassifikation Spaniens als Bundesstaat.
Die beiden nächsten Abschnitte sind den Entstehungsmustern föderativer Ordnungen und deren grundlegenden institutionellen Rahmenbedingungen gewidmet. Im Zentrum der darauffolgenden Abschnitte steht die
speziellere Analyse der föderativen Institutionen selbst.
8.1 Die unterschiedlichen Entstehungsmuster
föderativer Systeme
Der Bundesstaat ist historisch bedeutend jünger als andere Formen föderaler Strukturbildung. Von den föderalen Gebilden der frühen Neuzeit sind
insbesondere die Vereinigten Niederlande (1579–1795), die Schweizerische
Eidgenossenschaft (1803–1848) und der Zusammenschluss der amerikanischen Kolonien (1778–1787) zu nennen. Bei ihnen allen handelte es sich
um »Staatenbünde«. Der Bundesstaat – manche angelsächsischen Autoren
sprechen statt von »federation« von »centralized federalism« – entstand auf
dem Philadelphia Convent, im Zuge der Ausarbeitung der amerikanischen
Bundesverfassung von 1787. Soziale und ökonomische Interessen der
relevanten Akteure mögen für die Schaffung des amerikanischen Bundesstaates und seinen mehr oder minder getreuen Nachbildungen in anderen Ländern eine Rolle gespielt haben. Zweifelsohne ebenfalls von Bedeutung waren die sozialen Voraussetzungen und Einflussfaktoren, von
der grundsätzlichen Bereitschaft zum politisch-gesellschaftlichen Kompromiss bis zu der Hoffnung auf erweiterte Kommunikationsmöglichkei-
——————
151 Gegen eine eindeutige Klassifizierung Spaniens als Bundesstaat spricht die rechtlich nicht vollständig garantierte Mitwirkung der Gliedstaaten bzw. der Autonomen Gemeinschaften an der zentralstaatlichen Willensbildung (Hanf 1999: 137–
175).
196
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
ten. Als entscheidende Determinante der Entstehung föderativer Ordnungen erscheint jedoch eine signifikante innere oder äußere Bedrohung. Damit diese zur Schaffung einer föderativen Ordnung führt, ist ferner eine
regionale Machtverwurzelung von Strukturen erforderlich, die hinreichend
stark ist, um eine föderale Konstruktion (anstelle eines Einheitsstaates) zu
gebären (Riker 1975: 116). Schon die neuzeitlichen staatenbündischen
Zusammenschlüsse in der Schweiz, den Niederlanden und Amerika entstanden im Kontext besonderer außenpolitischer bzw. militärischer Herausforderungen (durch die österreichische bzw. spanische Habsburg-Dynastie bzw. durch die englische Krone). Auch die Geburt des amerikanischen Bundesstaates lässt sich bei näherer Betrachtung als ein Prozess
deuten, dessen maßgebliche Impulse dem Bestreben entsprangen, für den
Fall eines neuerlichen militärischen Konflikts mit England die Widerstandsfähigkeit der Amerikaner bzw. von deren Gemeinwesen zu erhöhen.
Wie William Riker gezeigt hat, lassen sich entsprechende Motivlagen, in
freilich unterschiedlich intensiver Ausprägung, auch im Kontext der Entstehung zahlreicher anderer Föderationen von Kanada bis nach Australien
nachweisen (ebd.: 117–121).
Aus dieser Perspektive erscheint die Gründung des Norddeutschen
Bundes (1867) und des Deutschen Reichs (1871) als ein abweichender Fall,
der nicht durch Bedrohung und Verteidigung, sondern durch Aggression
und Expansionsbestrebungen Preußens gekennzeichnet war. Dass es auf
dieser Basis wiederum zur Begründung eines Bundesstaates, nicht eines
Einheitsstaates, kam, war dem Umstand geschuldet, dass die zweite Bedingung für die Entstehung eines Bundesstaates (die Existenz hinreichend
starker regional verwurzelter Machtstrukturen) sogar in besonderem Maße
gegeben war. In der Tat kann, wenn es um die historischen Erfahrungen
mit dezentralisierten Formen von Staatlichkeit geht, kaum ein Land auf
eine vergleichbare Tradition zurückblicken wie Deutschland. Dabei handelte sich seit dem Mittelalter um eine spezifische Partikularisierung von
Macht und Herrschaft als Folge sehr unterschiedlicher Faktoren, zu denen
das mehrfache Aussterben von Königshäusern, das Wahlkönigtum sowie
das speziellere Problem der Überanstrengung dieses Königtums durch das
Kaisertum gehörten (Nipperdey 1986: 61). Auch spätere Entwicklungen
und Erscheinungen, noch jene des 19. Jahrhunderts, trugen – im Gegensatz zu den Ereignissen in Amerika – eher den Charakter eines »anarchischen, sich ständig negierenden als eine[s] zentripetalen, sich organisierenden Föderalismus« (Maier 1990: 221). Aus diesem Grunde gelten im histo-
DER BUNDESSTAAT
197
risch-internationalen Vergleichskontext zu Recht die USA, nicht Deutschland, als Entstehungsort nicht nur des Bundesstaates, sondern auch einer
»echten« föderalistischen Gesinnung auf der gesellschaftlichen Ebene.
Anders als bei der Geburt des Norddeutschen Bundes bzw. des
Bismarck-Reichs war für die bundesstaatlichen Neugründungen von Weimar und Bonn, neben anderen Einflüssen, ein beträchtliches Maß an empfundener Bedrohung kennzeichnend – 1919 das drohende Szenario einer
hoffnungslosen Überforderung der einzelnen regionalen Einheiten durch
die umfangreichen Reparationsforderungen der Siegermächte, nach 1945
die Drohung einer gewaltsamen Teilung des Landes durch die Alliierten
und die militärische Drohung durch die Sowjets. Zu den weiter reichenden
Erwägungen bei der Schaffung des westdeutschen Bundesstaates gehörte
ferner die Hoffnung, den Geltungsbereich des Grundgesetzes einst auf die
sowjetische Zone ausdehnen zu können (von Beyme 1968: 558).
Die jüngere politikwissenschaftliche Forschung hat andere Differenzierungen der Evolutionsgeschichte föderativer Ordnungen entwickelt. So
unterscheidet Alfred Stepan (2001: 320) »coming together federations« und
»holding together federations«. »Coming together federations« entstanden
aus dem freiwilligen Zusammenschluss autonomer Gebietseinheiten. Idealtypisch fanden sich die späteren Gliedstaaten zu einem Souveränitätsverzicht zusammen, um auf der Grundlage des daraus erwachsenden höheren
Maßes an äußerer Sicherheit ihre individuelle Identität zu erhalten. »Holding together federations« bilden demgegenüber das Ergebnis einer Parlamentsentscheidung, mit der versucht wurde, den Fortbestand eines (in aller
Regel multinationalen) Einheitsstaates durch eine Föderalisierung der
staatlichen Strukturen zu gewährleisten. Als eine dritte Kategorie identifiziert Stepan »putting together federations« – Föderationen, in denen (üblicherweise im Rahmen nicht-demokratischer Regime) die Begründung eines
Bundesstaates »von oben« betrieben wurde. Diese dritte Kategorie dient in
der jüngeren empirischen Forschung vor allem zur Klassifikation von Ländern wie der Sowjetunion.
In der deutschsprachigen Literatur trifft man zum Teil auf eigentümliche Verortungen einzelner Länder. So erscheint bei Arthur Benz (2003a:
174) nicht nur Kanada, sondern auch die Schweiz als eine »holding together federation«. Dieser Interpretation kann hier nicht gefolgt werden.152
——————
152 Bezug genommen wird bei Benz offenbar auf die Tatsache, dass in der Schweiz
und Kanada die Einzelstaaten (Kantone bzw. Provinzen) über ein hohes Maß an
Selbständigkeit und autonomer Entscheidungsmacht verfügen und im Übrigen
198
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Gemeinsam mit den USA kommt die Schweiz dem Idealtypus einer »coming together federation« sogar besonders nahe (Linder 1994: 38–40). Der
kanadische Fall ist weniger eindeutig, gehört aber insgesamt ebenfalls in die
Kategorie der »coming together federations« (Stepan 2001: 324; Watts
2002).
Im Rahmen einer vergleichenden Klassifikation findet die Bundesrepublik ihren Platz in der Gruppe der »coming together federations« – gemeinsam mit den USA, Kanada, Australien, Österreich und der Schweiz
und im Gegensatz zu Belgien und Spanien als klassischen Fällen von »holding together federations«. Wie für Kanada und Österreich trifft eine Klassifizierung der Entstehungsbedingungen des 1949 in Westdeutschland
geschaffenen Bundesstaates als einer »coming together federation« nur mit
gewissen Einschränkungen zu. Zwar gab es nach 1945 – zusätzlich zu dem
erwähnten Bedrohungsszenario – so etwas wie eine »quasi-föderalistische
Renaissance« oder doch jedenfalls »eine Renaissance von Regionalismus
und Dezentralisierung« (Nipperdey 1986: 99), die sich vornehmlich aus der
Katastrophe des Reiches speiste, ferner aus einer prinzipielleren Abneigung
gegen Großstaaten, Massenorganisationen etc. Wenig zum klassischen
Entstehungsmuster von »coming together«-Föderationen passt hingegen
die Tatsache, dass viele der schließlich zur Bundesrepublik vereinten Länder selbst unhistorische Produkte der unmittelbaren Nachkriegszeit waren
und kaum gewachsene Identitäten zu verteidigen hatten. Am mit Abstand
wichtigsten für die deutsche Entwicklung nach 1945 wurde jedoch der
Umstand, dass es – im Gegensatz zu früheren Bundesstaatsgründungen auf
deutschem Boden – einen ausgesprochen starken Druck äußerer Kräfte
gab, im Westteil Deutschlands eine bundesstaatliche Ordnung zu errichten.
Ausschlaggebend war am Ende der Einfluss der Amerikaner, ihr konsequentes Eintreten für eine bundesstaatlich-föderalistische Lösung, welche
im Gegensatz zu den stärker einheitsstaatlich geprägten Vorstellungen der
Briten und den »konföderalen Ambitionen« der Franzosen stand. Gegen
das entschiedene Drängen der USA konnten sich diejenigen innenpolitischen Kräfte, die zunächst für die Begründung eines Einheitsstaates bzw.
eine weiter reichende Macht des Bundes eintraten, nicht durchsetzen, ob-
——————
durch hochgradig unterschiedliche »Lebensverhältnisse« gekennzeichnet sind.
Analytisch ist jedoch zwischen dem Entstehungsmodus einer Föderation einerseits
und der Kompetenz- bzw. Ressourcenverteilung und dem Grad der Unterschiedlichkeit der »Lebensverhältnisse« in den einzelnen Gliedstaaten andererseits zu
unterscheiden.
DER BUNDESSTAAT
199
wohl die Bundesstaatskonzeption des Grundgesetzes stärker gewaltenkonzentrierend war, als es die Amerikaner zunächst gefordert hatten (Spevack
1999: 64). Insgesamt spielten bei der Bundesstaatsgründung 1949 somit
zweifellos auch Effekte eines von außen betriebenen »putting together«Föderalismus hinein.
Der dominante historische Entwicklungstrend in »coming together federations« verlief in Richtung Zentralisierung. Das gilt selbst für den Prototyp des modernen Bundesstaates in den USA, wo es zu langfristigen
Zentralisierungsprozessen vor allem auf Betreiben der in überwältigender
Mehrheit ausgesprochen »bundesfreundlichen« Inhaber des Präsidentenamtes kam (Riker 1975: 109–110).153 Zu den sichtbarsten Manifestationen
der Schritt um Schritt sich vollziehenden »Institutionalisierung der Vorrangstellung des Bundes« (von Beyme 1968: 558) gehörten der Wandel der
Stellung des Wahlmännerkollegiums bei der Wahl des Präsidenten, die
durch das 17. Amendment (1912) in der Verfassung verankerte Volkswahl
der Senatoren (welche bis dahin von den Legislaturen der Einzelstaaten
gewählt wurden) und die Entwicklung der amerikanischen Finanzverfassung.
Bis zur Bundesstaatsreform 2006 verlief der langfristig dominante Entwicklungstrend des föderativen Systems in der Bundesrepublik eindeutig in
Richtung Zentralisierung. Anteil daran hatten zahlreiche Faktoren, zu denen auch der vereinheitlichende Charakter eines unitarisch geprägten Parteien- und Verbändesystems zählten (Lehmbruch 2003). Aber selbst in
einem so stark durch die Selbstbestimmungsrechte der Gliedstaaten gekennzeichneten System wie der Schweiz kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer moderaten Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen
beim Bund, vor allem in den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik
(Fagagnini 1991: 48–49). Einen Sonderfall innerhalb dieser Gruppe bildet
Kanada. Maßgeblich verantwortlich für die kanadische Entwicklung war
die Tatsache, dass sich »federation-building« und »province-building« weitgehend parallel vollzogen und sich die stärker werdende Rolle der Provinzen als Dezentralisierungstendenz innerhalb der Föderation manifestierte.
——————
153 Als wichtigste historische Ausnahme gilt Präsident James Buchanan. Seit den
achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es jedoch zu einem grundlegenderen
Wandel der Rolle des Präsidenten bei der Ausgestaltung der föderativen Ordnung,
obwohl der betont »föderalismusfreundlichen« Rhetorik der meisten jüngeren
Amtsinhaber nicht immer ein entsprechendes Handeln entsprach (Walker 1995;
Kincaid 2001).
200
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Hinzu kamen die stark dezentralisierenden Wirkungen der Rechtsprechung
durch das »Judicial Committee of the Privy Council« des Vereinigten Königreichs, insbesondere in der Phase von 1890 bis 1930, sowie die Wirkungen eines regional verwurzelten und dezentralisierten Parteien- und Verbändesystems (Watts 2002: 162–163).
8.2 Die institutionelle Einbettung der föderativen
Institutionen
Wie für alle politischen Institutionen gilt auch und gerade für die föderativen Institutionen, dass sie sinnvoll nur innerhalb ihres Kontextes vergleichend untersucht werden können. Hier geht es zunächst um deren unmittelbaren institutionellen Kontext. Die wichtigste Rahmenbedingung bezieht sich auf die Verbindung der föderativen Institutionen mit dem Typus
des Regierungssystems (Parlamentarismus versus Präsidentialismus). Anders als die beiden klassischen Föderativordnungen USA und Schweiz
gehört die Bundesrepublik gemeinsam mit allen übrigen hier berücksichtigten Ländern – Österreich, Belgien, Spanien, Australien und Kanada – zu
jenen Systemen, die die föderale Ordnung mit der parlamentarischen Regierungsweise verbinden. Gemeint ist dabei die parlamentarische Regierungsform im engeren Sinne, deren herausragendes institutionelles Merkmal das Prinzip parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung bildet
– in Abgrenzung zu einem weiteren Begriffsverständnis, das unter Parlamentarismus sämtliche Repräsentativsysteme subsumiert, in denen das
Parlament eine signifikante Rolle spielt. Aus letzterem resultiert bei Steffani
(1997: 56) die Feststellung, die Verfassung der Vereinigten Staaten von
1787 sei die erste geschriebene Verfassung gewesen, die Föderalismus und
Parlamentarismus miteinander verbunden habe. Die Verbindung des föderativen Prinzips mit dem Prinzip der parlamentarischen Regierung im engeren Sinne wurde hingegen erstmals in Kanada, im Rahmen des »British
North American Act« (»Constitution Act«) von 1867, verwirklicht.
Während die These, dass der Föderalismus mit dem Präsidentialismus
nicht vereinbar sei, eine einsame Blüte der italienischen Verfassungsreformdiskussion der neunziger Jahre blieb (Fassa 1996: 102), gilt die Verbindung zwischen Föderalismus und Parlamentarismus seit langem als
problematisch. Dabei handelt es sich keineswegs um eine spezifisch deut-
DER BUNDESSTAAT
201
sche Wahrnehmung.154 In Australien wurde das Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip des »responsible government« und dem Bundesstaatsprinzip schon Jahrzehnte vor der »Entdeckung« des Problems in der Bundesrepublik im Kontext der frühen Verfassungsdebatten zu Beginn des 20.
Jahrhunderts heftig diskutiert (Nelson 2000: 142).
Hierzulande wird die Diskussion über die Strukturkombination von
Bundesstaatsprinzip und parlamentarischer Regierung bis heute im Schatten der bahnbrechenden Studie Gerhard Lehmbruchs Parteienwettbewerb im
Bundesstaat geführt (Lehmbruch 1976, 2000b). Ausgangspunkt der Analyse
Lehmbruchs ist die Einsicht, dass der Parlamentarismus und der Föderalismus durch gegenläufige Entscheidungslogiken (einem wettbewerbsdemokratischen bzw. einem verhandlungsdemokratischen Modus) bestimmt
seien. Verantwortlich für die »partielle Diskontinuität« der politischen
Strukturen in der Bundesrepublik ist Lehmbruch zufolge die Entwicklung
des Parteiensystems. Während das föderative System der Bundesrepublik
im Wesentlichen die schon im Bismarck-Reich entwickelten Regeln der –
durch Aushandeln geprägten – Konfliktaustragung übernommen habe,
habe das Parteiensystem in Abkehr vom dominanten Modus der Parteipolitik im Bismarck-Reich und während der Weimarer Republik eine neue,
durch Polarisierung und Wettbewerb gekennzeichnete Funktionslogik
ausgebildet. Letztere Entwicklung ist freilich im Zusammenhang mit der
konsequenten Durchsetzung der parlamentarischen Regierungsform nach
1945 zu sehen. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Generalisierung, dass es sich bei der potentiellen funktionalen Unvereinbarkeit von Bundesstaatlichkeit und Parlamentarismus im Kern um ein strukturelles Spannungsverhältnis zwischen Bundesstaatlichkeit einerseits und
innerhalb parlamentarischer Systeme sozialisierter Parteien andererseits
handelt.
Aus vergleichender Perspektive ist indes nicht nur der Umstand bemerkenswert, dass in Australien grundsätzlich ähnliche Debatten geführt
wurden wie in der Bundesrepublik, sondern ebenso die Tatsache, dass die
Koexistenz beider Strukturprinzipien in einigen der parlamentarischen
Bundesstaaten offenbar nicht als besonderes Problem erlebt wird. Dies ist
kaum ausschließlich unterschiedlichen nationalen Temperamenten und
Demokratievorstellungen zuzuschreiben. Im Verdacht, einen großen Einfluss auf die Struktur des politischen Prozesses zu besitzen standen von
——————
154 Eine autoritative Analyse zur historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen
Parlamentarismus und Föderalismus in Deutschland bietet Ritter (2005).
202
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
jeher die institutionellen Konfigurationen politischer Systeme. Der jüngeren Föderalismusforschung ist es gelungen, jene institutionellen Bedingungen zu spezifizieren, von denen eine potentiell erhöhte politische »Störanfälligkeit« parlamentarischer Bundesstaaten ausgeht.
Wie Arthur Benz argumentiert, kommt es zu einer erhöhten »Störanfälligkeit« bundesstaatlich organisierter Regierungssysteme, wenn zwei Subsysteme aufeinander treffen, die durch eine »enge Kopplung« der Akteure
an die institutionelle Funktionslogik des Systems gekennzeichnet sind
(Benz 2003a: 175). Die »enge Kopplung« der Akteure im parlamentarischen Regierungssystem resultiert aus der Gewaltenverschmelzung von
Exekutive und Parlamentsmehrheit. Sie gebiert ein dauerhaft kompetitiv
geprägtes Gegenüber von Regierungs- und Oppositionsparteien. Zu einer
»engen Kopplung« kommt es in föderativen Systemen, wenn ein institutionell begründeter starker Zwang zur Einigung zwischen Vertretern des
Bundes und der Gliedstaaten gegeben ist (ebd.). In diesem Sinne verstanden ist das institutionell erzeugte Problempotential am größten in Systemen, die eine zweifache »enge Kopplung« – nämlich »eine enge Kopplung
der nicht kompatiblen Funktionslogiken des Parteienwettbewerbs und
institutionalisierter Politikverflechtung« (ebd.: 176) – aufweisen.
Daraus ergibt sich, dass bestehende Spannungszustände grundsätzlich
entweder durch Veränderungen der Struktur des föderativen Systems (ein
geringeres Maß an institutioneller Politikverflechtung155) oder aber durch
Veränderungen auf der Ebene der Parteien bzw. des Parteiensystems (ein
geringeres Maß an streng mehrheitsdemokratischer Prägung des Parteienwettbewerbs mit stark integrierten und zentralisierten Parteien) vermindert
bzw. gegebenenfalls aufgelöst werden können.156
Zentraler Gegenstand dieses Kapitels sind jedoch nicht wie in vielen
jüngeren Arbeiten der Föderalismusforschung die allgemeinen Bedingungen der Politikgestaltung in Bundesstaaten, sondern die institutionelle
Struktur des Föderalismus im engeren Sinne. Das wirft erneut die eingangs
(vgl. FN 150) bereits angerissene Frage nach sinnvollen institutionellen
——————
155 Der Begriff der »Politikverflechtung« ist untrennbar mit den Namen Fritz W.
Scharpf, Bernd Reissert und Fritz Schnabel verbunden (Scharpf/Reissert/
Schnabel 1976).
156 Was die Bundesrepublik betrifft, setzten angesichts der (vermeintlichen) institutionellen »Unreformierbarkeit« des deutschen Bundesstaates gerade einige der führenden Vertreter der Föderalismusforschung, wie Gerhard Lehmbruch (2000b:
194–199), eher auf eine Entflechtung des Parteienwettbewerbs.
DER BUNDESSTAAT
203
Beschreibungsmerkmalen und Analysekategorien föderaler Systeme auf.
Die klassische Unterscheidung in duale und kooperative Bundesstaaten
wird heute innerhalb der Politikwissenschaft zunehmend abgelehnt mit der
Begründung, dass – wenn auch in unterschiedlichem Maße – letztlich alle
föderativen Systeme durch Formen der Kooperation und Verflechtung
gekennzeichnet seien (Benz 2003a: 173; Grande 2002: 197).157 Gefordert
wird stattdessen eine Konzentration auf die spezifische Ausgestaltung des
Systems der Politikverflechtung.
Die Erfassung der jeweiligen Besonderheiten der Politikverflechtung
stellt jedoch spezielle Anforderungen an das zugrunde gelegte Analysekonzept. Andernfalls besteht die Gefahr, dass in neuen »politikverflechtungsbasierten« Typologien wiederum vor allem der Unterschied zwischen dualen und integrativen Bundesstaaten zum Tragen kommt.158 Ein theoretisch
anspruchsvolles Konzept zum vergleichenden Studium von Strukturen und
Praktiken der Politikverflechtung stammt von Edgar Grande (2002: 197–
198). Darin wird unterhalb des Oberbegriffs »Politikverflechtung« weiter
differenziert zwischen Ressourcenverflechtung und Entscheidungsverflechtung. Ressourcenverflechtung meint dabei die Verflechtung finanzieller Ressourcen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite, Entscheidungsverflechtung hingegen »das Ausmaß, in dem die verschiedenen staatlichen
Handlungsebenen interdependent sind«, wobei als Kernindikator für den
Grad der formellen Entscheidungsverflechtung die Stärke der zweiten
Kammer gilt.
Die nachfolgenden Betrachtungen schließen an dieses Konzept an,
modifizieren es jedoch ein Stück weit, um eine Reihe weiterer institutioneller Komponenten einzubeziehen. Unterschieden wird zwischen Kompetenzverflechtung, Ressourcenverflechtung und Entscheidungsverflechtung. Unter dem Stichwort Kompetenzverflechtung wird die Verteilung
——————
157 Darauf deutet auch der Umstand hin, dass die heute vor allem für sogenannte
kooperative Bundesstaaten wie die Bundesrepublik verwendete Bezeichnung des
»kooperativen Föderalismus« zuerst für die Entscheidungsprozesse im dualen
System der USA geprägt wurde (Weber 1980: 224–226).
158 So in der Typologie von Benz (2003a: 174), in der die beiden integrierten Bundesstaaten Deutschland und Schweiz als Systeme mit institutionalisierter Politikverflechtung und die beiden dualen Bundesstaaten USA und Kanada als weniger stark
institutionell verflochtene Systeme erscheinen. Hinzugefügt sei jedoch, dass die
erläuternden Ausführungen von Benz hinsichtlich ihrer Tiefenschärfe und Erklärungskraft weit über die vergleichsweise dürre Typologie hinausreichen und zahlreiche weiterführende Gedanken enthalten.
204
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
und Verflechtung von legislativen und administrativen Kompetenzen zwischen Bund und Gliedstaaten behandelt. Ressourcenverflechtung meint,
wie bei Grande, den Verflechtungsgrad auf der Ebene finanzieller Ressourcen. Bei der Analyse des Ausmaßes und Charakters der Entscheidungsverflechtung schließlich liegt der Schwerpunkt auf der Bestimmung
der Einflussstärke der zweiten Kammer im bundespolitischen Entscheidungsprozess.
8.3 Dimensionen der »Politikverflechtung« im Bundesstaat
8.3.1
Kompetenzverflechtung
Mit Blick auf die Kompetenzverflechtung lässt sich zwischen legislativen
und administrativen Kompetenzen unterscheiden. Kein Bundesstaat ist
durch eine vollständige Verflechtung von legislativen Kompetenzen gekennzeichnet; die Existenz eines gewissen Maßes an legislativer Eigenständigkeit der Ebenen bildet ein konstitutives Merkmal jeder Föderation.
Unterschiedlich ist jedoch zum einen das Ausmaß, in dem die Gliedstaaten
über autonome legislative Gestaltungsmacht verfügen, zum anderen – und
dies ist der eigentlich entscheidende Indikator der legislativen Kompetenzverflechtung – der Umfang der sogenannten »konkurrierenden Gesetzgebung« (und der Rahmengesetzgebung des Bundes).
Die autonomen legislativen Handlungsspielräume, über die die deutschen Bundesländer während der vergangenen Jahrzehnte verfügten, nehmen sich im Vergleich mit der Situation in den meisten übrigen Bundesstaaten als auffallend bescheiden aus. Als relativ großzügig erschien das
Maß an möglicher legislativer Selbstgestaltung der deutschen Länder allein
im Vergleich mit den österreichischen Bundesländern, die nicht einmal die
legislative Hoheit über Polizeiangelegenheiten besitzen.159 In der Bundesre-
——————
159 Die extreme Beschränkung der Gesetzgebungskompetenz der österreichischen
Bundesländer gemäß der Bundesverfassung von 1920 bzw. 1929 resultierte maßgeblich aus dem entschiedenen Desinteresse der beiden großen politischen Parteien des Systems an einer ausgeprägt föderalistisch geprägten Ordnung. Der Präferenz der Sozialdemokraten für eine starke Zentralregierung als Voraussetzung
und Grundlage einer effizienten Wohlfahrtspolitik entsprach auf Seiten der Konservativen der verbreitete Wunsch nach einer Eingliederung Österreichs in das
DER BUNDESSTAAT
205
publik gehörten zu den traditionellen Länderkompetenzen außer den Polizeiangelegenheiten insbesondere die Bereiche Schulwesen und Kultur
sowie die Kommunalverfassung. Durch die »erste Stufe« der Föderalismusreform der Regierung Merkel160, welche am 1. September 2006 in Kraft
trat, wurde das Selbstbestimmungsrecht der Länder jedoch auf verschiedenen Gebieten gestärkt. Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz erlangten die Länder in den Bereichen des Dienst-, Besoldungs- und Versorgungsrechts für Landes- und Kommunalbeamte, des Strafvollzugs, des
Versammlungs- und Presserechts sowie beim Ladenschluss- und Gaststättenrecht. Hinzu kamen im Bereich der Bildungs- und Umweltgesetzgebung
bestimmte »Abweichungsrechte«.
Die deutschen Länder sind im Hinblick auf ihr legislatives Kompetenzprofil einander verfassungsrechtlich vollständig gleichgestellt. Damit unterscheidet sich die Bundesrepublik nicht nur von der föderativen Ordnung
des Bismarck-Reichs, in dem es eine Reihe von Sonderrechten für die süddeutschen Staaten gab, die das Machtgleichgewicht innerhalb der Föderation zusätzlich zu den dominanten Effekten der Übermacht Preußens
verzerrten, sondern auch von den gegenwärtigen Ordnungen in Kanada,
Spanien und Belgien. In Kanada verfügt das französischsprachige Quebec
über eine Reihe von Prärogativen auf dem Feld der Bildungs- und Rechtspolitik, die den englischsprachigen Provinzen vorenthalten bleiben. In
Spanien gibt es gravierende Unterschiede hinsichtlich des legislativen
Selbstbestimmungsrechts der unterschiedlichen Autonomen Gemeinschaften. In Belgien schließlich verfügen die einzelnen Sprachgemeinschaften über unterschiedliche rechtliche Kompetenzen, welche ergänzt
werden durch den speziellen Status Brüssels und der deutschsprachigen
Minderheit (Stepan 2001: 326–329).161
——————
Deutsche Reich – ein Projekt, für dessen Verwirklichung föderalistische Strukturen im Innern als Hindernis erachtet wurden (Rack 1996: 205).
160 Dabei handelte es sich um die bislang umfangreichste Änderung des Grundgesetzes überhaupt. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.09.2006, 5.
161 Bei der Gewährung unterschiedlicher Rechte an Gebietseinheiten, die in modernen
Bundesstaaten stark mit dem multinationalen Charakter einer Föderation korreliert, handelt es sich lediglich um eine von zahlreichen möglichen De-jure-Asymmetrien. Weitere betreffen etwa die Ausgestaltung des Regierungssystems in den
Einzelstaaten oder die weiter unten zu behandelnde unterschiedliche Repräsentation von Gebietseinheiten in der zweiten Kammer. Hinzu kommen De-factoAsymmetrien, zu denen insbesondere die unterschiedliche Größe und Wirtschafts-
206
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Neben den relativ bescheidenen eigenständigen Gesetzgebungsspielräumen der deutschen Länder gehör(t)en zu den Kernmerkmalen des deutschen Modells auf der Ebene der Kompetenzverteilung vor allem der ungewöhnlich breit ausgestaltete Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung,
die (2006 abgeschaffte) Rahmengesetzgebung sowie die Existenz von
»Gemeinschaftsaufgaben« gemäß Art. 91a GG. Seit Beginn der neunziger
Jahre gab es mehrere Anläufe, die allesamt auf eine Entflechtung der Zuständigkeiten und besonders auf eine Zurückdrängung der ausgeprägten
Vormachtstellung des Bundes zielten. Gemessen an der Verfassungsreform
von 1994 sind die Ergebnisse der Bundesstaatsreform 2006 ansehnlich,
auch wenn sie naturgemäß viele Wünsche offen liess (Starck 2007). Das
exakte Gegenteil zu dem jahrzehntelang in der Bundesrepublik praktizierten, stark auf die konkurrierende Gesetzgebung bauenden System findet
sich in Kanada und der Schweiz verwirklicht, wo die legislative Regelungskompetenz in den meisten Bereichen eindeutig zwischen dem Bund und
den Provinzen bzw. Kantonen aufgeteilt ist. In den anderen Ländern gibt
es zahlreiche Materien, die im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
angesiedelt ist; kein System reicht jedoch an die traditionellen Standards
bundesdeutscher Kompetenzverflechtung (vor 2006) heran.
Abgesehen von der legislativen Kompetenzverflechtung kann es Verflechtungen auch auf der Ebene administrativer Kompetenzen unterschiedlicher Ebenen geben. Dies ist dann der Fall, wenn eine Ebene der
anderen bedarf, um ihre Entscheidungen ausführen zu lassen. Länder, in
denen eine solche funktionale Aufteilung von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen existiert, werden auch als integrierte Bundesstaaten
bezeichnet – in Abgrenzung gegenüber dualen Bundesstaaten, für die eine
Kompetenzaufteilung nach Politikfeldern kennzeichnend ist.
Auf dieser Ebene lässt sich die Bundesrepublik gemeinsam mit Österreich, der Schweiz und – mit Einschränkungen – Spanien dem integrativen
Typ zuordnen, während die drei angelsächsischen Föderationen sowie
Belgien den dualistischen Typus des Bundesstaates verkörpern. Gleichwohl
kennen, in gewissem Rahmen, auch die Systeme dieser zweiten Gruppe
von Ländern die Delegation von Verwaltungskompetenzen an die andere
Ebene. In Kanada ist dies auf dem Gebiet des Strafrechts sogar ausdrücklich in der Verfassung verankert.
——————
kraft von Gebietseinheiten gehören. Vgl. zum Gesamtkontext von Asymmetrie
und Asymmetrisierung von Beyme (2003b).
DER BUNDESSTAAT
207
Es gibt jedoch auch innerhalb der Gruppe von Systemen mit integrativer Kompetenzstruktur erwähnenswerte Unterschiede. Die Stellung der
deutschen Länder bei der Implementation von Bundesrecht ist noch am
ehesten mit der diesbezüglichen Rolle der schweizerischen Kantone vergleichbar, obwohl (anders als hierzulande) die Ausführung von Bundesrecht durch die Kantone kein verfassungsrechtlich kodifiziertes Strukturprinzip darstellt und viele der von den Kantonen auszuführenden Bundesgesetze Rahmengesetze sind, die den Kantonen weite Spielräume bei der
Umsetzung legislativer Entscheidungen belassen (Linder/Vatter 2001;
Braun 2003). Im österreichischen Modell der »mittelbaren Bundesverwaltung« mit ausdrücklicher Weisungsgebundenheit des Landeshauptmanns
gegenüber dem Bundesminister (Weber 1987) sind die Spielräume der
Länder bei der Implementation von Bundesgesetzen noch geringer als in
der Bundesrepublik. Die spanische Variante einer Koexistenz peripherer
zentralstaatlicher und autonomer Verwaltungsstrukturen markiert eine
Eigentümlichkeit, die der spezifischen Entwicklungsgeschichte des Staates
der Autonomen Gemeinschaften geschuldet ist (Martino 2004).
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Bundesrepublik im internationalen Vergleich durch ein ausgesprochen hohes Maß an legislativer
Kompetenzverflechtung zwischen Bund und Gliedstaaten gekennzeichnet
ist. Auf der Ebene administrativer Kompetenzen gibt es streng genommen
keine Verflechtung, sondern vielmehr eine eindeutige Zuweisung der Verwaltungskompetenz an die Länder. Die ausgeprägte Vormachtstellung der
Länder hat sich jedoch in der Praxis – vor allem aufgrund einer entsprechenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die den Ländern
großzügige Mitsprachrechte bei den von ihnen auszuführenden Gesetzen
einräumte (Blair/Cullen 1999) – als Katalysator weiterer Verflechtungen
auf der Entscheidungsebene (vgl. Abschnitt 8.3.3) erwiesen.
8.3.2
Ressourcenverflechtung
Durch ein hohes Maß an Verflechtung ist auch die Finanzverfassung der
Bundesrepublik gekennzeichnet (Renzsch 1991; Kotzor 2002). Die weitreichende ebenenübergreifende Ressourcenverflechtung auf der Einnahmenseite, welche die Bundesrepublik im internationalen Vergleich auszeichnet,
erklärt sich vor allem aus dem prominenten Stellenwert von Gemeinschaftssteuern. Sie machen heute rund Dreiviertel des gesamtstaatlichen
208
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Steueraufkommens aus. Gemeinschaftssteuern waren dem Grundgesetz in
seiner ursprünglichen Fassung fremd und wurden erst im Zuge späterer
verfassungsrechtlicher Reformen des Bundesstaates geschaffen, in Anknüpfung an ältere Traditionen, die nach 1945 von den Alliierten zunächst
unterbrochen wurden. Den Anfang machte der sogenannte »kleine Steuerverbund« (Aufteilung von Einkommens- und Körperschaftssteuer) im
Jahre 1955. Ihr folgte 1969 die »große Steuerreform» nach, mit der auch
die Umsatzsteuer zu einer Gemeinschaftssteuer wurde. Für einen Übergang vom Trennsystem zum Steuerverbund sprach aus Sicht der Länder
deren Interesse, die Abhängigkeit einzelner Systemebenen von besonders
konjunkturempfindlichen Steuern nach Möglichkeit zu reduzieren – nicht
zuletzt, um »stille Gewichtsverschiebungen« zwischen den Ebenen infolge
unterschiedlicher Entwicklungen ihrer Steuern soweit wie möglich auszuschließen (Rudzio 2006: 320–321).
Das fiskalische Verbundsystem in der Bundesrepublik kontrastiert besonders stark mit den Trennsystemen in den USA und der Schweiz. Unterschiede gibt es aber auch gegenüber den in einigen anderen Ländern etablierten Steuerverbundsystemen. In Kanada wurde nach dem Zweiten
Weltkrieg ein Steuerverbund zwischen dem Bund und den Provinzen eingerichtet, an dem aber mittlerweile die Provinzen Quebec und Ontario
nicht mehr (vollständig) partizipieren (Grande 2002: 200). Seit den sechziger Jahren finden auf gleichsam permanenter Basis intergouvernementale
Verhandlungen über Fragen der Steuerharmonisierung und der Kooperation bei der Steuererhebung statt. Der Anteil der von den Provinzen selbst
bestimmten Steuereinnahmen erscheint im internationalen Vergleich als
»relativ hoch« (Schneider 2006: 23). In Österreich werden nicht weniger als
95 Prozent der Steuern und Abgaben vom Bund als »gemeinschaftliche
Bundesabgaben« beschlossen und verwaltet; davon erhalten die Länder
und Gemeinden eine im Finanzausgleichsgesetz bestimmte feste Quote,
ihren »Ertragsanteil« (ebd.: 26).
Gemessen an der hochgradigen ebenenübergreifenden Ressourcenverflechtung auf der Einnahmenseite erscheint das Ausmaß an Verflechtung
auf der Ausgabenseite hierzulande als relativ gering. Allerdings kennt auch
die Bundesrepublik Formen der Mitfinanzierung von Landes- und
Kommunalaufgaben durch den Bund, darunter sogenannte »Investitionshilfen«, die angesichts der Gefahr einer ressourcenbezogenen Aushöhlung
der Entscheidungsautonomie der regionalen und lokalen Ebene als nicht
unproblematisch gelten. Sie sind jedoch weder von ihrem Umfang noch
DER BUNDESSTAAT
209
von ihrem Charakter her mit den konditionierten Zuwendungen des Bundes an die Gliedstaaten in vielen anderen Ländern zu vergleichen. Deutlich
intensiver als hierzulande ist die Ressourcenverflechtung auf der Ausgabenseite in den USA, Australien und in der Schweiz, wo die Gliedstaaten
einen beträchtlichen Teil ihrer Aufgaben durch direkte Finanzzuweisungen
des Bundes finanzieren (Grande 2002: 199).
Trotz der moderaten Ressourcenverflechtung zwischen Bund und
Gliedstaaten auf der Ausgabenseite ist die ebenenübergreifende Verflechtung finanzieller Ressourcen in der Bundesrepublik dank des breit dimensionierten Steuerverbunds im internationalen Vergleich insgesamt relativ
stark. Zumindest der Tendenz nach dürfte dieses Bestimmungsmerkmal
deutscher Bundesstaatlichkeit in der Zukunft jedoch ein Stück weit dahinschmelzen, denn überall drängt der finanzbedingte Asymmetrisierungsdruck auf die Einrichtung bzw. den Ausbau von Verbundsystemen (von
Beyme 2003b: 251).
Jedenfalls am Rande erwähnt sei eine weitere Dimension der Ressourcenverflechtung in der Bundesrepublik, die zwar nicht ebenenübergreifenden Charakter besitzt, aber gerade deshalb eine echte Besonderheit der
deutschen Finanzverfassung bildet: der Länderfinanzausgleich gemäß Art.
107 Abs. 2 GG als eine Form horizontaler Ressourcenverflechtung. Die
Herstellung »einheitlicher« bzw. seit 1994 »gleichwertiger« Lebensverhältnisse (gemäß Art. 72, Abs. 2 GG) wurde vor allem über Zahlungstransfers
innerhalb des horizontalen Finanzausgleichs verfolgt. Dieser ersetzt jedoch
auch in der Bundesrepublik nicht vollständig die aus den meisten Bundesstaaten bekannte Ausgleichsfunktion des Bundes. Anders als in der Urfassung des Grundgesetzes vorgesehen, leistet der Bund seit Jahrzehnten
umfangreiche Ausgleichszahlungen, seit der Vereinigung nicht zuletzt im
Rahmen großzügiger Bundesbeteiligungen an den »Solidarpakten« I und II.
Während der horizontale Finanzausgleich im internationalen Vergleich
ein echtes Unikum markiert, ist die für die Bundesrepublik charakteristische Anhebung der Finanzkraft der schwächeren Glieder bis nahe an das
Durchschnittsniveau heran keineswegs einzigartig. In dieser Hinsicht bilden eher die Schweiz (mit einem Ausgleichsniveau von lediglich 85 Prozent) und vor allem die USA, die überhaupt keinen Finanzausgleich kennen, die international beachtenswerten Ausnahmen (Renzsch 2000;
Schneider 2006b).162 Der Länderfinanzausgleich gehört ohne Zweifel zu
——————
162 Für den amerikanischen Verzicht auf einen Finanzausgleich gibt es gesellschaftliche und institutionelle Gründe. Zu den gesellschaftlichen Faktoren zählt die aus-
210
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
den schwierigsten Gegenständen einer fortgesetzten Bundesstaatsreform;
seine künftige Gestalt wird das Gesicht des deutschen Bundesstaates der
Zukunft nachhaltig prägen.
8.3.3
Entscheidungsverflechtung
Welchen Platz in der Familie der konsolidierten demokratischen Bundesstaaten besetzt die Bundesrepublik mit Blick auf die Entscheidungsverflechtung? Wie schon hinsichtlich der Ressourcenflechtung, so gilt auch für
die Entscheidungsverflechtung, dass wichtige Komponenten der Verflechtung die horizontale Ebene betreffen. Die ungewöhnlich intensive
Kooperation zwischen den Ländern war neben der Zentralisierung von
legislativen Entscheidungskompetenzen maßgeblich mit für die hochgradige Unitarisierung (im Sinne einer Vereinheitlichung von materiellen Regeln) verantwortlich, die das deutsche System im internationalen Vergleich
auszeichnet. Nach Wolfgang Rudzio (2006: 325) bestand der die Länder
beherrschende Gedanke dabei darin, den populären Druck zugunsten
einheitlicher und in diesem Sinne als vorteilhaft betrachteter Lösungen
durch eine breit angelegte Selbstkoordination aufzufangen, um damit einer
möglichen Kompetenzverlagerung auf den Bund zuvorzukommen.163 Eine
——————
geprägte geographische Mobilität der amerikanischen Bevölkerung. Das hohe Maß
an geographischer Mobilität ist dabei vielfach gerade der Tatsache geschuldet, dass
in den Einzelstaaten unterschiedliche Bedingungen hinsichtlich der Besteuerung
und öffentlicher Dienstleistungen bestehen und just dies als Chance, nicht als Bedrohung, gesehen wird. Daneben gibt es wichtige institutionelle Variablen: Da es
in den USA keine national agierenden starken Parteiorganisationen und weder innerhalb noch außerhalb der legislativen Arena ein »party government« westeuropäischen Stils gibt, geht es, zugespitzt, jedem einzelnen Abgeordneten darum, für
seinen persönlichen Wahlkreis eine besonders großzügige finanzielle Förderung
des Bundes zu erreichen. Unter diesen spezifischen Bedingungen kann sich eine
Philosophie, die die gezielte Förderung ärmerer Einzelstaaten und Regionen ins
Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt, kaum entfalten. Für zusätzliche Verzerrungen sorgen die im amerikanischen Verständnis überragende Bedeutung der Landesverteidigung und die Größe des amerikanischen Verteidigungssektors: Unabhängig von der sonstigen Qualität der Lebensverhältnisse, werden Regionen mit
militärisch-strategischer Bedeutung mit zusätzlichen Mitteln versehen (Kenyon/
Kincaid 1996: 47).
163 Der spezifische Charakter der horizontalen Selbstkoordination unterscheidet die
Bundesrepublik nicht nur im internationalen, sondern auch im historischen Ver-
DER BUNDESSTAAT
211
auch im weiter gefassten internationalen Vergleich bemerkenswerte institutionelle Manifestation der horizontalen Selbstkoordination der Länder
bildet – trotz mancher Besonderheiten – weniger die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), für die sich strukturell vergleichbare Äquivalente auch
in anderen Ländern finden lassen164, als vielmehr die Kultusministerkonferenz (KMK). Ihr Hauptziel besteht in einer Koordination der Bildungspolitik der Länder. Die KMK ist, so auch ihr offizieller Titel, eine »Ständige
Konferenz« mit einem eigenen Sekretariat und mehreren ständigen Ausschüssen bzw. Unterausschüssen. Beschlüsse werden nach dem Einstimmigkeitsprinzip getroffen und offiziell im Rahmen einer Loseblattsammlung veröffentlicht, wie dies für Gesetzessammlungen typisch ist. Die Anfang Dezember 2004 beschlossene Reform der KMK, durch die eine administrative »Verschlankung« erreicht werden soll, dürfte das außergewöhnlich hohe Maß an Institutionalisierung weitgehend unangetastet lassen.
Im Zentrum der weiteren Betrachtungen soll jedoch die ebenenübergreifende Entscheidungsverflechtung stehen. Auch diese ist in der Bundesrepublik ungewöhnlich intensiv ausgeprägt. Dazu gehören Ressortministerkonferenzen von Bund und Ländern ebenso wie zahlreiche Bund-Länder-Ausschüsse unterhalb der Ministerebene sowie unterschiedliche Planungsräte wie beispielsweise der »Wissenschaftsrat«. Hierfür gibt es in den
anderen hier berücksichtigten Bundesstaaten nur vereinzelt echte Entsprechungen. Als Kern der ebenenübergreifenden Entscheidungsverflechtung
in föderativen Systemen gilt jedoch zu Recht die Struktur und Stellung
zweiter Kammern.
Viele der im internationalen Vergleich zutage tretenden Besonderheiten
des deutschen Modells betreffen den Bundesrat. Bemerkenswert sind aus
vergleichender Perspektive nicht nur die Vor- und Entwicklungsgeschichte
des Bundesrates, welche Anhängern des »path dependence«-Paradigmas
geradezu als ein Musterbeleg für die These vom starken Einfluss histori-
——————
gleich von anderen Regimen. Im Bismarck-Reich stellte sich Unitarisierung als ein
mehr oder minder unwillkürlicher Effekt der Dominanz Preußens ein (Lehmbruch
2000b: 105).
164 Erwähnenswert ist diesbezüglich insbesondere die österreichische »Landeshauptmännerkonferenz«, die sich von der MPK jedoch nicht zuletzt durch ihre grundlegend andere Systemfunktion unterscheidet. Die »Landeshauptmännerkon- ferenz«
fungiert gleichsam als Bollwerk gegen eine noch weiter reichende Aushöhlung der
Länderkompetenzen durch den Bund und als Kompensationselement für den
denkbar schwachen österreichischen Bundesrat. Vgl. Bußjäger (2003).
212
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
scher Weichenstellungen auf spätere Entwicklungsoptionen gilt
(Lehmbruch 2000a: 78–79). Nicht minder eigentümlich sind dessen
Strukturmerkmale. Auf eine elegante Formel gebracht, ist der Bundesrat
»unvergleichlich, aber nicht unvergleichbar« (Sturm 2003: 24). Der Bundesrat stellt in formalrechtlicher Hinsicht keine »zweite Kammer« dar (vgl.
BVerfGE 37, 363ff., 380); die funktional orientierte politikwissenschaftliche Institutionenforschung klassifiziert ihn gleichwohl zu Recht seit langem als eine solche, da er in der Gesetzgebung eindeutig über eine mehr
als lediglich beratende Funktion verfügt (von Beyme 1974b: 367–368). In
den Worten Winfried Steffanis (1997: 66) kann der Bundesrat als eine
»strukturell nichtparlamentarische, funktionell parlamentarische zweite
Kammer« beschrieben werden.165
Einen einzigartigen Charakter besitzt der Bundesrat zunächst hinsichtlich seiner Rekrutierungsbasis. In keinem anderen Land rekrutieren sich die
Mitglieder der territorialen Kammer ausschließlich aus den Mitgliedern der
Regierungen auf Gliedstaatenebene. Aus dieser Eigentümlichkeit der Rekrutierung folgt, dass es sich beim Bundesrat um ein »ewiges Organ« handelt, das sich (potentiell) im Gefolge jeder Landtagswahl teilerneuert. In
mehreren anderen Ländern – darunter die USA, die Schweiz und Australien – wird die zweite Kammer vom Volk gewählt; auch in Belgien und
Spanien ist das Volk zumindest im Rahmen eines Mischsystems an der
Bestellung der Mitglieder der zweiten Kammer beteiligt. Ebenfalls (im
Rahmen unseres Ländersamples) singulär ist der Rekrutierungsmodus für
die zweite Kammer in Österreich, wo die Volksvertretungen der Länder
die Bundesratsvertreter wählen und in Kanada, wo die Mitglieder des Senats von der Bundesregierung ernannt werden. Die einzelnen Rekrutierungssysteme generieren ein sehr unterschiedliches demokratisches Legimitationspotential, das unweigerlich auch das politische Gewicht zweiter
Kammern im bundespolitischen Entscheidungsprozess beeinflusst (siehe
weiter unten).
Eher unauffällig ist die Position der Bundesrepublik bzw. des Bundesrates im Hinblick auf die »Repräsentationsgerechtigkeit« bei der Bestellung
der zweiten Kammer.166 Hinsichtlich der »Überrepräsentation« der
——————
165 Die wichtigste deutschsprachige Ressource für einen über die nachfolgenden
Betrachtungen hinausgehenden Vergleich zweiter Kammern bildet der Band von
Riescher/Ruß/Haas (2000).
166 Ein vereinfachender Klassifizierungsversuch von Bundesstaaten bezüglich des
Repräsentationsmodells unterscheidet schlicht zwischen »Senatsprinzip« (Zuord-
DER BUNDESSTAAT
213
bevölkerungsschwachen Gliedstaaten findet sich die Bundesrepublik von
acht möglichen erst auf Rang fünf, wobei sie hinsichtlich ihres Wertes
jedoch eine eindeutig größere Nähe zu den Ländern auf den Rangplätzen
eins bis vier aufweist (USA, Schweiz, Australien, Kanada). Eine von ihrem
Ausmaß her nahezu identische »Überrepräsentation« bevölkerungsschwacher territorialer Einheiten wie in der Bundesrepublik findet sich in Spanien. Durch ein gemessen an den Daten für die übrigen Länder extremes
Maß an »gerechter Repräsentation« gekennzeichnet sind die österreichische
und die belgische Lösung.167
Eine – allerdings sehr starke – Mittelposition nimmt die Bundesrepublik auch hinsichtlich der Reichweite der formalen Mitsprache- bzw. Vetorechte der zweiten Kammer in der Bundespolitik ein. Die Rolle des Bundesrates bei der Personalrekrutierung für andere Bereiche des politischen
Systems ist ausgesprochen schwach. Dies ist maßgeblich der Tatsache zu
verdanken, dass im Bundesrat nicht individuelle, sondern kollektive Akteure zusammentreffen. Es würde keinen Sinn machen, den weiteren bundespolitischen Aufstieg von Ministerpräsidenten oder einzelnen (weisungsgebundenen) Mitgliedern der Bundesratsdelegation eines Landes mit deren
Bundesratszugehörigkeit zu erklären. Obwohl die Existenz kollektiver, zu
einheitlicher Stimmabgabe verpflichteter Akteure eine echte deutsche Besonderheit darstellt (Sturm 2003: 24), ist die Rekrutierungsfunktion der
zweiten Kammer auch in den anderen hier berücksichtigten Staaten üblicherweise schwach ausgeprägt. Die wichtigste Ausnahme bildet Australien,
wo ein Drittel der Mitglieder der Regierung aus dem Senat rekrutiert wird.
——————
nung der gleichen Zahl von Vertretern pro Gliedstaat unabhängig von der jeweiligen Bevölkerungszahl) und »Bundesratsprinzip« (Zuordnung einer Zahl von Vertretern pro Gliedstaat, die mit der Bevölkerungszahl korrespondiert).
167 Eine vergleichende Bewertung des jeweils verwirklichten Repräsentationsmodells
ist kaum ohne Kenntnis der »Rohdaten« der territorialen Struktur eines Gemeinwesens möglich. Die verbreitete Einschätzung, dass es in der Bundesrepublik extrem ausgeprägte Unterschiede hinsichtlich der Größe und Bevölkerung der einzelnen Länder gäbe, wird durch den internationalen Vergleich relativiert. Richtig
ist, dass das größte deutsche Bundesland (Nordrhein-Westfalen) rund 26 Mal größer ist als das kleinste (Bremen). Deutlich geringere Differenzen weisen jedoch nur
Österreich (5,6), Belgien (6, wobei nur die drei Regionen gezählt wurden) und
Australien (12,6) auf. Der Wert für Spanien liegt geringfügig höher als für die Bundesrepublik. Eine deutlich größere Spannweite hinsichtlich ihrer Bevölkerungsverteilung weisen die USA (65,8), Kanada (81,5) und insbesondere die Schweiz auf,
wo die Bevölkerungszahl des Kantons Zürich um mehr als 84 Mal höher ist als
jene in Appenzell-Innerrhoden (Watts 1999: 64).
214
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Als »Sprungbrett« bzw. »Postenreservoir« für exekutive Führungsposten
dient die zweite Kammer ansonsten noch am ehesten in Belgien und Kanada, wo der gelegentliche Rückgriff auf Senatsmitglieder vor allem der
großen Bedeutung des regionalen Proporzprinzips geschuldet ist.
Keinen Anteil hat der Bundesrat, darin den meisten übrigen zweiten
Kammern des Samples gleichgestellt, an der Jurisdiktion. Diesbezüglich
gebührt als Ausnahme von der Regel vor allem der zentralen Rolle des USSenats bei Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten bzw. oberste
Bundesbeamte und Bundesrichter Erwähnung. Über rudimentäre Funktionen im Jurisdiktionsbereich, die in den anderen Ländern von einem Verfassungsgericht wahrgenommen werden, verfügen auch der belgische Senat
und der schweizerische Ständerat.
Durchschnittlich stark ist die Rolle des Bundesrates bezüglich der
Wahlfunktion. Der Bundesrat wählt die Hälfte der Bundesverfassungsrichter. Ebenfalls an der Wahl der Verfassungsrichter beteiligt sind der
österreichische Bundesrat und der spanische Senat. Über eine Wahlfunktion besonderer Art verfügt der schweizerische Nationalrat, der als Teil der
Bundesversammlung an der Wahl der Mitglieder der schweizerischen Bundesregierung beteiligt ist.
Klassische parlamentarische Kontrollrechte gegenüber der Regierung,
jenseits des Gesetzgebungsverfahrens, besitzt der Bundesrat nicht. Damit
steht er den meisten übrigen zweiten Kammern unseres Samples jedoch
kaum nach. Bemerkenswert sind eher die Ausnahmen, zu denen der australische Senat mit seinem Recht auf Einrichtung von Untersuchungsausschüssen und ganz besonders der amerikanische Senat zählen. Der USSenat ist die einzige zweite Kammer, die über sogar noch deutlich weiter
reichende Kontrollrechte gegenüber der Exekutive verfügt als die erste
Kammer der Legislatur.
Hervorhebenswert sind aus vergleichender Perspektive einige der administrativen Funktionen des Bundesrates jenseits der auch andernorts
üblichen Prüfung von Regierungsverordnungen – etwa dessen Mitwirkung
bei der Veräußerung von Bundesvermögen, beim Bundeszwang oder im
Falle des inneren Notstands, wofür es in anderen Zweikammersystemen
kein Äquivalent gibt. Stark landesspezifisch geprägte Funktionsprofile
zweiter Kammern auf der administrativen Ebene gibt es aber auch andernorts, etwa in Belgien, wo der Senat für die Regelung spezieller Fragen der
Monarchie, wie insbesondere solche der Thronfolge, zuständig ist.
DER BUNDESSTAAT
215
Der zentrale Fokus beim Vergleich zweiter Kammern muss jedoch auf
deren Rolle im bundespolitischen Gesetzgebungsverfahren liegen. Weitgehend unabhängig von landesspezifischen Unterschieden verbreitet ist die
Sichtweise zweiter Kammern als »chambres de réflexion« (Schüttemeyer/
Sturm 1992: 519–520). Insofern kann es nicht überraschen, dass im Rahmen des internationalen Vergleichs legislativer Kompetenzprofile zweiter
Kammern traditionell vor allem deren »negative power« Beachtung geschenkt wurde.168 Der Bundesrat besitzt bekanntlich ein absolutes Veto für
zustimmungspflichtige Gesetze und ein suspensives Veto für sämtliche
übrigen Gesetze, sogenannte »Einspruchsgesetze«.169 Selbst die Überstimmung eines Bundesratsvetos durch den Bundestag auf dem Felde der »Einspruchsgesetzgebung« ist jedoch gegebenenfalls an besondere Voraussetzungen gebunden. Votiert der Bundesrat gegen ein betreffendes Gesetz
mit Zweidrittelmehrheit, so ist auch die Überstimmung dieses Einspruchs
an ein entsprechend großes Zustimmungsquorum geknüpft. Ein lediglich
aufschiebendes Veto besitzt der Bundesrat bei der Haushaltsgesetzgebung
des Bundes.
——————
168 Wenig zu sagen ist demgegenüber zum Gesetzesinitiativrecht zweiter Kammern.
Der Bundesrat besitzt ein praktisch uneingeschränktes Gesetzesinitiativrecht, von
dem in der Praxis jedoch nur bescheidener Gebrauch gemacht wurde. Von den bei
von Beyme (1997: 378–401) dokumentierten 150 wichtigsten Schlüsselentscheidungen der ersten 12 Legislaturperioden des Bundestages (1949–1994) wurden nur
vier vom Bundesrat initiiert. Damit unterscheidet sich die legislative Performanz
des Bundesrates kaum von denen anderer zweiter Kammern parlamentarischer
Systeme, wohl aber von derjenigen des amerikanischen Senats, der im Vergleichszeitraum zahlreiche Schlüsselentscheidungen der Bundesgesetzgebung anstieß. Die
sehr unterschiedliche Initiativbilanz beider Körperschaften ist freilich im Kontext
eines zentralen Strukturunterschiedes beider Systeme – des Gegensatzes zwischen
kollektiven und individuellen Akteuren, die den jeweiligen Entscheidungsprozess
prägen – zu betrachten. Eine Gesetzesinitiative durch ein individuelles Mitglied der
zweiten Kammer ist, anders als im Falle der amerikanischen Senatoren bzw. des
Senats, im deutschen System ausgeschlossen.
169 Die Mischung absoluter und suspensiver Vetomacht verkörpert, wie Roland Sturm
(2002: 174) zu Recht hervorhebt, indes keineswegs eine deutsche Besonderheit. In
Ländern, in denen die zweite Kammer normalerweise nur über ein suspensives
Vetorecht verfügt, wird deren Einspruchspotential bei einer Reihe von Gesetzen
(verfassungsändernde Gesetze oder Gesetze, welche die Verfassungsrechte oder
sonstige Angelegenheiten der Gliedstaaten betreffen) dadurch aufgewertet, dass ihr
entweder ein absolutes Vetorecht zugestanden wird oder besondere Mehrheiten
gefordert werden.
216
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Das formale Vetopotential des Bundesrates in der Bundesgesetzgebung
ist aus international vergleichender Perspektive besehen ansehnlich, aber
keineswegs außergewöhnlich groß. In nicht weniger als fünf der übrigen
hier berücksichtigten Länder – in den USA, der Schweiz sowie in Belgien,
Australien und Kanada – verfügen die zweiten Kammern über praktisch
identische legislative Entscheidungs- und Vetorechte wie die erste Kammer
(mit landesspezifischen Einschränkungen vor allem in der Haushaltspolitik
des Bundes). Erwähnenswert sind eher die Ausnahmen Österreich und
Spanien mit ihren auffallend schwachen zweiten Kammern. In Deutschland umfasst das »Reservat der Gleichberechtigung« (Niclauß 1998: 232),
wie das Feld der »Zustimmungsgesetzgebung« auch genannt wurde, im
Durchschnitt der ersten 15 Wahlperioden des Bundestages (1949–2005)
53,1 Prozent, während der ersten vier Wahlperioden seit der Vereinigung
(1990–2005) durchschnittlich 55,5 Prozent.170 Ein zentrales Ziel der 2006
verabschiedeten Bundesstaatsreform bestand darin, den Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze auf 35 bis 40 Prozent abzusenken.
Die im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Analyse entscheidende
Vergleichsdimension betrifft die politischen Bedingungen der Inanspruchnahme formaler Vetorechte in der Verfassungspraxis. Zumindest in den
parlamentarischen Bundesstaaten kommt dabei dem parteipolitischen
Machtverteilungsmuster zwischen erster und zweiter Kammer eine herausragende Bedeutung zu. Dies spiegeln »realistische« Typologien der Entscheidungs- bzw. Vetomacht zweiter Kammern ebenso wider wie die Vetospieler-Theorie. Bei Arend Lijphart (1999: 211–213) werden lediglich
solche zweiten Kammern als »stark« klassifiziert, die durch ein weitreichendes formales Vetopotential gekennzeichnet sind und von einer, gemessen an der parteipolitischen Zusammensetzung der ersten Kammer, gegenläufigen Mehrheit beherrscht werden.171 Bei George Tsebelis gilt als
——————
170 Der Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze in der 15. Legislaturperiode (2002–
2005) lag bei 50,8 Prozent. Zahlen auf der Grundlage von Daten der Verwaltung
des Bundesrates; vgl. http://www.bundesrat.de, 18.01.2007.
171 Hinsichtlich der Verortung der Bundesrepublik ist Lijphart (1999: 212) jedoch zu
widersprechen. Zu den zweiten Kammern mit symmetrischem, im Sinne von (annähernd) vollständig gleichwertigem Machtpotential kann man den Bundesrat, wie
soeben dargelegt, nicht rechnen. Großzügigere Bewertungsmaßstäbe können bei
der Bestimmung der parteipolitischen Machtverteilungsmuster akzeptiert werden.
Mit Blick auf diese wird die Bundesrepublik bei Lijphart (ebd.), freilich wiederum
zuspitzend, als bikameralistisches System mit inkongruenter Mehrheitsstruktur
bewertet.
DER BUNDESSTAAT
217
entscheidend für das Ergebnis des legislativen Entscheidungsprozesses die
spezifische Konfiguration von »Vetospielern«, darunter nicht nur ihr jeweiliges institutionelles, sondern auch deren positionsbezogenes Vetopotential. Die formal existierende Vetomacht eines Akteurs kann durch seine
Positionierung – und dabei ist nicht zuletzt an seine Position im parteipolitischen Kräftefeld eines Systems zu denken – »absorbiert« werden
(Tsebelis 2002: 12).
So zentral die jeweils vorherrschenden parteipolitischen Machtverteilungsmuster zwischen erster und zweiter Kammer für ein Verständnis der
Funktionsweise bikameraler Arrangements (vor allem, aber nicht nur in
parlamentarischen Bundesstaaten) sind, so wenig darf sich ein realistischer
Zugang ausschließlich auf diese konzentrieren. Eine weitere wichtige Variable bildet das oben behandelte Rekrutierungsverfahren für die Mitglieder
der zweiten Kammer und die damit verbundene demokratische Legitimationsbasis einer Körperschaft. Die demokratische Legitimation einer zweiten
Kammer kann objektiv geringer sein als die der ersten, so ganz besonders
im Falle einer Ernennung von deren Mitgliedern durch die Regierung der
zentralstaatlichen Ebene. Damit daraus tatsächlich eine wirkungsmächtige
Variable zur Bestimmung der faktischen Handlungssouveränität einer
Kammer wird, ist es jedoch notwendig, dass entsprechende Unterschiede
bei der Rekrutierung und der Legitimation auch subjektiv, von den handlungsmächtigen Akteuren selbst, entsprechend bewertet werden. Diese
Bewertungen können sich verstetigen und so eine über einen längeren
Zeitraum hinweg stabile Verhaltenskonvention generieren.
In bewusster Erweiterung eines »rein institutionalistischen« Verständnisses des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses ist
ferner zu berücksichtigen, dass Akteure auch aus taktischer oder strategischer Motivation heraus handeln können.172 Nach Einschätzung langjähriger Beobachter des Entscheidungsprozesses in der Bundesrepublik haben
taktische Erwägungen im Laufe der Jahre an Bedeutung gewonnen (Sturm
2002: 174). Fehlgeleitet erscheint hingegen eine andere Argumentation, die
darum bemüht ist aufzuzeigen, dass es sich bei der Unterscheidung von
Partei- und Länderinteressen auf der Ebene des Abstimmungsverhaltens
im Bundesrat weitgehend um eine »fiktive Differenzierung« handelt
——————
172 Durch die Vernachlässigung dieser Dimension sind keineswegs ausschließlich
statische Ansätze, etwa aus dem Bereich des Öffentlichen Rechts, gekennzeichnet;
mit entsprechender Kritik wurde in der jüngeren Literatur auch das VetospielerTheorem nach Tsebelis bedacht (Benz 2003b: 210, 230).
218
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
(Leunig 2004). Fokussiert wurde dabei auf das (weitgehend unbestritten)
enge Verhältnis zwischen der Landesparteipolitik und den Landesinteressen. Der eigentlich brisante Aspekt, der die deutsche Politikwissenschaft
seit den siebziger Jahren beschäftigt hat, betrifft freilich die Frage, ob im
Zweifelsfalle Landesinteressen auf dem Altar der Bundesparteipolitik geopfert werden, um eine größtmögliche Geschlossenheit des Oppositionslagers zu erreichen.
Im Gegensatz zu der Situation in Belgien und Österreich (wo das freilich sehr unterschiedlich große formale Machtpotential der zweiten Kammer durch die Vorherrschaft kongruenter Mehrheiten faktisch neutralisiert
wurde173) waren in der Bundesrepublik über längere Zeiträume hinweg
auch die politischen Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme der bestehenden Mitwirkungs- und Vetorechte der zweiten Kammer gegeben.
Für knapp zwei Drittel der gesamten Nachkriegszeit gab es (unterschiedlich große) gegenläufige Mehrheiten zwischen Bundesrat und Bundestag –
der nach Australien zweithöchste Wert in der Gruppe der hier berücksichtigten Bundesstaaten (Wagschal/Grasl 2004: 752). Differenziert man zusätzlich nach der Größenordnung einer oppositionellen Mehrheit, die entweder eine relative oder aber eine absolute sein kann, so waren die Handlungsbedingungen aus Sicht regierender Mehrheiten in der Bundesrepublik
sogar erheblich ungünstiger als in Australien, wo es selten stark inkongruente Mehrheiten im Sinne eindeutiger Mehrheiten der Oppositionsparteien gab (Swenden 2004: 344–345).
Mit einem von gegnerischen Parteien kontrollierten Bundesrat hatten
hierzulande vor allem sozialdemokratisch geführte Bundesregierungen zu
tun; in weitaus geringerem Maße galt dies für christdemokratisch geführte
Regierungen. Während der rund 38 Jahre der Periode 1949–2006, in denen
CDU-Kanzler amtierten, sah sich die Bundesregierung nur für etwas mehr
als drei Jahre (von Juni bis Oktober 1990 und von Januar 1996 bis September 1998) einer absoluten Mehrheit der Oppositionsparteien im Bun-
——————
173 Das Land mit der bei weitem größten Diskrepanz zwischen formaler Handlungsmacht und tatsächlichem Einfluss der zweiten Kammer im politischen Entscheidungsprozess ist freilich Kanada. Wichtiger als parteipolitische Machtkonstellationen waren dort die Rückwirkungen des spezifischen Rekrutierungssystems auf die
zweite Kammer. Die Nicht-Wahl der kanadischen Senatoren erstickte jeden Anspruch auf eine legitime autonome Handlungsmacht des Senats – selbst im Falle
inkongruenter parteipolitischer Mehrheitsverhältnisse zwischen erster und zweiter
Kammer – im Keim (Franks 1999).
DER BUNDESSTAAT
219
desrat gegenüber (Strohmeier 2004b: 720). Für SPD-geführte Bundesregierungen bildete es hingegen eher eine Ausnahme, wenn die bürgerlichen
Oppositionsparteien einmal nicht über eine absolute Mehrheit im Bundesrat
verfügten. Während der knapp 12 Jahre sozial-liberaler Koalition war dies
insgesamt nur für gut dreieinhalb Jahre der Fall (ebd.); auch die rot-grüne
Koalition unter Gerhard Schröder (1998–2006) sah sich immerhin für gut
dreieinhalb Jahre mit einer absoluten Mehrheit der Oppositionsparteien im
Bundesrat konfrontiert.
Die Vormachtstellung konservativer politischer Kräfte kennzeichnet
auch die interne Machtstruktur vieler anderer zweiter Kammern. Die im
historisch-internationalen Vergleich wichtigste Ausnahme verkörpert der
US-Senat, der bis zur »konservativen Revolution« Mitte der neunziger
Jahre mit nur kurzen Unterbrechungen jahrzehntelang von den Demokraten kontrolliert wurde. Gerade in Bezug auf den amerikanischen Senat ist
jedoch daran zu erinnern, dass dieser selbst nach dem spektakulären »Parteipolitisierungsschub« der vergangenen Jahre (Evans 2002; Kady II 2006)
hinsichtlich seiner Funktionsvoraussetzungen nur bedingt mit den weitaus
stärker parteipolitisch regulierten zweiten Kammern parlamentarischer
Bundesstaaten vergleichbar ist.
Wie weiter oben bereits betont wurde, ersetzt die Identifikation parteipolitischer Machtverteilungsmuster jedoch keine speziellere Bestandsaufnahme des Tuns und Lassens zweiter Kammern. Wichtige Einsichten in
die Rolle des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren gestattet die Auswertung von Gesetzgebungsstatistiken. Gemessen an dem seit vielen Jahren dominierenden Oberton des politischen Journalismus in der Bundesrepublik, demzufolge der Bundesrat drohe, die Republik lahm zu legen, ist an
der Einspruchsstatistik des Bundesrates bemerkenswert, wie ausgesprochen moderat die Quote endgültig verweigerter Zustimmungen alles in
allem blieb. Zwischen 1949 und 2005 versagte der Bundesrat insgesamt nur
etwas mehr als einem Prozent aller Gesetzesbeschlüsse und weniger als
einem Prozent aller Rechtsverordnungen endgültig die Zustimmung; auch
in der jüngsten abgeschlossenen Legislaturperiode (2002–2005) waren die
betreffenden Werte nicht signifikant höher.174
Deutlich tiefenschärfere Einsichten als statistische Dokumentationen
der Einspruchfrequenz des Bundesrates bieten Fallstudien zu Gesetzgebungsprozessen, in denen sich der Einfluss des Bundesrates auch in seinen
——————
174 Vgl. für statistische Daten die Quellenangabe in FN 170.
220
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
weicheren Formen greifbar machen lässt.175 In ihnen wird zweifelsfrei
erkennbar, dass dem ansehnlichen Ressourcenprofil des Bundesrates während der vergangenen Jahrzehnte ein großer politischer Einfluss im Gesetzgebungsverfahren entsprach.
In Überblicksdarstellungen wurden im Wesentlichen fünf Gründe für
den sehr geringen Anteil endgültig durch den Bundesrat blockierter Gesetze identifiziert (Stüwe 2004: 29–30): ein Einlenken der Regierungsmehrheit gegenüber der Bundesratsmehrheit; das Bemühen der Regierung, bei
der Gesetzesformulierung bzw. beim konkreten Zuschnitt einer Maßnahme eine Zustimmungspflichtigkeit nach Möglichkeit zu vermeiden;
Zusagen der Bundesregierung an einzelne Länder des gegnerischen Lagers
mit dem Ziel, die Oppositionsfront aufzubrechen; die Verkettung von
Gesetzesvorhaben, die keine große Aussicht auf Zustimmung des Bundesrates haben mit anderen dringlichen oder populären Maßnahmen sowie
schließlich die faktisch begrenzte Möglichkeit des Bundesrates, jede aus
inhaltlichen oder gegebenenfalls auch taktischen Motiven heraus unliebsame Maßnahme abzulehnen.
Eine für die jüngere Vergangenheit besonders wichtige Variante politischen Handelns bleibt dabei allerdings vollständig unberücksichtigt: die
»Lockangebote« der Bundesregierung an einzelne Akteure aus dem Lager
parteipolitisch »befreundeter« Landesregierungen. Die strukturell bedeutsame Dimension hinter entsprechenden Vereinbarungen ist in dem Umstand zu sehen, dass die lange Zeit als gleichsam selbstverständlich erachtete Integration zwischen Landesparteien und der Bundespartei tendenziell
abgenommen und stattdessen die regionale Dimension des politischen
Wettbewerbs in der Bundesrepublik an Bedeutung gewonnen hat (Sturm
1999; Detterbeck/Renzsch 2002). Dies ist Ergebnis vor allem zweier Entwicklungen. Die erste betrifft die tendenzielle Auseinanderentwicklung der
Parteiensysteme auf Bundes- und Landesebene; sie manifestiert sich insbesondere auf der Ebene der parteipolitischen Zusammensetzung von Landesregierungen. Von einer auch nur annähernden Entsprechung der Koalitionsmuster auf Bundesebene und in den Ländern kann bereits seit geraumer Zeit keine Rede mehr sein. Anfang 2003 etwa gab es nicht weniger
als acht hinsichtlich ihrer parteipolitischen Zusammensetzung unterschiedliche Typen von Landesregierungen (Helms 2005d: 85). Hinzu kommen
ökonomische Faktoren: Das als Folge der Vereinigung deutlich gestiegene
——————
175 Vgl. für umfangreiche Nachweise entsprechender Literatur Schindler (1999: 2512–
2537).
DER BUNDESSTAAT
221
Gefälle zwischen armen und reichen Ländern hat zu einer strukturellen
Verschlechterung der Bedingungen einer parteipolitischen Instrumentalisierung des Bundesrates durch die Bundesparteien beigetragen. Für primär
an der (von der Bundespartei formulierten) »Parteiräson« orientierte Positionsnahmen im bundesstaatlichen Entscheidungsprozess fehlt es vielen
ärmeren Ländern heute mehr denn je an dem dafür notwendigen Maß an
finanzieller Unabhängigkeit.
Besonders hinzuweisen ist im Rahmen einer vergleichenden Betrachtung der politischen Entscheidungspraxis föderativer Systeme auf die konsens-begünstigenden Institutionen des deutschen Föderalismus: Die Erzielung von Kompromissen zwischen Bundesregierung und Bundestag
einerseits und Bundesrat andererseits wurde durch die außerordentlich
effiziente Arbeit des Vermittlungsausschusses nachhaltig institutionell
begünstigt (Lhotta 2000).176 Eine Einrichtung wie der Vermittlungsausschuss gehört dabei keineswegs zur »Serienausstattung« föderativer Systeme. Sie verkörpert lediglich eine von mehreren möglichen Varianten. Zu
den Alternativen zählen das Navette-Verfahren, die Abhaltung gemeinsamer Sitzungen beider Kammern, die Parlamentsauflösung und schließlich
der Peer-Schub zur Herstellung einer Regierungsmehrheit (Sturm 2002:
171–172). Am ehesten vergleichbar ist der Vermittlungsausschuss in der
Bundesrepublik mit verwandten Gremien in den Vereinigten Staaten und
der Schweiz, obwohl auch im Rahmen eines Drei-Länder-Vergleichs deutliche Unterschiede zutage treten (Tsebelis/Money 1997). Der deutsche
Vermittlungsausschuss zeichnet sich gegenüber den amerikanischen »conference committees« und der schweizerischen »conférence de conciliation«
zunächst dadurch aus, dass die Mitglieder des Vermittlungsausschusses,
anders als in der Schweiz oder den USA, nicht identisch mit den Mitgliedern der zuvor mit einer Vorlage befassten Ausschüsse beider Kammer
sind, sondern vom Bundestag bzw. den Landesregierungen eigens für die
Dauer einer Legislaturperiode bestimmt werden. Anders als in der Schweiz
und den USA finden die Beratungen des Vermittlungsausschusses grundsätzlich vertraulich, d.h. unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ferner
zu erwähnen ist die weitgehende Absenz restriktiver Bestimmungen für
Beratungen des Vermittlungsausschusses, der im Gegensatz zu den diesbe-
——————
176 Wie jüngere Studien zeigen konnten, korreliert die Häufigkeit, mit der der Bundesrat den Vermittlungsausschuss anruft, deutlich stärker mit den jeweils vorherrschenden parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat als das Entscheidungsverhalten des Bundesrates in anderen Bereichen (Strohmeier 2004b: 724).
222
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
züglichen Möglichkeiten der schweizerischen »conférence de conciliation«
nicht nur über die umstrittene Passage einer Vorlage, sondern über die
gesamte Vorlage beraten darf. Im Rahmen eines deutsch-schweizerischen
Vergleichs ist darüber hinaus die deutlich intensivere Frequenz, mit der der
Vermittlungsausschuss eingeschaltet wird, erwähnenswert – ein Unterschied, der viel mit der Tatsache zu tun hat, dass eine umstrittene Maßnahme in der Schweiz zunächst zwischen National- und Ständerat hin- und
herpendelt, bevor als letzter Ausweg die »conférence de conciliation« mit
der Aufgabe der Konfliktschlichtung betraut wird. Ein wichtiger deutschamerikanischer Unterschied betrifft die jeweils geltenden Abstimmungsregeln. Während der Vermittlungsausschuss mit Mehrheit seiner Mitglieder
beschließt, arbeiten die amerikanischen »conference committees« auf der
Grundlage einer »unit rule«, bei der es gegensätzliche Mehrheiten der beiden Delegationen aus dem Repräsentantenhaus und dem Senat geben
kann.
8.4 Konklusion
Deutschland verköpert innerhalb der Familie der heute konsolidierten
Demokratien historisch den Typus eines Landes, das weder durch die
frühe Erlangung nationalstaatlicher Einheit und die Etablierung einer starken Einheitsstaatlichkeit noch durch eine überzeugende politisch-gesellschaftliche Begründung des Föderalismus und der Bundesstaatlichkeit
auffiel. Bis heute erscheinen vor allem die gesellschaftlichen Voraussetzungen eines genuin föderativen Gemeinwesens mit der dazugehörigen Wertschätzung von Vielfalt und Vielfältigkeit (auch und gerade auf der Ebene
politischer Lösungen und staatlicher Leistungen) wenig entwickelt. Obwohl das Prädikat der »Scheinbundesstaatlichkeit« von den meisten angelsächsischen Betrachtern noch stärker auf Österreich als auf Deutschland
bezogen wurde, blieb auch die Bundesrepublik weit davon entfernt, zu
einer »federal federation« (Verney 1995: 88) nach dem Muster der Vereinigten Staaten zu werden.
Mustercharakter erlangten nach 1945 vor allem einige der institutionellen Komponenten des föderativen Systems in Deutschland. Wie die vorausgehenden Betrachtungen zeigen, besitzen keineswegs alle Komponenten, die nach Lehmbruch (2002: 103) »den institutionellen Kern des deut-
DER BUNDESSTAAT
223
schen Bundesstaates« nach 1945 ausmachen – der Exekutivföderalismus
mit integrativer Kompetenzstruktur, die Bundesratskonstruktion und die
engen finanzwirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Steuerverbund als
Kernelement –, internationalen Ausnahmecharakter. Der Vergleich schärft
jedoch nicht nur den Blick für das Gemeinsame, sondern auch für die
Besonderheiten, die auf der Ebene der föderativen Institutionen zahlreicher und gewichtiger sind als in vielen anderen Teilbereichen des deutschen Regierungssystems. So gehörten zum komplexen System der Politikverflechtung in der Bundesrepublik nach 1969 eine Reihe institutioneller
Einrichtungen – allen voran der horizontale Finanzausgleich –, für die es in
anderen Systemen tatsächlich kein Pendant gibt. Die auffälligste Besonderheit verkörpert jedoch zweifelsohne der deutsche Bundesrat. Dies scheint
auf den ersten Blick nur für seine einzigartige Struktur – die Rekrutierung
seiner Mitglieder ausschließlich aus Delegierten der Landesregierungen –
zu gelten. Deutlich unspektakulärer ist, aus international vergleichender
Perspektive betrachtet, sein formales Machtpotential; in der Tat verfügen
viele zweite Kammern der übrigen hier berücksichtigten Länder über zum
Teil noch deutlich weiter gehende formale Mitwirkungs- und Vetorechte.
Nichtsdestoweniger gilt der Bundesrat mit Blick auf die Verfassungspraxis
zu Recht als die mächtigste zweite Kammer der parlamentarischen Bundesstaaten Westeuropas.
Maßgeblich verantwortlich dafür waren die außergewöhnlich günstigen
politischen Voraussetzungen für eine tatsächliche Inanspruchnahme der
unterschiedlichen Vetoinstrumente, allem voran die Struktur der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern. Diese allein hätten
jedoch kaum den spezifischen Charakter politischer Willensbildungs- und
Entscheidungsprozesse im parlamentarischen Bundesstaat der Bundesrepublik begründen können. Hinzukommen musste eine weitere Bedingung
auf der Ebene der politischen Parteien bzw. des Parteiensystems: Aus international vergleichender Perspektive – und speziell im Vergleich mit der
Situation in anderen parlamentarischen Bundesstaaten (Renzsch 2001) –
erscheint die Bundesrepublik, trotz erkennbarer Tendenzen in Richtung
einer Entkoppelung von nationalem und regionalem Parteienwettbewerb,
nach wie vor als ein System mit relativ stark zentralisierten bzw. integrierten Parteien. Erst diese Zentralisierung bzw. Integration schuf die Voraussetzungen für die effektive Verfolgung politischer Veto- und Mitregierungsstrategien der nicht an der Bundesregierung beteiligten Parteien über
224
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
den Bundesrat, für die das deutsche Bundesstaatsmodell nach 1945 internationale Berühmtheit erlangte.
In mancher Hinsicht erscheint die australische Föderation als die engste
Verwandte des föderativen Systems in der Bundesrepublik. Das gilt neben
dem parlamentarischen Charakter beider Systeme besonders im Hinblick
auf die Stärke der zweiten Kammern. Ein detaillierter Vergleich, wie ihn
der belgische Föderalismusexperte Wilfried Swenden (2004) vorgelegt hat,
lässt freilich auch die Grenzen deutsch-australischer Gemeinsamkeiten
erkennbar werden. Unterschiede betreffen nicht nur den zentralen Gegensatz zwischen integrativer und dualer Kompetenzstruktur im Bereich von
Gesetzgebung und Verwaltung oder das deutlich unterschiedliche Ausmaß
an Zentralisierung. Unterschiedlich stark sind auch die Rückwirkungen von
Zentralisierung und Dezentralisierung auf die zweite Kammer. In
Deutschland wuchs die Macht des Bundesrates proportional zu der Zentralisierung der Gesetzgebungskompetenzen beim Bund; in Australien
profitierten hingegen beide Kammern des Parlaments in gleichem Maße
von der (vergleichsweise moderateren) Zentralisierungstendenz. Aus der
spezifischen politisch-institutionellen Konstellation in Australien folgt
auch, dass eine Dezentralisierung legislativer Entscheidungskompetenzen –
anders als in der Bundesrepublik – kaum zu einem »Schleichpfad« hin zu
einer Schwächung des Senats gegenüber dem Repräsentantenhaus werden
könnte. Wer, aus welchen Gründen auch immer, die Repräsentation der
Interessen regionaler Gebietseinheiten auf Bundesebene schwächen wollte,
würde im australischen Kontext aber ohnehin kaum darauf verfallen, eine
Entmachtung des Senats zu betreiben, denn weitaus stärker als in der Bundesrepublik erfolgt die Vertretung von Interessen der regionalen Ebene in
Australien an der zweiten Kammer vorbei. Damit sind jedoch bereits Aspekte angesprochen, die mindestens so sehr in das Metier des »institutional
engineering« wie in das Gefilde der historisch reflexiven und international
vergleichenden Institutionenforschung fallen.
9 Verfassungsgerichtsbarkeit:
Die Vollendung der konstitutionellen
Gewaltenteilung
Wie die föderativen Institutionen gehört auch die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht zu jenen politischen Institutionen, die man zur gleichsam selbstverständlichen Grundausstattung liberal-demokratischer Systeme zählen
könnte. Das gilt insbesondere dann, wenn man von einem engeren Begriff
der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgeht, welcher voraussetzt, dass es innerhalb der jeweiligen Institutionenordnung ein spezielles Verfassungsgericht
gibt, dessen einzige Aufgabe im Schutz und in der Interpretation der Verfassung besteht. Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Sinne wird im Englischen mit dem Begriff »constitutional review« bezeichnet. Allerdings gibt
es auch in vielen Ländern, in denen diese institutionelle Voraussetzung
nicht erfüllt ist, Formen der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen auf
deren Verfassungsmäßigkeit, und zwar im Rahmen der »normalen« Gerichtsbarkeit. Rein quantitativ betrachtet ist diese institutionell »diffuse«
Ausprägung von Verfassungsgerichtsbarkeit für die alten Demokratien
sogar typischer als die erste Variante.177 Sie wird im angelsächsischen
Sprachraum als »judicial review« bezeichnet (Stone Sweet 2000: 32–33).
Gleichzeitig dient der Begriff »judicial review« jedoch verbreitet als Oberbegriff, der sowohl »dezentralized judicial review« als auch »centralized
systems of judicial review« (»constitutional review«) umfasst (Lijphart 1999:
225).
Da es im Rahmen dieses Kapitels nicht zuletzt um die Rekonstruktion
der unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und Entwicklungspfade
der Verfassungsgerichtsbarkeit geht, soll zunächst von ebendiesem breiten
Rahmenkonzept der Verfassungsgerichtsbarkeit178 ausgegangen werden,
——————
177 Dies im Gegensatz zu der weltweiten Entwicklungstendenz, welche durch einen
starken Einflussgewinn des Modells der »konzentrierten« Verfassungsgerichtsbarkeit gekennzeichnet ist (Starck 2004: 12).
178 In anderer Terminologie umfasst dieses die beiden Optionen einer Verfassungsgerichtsbarkeit »als Funktion oder eigene Institution« (Wahl 2001: 46). Diesem wei-
226
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
der soeben erwähnten spezielleren Unterscheidung hingegen erst im Zuge
weiter gehender Betrachtungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Beachtung geschenkt werden.
Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst in ihrer institutionell unselbständigen Variante des »judicial review« nicht zu einem flächendeckend
verbreiteten Kennzeichen liberaler Demokratie geworden ist, hat unter
anderem damit zu tun, dass jedwede Spielart von Verfassungsgerichtsbarkeit an bestimmte Mindestvoraussetzungen bezüglich des Verhältnisses
von Verfassung und Gesetz gebunden ist. Eine wie auch immer konkret
ausgestaltete Verfassungsgerichtsbarkeit kann es nur geben, wenn die Verfassung als eine höherrangige Ebene des Rechts, oberhalb der des Gesetzesrechts, akzeptiert ist. Innerhalb einer solchen Konzeption erscheinen
Verfassungsgerichte dann nicht nur als »Hüter der Verfassung«, sondern
zugleich als verbindliche Interpreten derselben. Damit tragen sie dazu bei,
den Vorrang der Verfassung in der Realität des Rechtslebens erträglich zu
machen, indem sie eine effektive und dynamische Anpassung der »starren«
Verfassungsnormen an die sich ständig wandelnden Bedürfnisse des gesellschaftlichen Lebens leisten und auf diese Weise die notwendigen Fortschritte der Gesetzgebung mit der Statik, dem »höheren Recht« der Verfassung in Einklang halten (Cappeletti/Ritterspach 1971: 109).
Eine solche Trennung zwischen Gesetzes- und Verfassungsrecht einschließlich der Anerkenntnis der Suprematie der Verfassung gehört historisch nicht zum gemeinsamen Grundkonsens der konsolidierten liberalen
Demokratien, obwohl sie für die große Mehrzahl der in dieser Studie berücksichtigten Länder charakteristisch ist. Den »klassischen Sonderfall«
verkörpert Großbritannien, wo die Doktrin der Parlamentssouveränität
und der Verzicht auf eine kohärente geschriebene Verfassung eine richterliche Kontrolle von Gesetzen auf deren Verfassungsmäßigkeit kategorisch
ausschloss. Großbritannien ist jedoch keineswegs das einzige Land aus der
Familie der etablierten liberal-demokratischen Systeme, in denen die Idee
der gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auf
Abwehr stieß. Als Hindernis eines Systems gerichtlicher Normenkontrolle
——————
ten Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit korrespondiert ein entsprechend
weiter Verfassungsgerichtsbegriff, unter den Gerichte gefasst werden, denen wesentliche verfassungsgerichtliche Kompetenzen zugewiesen sind; vgl. Weber (1986:
49).
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
227
in den Ländern französischer Tradition wirkte dabei weniger die Parlamentssouveränität als vielmehr die Doktrin der Volkssouveränität.179
Das Bekenntnis zur Volkssouveränität kennzeichnet auf den ersten
Blick praktisch alle repräsentativen Demokratien. Selbst in einem Land wie
Deutschland, das auf eine Geschichte zurückblickt, die stets durch ein
hohes Maß an Skepsis gegenüber dem Prinzip der Volksherrschaft geprägt
war und stattdessen stärker auf den Rechtsstaat baute, verzichtet die Verfassung nicht auf den ausdrücklichen Hinweis, dass alle Macht vom Volke
ausgehe. Aus einer spezielleren Vergleichsperspektive, die zwischen unterschiedlichen Realmodellen der Legitimation staatlichen Handelns (Volkssouveränität, Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität) unterscheidet (Abromeit 1995), ist der tatsächliche Stellenwert des Volkes in den
Verfassungsdoktrinen der liberalen Demokratien aber sehr unterschiedlich
stark ausgebildet. Im Kontext der Trias von Volkssouveränität, Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität erscheint die Bundesrepublik dabei als Prototyp eines auf die Doktrin der Verfassungssouveränität
gegründeten Gemeinwesens (ebd.: 52–53, 59–61).
Der nächste Abschnitt bietet einen kurzen Aufriss der historischen Genese der Verfassungsgerichtsbarkeit, die dem Verständnis des Konzepts
insgesamt dienlich ist. Im Anschluss daran geht es darum, die internationale Ausbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit in ihren unterschiedlichen
Spielarten zu rekonstruieren. Auf dieser Grundlage sollen schließlich die
Strukturmerkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik
behandelt und durch eine vergleichende Perspektive profiliert werden.
9.1 Die historischen Ursprünge des »judicial review«
im angelsächsischen Konstitutionalismus
Trotz wichtiger englischer Impulse stand die Wiege der gerichtlichen
Normenkontrolle nicht in England, sondern in den Vereinigten Staaten.
Von dort aus breitete sich das Prinzip auf unterschiedlichen Wegen und in
je spezifischer Ausprägung nach Europa, in die Commonwealth-Staaten
——————
179 Die daraus erwachsenden Vorbehalte in Frankreich selbst können mittlerweile als
weitgehend überwunden gelten. Vollständig abgelehnt wird eine wie auch immer
beschaffene richterliche Verfassungskontrolle hingegen nach wie vor in den Niederlanden (Weber 2004: 40).
228
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
und bis nach Japan aus. Die Pionierrolle, die die USA in diesem Bereich
spielten, war freilich nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass die
Amerikaner zugleich Vorreiter bei der Etablierung des modernen Konstitutionalismus – mit der ausdrücklichen Anerkennung der Suprematie der
Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetz – waren. Dabei fand das
Prinzip des »judicial review« bekanntlich keinen Eingang in die amerikanische Bundesverfassung von 1787. Ein wenig spitz formuliert beruht die
seit rund 200 Jahren akzeptierte Kompetenz des Supreme Court zur Überprüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung nicht auf verfassungsrechtlicher Grundlage, sondern auf »richterlicher Anmaßung« (Noll 1992:
16). Als Geburtsstunde der gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in den Vereinigten Staaten gilt die berühmte Entscheidung des Supreme Courts unter Chief Justice Marshall, »Marbury v.
Madison« (1803), in der aus dem in Art. VI, Abs. 2 der amerikanischen
Verfassung begründeten Vorrang der Verfassung ein richterliches Prüfungsrecht abgeleitet wird, das jedem Richter im Rahmen der Entscheidung eines anhängigen Rechtsstreits zustehe.
An der international vorherrschenden Bewertung des »Marbury«-Urteils
als Zeugnis des Durchbruchs von »judicial review« sind in der jüngeren
Literatur Zweifel angemeldet worden, die sich nicht zuletzt aus der genaueren Erforschung der politisch-historischen Dimension von »judicial review« im amerikanischen Regierungssystem speisen. Darauf sei hier im
Rahmen eines weiter ausgreifenden Rückblicks auf die historischen Entstehungsbedingungen der gerichtlichen Normenkontrolle eingegangen.
Dass es vor allem in der griechischen Antike, konkret in der athenischen Demokratie, aber auch im Mittelalter einzelne Elemente in der Konzeption von Gemeinwesen gab, die dem modernen Konstitutionalismus
hinsichtlich der Vorstellung der Höherrangigkeit bestimmter Normen (von
den griechischen »nomoi« bis zum mittelalterlichen Naturrecht) wesensverwandt sind, darf heute als weithin bekannt vorausgesetzt werden. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass historisch paradoxerweise gerade die
Suprematie des Parlaments in Großbritannien, die dort bis heute als »Bollwerk« gegen das Konzept des »constitutional review« wirkt, eine Katalysatorfunktion entfaltete, die in den amerikanischen Kolonien der Vorstellung
von der Suprematie der Verfassung und der Richter letztlich zum Durchbruch verhalf (Cappelletti/Ritterspach 1971: 78–81).
Die Doktrin der Parlamentssouveränität entwickelte sich auch in
Großbritannien erst im Gefolge der »Glorious Revolution« von 1688.
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
229
Kennzeichnend für die vorherrschende Rechtsvorstellung während der
vorausgehenden rund vier Jahrhunderte war die heute vor allem mit dem
Namen Sir Edward Cokes (1552–1634) verbundene Überzeugung, dass das
»common law« über dem vom Parlament erzeugten »statutary law« stehe
und weite Teile dessen dem Eingriff des Gesetzgebers entzogen seien. Die
Aufgabe, den Vorrang des »common law« gegenüber der Willkür des monarchischen Souveräns einerseits und des parlamentarischen Gesetzgebers
andererseits zu sichern, fiel in der Lehre Cokes den Richtern zu. Diese
Lehre aus der vorrevolutionären Epoche der englischen Geschichte galt
auch in den englischen Kolonien in Amerika.
Die in England als Ergebnis der »Glorious Revolution« vollzogene Abkehr von dieser Rechtsvorstellung und die gleichzeitige Hinwendung zur
Lehre von der Suprematie des Parlaments wurde in Amerika nicht mitvollzogen. Die großen Auseinandersetzungen blieben dort vielmehr am vorrevolutionären Referenzmodell orientiert. Dafür gab es einen wichtigen
Grund, der mit der ursprünglichen Vormachtstellung der englischen Gesetzgebung bzw. des englischen Parlaments in den Kolonien zu tun hatte.
Viele der englischen Kolonien in Amerika waren zunächst als Handelsgesellschaften gegründet worden, die nach den Statuten der englischen Krone
regiert wurden. Funktional betrachtet handelte es sich bei diesen Statuten
oder Satzungen um die ersten Verfassungen der Kolonien. In ihnen wurde
den Kolonien verbreitet das Recht zuerkannt, Gesetze zu erlassen – sofern
diese mit den Gesetzen der englischen Krone bzw. dem Willen des englischen Parlaments vereinbar waren. Diese Stoßrichtung wurde durch zahlreiche analoge Entscheidungen des englischen Privy Council (einer Nachfolgeinstitution des mittelalterlichen »inner council« der Berater des Monarchen und funktionaler Vorläufer des Kabinetts, welches in verfassungsrechtlicher Hinsicht bis heute den operativen Teil des Privy Council verkörpert) untermauert.
Somit sorgten die spezifischen entwicklungsgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der Kolonien und das Festhalten an der älteren englischen Lehre dafür, dass das jüngere englische Rechtsprinzip der unbeschränkten Vormachtstellung des parlamentarischen Gesetzgebers jenseits
des Atlantiks entscheidend zur Entstehung eines dem entgegengesetzten
Systems beitrug, in dem Parlamentsgesetze einer gerichtlichen Prüfung
unterzogen werden können. An dieser spezifischen Entwicklungslinie
knüpften die Kolonien an, als sie im Gefolge des siegreichen Unabhängigkeitskrieges gegen das englische Mutterland die älteren »Satzungen« durch
230
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
neue Verfassungen ersetzten, welche wiederum als höheres – und gerichtlich einklagbares – Recht konzipiert waren. Zwischen 1776 und 1787 verankerten nicht weniger als acht der damals dreizehn Kolonien die Möglichkeit der gerichtlichen Normenkontrolle ausdrücklich in ihrer Verfassung (Epstein/Walker 2001: 87).
Die Tatsache, dass das Prinzip einer gerichtlichen Normenkontrolle
somit letztlich eine »amerikanische Erfindung« darstellt, die mehr als jedes
andere Element des Verfassungsstaates der Neuzeit in anderen Ländern
auch just als solche wahrgenommen wurde, hat diesem Institut in den
Vereinigten Staaten selbst, vor allem in der Frühphase der Republik,
grundsätzliche Kritik keineswegs erspart. Es gab prinzipielle Vorbehalte,
die sich aus der Übernahme der Montesquieu’schen Gewaltenteilungslehre
mit der ihr eigenen Skepsis gegenüber der »dritten Gewalt« durch die politische Elite der Gründergeneration der Vereinigten Staaten ergaben. Allerdings erwiesen sich diese Barrieren im amerikanischen System der »separation of powers« letzten Endes als deutlich weniger beharrlich als in der
Mehrzahl der parlamentarischen Demokratien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (von Beyme 1988: 21–22).
Wie oben bereits angedeutet wurde, finden sich in der jüngeren amerikanischen Literatur verschiedene Neueinschätzungen der historischen
Herausbildung des »judicial review«. Die wohl wichtigste Frage bezieht sich
darauf, inwieweit »Marbury v. United States« aus einer politisch-historischen Perspektive betrachtet tatsächlich jenen Stellenwert für das Konzept
des »judicial review« besitzt wie weithin angenommen wird. Viele neuere
Untersuchungen bewerten die unmittelbaren Wirkungen des Urteils als
relativ bescheiden. Vorbehalte betreffen zum einen den rechtlichen Präzedenzcharakter der Entscheidung. Diesbezüglich wurde darauf hingewiesen,
dass bereits der »Judiciary Act of 1789« das Recht der Gerichtsbarkeit
anerkannt hatte, Gesetze der Einzelstaaten und des Bundes für nicht verfassungsmäßig zu erklären (Marcus 1996: 26–27). Ferner gab es während
der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts mehrere Fälle, in denen die Gerichte ohne größeres Aufsehen entsprechende Präzedenzfälle formulierten.
In diese Richtung weist schließlich auch die Tatsache, dass der Supreme
Court selbst viele Jahrzehnte lang darauf verzichtete, »Marbury« als Quelle
des Prinzips gerichtlicher Normenkontrolle zu zitieren; hierzu kam es nicht
vor 1887 (Clinton 1989: 120).
Die eigentliche Bedeutung des Urteils von 1803 liegt deshalb vermutlich eher darin, dass es eine zentrale Rolle dabei spielte, die prinzipielle und
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
231
zugleich weitgehend abstrakte Unterstützungsbasis für das Prinzip gerichtlicher Normenkontrolle in einem diesbezüglich skeptischen Umfeld zu
sichern.
»John Marshall […] preserved political support for judicial power by constructing
opinions that temporarily separated the issue of judicial review from other contested constitutional and political issues. The Marshall Court did so by vigorously
asserting judicial power in theory while declining to exercise it in practice.« (Graber
1999: 36)
Das »Marbury«-Urteil des Supreme Court selbst lässt sich als eine Entscheidung deuten, die mit Rüchtsicht auf die politischen Präferenzen des
dritten Präsidenten der USA, Thomas Jefferson, getroffen wurde bzw.
diesen zumindest deutlich entgegenkam (Epstein/Walker 2001: 74). Die
These, dass es dem Marshall Court nicht darum ging, sich als Bastion gerichtlicher Gegenmacht gegenüber der Exekutive und Legislative zu etablieren, wird auch durch den bemerkenswerten Umstand genährt, dass es
während der gesamten Amtszeit Marshalls (1801–1835) kein weiteres Urteil gab, durch das ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wurde. Dazu
kam es erneut erst mehr als ein halbes Jahrhundert später in »Scott v.
Sandford« (1857).
9.2 Die historische Ausbreitung von »judicial« und
»constitutional review« in den heute konsolidierten
liberalen Demokratien
In einem sehr allgemeinen Sinne kommt dem amerikanischen Modell der
gerichtlichen Normenkontrolle eine Vorbildfunktion für sämtliche demokratischen Verfassungsstaaten zu, in deren Verfassungsordnung dieses
Prinzip schließlich Eingang fand. Zu differenzierteren Aussagen kann
jedoch nur ein systematischer Zugriff gelangen. Die meisten Versuche
einer historisch-systematischen Rekonstruktion der Ausbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit in unterschiedlichen demokratischen Systemen
basieren auf der oben bereits eingeführten Unterscheidung zwischen einer
»diffusen« und einer »konzentrierten« gerichtlichen Normenkontrolle. Dem
amerikanischen Modell einer »diffusen« Normenkontrolle, in dem »der
oberste Gerichtshof Revisions- und Verfassungsgericht in einem ist«
232
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
(Starck 1990: 24), entspricht das Alternativmodell einer institutionell verselbständigten Verfassungsgerichtsbarkeit wie sie erstmals in der österreichischen Bundesverfassung von 1920 verwirklicht wurde. In der älteren
Literatur wurde deshalb zumeist von der amerikanischen und der österreichischen Variante gesprochen (Cappelletti/Ritterspach 1971: 82). In der
jüngeren Literatur wird letztere immer häufiger als »österreichisch-deutsches System« (Starck 2004: 12) bezeichnet, worin die große internationale
Ausstrahlungswirkung des (ungeachtet anderer Einflüsse) im Wesentlichen
nach österreichischem Muster errichteten deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck kommt. Ausgewählte Aspekte der Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland sind im nächsten
Abschnitt zu beleuchten. Hier geht es im Weiteren zunächst um die Topographie der unterschiedlichen Ausprägungen von Verfassungsgerichtsbarkeit in den heute konsolidierten liberalen Demokratien.
Zu den Ländern, die dem System der »diffusen« gerichtlichen Normenkontrolle folgten, gehören zunächst Kanada und Australien.180 Im asiatischen Raum zählt zu den Nachahmern des amerikanischen Modells Japan,
wo ein entsprechendes System nach dem Zweiten Weltkrieg unter starker
Mitwirkung der amerikanischen Besatzungsmacht errichtet wurde. Ausgeprägt war der Einfluss des amerikanischen Modells innerhalb Westeuropas
vor allem in Norwegen, dem damit eine europäische Vorreiterrolle zuwuchs (Smith 2000). Von den fünf skandinavischen Ländern wurde ein
richterliches Prüfungsrecht historisch nur in Schweden und Finnland abgelehnt; selbst dort kam es im Rahmen größerer Verfassungsreformen in
den Jahren 1975 bzw. 1999 zu einer Konstitutionalisierung des (freilich
unterschiedlich großzügig ausgestalteten) Prinzips der gerichtlichen Normenkontrolle. Ein genauerer Blick auf die skandinavischen Demokratien
lehrt jedoch, dass von der Bereitschaft, sich in Einzelfragen von den USA
inspirieren zu lassen, kaum auf weitreichende Übereinstimmungen des
——————
180 Obwohl die Verfassungsgerichtsbarkeit in Kanada erst im Gefolge der Verabschiedung der Grundrechtscharta (»Charter of Fundamental Rights and Freedoms«) im
Jahre 1982 vollends aufblühte, gelten die drei angelsächsischen Demokratien gemeinhin als die einzigen Länder, in denen »judicial review« bereits vor dem Zweiten Weltkrieg florierte (Shapiro 2002: 149). Auf der Grundlage dieser Beobachtung
bzw. Bewertung wurde die einflussreiche These über die institutionellen Voraussetzungen von »judicial review« formuliert, nach der die Entstehung entsprechender Strukturen vor allem durch die Existenz föderativer Systeme erklärbar ist (ebd.:
149–161).
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
233
politisch-gesellschaftlichen Kontextes geschlossen werden kann, in dem
sich »judicial review« zu bewähren hat.
Dies zeigt besonders der Fall Dänemark, dessen politisches System als
Ganzes stets deutlich stärker im Einflussbereich des britischen als des
amerikanischen Demokratiemodells stand. Die Verfassungsgerichtsbarkeit
wurde dort niemals verfassungsrechtlich kodifiziert, obwohl sie seit Beginn
des 20. Jahrhunderts als faktischer Bestandteil des dänischen Verfassungsrechts gilt. Das richterliche Prüfungsrecht bildete sich gleichsam als Gewohnheitsrecht heraus. Die Affinität des dänischen Demokratiemodells
zum britischen Westminster-Modell manifestiert sich nicht zuletzt in der
ausgeprägten Tendenz, im politischen Streitfall den Entscheidungsvorrang
jener Institution mit der größten demokratischen Legitimation – dem Parlament – einzuräumen. Diese Verfassungskultur findet ihren Widerhall in
einer auffallenden richterlichen Zurückhaltung in Fragen der gerichtlichen
Normenkontrolle. Ein wichtiger Unterschied gegenüber dem amerikanischen Mutterland des »judicial review« besteht in der ausgeprägten Homogenität der dänischen Gesellschaft, welche sich in einem hohen Maß an
Konsens und Solidarität niederschlägt. Folglich war und ist das funktionale
Bedürfnis nach einer unabhängigen Schlichtungsinstitution wie den Gerichten im dänischen Gemeinwesen deutlich geringer als in den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern aus der Familie der liberalen Demokratien (Mors 2002: 163–164, 175).
Mit je spezifischen Abweichungen hat das amerikanische Modell ursprünglich einen Vorbildcharakter auch in Ländern wie Irland oder der
Schweiz entfaltet. Während am irischen System vor allem Elemente der
präventiven Normenkontrolle erwähnenswert sind, ist die Besonderheit
des schweizerischen Systems – welches in seiner jüngeren Ausgestaltung
im Übrigen eher dem Modell der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit entspricht (Auer 1984) – in dem Umstand zu sehen, dass sich die
richterliche Verfassungskontrolle ausschließlich auf die Kantonsverfassungen, nicht hingegen auf die Bundesverfassung erstreckt.
Dem amerikanischen Referenzmodell setzte der österreichische Verfassungsgelehrte Hans Kelsen einen alternativen Typus der »konzentrierten«
Verfassungsgerichtsbarkeit entgegen, der erstmals im Rahmen der österreichischen Bundesverfassung von 1920 verfassungspolitisch und -rechtlich
realisiert wurde. Dem Modell Kelsens sind im Wesentlichen die folgenden
Aspekte eigen (Stone Sweet 2002: 79–80): Das Verfassungsgericht genießt
einen Monopolstatus hinsichtlich der Kompetenz, letztinstanzlich über die
234
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu entscheiden; gleichzeitig ist sein
Kompetenzbereich streng auf die Beilegung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten beschränkt; obwohl das Verfassungsgericht zur rechtsprechenden
Gewalt gehört, steht es – anders als der Supreme Court der Vereinigten
Staaten – außerhalb des normalen Systems richterlicher Gewalt; schließlich
kann es im Gegensatz zum amerikanischen Supreme Court Gesetze auf
deren Verfassungsmäßigkeit überprüfen, bevor sie angewendet wurden.
Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass Kelsen bei der Konstruktion seines
Modells einer institutionell verselbständigten Verfassungsgerichtsbarkeit
nachhaltig vom amerikanischen Modell inspiriert wurde. Rechtsdogmatisch
der Reinen Rechtslehre verpflichtet, knüpfte das Konzept historisch-empirisch eher an der Einrichtung des Reichsgerichtshofes an, welcher bei
Kelsen zu einem genuinen Verfassungsgerichtshof weiterentwickelt wurde.
Für die verfassungspolitische Durchsetzung des Kelsenianischen Modells
maßgeblich verantwortlich waren die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Situation eines
latenten Bürgerkrieges in den Gesellschaften mehrerer europäischer Länder nährte die Sehnsucht nach einer möglichst »unpolitischen« Schlichtungsinstanz (von Beyme 1988: 29–30). Dem amerikanischen Modell
schlug dabei seitens der westeuropäischen politischen Eliten unterschiedlicher Lager wenig Sympathie entgegen. Vor allem auf der Linken wurde es
verbreitet als ein System wahrgenommen, das eine weitreichende Aufteilung der politischen Entscheidungsgewalt zwischen der Legislative und
Exekutive einerseits und der Judikative andererseits institutionalisierte und
damit letztlich einer »Regierung der Richter« Vorschub leistete. »Kelsenian
constitutional review provided a means of defending constitutional law as a
higher law, while retaining the general prohibition on judicial review«, wie
ein angelsächsischer Autor formulierte (Stone Sweet 2002: 85). Vertreter
der Rechtswissenschaft haben auf einen weiteren, eher unscheinbaren, aber
gleichwohl wichtigen Grund für die Errichtung des österreichischen Modells und seinen Einfluss im europäischen Ausland hingewiesen. Danach
lässt sich das Bestreben einiger Länder, die Verfassungsrechtsprechung
nicht schlicht den bestehenden obersten Gerichtshöfen »aufzusatteln« und
stattdessen ein eigenständiges Verfassungsgericht zu schaffen, auch mit
dem spezifischen Profil und den Anforderungen des Richteramts dies- und
jenseits des Atlantiks begründen. Während den Richtern amerikanischer
Gerichte sowohl mit Blick auf die frühe historische Erscheinung der gerichtlichen Normenkontrolle in den USA als auch den Modalitäten der
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
235
Rekrutierung von Richtern des Supreme Court (welche keine Berufsrichter
sind) prinzipiell eine hinreichende Eignung und Qualifikation zuzutrauen
sei, berge eine Konfrontation einfacher Berufsrichter kontinentaleuropäischen Typs mit der Aufgabe einer »politiksensiblen« Auslegung von Verfassungsnormen die Gefahr einer strukturellen Überforderung in sich
(Cappelletti/Ritterspach 1971: 89–90).
Zu den Ländern, die dem österreichischen Modell nach 1945 folgten,
gehören ohne größere Einschränkungen die Bundesrepublik, Italien, Spanien und Portugal.181 Während in diesen Ländern »vollwertige«
Verfassungsgerichte geschaffen wurden, gibt es in Belgien und Griechenland lediglich Schiedsgerichtshöfe mit einem inhaltlich eingeschränkten
Kompetenzprofil (Weber 2004: 43). Nicht zufällig ist die Gruppe der Länder mit einem institutionell verselbständigten Verfassungsgericht (mit Ausnahme Belgiens) im Wesentlichen identisch mit jenen Demokratien, die
historisch aus autoritären Regimen hervorgingen und ihren verfassungsrechtlichen und demokratischen Neubeginn zugleich mit der Aufnahme
besonders ausgiebiger Grundrechtskataloge in ihren Verfassungen symbolisierten (Helms 2003a: 47). Es überrascht nicht, dass die Wirkung »historischer Erfahrungen«, neben der Existenz föderativer Staatsstrukturen, auch
in Studien, die sich des Verfahrens der Regressionsanalyse bedienen als
erklärungskräftigste Variable für die Entscheidung des Verfassungsgebers
zugunsten einer selbständig institutionalisierten Verfassungsgerichtsbarkeit
identifiziert wurde (Alivizatos 1995: 585–586).
Als Sonderfall in der Gruppe der größeren westeuropäischen Länder
galt lange Zeit die V. Republik Frankreich, welche heute jedoch weitgehend übereinstimmend zu jenen Ländern mit »konzentrierter« gerichtlicher
Normenkontrolle gezählt wird. Eine erste Besonderheit bezieht sich darauf, dass es sich bei den Mitgliedern des Conseil constitutionnel nicht um
Richter handelt. Formal ist keinerlei spezielle fachliche Qualifikation gefordert, insbesondere keine juristische Vorbildung.182 Nicht minder bemer-
——————
181 Für Italien, Portugal und Belgien, ganz besonders aber für Spanien, wurde weniger
der österreichische Verfassungsgerichtshof als das deutsche Bundesverfassungsgericht zum direkten Vorbild institutionalisierter Verfassungsgerichtsbarkeit (Knaak
1995).
182 Historischer Hintergrund dieser Bestimmung ist – zusätzlich zu den tief
verwurzelten ideologischen Vorbehalten gegenüber jeder eigenständigen Machtposition der »dritten Gewalt« – die bis heute nachwirkende Erfahrung der Franzosen
mit den häufig willkürlich anmutenden Eingriffen von Richtern während der vor-
236
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
kenswert ist der Umstand, dass die Verfassungsmäßigkeitsüberprüfung
durch den Conseil grundsätzlich präventiven Charakter besitzt. Eine Stellungnahme des Gerichts auf Antrag einer der initiativberechtigten Akteure
ist nur vor der Verkündung eines Gesetzes, im Rahmen einer knappen
Frist, möglich. Eine weitere institutionelle Beschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich wurde 1974 durch die neu geschaffene Möglichkeit einer parlamentarischen Minderheit, ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen, überwunden. Bereits drei Jahre zuvor
wurde die Position der Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen System
Frankreichs durch die aufsehenerregende Entscheidung des Verfassungsrates, die französische Menschenrechtserklärung aus dem Jahre 1789 zu
einem Bestandteil der Verfassung der V. Republik zu erklären, strukturell
aufgewertet. In der jüngeren Literatur über den Conseil constitutionnel
wird dieser gleichsam selbstverständlich zu den einflussreichen politischen
Akteuren im französischen Regierungssystem gerechnet (Blachèr 2003;
Meunier 2003).
9.3 Entstehungskontext, institutionelles Profil und politische
Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts im Vergleich
Mit Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte vor dem Zweiten Weltkrieg lässt sich das Bundesverfassungsgericht als das innovativste der insgesamt fünf Verfassungsorgane der Bundesrepublik bezeichnen. Es war in
der Tat »die einzige völlige Neuschöpfung des Grundgesetzes« (Fromont
1999: 493). Seine Errichtung markierte gleichsam »die späte Erfüllung eines
lang gehegten liberalen Traums des 19. Jahrhunderts« (Blankenburg 1996:
308). Das bedeutet nicht, dass es konkrete Ansätze zur Errichtung eines
entsprechenden Systems nicht bereits lange vor der Schaffung der deutschen Nachkriegsordnung gegeben hätte.
Eine wichtige Vorläuferfunktion im Hinblick auf die Normenkontrolle
kam dem bayerischen Verfassungsgerichtshof zu. Hinsichtlich der gerichtlichen Erledigung bundesstaatlicher Streitigkeiten spielte der Weimarer
Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich eine zentrale Rolle. Dabei han-
——————
revolutionären Epoche, in der der Richterstand mehrheitlich als erbitterter Gegner
liberaler Reformen auftrat (Cappelletti/Ritterspach 1971: 93–94).
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
237
delte es sich nicht lediglich um einen institutionellen Vorgänger von historischem Wert; vielmehr nahm das Bundesverfassungsgericht in der Frühphase seiner Tätig explizit auf die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs
Bezug (Starck 1990: 17).
Dass sich die Vorgeschichte der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit
in Deutschland schwerlich als kontinuierliche Erfolgsgeschichte lesen lässt,
hat vor allem etwas mit dem folgenschweren Scheitern der PaulskirchenVerfassung und ihren weitreichenden Ambitionen auf Errichtung eines
Systems der Verfassungskontrolle zu tun. Während des Bismarck-Reichs
herrschte die Auffassung vor, dass Fragen der politischen Ordnung nicht
von Richtern in Auseinandersetzung mit der Verfassung, sondern in der
politischen Arena mit politischen Mitteln zu entscheiden seien. Die Entscheidungskompetenz bei Streitigkeiten zwischen Bundesgliedern wurde in
die Hände des Bundesrates gelegt. Auch die Kompetenzen des Weimarer
Staatsgerichtshofes reichten nicht über den Bereich staatsrechtlicher Streitigkeiten hinaus. Die Normenkontrolle wurde dem Reichsgericht anvertraut, und als »pouvoir neutre« im Weimarer System fungierte nicht der
Staatsgerichtshof, sondern der Reichspräsident (Wehler 1979).
Die Debatten über die Schaffung einer Verfassungsgerichtsbarkeit im
Paulskirchen-Parlament standen noch stark unter dem Einfluss des amerikanischen Modells. Die Diskussionen im Parlamentarischen Rat, die sich in
theoretischer Hinsicht primär am österreichischen Modell orientierten,
wurden demgegenüber maßgeblich geprägt von den unmittelbaren Eindrücken des nationalsozialistischen Unrechtsregimes und dem Bestreben, an
konstitutionelle Traditionen aus dem historischen Vorfeld der BismarckÄra anzuknüpfen (von Beyme 1988: 26, 33). Nichtsdestotrotz wurde die
konkrete Ausgestaltung einer zu schaffenden Verfassungsgerichtsbarkeit
kontrovers diskutiert. Nachdem sich das Konzept einer »wehrhaften Demokratie« als verfassungspolitische Präferenz der Mehrheit herauskristallisiert hatte, verlagerte sich die Auseinandersetzung bald auf die Frage nach
der Aufteilung bzw. Zuweisung institutioneller Kompetenzen. Der Bundespräsident als potentieller »Hüter der Verfassung« schied aufgrund der
problematischen Weimarer Erfahrungen rasch aus der Diskussion aus,
ohne dass damit bereits die Basis für eine Einigung auf eine bestimmte
Alternative gelegt war. Von Adenauer und Teilen der CDU wurde zeitweilig eine Lösung favorisiert, nach der der Bundesrat mit der Befugnis ausgestattet werden sollte, sämtliche Gesetzesbeschlüsse des Bundestages auf
ihre Verfassungskonformität hin überprüfen und gegebenenfalls aufheben
238
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
zu können. Der Vorschlag entsprang freilich parteipolitischen Erwägungen
(konkret der damaligen Dominanz der CDU auf Länderebene) und forderte folglich den Widerspruch der übrigen Parteien im Parlamentarischen
Rat heraus. Schließlich fand die Zuweisung der obersten Aufsicht über das
Grundgesetz an eine spezielle, eigenständige Institution die Unterstützung
einer überfraktionellen Mehrheit, wobei die besondere politische Brisanz
des Auswahlverfahrens für die Mitglieder des Gerichts von allen Beteiligten klar erkannt wurde (Niclauß 1998: 237–238).
Die konkrete Ausgestaltung der Institution eines Bundesverfassungsgerichts legte der Parlamentarische Rat in die Hände des Gesetzgebers, der
seinem Auftrag mit der Verabschiedung des (in der Folge mehrfach geänderten) Bundesverfassungsgerichtsgesetzes von 1951 nachkam. Zu den
institutionellen Auffälligkeiten des Bundesverfassungsgerichts gehört aus
international vergleichender Perspektive betrachtet dessen Konstruktion
als »Zwillingsgericht«, das aus zwei Senaten mit exklusivem Zuständigkeitsbereich und eigenem Richterpersonal besteht. Die ursprünglich realisierte Arbeitsteilung zwischen beiden Senaten wies dem Ersten Senat eine
sehr breit bemessene Entscheidungskompetenz zu, während der Zweite
Senat sich ausschließlich den »politischen« Angelegenheiten wie der abstrakten Normenkontrolle oder Organstreitigkeiten zu widmen hatte. Wie
einer der besten ausländischen Kenner der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben hat, war diese organisatorische »Zweiteilung«
gleichsam institutioneller Ausdruck der alten Auseinandersetzung zwischen
denen, die das Gericht aus einer konventionell juristischen Perspektive
sahen, und jenen, die dessen politischen Charakter betonten (Kommers
1997: 17).
Die ursprüngliche Kompetenzstruktur erwies sich angesichts der chronischen Überlastung des Ersten Senats indes bereits nach wenigen Jahren
als reformbedürftig. Der Zuständigkeitsbereich des Zweiten Senats wurde
signifikant erweitert. Ferner wurde ein »Kammersystem« mit dem Ziel
einer Vorprüfung von Verfassungsbeschwerden durch eine jeweils drei
Richter umfassende »Kammer« eingerichtet; sowohl der Zuständigkeitsbereich als auch die Entscheidungskompetenz der Kammern wurden im
Rahmen nachfolgender Rationalisierungsmaßnahmen ausgedehnt.
Andere Veränderungen des institutionellen Profils des Gerichts betrafen die Anzahl und die zulässige Amtszeit von Richtern. Die ursprüngliche
Anzahl von zwölf Richtern pro Senat wurde in zwei Schritten bis Anfang
der sechziger Jahre auf acht reduziert. Auch von der Möglichkeit zu Le-
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
239
benszeiternennungen nahm man bereits zehn Jahre nach Errichtung des
Gerichts zugunsten einer auf maximal zwölf Jahre beschränkten Amtszeit
(ohne Möglichkeit der Wiederwahl) Abschied. Selbst die auf insgesamt 16
reduzierte Zahl von Richtern des Bundesverfassungsgerichts stellt im internationalen Vergleich noch einen Spitzenwert dar; er erscheint angesichts
des weit überdurchschnittlich breiten Kompetenzprofils des Gerichts jedoch als vertretbar (Heun 2004: 215). Am nächsten kommt der personellen
Ausstattung des Bundesverfassungsgerichts die fünfzehnköpfige Gruppe
von Richtern am Obersten Gerichtshof Japans. Am vergleichsweise bescheidensten ist die Anzahl der Mitglieder des amerikanischen Supreme
Court und des französischen Conseil constitutionnel mit jeweils neun.
Einen Sonderfall bildet das Schweizerische Bundesgericht mit seinen 30
Mitgliedern, von denen jedoch nur ein kleiner Teil mit staats- und verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten befasst ist. Auch die zulässige zwölfjährige
Amtszeit von Richtern des Bundesverfassungsgerichts erscheint im internationalen Vergleich als großzügig; sie wird formal (aber – mit Ausnahme
der USA – nur vereinzelt in der Praxis) in jenen Ländern übertroffen, in
denen es Berufungen auf Lebenszeit gibt (neben den USA auch Belgien
und Österreich). Mit lediglich zwei Jahren außergewöhnlich kurz ist die
Amtszeit der griechischen Richter, für die jedoch, analog zu den Regeln in
einigen anderen Ländern mit eher kurzen Amtszeiten von Richtern, die
Möglichkeit der Wiederwahl besteht.
Zu den nach einhelliger Auffassung politischsten Aspekten der Organisation des Gerichts gehören die Regeln – und mehr noch die Praxis – der
Richterbestellung. Dem formal vorgesehenen Verfahren, nach dem die
eine Hälfte der Richter vom Wahlmännerausschuss des Bundestages183 und
die andere Hälfte vom Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit gewählt
wird, entspricht in der Praxis ein hochgradig informalisiertes Verfahren,
das stark im Zeichen einer proporzmäßigen Aufteilung der Richterstellen
zwischen den beiden größen Parteien, CDU und SPD, steht (Helms 1999d:
147–148). Ein starker Einfluss parteipolitischer Eliten auf die Richterauswahl, mit häufig proporzorientiertem Ergebnis, kennzeichnet auch das
Rekrutierungsverfahren in der Mehrzahl der anderen konsolidierten liberalen Demokratien. Das klassische Beispiel eines Systems mit einem politisierten, aber nicht im engeren Sinne parteipolitisierten Verfahren ohne
Proporz verkörpern nach wie vor die USA. Die Auswirkungen der fast
——————
183 Bis 1956 war bei Richterwahl durch den Wahlmännerausschuss des Bundestages
eine Dreiviertelmehrheit seiner Mitglieder erforderlich.
240
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
überall prominenten Rolle der Parteien im Rekrutierungsprozess sind umstritten: Gilt sie Kritikern als problematisches Strukturelement, welches
sowohl die Integrität als auch das Ansehen der Richter beschädigt, so erscheint sie anderen Betrachtern als eine Komponente, die geeignet ist, die
demokratische Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit institutionell zu
stärken (von Brünneck 1992: 50).
Durch eine beträchtliche Spannweite gekennzeichnet sind die Regeln
für die Beteiligung unterschiedlicher staatlicher Akteure am Rekrutierungsverfahren. Eine Wahl der Richter durch das Parlament wie in der Bundesrepublik gibt es nur in der Schweiz und in Belgien. In den meisten anderen
westeuropäischen Ländern wirken Legislative und Exekutive zusammen.
Dieser Modus kennzeichnet auch das Verfahren in den USA, bei dem
Präsident und Senat zur Kooperation gezwungen sind. Weniger üblich ist
eine Konzentration der Rekrutierungskompetenzen bei der Bundesregierung, wie in Kanada und Australien, aber auch in Japan184, oder die
Einbeziehung der Judikative in das Rekrutierungsverfahren, wie in Portugal
und Spanien. Die – nicht nur aus deutscher Sicht – eigenartigste Variante
der Richterrekrutierung findet sich in Griechenland, wo die Mehrheit der
Richter des Sondergerichtshofes per Losverfahren aus der Gruppe der
Richter an den obersten Gerichtshöfen des Landes bestimmt wird (Heun
2004: 218).
Vor einer vergleichenden Betrachtung des Kompetenzprofils des Bundesverfassungsgerichts sei noch auf eine weitere, viel beachtete institutionelle Reform der internen Verfahrensorganisation des Gerichts hingewiesen: die 1970 geschaffene Möglichkeit zur Veröffentlichung »abweichender
Voten«. Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates spielte dieser
Aspekt noch keinerlei Rolle. Ein entsprechender Plan wurde erstmals im
Rahmen der Debatte über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz von der
SPD verfochten. Dabei scheiterten die Sozialdemokraten jedoch am Widerstand der Union, die den Vorschlag mit dem Hinweis auf befürchtete
Autoritätseinbußen des Gerichts zurückwies (Lietzmann 1985: 53–54).
Erst als die Christdemokraten 1969 selbst in die Opposition gerieten, gaben sie ihren Widerstand gegen das Institut der »abweichenden Voten« auf.
Es ist im Übrigen kein Zufall, dass die Einführung des Sondervotums und
die neue Amtszeitregelung für Mitglieder des Gerichts (Festsetzung der
——————
184 Angesichts der jahrzehntelangen Vormachtstellung einer einzigen Regierungspartei, der LDP, waren die Auswirkungen dieser Praxis in Japan besonders markant
(Kudo 2004: 229–230).
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
241
Amtszeit auf maximal zwölf Jahre und Verbot der Wiederwahl) gleichzeitig
vorgenommen wurden. Die Einführung des Sondervotums – zu der sich
später auch eine Reihe anderer europäischer Länder entschloss (von
Brünneck 1992: 48–52) – entsprang dem Wunsch nach mehr Transparenz
und Offenheit des gerichtlichen Entscheidungsverfahrens. Da hierdurch
einzelne Mitglieder des Gerichts ungleich stärker individuell exponiert
werden, zielte die neue Amtszeitregelung auf eine zusätzliche Absicherung
der richterlichen Unabhängigkeit (Rau 1996: 155–156).
Von Ausnahmejahren abgesehen blieb die Quote veröffentlichter Minderheitenvoten seit 1971 im einstelligen Prozentbereich – ein gemessen an
den deutlich höheren Zahlen im Ursprungsland des Sondervotums, den
USA, bescheidener Wert. Dort findet regelmäßig weniger als die Hälfte
aller Supreme Court-Entscheidungen die uneingeschränkte Unterstützung
sämtlicher Richter. Die ungleich höhere Quote von »separate opinions« an
den Entscheidungen des Supreme Court spiegelt nicht zuletzt die stark
unterschiedlichen Rechts- und Rechtsprechungstraditionen beider Länder
wider. Im Gegensatz zu den USA gilt für die Bundesrepublik, dass der
gerichtliche Entscheidungsprozess seitens der Richterschaft traditionell als
Kollegialaufgabe und der hierzulande weitaus üblichere Verzicht auf die
Formulierung eines Minderheitenvotums gleichsam als Ausdruck »institutioneller Loyalität« betrachtet werden (Kommers 1997: 26).
Das Kompetenzprofil des Bundesverfassungsgerichts erscheint im internationalen Vergleich als geradezu einzigartig großzügig. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen sowohl die Bund-Länder-Streitigkeiten und der
Organstreit (als klassische Elemente der Staatsgerichtsbarkeit) als auch die
abstrakte und konkrete Normenkontrolle. Hinzu kommt die Verfassungsbeschwerde, die es einer Einzelperson gestattet, sich nach Erschöpfung des
Rechtsweges an das Bundesverfassungsgericht zu wenden, sofern sie sich
in ihren Rechten verletzt sieht. Aus dem denkbaren Maximalensemble
verfassungsgerichtlicher Zuständigkeiten fehlt nur die Popularklage, auf die
bewusst verzichtet wurde, um das Gericht nicht in ungebührlicher Weise
zur Anlaufstelle von diffusen Bürgerprotesten zu machen. Das Kompetenzprofil des Gerichts ist seit dessen Errichtung im Jahre 1951 praktisch
unverändert geblieben. Die 1956 vom Bundestag beschlossene Aufhebung
der Möglichkeit, den Bundespräsidenten bzw. die Bundesregierung mit
juristischen Fachgutachten zu versorgen, stellt die einzige nennenswerte
Korrektur am Zuständigkeitsbereich des Gerichts dar; sie erfolgte im Übrigen auf Anregung der Karlsruher Richter hin.
242
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Den meisten anderen Verfassungsgerichten bzw. obersten Gerichten
der konsolidierten liberalen Demokratien fehlen gleich mehrere Zuständigkeiten, über die das Bundesverfassungsgericht verfügt.185 Als »eigentliche
Besonderheit der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit« wurde in breit
vergleichend angelegten Arbeiten die »Verbindung von institutioneller
Selbständigkeit mit der Urteilsverfassungsbeschwerde und dem Organstreit« identifiziert (Wahl 2001: 51). Besondere Erwähnung verdient die
Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem Organstreit und der
Normenkontrolle – im Gegensatz zu den Verfassungs- bzw. obersten
Gerichten anderer Länder – mit sämtlichen relevanten Rechtsprechungsaufgaben im genuin politischen Bereich betraut ist.186
Gemessen an der Anzahl vergleichender Studien über viele andere Institutionen der liberalen Demokratie steckt die komparative Erforschung
der Rolle von Gerichten im politischen Entscheidungsprozess noch weitgehend in den Anfängen. Traditionell wurde bei der Suche nach grundlegenden, nicht lediglich situativ relevanten Erklärungsfaktoren für den unterschiedlichen Stellenwert von Verfassungsgerichten im politischen Prozess vor allem auf die Wirkungen unterschiedlicher Rechtskulturen rekurriert. In kritischer Reaktion auf diese enge bzw. verengte Sicht hat der
griechische Verfassungsrechtsgelehrte Nicos C. Alivizatos für die parlamentarischen Demokratien Westeuropas eine statistisch-empirische Bestandsaufnahme der potentiellen Prägefaktoren vorgelegt, in der auch eine
Reihe anderer möglicher Einflüsse gemessen wurden (Alivizatos 1995). Zu
den bei Alivizatos (zusätzlich) berücksichtigten Variablen gehören: der
institutionelle Dezentralisierungsgrad der staatlichen Ordnung eines Landes, der Polarisierungsgrad des Parteiensystems, die Anzahl von »Veto-
——————
185 Das gilt selbst für die funktional am engsten mit dem Bundesverfassungsgericht
verwandten Schwesterinstitutionen, die Verfassungsgerichte Österreichs, Italiens
und Spaniens. Keines der Verfassungsgerichte dieser Länder verfügt über die
Möglichkeit des Parteiverbots, die dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 21,
Abs. 2 GG offensteht. Der österreichische Verfassungsgerichtshof ist überdies
auch nicht mit Organstreitigkeiten befasst. Vor dem italienischen Corte costituzionale sind demgegenüber keine Verfassungsbeschwerden möglich. Als eigentlicher
»Zwillingsbruder« des Bundesverfassungsgerichts erscheint das weitgehend nach
seinem Vorbild geschaffene spanische Tribunal constitucional.
186 Ein Vergleich unterschiedlicher Verfahrensarten in der Praxis hat zu der These
geführt, dass die abstrakte Normenkontrolle jene Verfahrensart darstelle, bei der
das Gericht prinzipiell am stärksten gezwungen sei, sich politisch zu exponieren
(Kommers 1997: 28).
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
243
spielern« innerhalb eines Systems187, das Ausmaß »parlamentarischer
Anomalien« seit dem Ersten Weltkrieg (Erfahrungen eines Landes mit
Diktaturen oder undemokratischen Regimewechseln), schließlich der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dabei gelangt Alivizatos zu dem Ergebnis, dass
»gerichtlicher Aktivismus« – unter sonst gleichen Bedingungen – vor allem
das Produkt dreier Einflussvariablen ist: eines hohen Grades an Dezentralisierung der staatlichen Ordnung, eines hinsichtlich der Links-RechtsDimension hochgradig polarisierten Parteienwettbewerbs sowie einer großen Anzahl von Vetospielern (ebd.: 586). Die Bundesrepublik erscheint
dabei als einer jener seltenen Fälle, in dem (mit nur geringfügigen Einschränkungen hinsichtlich des Kriteriums »Polarisierungsgrad des Parteiensystems«) alle institutionellen Faktoren, die eine starke Justizialisierung
strukturell begünstigen, gegeben sind.
Wer den hohen Stellenwert des Bundesverfassungsgerichts im politischen Prozess der Bundesrepublik erklären will, wird jedoch über rein
institutionelle Erklärungsfaktoren hinausgreifen müssen. Vor allem ausländische Beobachter haben den rasanten Aufstieg der Verfassungsgerichtsbarkeit im westlichen Teil Deutschlands nach 1945 in einen engen Zusammenhang mit den ansehnlichen ökonomischen Erfolgen der deutschen
Nachkriegsdemokratie gerückt. Bei Martin Shapiro (2002: 159) erscheint
dieser Faktor gar als die wichtigste Erklärung für die rasche Verwurzelung
der Verfassungsgerichtsbarkeit – »people who are getting rich find it easy
to love rights«, wie der Autor spitz formuliert. Als mindestens vergleichbar
wichtig wie die ökonomischen Rahmenbedingungen gilt jedoch die Wirkung kultureller Faktoren – konkret die vor allem in der frühen Nachkriegszeit noch auffallend »unpolitische« und wenig demokratiefreundliche
politische Kultur der Deutschen. Demnach ist das hohe Ansehen des Gerichts in beträchtlichem Maße auf den ausgeprägten Legalismus und die
überwiegend negativen Einstellungen der Bevölkerung zu politischen Konflikten zurückzuführen (von Bryde 2002: 340). Die These passt zu den
Befunden der jüngeren empirischen Forschung, welche zeigen konnte, dass
das Vertrauen in die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit hoch ist
»und dies auf lange Sicht auch unabhängig von konkreten Entscheidungen,
——————
187 Darunter werden in Anlehnung an die Unterscheidung bei Tsebelis (2002) sowohl
»partisan vetoplayers« – die Anzahl der Regierungsparteien – als auch »institutional
veto players« – wie Staatsoberhäupter oder vetomächtige »zweite Kammern« –
verstanden (ebd.: 583).
244
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
ihrer Akzeptanz oder ihrer Ablehnung« (Vorländer/Schaal 2002: 368).
Entscheidend für den politisch-gesellschaftlichen Erfolg des Bundesverfassungsgerichts (und mit ihm des abstrakteren Konzepts der Verfassungsgerichtsbarkeit) war ferner die Integrität und Kompetenz seines Personals.
Das Bundesverfassungsgericht »konnte eine Autorität, die es im Grunde
eher undemokratischen Traditionen verdankt, nutzen, die Deutschen zur
Demokratie zu erziehen« (Bryde 1999: 201). Ein wichtiger Impuls ging
dabei nicht zuletzt von den zahlreichen kontrovers diskutierten Urteilen
des Gerichts aus. Sie waren dafür verantwortlich, dass das Gericht nicht
nur wesentlichen Anteil an der politischen Integration, sondern zugleich an
der im engeren Sinne demokratischen Integration des Gemeinwesens hatte
(Vorländer/Schaal 2002: 370).
In politikwissenschaftlichen Bestandsaufnahmen der Funktionen des
Bundesverfassungsgerichts im politischen System erscheint die Integrationsfunktion freilich nur als eine neben zahlreichen anderen. Uwe
Kranenpohl (2004: 44) nennt derer nicht weniger als acht (mit allerdings
vermeidbaren Überschneidungen zwischen den einzelnen unterschiedenen
Funktionen). Keineswegs völlig verschieden von der Situation in anderen
Ländern, konzentrierte sich die öffentliche und fachwissenschaftliche
Aufmerksamkeit auf die Rolle des Gerichts im legislativen Prozess (von
Beyme 2001b: 501–504; Landfried 1984, 1988). Über die, gemessen an der
Häufigkeit und Prominenz der Beteiligung des Gerichts an politischen
Entscheidungen, ausgeprägte Justizialisierung des politischen Prozesses
besteht heute weitgehende Einigkeit. Gestritten wird zum einen über die
Gründe, zum anderen über die Auswirkungen des nach verbreiteter Einschätzung übermäßig weitreichenden Einflusses des Gerichts. Im Rahmen
der Diskussion der Ursachen der prominenten Rolle des Gerichts im politischen Entscheidungsprozess wurde dem populären Vorwurf eines ungebührlichen Aktivismus der Richter die These vom Missbrauch des Gerichts
durch die Politik entgegengesetzt (Limbach 1999). Nicht minder konträr
sind die Standpunkte im Hinblick auf die Wirkungen der Justizialisierung.
In den Augen vieler Beobachter führt die ausgreifende Aktivität des Bundesverfassungsgerichts mit zunehmender Zeitdauer zu einer bedenklichen
Begrenzung der dem parlamentarischen Gesetzgeber offenstehenden gestalterischen Alternativen (Landfried 1994b: 119). Andere Autoren bewerten das Verhalten des Gerichts deutlich positiver, im Sinne einer »Verteidigung der Politik gegenüber dem Attentismus der Parteiendemokratie«
(Guggenberger 1998: 210). Dabei erscheinen Einmischungen des Gerichts
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
245
als eine – prinzipiell willkommene – »nachholende Politisierung«, der zumeist kompensatorische Züge eigen seien (ebd.: 212; vgl. von Brünneck
1992: 153–184).
Kaum weniger umstritten ist die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht lediglich ein »Parallelgesetzgeber« bzw. »Ersatzgesetzgeber« oder gar
eine »Gegenregierung« bzw. ein »Gegengesetzgeber« sei. Nicht von der
Hand zu weisen ist die Tatsache, dass es immer wieder aufsehenerregende
Einzelentscheidungen des Gerichts gegeben hat, mit denen Mehrheitsbeschlüsse des parlamentarischen Gesetzgebers verfassungsrechtlich angefochten wurden. Gerade in den neunziger Jahren gab es wiederholt Anzeichen einer »antizyklischen Urteilspolitik« (Guggenberger 1998: 208). In der
jüngeren Vergangenheit gehörten dazu etwa Entscheidungen zur Hochschulgesetzgebung der rot-grünen Bundesregierung (Juniorprofessur, Studiengebühren), ferner das Urteil über das auf höchst eigentümliche Weise
zustande gekommene »Zuwanderungsgesetz« (Starck 2003). Weiter ausgreifende historische Bestandsaufnahmen zeichnen jedoch insgesamt ein
anderes Bild. Nach einer Untersuchung von Göttrik Wewer (1991) tendierte das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik
eher dazu, die grundlegenden Weichenstellungen politischer Mehrheiten
durch seine Spruchpraxis zu unterstützen, anstatt die Position einer »Gegenregierung« einzunehmen. Dies wurde mit dem Bestreben des Gerichts
erklärt, sein hohes öffentliches Ansehen durch eine möglichst geschmeidige Einfügung in das politisch-soziale Kräftefeld zu bewahren bzw. zu
befördern. Die auffallend kritische Haltung des Gerichts gegenüber zahlreichen Reformmaßnahmen der sozial-liberalen Koalition (Biehler 1990)
ließe sich demnach aus der Stärke der Christdemokraten nicht nur im Bundestag, sondern auch und vor allem in den Ländern und im Bundesrat
erklären.
Als praktisch unvermeidliche Folgewirkung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit gilt heute die inhaltliche und formale Verrechtlichung des
politischen Prozesses: »In the end, governing with judges means also governing like judges«, wie Alec Stone Sweet (2000: 204) in seiner viel beachteten Studie hierzu lakonisch feststellt. Angesichts der kennzeichnenden
Verbindung besonders weitreichender verfassungsgerichtlicher Kompetenzen und günstiger politisch-gesellschaftlicher Rahmenbedingungen der
Verfassungsgerichtsbarkeit kann es kaum überraschen, dass Deutschland
sowohl im Hinblick auf die inhaltliche als auch die formale Verrechtlichung des politischen Prozesses (im Sinne einer großen Bedeutung verfas-
246
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sungsrechtlicher Argumente im Rahmen politischer Auseinandersetzungen) als Musterbeispiel dieser internationalen Entwicklungstendenz gilt
(von Brünneck 1992: 130–131).
9.5 Konklusion
Die Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere in ihrer institutionell verselbständigten Variante, gehört ohne Zweifel zu den erfolgreichsten Erfindungen der jüngeren Geschichte der liberalen Demokratie. Theoretisch für das
Gedeihen eines Regimes liberal-demokratischer Prägung nicht zwingend
erforderlich, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit in den vergangenen Jahrzehnten gleichwohl immer mehr zu einem festen Bestandteil der Idee der
liberalen Demokratie und ihrer institutionellen Konkretisierung geworden.
Das belegen nicht zuletzt die Verfassungsneugründungsprozesse in den
jungen Demokratien Osteuropas. Kaum ein Land verzichtete auf die
Schaffung eines Verfassungsgerichts, und in vielen Ländern spielten gerade
die Verfassungsgerichte eine entscheidende Rolle bei der Konsolidierung
der neuen Ordnung (Brunner 1993; Schwartz 1998).188
Obwohl in Deutschland die Rechtsstaatlichkeit historisch bedeutend
größergeschrieben wurde als die Demokratie, blieb der deutsche Beitrag
zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit bis nach 1945 bescheiden.
Umso bemerkenswerter ist es, dass das Bundesverfassungsgericht als institutioneller Träger der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik
nicht nur die international bekannteste Einrichtung der gesamten deutschen Nachkriegsordnung (Fromont 1999: 493) wurde, sondern darüber
hinaus zu einem wichtigen Referenzmodell für die Schaffung ähnlicher
Einrichtungen in anderen Ländern avancierte (Tomuschat 2001: 245, 266).
Der heute unbestreitbar zentrale Stellenwert des Bundesverfassungsgerichts als Teil des politischen Systems der Bundesrepublik und als politischer Akteur im staatlichen Entscheidungsprozess passt zu den wenigen
Thesen, die die vergleichende Politikwissenschaft über die institutionellen
——————
188 Freilich werden auch die Wirkungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesen
Ländern nicht ausnahmslos positiv beurteilt. Als problematisch gilt insbesondere
der Effekt der Verfassungsgerichte dieser Region auf die demokratische Beteiligung und den öffentlichen demokratischen Diskurs über gesellschaftlich umstrittene Themen (Sadurski 2005).
VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT
247
Bedingungen einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgebracht hat.
Danach begünstigt die Existenz einer föderativen Ordnung nicht nur die
Schaffung eines institutionell selbständigen Verfassungsgerichts, sondern
kommt zugleich dessen Position im politischen Prozess zugute: »A constitutional court that is both a rights and a division of powers court is in the
best position because, even if its decisions along one of these two dimensions engenders majority opposition, its institutional integrity may be defended by those who want it to act along the other« (Shapiro 2002: 183).
Die eigentliche Anziehungskraft des deutschen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit resultierte freilich weniger aus dem institutionellen
Regelwerk als vielmehr aus der positiven Leistungsbilanz des Gerichts in
der Verfassungspraxis, zu der auch eine bemerkenswerte Dichte und
Komplexität der Verfassungsrechtsprechung gehört (Starck 1990: 23). Zur
wichtigsten jüngeren Bewährungsprobe des etablierten Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit im nationalstaatlichen Rahmen wurde der Prozess der
deutschen Vereinigung (Johnson 1994; H. Meyer 2001). Die insgesamt
erfolgreiche Bewerkstelligung der neuartigen Herausforderungen durch das
ausschließlich mit »Westjuristen« besetzte Gericht wurde als Beleg für die
These gewertet, dass der institutionellen Loyalität von Verfassungsgerichten zur Verfassung – ganz besonders in politischen und gesellschaftlichen
Umbruchsituationen – im Zweifelsfall eine deutlich größere Bedeutung
zukomme als dem biographischen Hintergrund der Richter (Bryde 1999:
205, 208–210).
Der Vorbildcharakter, den das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis
zu den Verfassungsgerichten vieler anderer Demokratien der Nachkriegszeit entfaltete, ist mit dafür verantwortlich, dass auf dem Feld der Verfassungsgerichtsbarkeit – abgesehen von deren historischen Entstehungsbedingungen – noch seltener als im Falle der meisten anderen Kerninstitutionen der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik nach Einflüssen anderer Systeme gefragt wurde. Am ehesten zu entdecken sind spezifische Befruchtungen durch ausländische Entwicklungen auf der Ebene
einzelner Aspekte der Gerichtsorganisation wie hinsichtlich der Anzahl
und Amtszeit von Richtern. Ein unvergleichlich größeres Gewicht kam
und kommt den tief greifenden Auswirkungen der europäischen Integration und dem Aufstieg einer supranationalen europäischen Gerichtsbarkeit
für das Selbstverständnis und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zu.
Die Beziehungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem
Europäischen Gerichtshof entwickelten sich in Etappen und keineswegs
248
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
frei von Widersprüchen (Sturm/Pehle 2005: 131–151; Büdenbender 2005;
Scharf 2006). Dabei gingen die Karlsruher Richter phasenweise immer
wieder auch auf Konfrontationskurs, nicht zuletzt getragen von dem
Bestreben, die deutschen Grundrechte vor den Wirkungen europäischer
Rechtsakte zu schützen. Dem entsprach eine Reihe kaum weniger offensiver Urteile des in Luxemburg ansässigen Gerichts, in denen deutsche Gesetze oder sogar einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes für unvereinbar mit den europäischen Rechtsnormen erklärt wurden. Von spektakulären Einzelentscheidungen gegensätzlicher Natur abgesehen, beschreibt die
dominante Entwicklungsdynamik der vergangenen Jahre die Herausbildung eines mehr oder minder friedlichen Kooperationsverhältnisses zwischen Karlsruhe und Luxemburg. Dieses basiert freilich auf der lange Zeit
verweigerten grundsätzlichen Anerkennung der Höherrangigkeit europäischen Rechts gegenüber deutschem Recht durch das Bundesverfassungsgericht, dessen Aufgabe innerhalb eines zunehmend stärker »europäisierten»
deutschen Regierungssystems somit im Kern darin besteht, den Schutz des
Grundgesetzes zu gewährleisten, soweit dieses europäischem Recht nicht
entgegensteht.
10 De-Institutionalisierung und
Internationalisierung als Gefährdungen
der liberalen Demokratie?
Die in den vorausgehenden Kapiteln mehr oder minder isoliert voneinander betrachteten politischen Institutionen der Bundesrepublik fügen sich in
der Verfassungstheorie und -praxis zu einem komplexen System zusammen. Ihm sind spezifische Züge eigen, die wiederum vor allem im Rahmen
vergleichender Betrachtungen zutage treten. Die zentralen strukturellen
und funktionalen Merkmale dieses Systems waren in den vergangenen
Jahrzehnten so oft und intensiv Gegenstand der politikwissenschaftlichen
Forschungsdebatte, dass es unnötig erscheint, sie hier noch einmal ausführlich zu beleuchten. Lediglich stichwortartig sei an einige der großen
Referenzklassifizierungen erinnert. Dazu gehört etwa Manfred G. Schmidts
(1996) einflussreiche Charakterisierung der Bundesrepublik als eines »grand
coalition state«, womit – in Anknüpfung und Zuspitzung der früheren
Befunde vor allem Gerhard Lehmbruchs (1976) – auf die spezifischen,
nicht zuletzt institutionell bedingten Aushandlungszwänge im parlamentarischen Bundesstaat abgehoben wurde. Bereits Ende der achtziger Jahre
argumentierte Heidrun Abromeit in ähnlicher Richtung, nahm dabei aber
eine wichtige Akzentuierung vor. Mit Blick auf die langjährige Vormachtstellung der Christdemokraten im deutschen Parteiensystem sprach
Abromeit (1989: 176) von einer »asymmetrischen Konkordanz«. Im Falle
einer SPD-geführten Regierung im Bund seien (fast) alle relevanten Parteien am staatlichen Entscheidungsprozess beteiligt, im Falle von unionsgeführten Regierungen hingegen nicht (ebd.: 178) – eine Einschätzung, der
knapp zwei Jahrzehnte später wenig Prinzipielles hinzuzufügen ist.
Eine breitere Perspektive liegt der international einflussreichen Charakterisierung der Bundesrepublik als eines »semisovereign state«
(Katzenstein 1987) zugrunde. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um eine
auf die Verhältnisse im Innern, nicht auf die internationale Ebene bezogene Bewertung. Sie berücksichtigt zusätzlich zu den institutionellen Spezifika des deutschen Regierungssystems die Besonderheiten gesellschaftlicher
250
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Organisation und stellt das eigentümliche Zusammentreffen eines dezentralisierten Staates mit einer zentralisierten Gesellschaft als Besonderheit
der deutschen Nachkriegsdemokratie heraus. Die jüngere, an die große
Studie Katzensteins anschließende bzw. auf diese bezogene Forschung –
Hervorhebung verdient der Band von William Paterson und Simon Green
(2005) – hat sich vor allem auf die »policy«-bezogenen Effekte der innerstaatlichen »Semisouveränität« konzentriert. Galt die für die alte Bundesrepublik charakteristische Macht gesellschaftlicher Interessen bei Katzenstein
als eines der Geheimnisse der sozioökonomischen Erfolgsgeschichte der
deutschen Nachkriegsdemokratie, so fällt das diesbezügliche Urteil der
meisten Beobachter über das vereinigte Deutschland deutlich skeptischer
aus.
Nicht zuletzt auf sprachlicher Ebene direkt an Katzenstein schließt ein
weiterer Verortungsvorschlag Manfred G. Schmidts (2002: 176) an, bei der
die Bundesrepublik – auf breiter internationaler Vergleichsgrundlage – als
»semisouveräne Demokratie« klassifiziert wird, gemeinsam mit einer Reihe
anderer Länder wie den USA, Italien oder der Schweiz. Dabei geht es um
den Grad, in dem das Volk bzw. demokratische Mehrheiten in Regierung
und Parlament im Hinblick auf ihre strukturellen Handlungsspielräume
innerhalb eines Systems entscheidungssouverän sind.189
In funktionaler Hinsicht erscheint die Bundesrepublik im internationalen Vergleich deshalb nicht zufällig als ein System, in dem die Inklusion
und Repräsentation unterschiedlicher politisch-gesellschaftlicher Kräfte
besonders großgeschrieben werden, während es um die Transparenz und
Zurechenbarkeit von Entscheidungen sowie um die politische und institu-
——————
189 Freilich ließen sich all diese und andere Charakterisierungen ausführlich kritisieren.
Das gilt selbst für die besonders instruktive Differenzierung Schmidts zwischen
»souveränen« und »semisouveränen Demokratien«. Wenn angesichts der hohen
Anzahl von institutionellen Vetospielern ein System wie die Schweiz als »semisouveräne Demokratie« bezeichnet wird, so wird damit eine wesentliche Eigenschaft
des schweizerischen Regierungssystems eher verschleiert als erhellt. Im Vergleich
mit anderen gegenwärtigen liberalen Demokratien erscheint die Schweiz als ein
System, in dem das Volk vermittels eines imposanten Arsenals an »Volksrechten«
über eine geradezu einzigartige Souveränität bei der Herbeiführung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen, auch gegenüber der Regierung, verfügt
(Trechsel/Sciarini 1998; Fossedal 2002). Für die Schweiz wäre im Gegensatz zu
anderen, stärker repräsentativdemokratisch beschaffenen Systemen wie der Bundesrepublik deshalb treffender von einer signifikant reduzierten Handlungssouveränität des Staates bzw. der staatlichen Lenkungsinstitutionen Regierung und Parlament – nicht der Demokratie – zu sprechen.
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
251
tionelle Innovations- und Reformfähigkeit des Systems eher mäßig bestellt
ist. Freilich gehört zu den Ergebnissen der vergleichenden Demokratieforschung auch die Einsicht, dass sich ein weitgehender Verzicht auf institutionelle Barrieren gegen Mehrheitsherrschaft, wie es die Westminster-Demokratien kennzeichnet, bei der Bewältigung grundlegender politisch-gesellschaftlicher Herausforderungen langfristig nicht unbedingt als Vorteil
erweisen muss. Die schnellere Reaktionsfähigkeit stark gewaltenkonzentrierender Systeme muss um den Preis einer erhöhten Wahrscheinlichkeit
von »policy failures« und unzähligen Nachbesserungen politischer Programme erkauft werden – ganz zu schweigen von der ausgeprägten Tendenz reiner Mehrheitsdemokratien, eine im wahrsten Sinne des Wortes
exklusive Politik zu betreiben (Schmidt 1992: 209–220; Abromeit 1992b;
Lijphart 1999: 275–300).
Die mit diesen Bewertungen aufgeworfenen Fragen böten Stoff für
ausgreifende Betrachtungen, die sich letztlich um die alte Frage nach der
besten Regierungsform, ihren Eigenschaften und Voraussetzungen, drehen
würden. Es wäre sehr im Sinne des Verfassers, würden die vorausgehenden
Kapitel als Beitrag auch zu dieser Diskussion aufgenommen. Anstelle einer
Vertiefung dieser Aspekte sollen im Zentrum dieses Schlusskapitels jedoch
andere Fragen stehen, die an Beiträge und Perspektiven der jüngeren internationalen Forschung anknüpfen. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem
»governance«-Paradigma zu. Vertretern des »governance«-Ansatzes geht es
darum, durch einen theoretisch-konzeptuellen Perspektivwandel den von
ihnen perzipierten jüngeren Entwicklungstendenzen in demokratischen
Systemen (sowie gegebenenfalls in nicht-demokratischen oder nicht-staatlichen Regimen) Rechnung zu tragen.190 Kennzeichnend für Ansätze dieser
Richtung ist das Streben nach Erfassung politischer Entscheidungsprozesse auch und insbesondere jenseits des staatlichen Entscheidungssystems, unter gezielter Berücksichtigung der Rolle gesellschaftlicher Akteure.
Wenn von »governance« statt von »government« gelegentlich auch im
Hinblick auf politische Entscheidungsprozesse innerhalb des staatlichen
Entscheidungssystems gesprochen wird, beispielsweise von »coalition governance« (Müller/Strøm 2000c), so geschieht dies in der Absicht, die gegebenenfalls große Bedeutung verfassungsrechtlich bzw. institutionell nicht
——————
190 Vgl. aus der Fülle einschlägiger Veröffentlichungen mit dem Anspruch einer
theoretischen Charakterisierung und Verortung des »governance«-Ansatzes etwa
van Kersbergen/van Waarden (2004), Benz (2004), Kjær (2004), von Blumenthal
(2005).
252
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
vorgesehener Entscheidungswege und -praktiken hervorzuheben. Aus der
Perspektive der auf politische Institutionen konzentrierten Demokratieforschung ließe sich das (oder zumindest ein Teil dessen), was verbreitet als
»governance« bezeichnet wird, in alternativer Terminologie als schleichende De-Institutionalisierung bzw. De-Konstitutionalisierung des demokratischen Prozesses beschreiben – im Sinne einer »Auswanderung der
Politik aus den Institutionen« (von Blumenthal 2002) bzw. einer »Auswanderung der Politik aus der Verfassung« (Saalfeld 1997).191
Die hiermit im Zusammenhang stehenden Aspekte sind Gegenstand
des nächsten Abschnitts. Wie gezeigt werden soll, resultieren wichtige
Erscheinungsformen der De-Institutionalisierung politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung in den liberalen Demokratien aus Prozessen einer fortschreitenden Internationalisierung. Der Ausblick der Studie
nimmt diesen Befund zum Anlass, um weitere Auswirkungen der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Internationalisierung auf die
liberale Demokratie zu erörtern.
10.1 Manifestationen und Grenzen der De-Institutionalisierung
als »Auswanderung der Politik aus der Verfassung«
Die Beschäftigung mit De-Institutionalisierung erweist sich nicht zuletzt
deshalb als schwierig, weil einschlägige Fragen seit vielen Jahren von unterschiedlichen Disziplinen behandelt werden, ohne dass daraus irgendein
interdisziplinär akzeptierter Basiskonsens über grundlegende Aspekte der
Thematik entsprungen wäre.
Intensiv über Fragen der De-Institutionalisierung gearbeitet wurde vor
allem in der politischen Soziologie. Sie begreift Prozesse der De-Institutionalisierung verbreitet als eine nachlassende gesellschaftliche Bindungswirkung bestimmter Normen öffentlichen Verhaltens. Ein solches Verständ-
——————
191 Ein wichtiges Merkmal des »governance«-Paradigmas – seine Konzentration auf
Aspekte der Problemlösung, welche potentiell auf Kosten der Berücksichtigung
von Aspekten politischer Herrschaft (wie Strategien der Machtsicherung und
Machterweiterung von Akteuren) geht (Mayntz 2004) – teilen die meisten der stärker in der traditionellen Regierungslehre verwurzelten Beiträge zum Phänomen der
De-Konstitutionalisierung bzw. De-Institutionalisierung von Politik und Demokratie nicht.
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
253
nis kennzeichnet auch die soziologisch beeinflusste Untersuchung des
Zeithistorikers Peter Steinbach über Kontinuität und Wandel politischer
Institutionen in Deutschland, in der vor allem »die sozialrevolutionär legitimierte Deinstitutionalisierung alter Normengefüge« im Zuge der Institutionalisierung nationalsozialistischer Herrschaft behandelt wird (Steinbach
1997: 243). Auch in soziologischen Studien, die den Akzent (selten genug)
auf die organisatorisch sich manifestierenden Institutionen selbst legen,
wird ein Verständnis von De-Institutionalisierung begründet, dem hier
nicht gefolgt werden soll. Das gilt etwa für eine Arbeit von Birgitta
Nedelmann (1996: 25), die unter anderem den Mitgliederschwund politischer Parteien als »De-Institutionalisierung« bezeichnet – ein Phänomen,
das nach Auffassung des Verfassers besser mit Begriffen wie institutioneller bzw. organisatorischer Wandel beschrieben ist.192
Sofern es um De-Institutionalisierung im Sinne einer Informalisierung
von politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen geht, haben
vor allem Beiträge aus der Rechtswissenschaft die Parameter der disziplinenübergreifenden Diskussion bestimmt.193 Die bislang erst zum Teil
elaborierten Positionen der Politikwissenschaft lassen sich gut in direkter
Abgrenzung gegenüber den unterschiedlichen Komponenten des rechtswissenschaftlichen Dogmas greifbar machen. Vor allem zwei Aspekte
scheinen dabei erwähnenswert: Erstens wird informales Handelns staatlicher Akteure, anders als in weiten Teilen der Rechtswissenschaft, keineswegs als »staatliches Agieren außerhalb von ›Spielregeln‹« (Wallerath 2003:
99) gesehen. Auch informale Politik kennt Regeln. Sie sind gegebenenfalls
flexibler, aber weder zwangsläufig weniger verbindlich noch weniger effektiv als formale Regeln. Zweitens steht in der Politikwissenschaft (und den
Sozialwissenschaften insgesamt) informales Handeln nicht prinzipiell unter
dem Verdacht, potentiell problematisch zu sein. Grundsätzliche Vorbehalte gegenüber informalen Verfahren und Institutionen finden sich noch
am ehesten in Teilen der politikwissenschaftlichen Demokratisierungsfor-
——————
192 Das gilt im Übrigen gerade dann, wenn Institutionen nicht ohne weiteres mit
Organisationen gleichgesetzt werden, wofür vor allem weite Teile der Soziologie
plädieren. Dann kann die Institution Partei auf unterschiedliche Weise, unter Umständen auch mit sehr wenigen Mitgliedern, organisatorische Gestalt annehmen.
193 Als wichtigstes Referenzwerk auf der interdisziplinären Verständigungsebene kann
nach wie vor die große Studie von Schultze-Fielitz (1984) gelten. Der zentrale
Stellenwert dieses Werkes ist nicht zuletzt auf die wenig formalistische Art der Betrachtung zurückzuführen, die sie von zahlreichen anderen Beiträgen aus der
Rechtswissenschaft abhebt.
254
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
schung, obwohl die schematische Gegenüberstellung von »guter« und
»schlechter« Informalität in der jüngeren Literatur auch mit Blick auf politische Prozesse in »Transformationsländern« und jungen Demokratien zunehmend aufgegeben wird (von Steinsdorff 2005; Helmke/Levitsky 2006;
Meyer 2006). Die im Vergleich zur Rechtswissenschaft insgesamt bedeutend größere »Offenheit« der Politikwissenschaft gegenüber Manifestationen des Informalen bildet einen Reflex der stärker funktional als positivistisch-normativ geprägten Betrachtung.194
Aus Differenzierungen wie diesen ergibt sich jedoch noch kein hinreichend präziser Zugriff auf den Gegenstand. Im Rahmen dieser Schlussbetrachtung soll der Begriff der De-Institutionalisierung auf das Phänomen
der De-Konstitutionalisierung konzentriert werden. Gemeint ist die »Auswanderung« bzw. »Auslagerung von Politik aus den verfassungsrechtlich
vorgezeichneten Bahnen«. Damit ist der Fokus der Betrachtung einerseits
enger als möglich, zugleich aber auch klarer. Ausgeklammert bleiben Auflösungsprozesse informaler Institutionen, die zu keinem Zeitpunkt auf
konstitutioneller Ebene verankert waren. Eine weitere Spezifizierung ergibt
sich daraus, dass der Schwerpunkt nicht auf Prozessen liegt, die zwingend
als »außerhalb der Verfassung stehend« im Sinne von »verfassungswidrig«
zu klassifizieren wären. Dazu ist unter dem Leitbegriff der
»Korruptionsforschung« in den vergangenen Jahren eine umfangreiche
interdisziplinäre Spezialliteratur entstanden (etwa von Alemann 2005;
Kawata 2006).
Wie steht es nun in empirischer Hinsicht um die De-Institutionalisierung in der Bundesrepublik und den anderen konsolidierten liberalen Demokratien? Wenig empirische Evidenz gibt es für eine jüngere, länderübergreifende Tendenz zur De-Institutionalisierung innerhalb des staatlichen
Entscheidungssystems. Das gilt insbesondere dann, wenn in Anlehnung an
Majid Sattars Konzept der Informalisierung nur solche Prozesse als DeInstitutionalisierung bewertet werden, »bei [denen] formale Kommunikations- und Handlungsstrukturen durch informale ersetzt werden – und nicht
lediglich ergänzt, also komplementiert werden« (Sattar 2001: 17). In
——————
194 Korrekterweise ist hinzuzufügen, dass auch in Teilen der jüngeren rechtswissenschaftlichen Literatur der positivistische Normbegriff (welcher unterstellt, dass
Normen eine fertige Identität besitzen) zunehmend durch stärker interpretative
Vorstellungen ersetzt wird. Demnach ist eine Norm immer erst das Produkt ihrer
konkreten Anwendung, so dass folglich auch formales Recht stets nur durch Anwendungsakte wirkt. Vgl. Morlok (2003: 57).
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
255
Deutschland sind solche Entwicklungen nicht zuletzt deshalb vergleichsweise unwahrscheinlich, weil hierzulande stets ein ausgeprägtes Bedürfnis
der politischen Eliten existierte, wichtige Entwicklungen der Verfassungspraxis möglichst zeitnah auch in der geschriebenen Verfassung zu kodifizieren.195 Davon zeugt die im internationalen Vergleich große Zahl an
Änderungen des Grundgesetzes (Busch 2006). In ihnen sind viele Wünsche nach Konstitutionalisierung, die von der Politik oder auch der Wissenschaft formuliert wurden, noch nicht einmal enthalten. Zu den jüngeren
Vorstößen gehört, neben zahlreichen Initiativen zur Aufnahme weiterer
Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz, der Vorschlag, die prominente Rolle der (künftigen) Mehrheitsfraktionen im Regierungsbildungsprozess auch verfassungsrechtlich anzuerkennen (Zuck 1998).
Grundsätzlich spricht viel dafür, Informalisierungsprozesse vor allem in
Bereichen zu erwarten, in denen wenig verfassungsrechtliche »Nachführung« von Entwicklungen der Verfassungspraxis betrieben wird. Wohl
nicht zufällig handelt es sich bei der Regierung um jenen Bereich des politischen Systems der Bundesrepublik, in dem es auffallend wenige formale
Verfassungsänderungen gegeben und sich ein ungewöhnlich dichtes Netz
(teils institutionalisierter) informaler Beziehungsstrukturen entwickelt hat.
Einschlägige Studien belegen jedoch, dass es selbst auf diesem Feld keinen
linearen oder speziell jüngeren Entwicklungstrend im Sinne einer fortschreitenden De-Konstitutionalisierung gibt. Buchstäblich »von Beginn an«
(ab dem 1. Bundestag) gab es die für alle parlamentarischen Demokratien
übliche funktionale Integration von Regierung und Mehrheitsfraktionen,
die innerhalb der Wissenschaft mittlerweile nur noch von Teilen der
Rechtswissenschaft als problematische Abweichung vom »alt-liberalen«
Gewaltenteilungsmodell des Grundgesetzes bewertet wird.196 Auch speziellere Formen der intra-gouvernementalen Koordination – im Stile von
»Koalitionsrunden« und »Küchenkabinetten« – stellen keineswegs eine
Erfindung der jüngeren Vergangenheit dar (Rudzio 2002; Müller/Walter
2004). Im Übrigen hat es immer wieder Phasen der relativen De-Informalisierung gegeben – eine Dynamik, die zuletzt im Rahmen eines Vergleichs
——————
195 Vgl. hierzu prinzipiell und kritisch Hennis (1968).
196 Vgl. etwa Ruffert (2002: 1146); die politikwissenschaftliche Gegenposition wurde
vielfach formuliert unter anderem von Eberhard Schuett-Wetschky (2000, 2005).
Erstaunlicherweise fungiert das »alt-liberale«, auf Regierung und Bundestag bezogene Gewaltenteilungsmodell innerhalb der Bevölkerung nach wie vor verbreitet
als Referenzmodell (Patzelt 1998b).
256
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
der Informalisierung des Exekutivbereichs unter den Kanzlern Kohl und
Schröder zu beobachten war (Helms 2005d). Festzuhalten ist schließlich,
dass die jeweils gefundenen informellen Lösungen das Gerüst formaler
Regeln üblicherweise eher ergänzten als vollständig ersetzten bzw. politisch
bedeutungslos machten.
Die im Vergleich zu Einheitsstaaten deutlich größere Komplexität von
bundesstaatlich organisierten Gemeinwesen macht den Aufbau und die
Pflege informaler Beziehungen zwischen Akteuren der unterschiedlichen
Ebenen föderaler Systeme praktisch unverzichtbar. Gleichwohl ist auch die
langfristige Entwicklung im Bereich der »inter-governmental relations« in
Bundesstaaten nicht durch eine eindeutige Tendenz in Richtung einer zunehmenden De-Institutionalisierung gekennzeichnet. Spektakuläre Beispiele für umfangreiche, informell betriebene Veränderungen jenseits formaler Verfassungsänderungen sind auf Einzelfälle wie insbesondere Kanada (Smith 2002) beschränkt. Gelegentlich kommt es, wie in anderen
Bereichen auch, zur Herausbildung informaler Regeln, die später durch
eine Verfassungsreform »eingefangen« werden. Das gilt auch für die Bundesrepublik, wo bestimmte Komponenten des »kooperativen Föderalismus« seit den fünfziger Jahren zunächst informell praktiziert wurden, bevor sie schließlich Eingang in das Grundgesetz fanden (Hesse/Renzsch
1990: 62; Abromeit 1992a: 58). Insofern lässt sich mit Gerhard Lehmbruch
(1999b) von einer »Institutionalisierung der Verhandlungsdemokratie«
durch die Regierung Kiesinger sprechen, in deren Zuge freilich auch eine
Reihe vollständig neuartiger Kooperationsmechanismen, wie die »Gemeinschaftsaufgaben«, geschaffen wurden.
Auch für die meisten anderen der hier interessierenden Länder lassen
sich, aus unterschiedlichen Gründen, keine signifikanten jüngeren Tendenzen der De-Institutionalisierung im Sinne einer Auswanderung bzw. Auslagerung von Politik aus der Verfassung erkennen. Für die kleine Gruppe
konsolidierter Demokratien ohne geschriebene Verfassung (Großbritannien, Neuseeland, bis 1975 auch Schweden) stellt sich streng genommen
nicht einmal das Problem. Die gerade in Deutschland so prominente Betrachtung und Problematisierung des Spannungsverhältnisses zwischen
Verfassungspraxis und geschriebener Verfassung würde dort (ganz wörtlich) auf Unverständnis stoßen. Dieses ist freilich nicht größer als dasjenige, das deutsche und andere kontinentaleuropäische Betrachter befällt,
wenn sie bei der Suche nach dem Verfassungsbegriff des Vereinigten Königreichs auf die entwaffnende Definition eines führenden Verfassungsge-
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
257
lehrten stoßen, »the Constitution is what happens« (J.A.G. Griffith, zit. bei
Rose 1996: 165).
Grundlegende Unterschiede zur deutschen Entwicklung sind jedoch
nicht auf die »verfassungslosen« Staaten der angelsächsischen Länderfamilie beschränkt. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, jenem Land
mit der ältesten noch geltenden geschriebenen Verfassung überhaupt,
überwiegen die Unterschiede zur deutschen Verfassungspolitik, obwohl es
freilich auch markante Ähnlichkeiten wie die zentrale Rolle der Gerichte
für den Prozess des Verfassungswandels gibt. Die auffallend geringe Deckungsgleichheit zwischen dem geschriebenen Verfassungsrecht und der
amerikanischen Verfassungspraxis erklärt sich nicht nur aus den besonders
hohen Hürden der formalen Verfassungsänderung, sondern auch daraus,
dass eine größtmögliche Übereinstimmung zwischen der Verfassungspraxis
und der geschriebenen Verfassung in den USA nicht einmal als Zielnorm
akzeptiert ist. Gerade für die Vereinigten Staaten gilt im Übrigen, dass
einige der Meilensteine der De-Konstitutionalisierung – wie die Geburt der
»legislative presidency« (Wayne 1978), von der die geschriebene Verfassung
nichts ahnen lässt – bereits vor vielen Jahrzehnten gelegt wurden und keineswegs eine jüngere Erscheinung darstellen. Von einem jüngeren Phänomen könnte allenfalls mit Blick auf das hohe Alter der US-Verfassung
gesprochen werden.197
Als ein der Bundesrepublik im Hinblick auf die Frequenz von Verfassungsänderungen diametral entgegengesetzter Fall erscheint – trotz augenfälliger Parallelen des politischen und verfassungsrechtlichen Neubeginns
nach 1945198 – Japan. Dort gab es seit 1947 nicht eine einzige formale
Verfassungsänderung (Masing 2005: 1), übrigens in konsequenter Fortfüh-
——————
197 Das scheint prima vista die These nahe zu legen, dass die Wahrscheinlichkeit
weitreichender Emanzipationen der Verfassungspraxis aus den Vorgaben des formalen Regelwerks mit dem Alter einer Verfassung zunimmt. Gerade im Hinblick
auf die Stärkung (eines Teils) der Exekutive gibt es jedoch gewichtige Gegenbeispiele, darunter vor allem die V. Republik Frankreich, wo sich die weit über die
formalen Kompetenzen des Amtes hinausreichende Machtposition des Präsidenten im Zuge der »Präzedenz-Präsidentschaft« Charles de Gaulles herausbildete. Sie
suggerieren, dass ein hohes Alter der Verfassung keine notwendige Bedingung entsprechender Wandlungsprozesse darstellt.
198 Ein tiefer gehender deutsch-japanischer Vergleich eröffnet freilich die Einsicht,
dass die Unterschiede in der Entwicklung beider Länder während der frühen
Nachkriegszeit, nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Rolle der Amerikaner,
beträchtlich waren. Vgl. in diesem Sinne Fukaya (2001) und Furuta (2001).
258
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
rung der Verfassungspolitik früherer Jahrzehnte, denn schon die erste
moderne Verfassung Japans von 1889 erfuhr in mehr als einem halben
Jahrhundert keinerlei textliche Veränderung. Sie erschien den Japanern
gleichsam als »heilige und unverletzbare Schrift«, als »oberster Befehl des
Kaisers«, dem gegenüber unbedingter Gehorsam zu leisten war (Inoue
2004: 105–106). Dabei gilt der Konstitutionalismus in Japan bis heute als
ein Stück fremder Kultur, der sich das Land gegen Ende des 19. Jahrhundert zunächst nur deshalb annahm, um das damals wichtigste Staatsziel, die
Revision ungleicher Handelsverträge mit Europa und Amerika, zu erreichen (ebd.: 112). Die jüngeren politisch-historischen Entwicklungen in
Japan sind aus vergleichender Perspektive vor allem deshalb interessant,
weil sie ein ungewöhnlich reiches Anschauungsmaterial sowohl für den
Prozess der De-Konstitutionalisierung bzw. Informalisierung wie für jenen
der Re-Konstitutionalisierung im Sinne einer Zurückdrängung informaler
Regeln bergen. Über vergleichbare Erfahrungen dürfte von den westeuropäischen Ländern allein Italien – vor und nach der »partitocrazia« – verfügen. Die während der Regierungszeit Koizumis (2001–2006) eingeleiteten
Schritte zu einer Re-Konstitutionalisierung politischer Willensbildungsund Entscheidungsprozesse blieben freilich eingebettet in ein nach wie vor
hochgradig informalisiertes System und in ihren Wirkungen entsprechend
begrenzt (Köllner 2006).
Die bisherigen Beobachtungen deuten darauf hin, dass Fragen der DeInstitutionalisierung auf der konstitutionellen Ebene nicht ohne Berücksichtigung der zum Teil grundverschiedenen »Verfassungskulturen« von
Ländern diskutiert werden können. Dazu gehört zunächst der bereits angesprochene, sehr unterschiedlich ausgeprägte Drang politischer Eliten nach
Konstitutionalisierung von als politisch relevant erachteten Aspekten des
öffentlichen Zusammenlebens. Auf der Ebene der Gesellschaft kommt
jedoch noch etwas anderes hinzu – das, was Peter Häberle (1998: 90) in
seiner großen Studie »Verfassungslehre als Kulturwissenschaft« als »die
Summe der subjektiven Einstellungen, Erfahrungen und des Denkens
sowie des (objektiven) Handelns der Bürger und Pluralgruppen, der Organe des Staates etc. im Verhältnis zur Verfassung als öffentlichem Prozeß« bezeichnet. Andere Autoren mit ähnlichen Erkenntnisinteressen bevorzugen im Rahmen terminologischer Annäherungsversuche den älteren
Begriff der politischen Kultur und bemühen sich in historisch und international vergleichenden Studien um die Klärung des Verhältnisses zwischen
Verfassung und politischer Kultur bzw. um die Bestimmung des Stellen-
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
259
wertes der Verfassung für eine bestimmte politische Kultur (Franklin/
Baun 1995; Gebhardt 1999a).
Dieses Schlusskapitel bietet keinen Raum, um die unterschiedlichen
Aspekte dieses faszinierenden Themenfeldes detaillierter zu untersuchen.
Zumindest vor einem nahe liegenden Kurzschluss sei jedoch gewarnt: Aus
deutscher Perspektive ist man versucht, das hohe Maß an »Verrechtlichung« bzw. Konstitutionalisierung politisch-gesellschaflicher Bereiche
einerseits und den zentralen Stellenwert der Verfassung im öffentlichen
Bewusstsein199 andererseits als zwei Seiten derselben Medaille zu sehen,
welche auch in anderen Ländern eine gleichsam »natürliche Verbindung«
eingehen. Dies ist indes nicht der Fall, wie insbesondere das Beispiel der
USA lehrt. Dort koexistiert ein im internationalen Vergleich auffallend
kurzes Verfassungsdokument mit einer ausgesprochen zentralen Position
der Verfassung im öffentlichen Bewusstsein. In der Literatur werden deshalb Deutschland und die USA (wie im Übrigen auch die Schweiz) einhellig den »verfassungszentrierten politischen Kulturen« zugerechnet
(Gebhardt 1999b), in Abgrenzung gegenüber politischen Kulturen, in denen anderen Begriffen bzw. Konzepten eine bedeutendere Rolle zukommt
als der Verfassung. Als »Prototyp« dieser zweiten Gruppe gilt Frankreich.
Zwar lässt sich für die V. Republik von einem wachsenden Respekt gegenüber dem Verfassungstext sprechen, wofür vor allem die Arbeit des Verfassungsrates seit den frühen siebziger Jahren verantwortlich war. Nach
wie vor behaupten im Bewusstsein der französischen Öffentlichkeit die
ideellen Konzepte der Republik und der Nation jedoch einen höheren
Stellenwert als dasjenige der Verfassung (Kimmel 1996).
Stärkere Anzeichen für eine Auslagerung politischer Willensbildungsund Entscheidungsprozesse aus der Verfassung finden sich im Verhältnis
von staatlichen Institutionen bzw. Akteuren einerseits und Akteuren des
privaten Sektors andererseits.200 Dabei gibt es durchaus eine Reihe jüngerer
——————
199 Die Debatte in der Bundesrepublik drehte sich vor allem um das schillernde Konzept des »Verfassungspatriotismus«, welches von Autoren wie Dolf Sternberger
(dem Schöpfer des Begriffs) und Jürgen Habermas mit unterschiedlicher politischer Akzentuierung wirkungsmächtig vertreten wurde. Obwohl sich seit der deutschen Vereinigung beide Varianten (wenn auch unterschiedlich stark) erschöpft
haben, behauptet das Konzept einen festen Platz innerhalb der jüngeren, breit geführten Patriotismusdiskussion. Vgl. dazu mit zahlreichen weiteren Nachweisen
Rößler (2006) und Kronenberg (2006).
200 Es sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es hier um Entscheidungen geht, die offiziell nach wie vor im Namen des Staates erfolgen. Außer Frage
260
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Entwicklungen, die sich eher als eine Re-Konstitutionalisierung des politischen Prozesses im Sinne eines graduellen Bedeutungsverlusts informaler
(aber gleichwohl weitgehend institutionalisierter) Arrangements deuten
ließen. Gemeint sind die seit den achtziger Jahren verbreitet zu beobachtenden Auflösungsprozesse im Verhältnis von Staat und Verbänden wie sie
sich in der ausgeprägten internationalen Tendenz zum Rückbau klassisch
tripartistischer Arrangements manifestieren. Diese Prozesse wurden vielerorts begleitet von einer abnehmenden »Verbandsdurchdringung« von Parteien und Parlamenten und einer weitreichenden Schwächung der Gewerkschaften auf praktisch sämtlichen Ebenen (Thelen 2001). Insofern ließe
sich ein Trend in Richtung einer strukturellen Verschlankung bzw. Schwächung des in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nicht nur in Deutschland
gefürchteten (speziell gewerkschaftlich dominierten) »Verbändestaats«201
konstatieren, dem eine relative Stärkung staatlicher Handlungssouveränität
gegenüber gesellschaftlichen Akteuren entspräche.
Dies ist jedoch nur die halbe Geschichte der jüngeren Veränderungen
im Verhältnis von Staat und Akteuren des privaten Sektors. Der Verringerung des institutionalisierten Einflusses insbesondere der Gewerkschaften
in Westeuropa vollzog sich gleichsam im Schatten eines international beobachteten strukturellen Machtzuwachses anderer Akteure, allen übrigen
voran einzelner, global agierender Großunternehmen. Die Basis für die
signifikante Zunahme von Firmenmacht bildet vor allem die nachhaltige
Veränderung der globalen Produktionsmärkte. Zu den zentralen Eigenschaften hochgradig internationalisierter Märkte gehört ein signifikant
erhöhtes Maß an Unsicherheit und Schnelllebigkeit. Viele der großen Firmen reagieren darauf mit Strategien der »Individualisierung«, mit einem
Streben nach maximaler Flexibilität und Freiheit von wie auch immer gearteten Normen und Regeln (Crouch 2003: 201–202). Aus Sicht der Unternehmen sind mit der Globalisierung der Märkte jedoch keineswegs ausschließlich Restriktionen verbunden. Sie eröffnet zugleich neue Spielräume:
——————
steht, dass es im Zuge umfangreicher Privatisierungs- und »contracting out«-Prozesse seit den achtziger Jahren in zahlreichen Politikfeldern (vor allem in den Bereichen Telekommunikation, Energie und Verkehr) zur Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf Akteure des privaten Sektors gekommen ist. Dies geschah jedoch nicht im Zuge schleichender De-Institutionalisierung, sondern auf
dem geordneten Wege parlamentarischer Gesetzgebung.
201 Zu den letzten großen Zeugnissen dieser Richtung gehören die beiden Bände von
Hennis/Kielmansegg/Matz (1977, 1979).
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
261
Wer mit den arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen, den geltenden Umweltstandards und nicht zuletzt der Höhe der Unternehmensbesteuerung
in einem Land nicht zufrieden ist, kann eine Verlagerung von Investitionen
und Produktionsstätten in ein anderes Land erwägen. Regierungen nationalstaatlich organisierter Gemeinwesen müssen ein Interesse daran haben,
dies zu verhindern. Zu den klassischen Instrumenten ihrer Politik gehören
moralische Appelle und eine Gesetzgebung, die um einen Ausgleich zwischen den Ansprüchen der vetomächtigen Unternehmen und den Interessen der Bevölkerung bemüht ist. Hinzu kommen jedoch informelle Verhandlungen, an deren Ende häufig sogenannte normersetzende oder
normvermeidende Absprachen stehen.
Der im Einzelfall verbleibende (autonome) Handlungsspielraum von
Regierungen hängt von verschiedenen Faktoren ab. Nicht ohne Bedeutung
ist die Größe des öffentlichen Unternehmenssektors in einem Land. Sie
kann jedoch nur als eine grobe Orientierungsmarke hinsichtlich der Beschaffenheit des Handlungskorridors von Regierungen gelten, die im
Kontext anderer Variablen zu betrachten ist. Wiederum spielen historische
und kulturelle Determinanten eine wichtige Rolle. Dies zeigt etwa der Fall
Spaniens als eines der westeuropäischen Länder mit einer hohen Privatisierungsquote und einem vergleichsweise kleinen Sektor öffentlicher Unternehmen (Czada 2003: 418). Die umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen
der vergangenen Jahre waren dort keineswegs von einer radikalen Liberalisierung des Marktes begleitet, sondern fanden gleichsam im Schatten einer
»post-autoritären«, etatistischen Entscheidungskultur statt. Einerseits behielt die Regierung wichtige Mitentscheidungsrechte bis in den Bereich der
Personalrekrutierung auf Unternehmensebene in ihren Händen; andererseits blieb die Politik vieler privater Großfirmen durch eine Haltung geprägt, die von außenstehenden Beobachtern als »remarkably timid, deferential towards government«202 beschrieben wurde.
Gewisse Spielräume bei der Ausgestaltung des konkreten Verhältnisses
zwischen dem Staat und nicht-staatlichen Akteuren gibt es freilich auch auf
Seiten der Regierung. Das zeigt schon ein Vergleich des sehr unterschiedlichen Umgangs mit Akteuren des privaten Sektors durch die Regierungen
Kohl und Schröder (Helms 2005d). Der Befund passt zu der »Parteiendifferenz«-These, nach der von linken Parteien geführte Regierungen in stärkerem Maße als konservative bzw. bürgerliche Regierungen dazu neigen,
——————
202 The Second Transition – A Survey of Spain, in: The Economist vom 26.06.2004,
4.
262
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
staatlich-gesellschaftliche Verhandlungen zu führen (Seeleib-Kaiser 2002).
Dieser Faktor (dessen Wirkung sich im Zuge der »Verbürgerlichung« sozialdemokratischer Parteien jedoch abgeschwächt hat) ist im Zusammenwirken mit dem Wechsel der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierungen mit dafür verantwortlich, dass es weder in der Bundesrepublik
noch anderswo einen strikt linear verlaufenden Entwicklungstrend in
Richtung einer De-Konstitutionalisierung politischer Entscheidungsprozesse gibt.
Im Gegensatz zu den unterschiedlichen Anzeichen von De-Konstitutionalisierung innerhalb des staatlichen Entscheidungssystems (wie die Kooperation zwischen Regierung und Mehrheitsfraktionen), die heute praktisch nur noch »konservativen« Rechtswissenschaftlern als problematisch
gilt, geht mit einer Informalisierung des Verhältnisses zwischen Regierungen und ausgewählten privaten bzw. privatwirtschaftlichen Akteuren die
Gefahr einer Verletzung zentraler Grundnormen demokratischer Politik
einher. Hinzuweisen ist zunächst auf den Bedeutungsverlust demokratischer Kontrolle und Transparenz, der mit außerparlamentarischen Verhandlungen zwischen Regierungen und Akteuren des privaten Sektors
einhergeht. Dieses Problem ist nicht neu. Es betraf schon die »klassischen«
Varianten korporatistischer Interessenvermittlung. Im Vergleich zu den
»echten« – tripartistischen – Formen des Korporatismus, welche die Interessen von Arbeit und Kapital jedenfalls auf der Ebene der strukturellen
Konfiguration entsprechender Bündnisse gleichberechtigt berücksichtigen,
kommt bei den jüngeren Erscheinungsformen der Verhandlungsdemokratie jedoch die Gefahr einer einseitig an den Interessen internationalisierter
Unternehmen ausgerichteten Politik des Staates hinzu. Für manche Betrachter, wie Colin Crouch (2004), bildet der Machtzuwachs global agierender Konzerne sogar die zentrale Triebfeder einer fundamentalen Transformation der repräsentativen, sozialstaatlich ausgestalteten Demokratie
hin zu einer »post-demokratischen« Form der Regierung, die unter anderem durch gravierende Verzerrungen der Durchsetzungschancen organisierter Interessen, eine weitgehende Nichtberücksichtigung der Interessen
von Arbeitnehmern, ein rückläufiges Maß an Umverteilung und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sowie eine verbreitete politische Apathie des
Volkes gekennzeichnet ist.
Reformpolitische Patentlösungen für dieses Problem scheint es nicht
zu geben. Als Alternative zu einer im deutschen Kontext vorgeschlagenen,
jedenfalls teilweisen »Konstitutionalisierung der Verhandlungsdemokratie«
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
263
(Grimm 2003)203, welche außerhalb Deutschlands verbreitet auf institutionell und politisch-kulturell bedingte Vorbehalte treffen dürfte, bliebe möglicherweise lediglich auf eine normativ fundierte Selbstbeschränkung der
mächtigen Unternehmen zu hoffen. Dass es sich dabei nicht um eine substanzlose Wunschutopie handelt, suggerieren einige Beiträge aus dem Umfeld der »governance«-Forschung. Danach gibt es im Rahmen entwickelter
Zivilgesellschaften auf unternehmerischer Seite offenbar ein gewisses Interesse daran, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als »gutes« Unternehmen dazustehen (van Kersbergen/van Waarden 2004: 163–164).
10.2 Ausblick – Die liberale Demokratie vor den
Herausforderungen der Internationalisierung
von Politik, Ökonomie und Gesellschaft
Die soeben beschriebene Gefährdung der demokratischen Komponenten
der liberalen Demokratie als mittelbare Folge einer internationalisierten
Ökonomie bezeichnet nur eine von zahlreichen Wirkungen der Internationalisierung. Ihre Manifestationen und Effekte sind vielfältig und scheinbar
allgegenwärtig. Dies hat in den vergangenen Jahren zu einer beispiellosen
Blüte von Studien über Ursachen, Manifestationen, Folgen und Probleme
der Internationalisierung bzw. Globalisierung geführt, die schwerpunktmäßig Aspekte der Problemlösungsfähigkeit und der materiellen Politik (»policy«) auf der nationalen wie internationalen Ebene behandeln.204 Daran ist
hier nicht anzuknüpfen. In Übereinstimmung mit den grundlegenden thematischen Parametern dieser Studie konzentrieren sich die nachfolgenden
Betrachtungen vielmehr auf die »polity-« und »politics«-bezogenen Aspekte
der multidimensionalen Internationalisierung in den nationalstaatlich verfassten konsolidierten liberalen Demokratien. Dabei geht es um eine
komprimierte problemorientierte Rekonstruktion, die vor allem die pro-
——————
203 Besonders hervorhebenswert erscheint der Vorschlag, normvermeidende bzw.
normersetzende Absprachen zwischen Regierungen und vetomächtigen Akteuren
des privaten Sektors nachträglich zu veröffentlichen und, analog zu den Regelungen bei Gesetzen, dem Prinzip der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle zu
unterwerfen (ebd.: 208–209).
204 Vgl. statt vieler mit zahlreichen weiteren Nachweisen Held/McGrew (2003) und
Glatzer/Rueschemeyer (2005).
264
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
blematischen Aspekte bzw. Effekte der politischen, ökonomischen und
gesellschaftlichen Internationalisierung in den Blick nimmt.205 Sie sollen
danach differenziert werden, welche Wirkung sie auf die liberalen Komponenten der liberalen Demokratie einerseits und deren demokratischen
Komponenten andererseits haben. Verschieben sich die grundlegenden
Parameter in Richtung De-Demokratisierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der liberalen Komponenten liberaler Demokratie, womit – unabhängig von der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates auf der Ebene materieller Politik206 – so etwas wie eine historische Rückwärtsbewegung
bezeichnet wäre?
Unübersehbar sind die restriktiven Auswirkungen der politischen Internationalisierung auf die demokratischen bzw. demokratiebezogenen
Komponenten nationalstaatlich verfasster liberal-demokratischer Regime.
Politische Internationalisierung betrifft die Bundesrepublik (wie die übrigen Mitgliedstaaten der EU) am unmittelbarsten in Form der europäischen
Integration und der »Europäisierung«.207 Die auf der Ebene der Europäischen Union produzierten Entscheidungen sind zwar keineswegs durch
eine vollständige Abwesenheit politischer Legitimität gekennzeichnet, doch
handelt es dabei – in der Terminologie der jüngeren Demokratietheorie –
schwerlich um präferenzbezogene, über einen anspruchsvollen demokratischen Prozess erzeugte »input«-Legitimität, sondern vor allem um eine
interessenbasierte »output«-Legitimität (Scharpf 1999: 10–21). Das Ausmaß
des europäischen Demokratiedefizits (welches theoretisch und empirisch
——————
205 Dabei steht außer Frage, dass die Internationalisierung, speziell in ihren in Europa
zu beobachtenden Erscheinungsformen, nicht ausschließlich problematische bzw.
negative Effekte zeitigt. Zu den positiv zu bewertenden Aspekten der Internationalisierung gehören nicht zuletzt das beispiellose Maß an internationaler Freizügigkeit von Personen, die Entstehung einer internationalen »Friedenszone« sowie Anzeichen eines wachsenden Bewusstseins internationaler Solidarität.
206 Diese Dimension des Verhältnisses zwischen Internationalisierung und Liberalisierung im Sinne eines Rückbaus der »sozialen Demokratie« zugunsten einer lediglich
»liberalen Demokratie« thematisieren unter anderem Streeck (1998) und, stärker
empirisch, Brady/Backfield/Seeleib-Kaiser (2004).
207 In Abgrenzung gegenüber anderen Verständnissen (vgl. etwa Beck/Grande 2004)
wird hier davon ausgegangen, dass es sich bei »Europäisierung« nicht um eine regional spezifizierte Form von Transnationalisierung bzw. Supranationalisierung
handelt. In Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung in der jüngeren Literatur
werden darunter vielmehr die Rückwirkungen der europäischen Integration auf die
unterschiedlichen Dimensionen von Politik (Strukturen, Prozesse und Inhalte) in
den EU-Mitgliedstaaten verstanden (Featherstone 2003: 7; Vink 2003).
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
265
abzugrenzen ist gegenüber einem möglichen Legitimitätsdefizit) ist Gegenstand wiederkehrender Kontroversen in der internationalen Europaliteratur.208 Selbst die großzügigste Auslegung könnte jedoch schwerlich zu
dem Ergebnis gelangen, dass sich die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse auf der Ebene der Union durch ein besonders hohes Maß
an demokratischer Qualität auszeichnen. Zweifel erscheinen schon an der
demokratischen Qualität der unzähligen Nicht-Regierungs-Organisationen
angezeigt, die verbreitet geradezu als Verkörperung zivilgesellschaftlich
basierter demokratischer Einflussnahme auf staatliche oder quasi-staatliche
Entscheidungen gelten, obwohl bei näherer Betrachtung viele von ihnen
selbst grundlegende Merkmale demokratischer Organisation vermissen
lassen (Greven 2000, 2002; Grant 2002). Kaum je in Frage standen die
spezifischen Demokratiedefizite auf der Ebene des supranationalen Entscheidungssystems im engeren Sinne. Von den EU-Institutionen genießt
(seit 1979) nur das Europäische Parlament eine direkte demokratische
Legitimation. Diese wird zudem eingeschränkt (oder zumindest spezifisch
modifiziert) durch Unterschiede in den nationalen Regelungen für die
Wahl des Europäischen Parlaments, die ausgeprägte Dominanz innenpolitischer Themen im Europawahlkampf, die Abwesenheit europäischer Parteien sowie schließlich das Fehlen einer echten Parteienkonkurrenz im
Sinne von Regierung und Opposition. Auf entscheidungspolitischer Ebene
kommt hinzu, dass sich gerade die vergleichsweise weitreichenden Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments im Rahmen des
sogenannten Kodezisionsverfahrens nicht auf sämtliche »Säulen« bzw.
Politikfelder erstrecken, auf denen die EU aktiv ist – ein Umstand, der
durch geschickte Strategien des Parlaments, seine formal verbürgten Mitwirkungsansprüche gelegentlich auf informellem Wege auszuweiten
(Tömmel 2006: 123–126), nicht zu kompensieren ist.209 Spezifische budgetäre Restriktionen und die fehlende Kompetenz des Europäischen Parlaments zur selbständigen Gesetzesinitiative runden das Bild ab.
——————
208 Eine skeptische Position formulieren – in gezielter Auseinandersetzung mit
optimistischeren Deutungen (Majone 1998; Moravcsik 2002) – neben vielen anderen Follesdal/Hix (2006).
209 Selbst wenn es zu den im Verfassungsentwurf von 2004 vorgesehenen Reformen –
der Erhebung des Kodezionsverfahrens zum regulären Gesetzgebungsverfahren
der EU – käme, wäre damit keine vollständige Gleichberechtigung des Parlaments
gegenüber dem Rat erreicht, da die Entscheidungen in zahlreichen Bereichen (so
insbesondere in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) keinen Gesetzescharakter besitzen.
266
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Diese Defizite werden bislang kaum ansatzweise durch eine angemessene Stärkung der nationalstaatlichen Parlamente aufgefangen.210 Als
besonders defizitär erscheint die Struktur formaler Kontrollrechte in jenen
Ländern Westeuropas, die der EU im Rahmen der »Süderweiterung« beitraten (Maurer 2002: 351, 379–381). In einer Reihe anderer Länder mit
auffallend großzügig bemessenen Kompetenzprofilen von Parlamenten
(darunter die Bundesrepublik, Österreich und Finnland) sorgte dagegen
vor allem die Existenz eines breiten parteienübergreifenden europapolitischen Konsenses dafür, dass die parlamentarische Kontrolldichte gegenüber dem europapolitischen Handeln der Regierung insgesamt eher moderat blieb (ebd.: 382).211 Von landesspezifischen Besonderheiten abgesehen,
besteht seit langem ein breiter Konsens der Forschung darüber, dass zu
den zentralen innerstaatlichen Auswirkungen der europäischen Integration
die Stärkung der Exekutive (gegenüber der Legislative und anderen Akteuren) gehört (Moravscik 1997; Dreier 2002, Helms 2005e: 399–402). Die im
engeren Sinne institutionellen Manifestationen der »Europäisierung« auf
die nationalstaatlichen Parlamente – vom Transfer legislatorischer Kompetenzen nach Brüssel und Straßburg bis hin zu den negativen Effekten
des »qualified majority voting« und der zeitlichen und administrativen
Überlastung der Parlamente durch die Flut an EU-Vorlagen (Kassim 2005:
297–298) – werden ergänzt durch wichtige Sekundäreffekte der europäischen »Gipfeldiplomatie«. Dazu zählen der erweiterte Informationsvorsprung der Exekutive und das gesteigerte öffentliche Prestige von Spitzenvertretern der Regierung in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren
des Systems, die sich auch im Rahmen »rein innenpolitischer« Konflikte als
wichtig erweisen können.212
Somit lässt sich zusammenfassend folgern, dass sowohl die (weiter
oben behandelte) ökonomische Internationalisierung als auch die politische
Internationalisierung einer De-Parlamentarisierung und damit letztlich
——————
210 Sie würden es selbst im Falle einer Implementation der im Verfassungsentwurf
von 2004 vorgesehenen institutionellen Reformen nicht, obwohl mit ihnen graduelle Verbesserungen verbunden wären (Kneip/Petring 2006).
211 Vgl. für detaillierte Analysen der »Europäisierung« des Deutschen Bundestages
Saalfeld (2003), Sturm/Pehle (2005: 63–84) und Auel (2006).
212 Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet diese originär »europäisierungsbedingte« Veränderung in Teilen der Öffentlichkeit bzw. der Fachöffentlichkeit weniger als »Europäisierung« denn als »Amerikanisierung« wahrgenommen wird. Vgl.
Abschnitt 7.4.
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
267
einer De-Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse in den
liberalen Demokratien (mit EU-Mitgliedschaft) Vorschub leisten.213
Daneben gibt es mindestens eine weitere Dimension der faktischen DeDemokratisierung in den konsolidierten liberalen Demokratien. Sie steht
im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Internationalisierung. Gemeint ist der Umstand, dass ein signifikanter Teil der in den konsolidierten
liberalen Demokratien lebenden Bevölkerung über kein Wahlrecht zu den
nationalen Parlamenten verfügt, obwohl auch er den Gesetzen des betreffenden Staates unterworfen ist und über Steuern und Abgaben gegebenenfalls auch die von staatlicher Seite angebotenen Leistungen mitfinanziert.
Dadurch wird der Grundgedanke der Demokratie als institutionalisierte
Volksherrschaft, nach der das Volk als Summe der Regierten das Recht
besitzt, vermittels der Teilnahme an Wahlen die Auswahl der Regierenden
zu bestimmen, strukturell beeinträchtigt. Das »Volk« und die »Regierten«
sind nicht vollständig deckungsgleich. Ursächlich hierfür ist im Kern die
gesellschaftliche Internationalisierung in Gestalt zwischenstaatlicher Migration. In der jüngeren Demokratietheorie wird kaum mehr bestritten,
dass die nationale Identität von Menschen, die Zugehörigkeit zu einem
Volk prinzipiell veränderbar und wesentlich kulturell bedingt ist (Benhabib
2002).
»Identität ist nichts, was durch die Natur definiert wird – Identität ist durch Kultur
bestimmt. Kultur aber ist immer im Fluss, ist niemals fertig. Und deshalb bestimmt
Politik mit, worauf sich eine konkrete Identität richtet. Deshalb ist Politik auch ein
Faktor, der bestimmt, wer zu einem Volk gehört.« (Pelinka 2003: 46)
Das entscheidende formale Bestimmungskriterium der Zugehörigkeit einer
Person zu einem Volk – und damit in aller Regel auch zur Gruppe der
Wahlberechtigten (sofern nicht ein altersbezogener Ausschlussgrund vorliegt) – bildet die Staatsbürgerschaft.214 Bei der Ausgestaltung des Staats-
——————
213 Auch im Hinblick auf die politischen Prozesse innerhalb nationalstaatlich
organisierter liberaler Demokratien bleibt indes offen, inwieweit damit zugleich
eine De-Legitimierung politischer Institutionen, Prozesse und Entscheidungen
verbunden ist. Im Lichte einer jüngeren einschlägigen Studie (Schneider u.a. 2006)
gibt es – in deutlichem Gegensatz zu den kritischen Stimmen aus der Wissenschaft
– auf der Ebene des öffentlichen gesellschaftlichen Diskurses in (ausgewählten)
konsolidierten Demokratien bislang praktisch keinerlei Anzeichen für eine als solche perzipierte Legimitationskrise nationalstaatlicher Politik.
214 Ausnahmen von dieser Regel gibt es international am ehesten auf kommunaler
Ebene, deutlich seltener hingegen bei der Ausgestaltung des Wahlrechts für Wah-
268
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
bürgerschaftrechts in den konsolidierten liberalen Demokratien gibt es
grundlegende Unterschiede – nicht zuletzt hinsichtlich der Schwierigkeit,
als Ausländer in den Besitz der Staatsbürgerschaft des betreffenden Landes
zu gelangen. Das Staatsgehörigkeitsrecht der Bundesrepublik gehört »zu
den restriktivsten der EU« (Green 2006: 115); bis zum Jahr 2000 war keine
Möglichkeit vorgesehen, die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund der
Geburt im Inland zu erwerben.215 Auch die international übliche Koppelung des Wahlrechts (auf gesamtstaatlicher Ebene) an den Besitz der
Staatsbürgerschaft ist freilich nicht prinzipiell dem politischen Gestaltungswillen des Gesetz- bzw. Verfassungsgesetzgebers entzogen. Denkbar
sind – wie der neuseeländische Fall zeigt – auch eine Entkoppelung von
Staatsbürgerschaft und politischer Bürgerschaft und die Bindung letzterer
an den Wohn- und Arbeitsort (Pelinka 2003: 53).216
Die zwischenstaatliche Migration innerhalb Europas und nach Europa,
insbesondere Westeuropa, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich
intensiviert. Längst sind auch klassische »Auswanderungsländer« wie Spanien, Portugal oder Irland zu »Einwanderungsländern« geworden. Die vier
westeuropäischen Länder mit dem höchsten Anteil von Ausländern an der
Bevölkerung (Deutschland, Großbritannien, Spanien und Italien) liegen im
weltweiten Ranking der Einwanderungsstaaten gleich hinter den USA
(Guiraudon/Jileva 2006: 281–288).
——————
len auf gesamtstaatlicher Ebene. Großbritannien, Irland, Portugal, Australien und
Neuseeland sind die einzigen Länder aus der Familie der konsolidierten liberalen
Demokratien, in denen (bei je unterschiedlichen Regeln im Detail) auch bestimmte
Personengruppen ohne die Staatsangehörigkeit des betreffenden Landes an Wahlen auf nationaler Ebene teilnehmen dürfen. Unter ihnen kennt nur Neuseeland
ein allgemeines, lediglich an den Aufenthaltsstatus geknüpftes aktives Wahlrecht
auf kommunaler und gesamtstaatlicher Ebene. Vgl. Kapitel 2; für eine weiter ausgreifende international vergleichende Analyse relevanter Bestimmungen
Waldrauch (2003).
215 Zu erinnern ist jedoch daran, dass die sogenannte »ius sanguinis«-Regel historisch
im Zuge der Gründung des Norddeutschen Bundes bzw. des Bismarck-Reichs
nicht mit dem Ziel der Exklusion, sondern der Inklusion geschaffen wurde. Sie
sollte Zugangserleichterung für die von der »kleindeutschen« Lösung ausgeschlossenen Deutschen in Süddeutschland und Österreich gewährleisten. Nach 1945
wurden die beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung an einer Aufgabe dieses
Prinzips durch die umfangreichen Abtrennungen des Staatsgebiets gehindert, »da
sie die Inklusion der Deutschen außerhalb der enger gewordenen Grenzen zweier
deutscher Teilstaaten ermöglichen mußten« (von Beyme 1996: 84).
216 Unterschiedliche Lösungsmodelle diskutiert Bauböck (2006: 217–221).
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
269
Gleichwohl sind nicht nur, möglicherweise nicht einmal primär die
quantitativen Veränderungen auf diesem Feld dafür verantwortlich, dass
die Migration heute zu den zentralen Problemen der Demokratie und der
Demokratieforschung gerechnet wird. Nach Einschätzung einiger führender Autoren stellen die veränderten normativen Ansprüche, die heute an
die Legitimität politischer Herrschaft im liberalen und demokratischen
Rechtsstaat gestellt werden, sogar den eigentlich ausschlaggebenden Impuls
dar (Bauböck 2006: 221).217 Anders als es scheinen mag, handelt es sich
dabei keineswegs um ein »zweitklassiges« Motiv für die Auseinandersetzung mit dem Problem. Vielmehr vereinten sich in den unterschiedlichen
Vorstellungen von Demokratie schon immer empirische und normative
Aspekte, und zu Veränderungen der empirischen Dimension kam es in
aller Regel jeweils erst im Anschluss an hinreichend signifikante Veränderungen normativer Demokratievorstellungen. Reiches Anschauungsmaterial dazu bietet die in Kapitel 2 dieser Studie in wenigen Ausschnitten
nachgezeichnete Geschichte der Ausbreitung des demokratischen Wahlrechts seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. Mit speziellerem Bezug auf
die jüngeren politischen Entwicklungen in Europa ist im Übrigen daran zu
erinnern, dass mit der Etablierung der Prinzipien des Binnenmarktes –
einschließlich der unbeschränkten Freizügigkeit von EU-Bürgern – entsprechende Ansprüche geradezu institutionell geschürt werden.
Transformiert sich die liberale Demokratie in den konsolidierten demokratischen Verfassungsstaaten also zu einer Variante, die im Zuge der
Internationalisierung von Politik, Ökonomie und Gesellschaft Teile ihrer
demokratischen Qualitäten eingebüßt hat, ihre liberalen Komponenten
hingegen wirkungsvoll zu schützen weiß? Auf den ersten Blick scheint es
so. In der Tat ließe sich dieser Befund sogar dahingehend spezifizieren,
dass die politische bzw. politisch vorangetriebene rechtliche Internationalisierung – vor allem, aber nicht ausschließlich in Gestalt der europäischen
——————
217 Die grundlegenden menschenrechtlichen Argumente, die zur Rechtfertigung einer
liberalen Handhabung des Staatsbürgerrechts vorgebracht werden, sind jedoch
keineswegs neu; sie lassen sich bis zu den französischen und amerikanischen Menschenrechtserklärungen des späten 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Für einige
Autoren bildet »die Integration der Gesellschaft unter Beibehaltung der jeweiligen
Eigenheiten hin zu einer staatlichen Ordnung« eine zentrale Grundkomponente
demokratischer Verfassungsstaatlichkeit, die auch historisch gleichberechtigt neben den klassisch liberalen Komponenten der Ausgrenzung persönlicher Freiheitsräume und der demokratischen Komponente der Teilhabe am Staat steht. Vgl.
etwa Hufen (2000: 21–22).
270
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
Integration und ihrer Rückwirkungen auf die Nationalstaaten – mindestens
zu einer zusätzlichen Absicherung rechtstaatlicher Prinzipien geführt
hat.218 Das gilt besonders für den Schutz von Menschenrechten innerhalb
der Europäischen Union, für den in hohem Maße die auf eigentümliche
Weise einander ergänzenden Tätigkeiten des Europäischen Gerichtshofes
(EuGH) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
(EGMR) verantwortlich waren bzw. sind.219 »The European courts’ linkage
has become a parameter of European governance. Human rights have
changed the course of European integration, as they have progressively
been superimposed on most EU and national activities by the two courts«
(Scheeck 2005: 838). Selbst die Gerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, die
zu den weltweit leistungsstärksten und angesehensten Institutionen entwickelter Rechtsstaatlichkeit zählt, wurde vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte vereinzelt für Verstöße gegen das Menschenrecht gerügt.
So kritisierte der EGMR das Bundesverfassungsgericht wegen übergroßer
Längen der Verfahrensdauer, welche als unvereinbar mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention erachtet wurden (Frankfurter Allgemeine
——————
218 Wie Leibfried und Zürn zu Recht anmerken, ließen sich die damit verbundenen
Prozesse in gewisser Weise als relative Schwächung nationalstaatlich garantierter
Rechtsstaatlichkeit deuten. Ungeachtet der zum Teil recht unterschiedlichen
Adaptionsstrategien von Gerichten in den Mitgliedstaaten der EU (Craig 2003;
Kassim 2005: 307–310) gilt, dass sich »die Beweislast für Abweichungen von europäischen Vorgaben auf die nationalen Verfassungsgerichte verlagert hat«
(Leibfried/Zürn 2006: 48). Die Manifestationen und Grenzen internationaler
Rechtsstaatlichkeit jenseits der EU analysiert aus politikwissenschaftlicher Perspektive Zangl (2006).
219 Zunächst besaß keines der beiden Gerichte die Kompetenz, Menschenrechte auf
der Ebene der Europäischen Gemeinschaften zu schützen. Dem in Luxemburg
ansässigen Europäischen Gerichtshof ermangelte anfangs das Recht, auf EUEbene einen Schutz von Menschenrechten zu gewährleisten, während der in
Straßburg ansässige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht über das
Recht verfügte, eine externe Kontrolle über die EU-Institutionen auszuüben, weil
die EU als solche nicht eine Partei im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt. Angesichts der jahrzehntelangen Unfähigkeit der nationalstaatlichen Regierungen, hinreichende Kontrollmechanismen zu installieren,
strebten die beiden Gerichte von sich aus danach, ihre Kompetenzen nach Kräften
auszuschöpfen bzw. zu erweitern. Dabei griffen beide Gerichte zunehmend in den
formalen Kompetenzbereich des jeweils anderen ein, woraus sich jedoch weniger
rechtliche Kompetenzstreitigkeiten als vielmehr ein – mit Blick auf das damit erreichte Maß an Schutz von Menschenrechten innerhalb der EU – hochgradig
funktionales Zusammenspiel beider Seiten ergab. Vgl. Scheeck (2005).
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
271
Zeitung vom 30.06.1997: 6). Ungleich schwerwiegender waren die Wirkungen der politischen und rechtlichen Internationalisierung in Großbritannien, wo die Verabschiedung des »Human Rights Act 1998« zu einem
mächtigen Katalysator der Stärkung von »judicial review« im britischen
Regierungssystem wurde (Jacobs 1999; Schieren 1999). Zu den verbreiteten
Wirkungen der »Europäisierung« der Gerichtsbarkeit gehörte ferner die
Aufwertung der einfachen Gerichtsbarkeit bei der Auslegung von national
bedeutenden rechtlichen Regeln. Wie im Falle der »europäisierungsbedingten« Aufwertung der politischen Exekutive (vgl. FN 212), wurde auch
diese Entwicklung gelegentlich nicht so sehr als »Europäisierung«, sondern
als »Amerikanisierung« bewertet (Newell 2005: 39) – eine Interpretation,
die auf der Ebene des funktionalen Vergleichs freilich mehr Sinn macht als
die tendenzielle Gleichsetzung europäischer Regierungschefs mit amerikanischen Präsidenten.
Es gibt jedoch auch Entwicklungen, die eher auf eine De-Liberalisierung der liberalen Demokratie hindeuten. Spezifische Probleme ergeben
sich aus dem Phänomen der zwischenstaatlichen Migration: Ohne allzu
große Spitzfindigkeit ließe sich das fehlende Recht eines Teils der in den
liberalen Demokratien lebenden Bevölkerung auf demokratische Beteiligung an Wahlen zugleich als Einschränkung der liberalen Abwehrrechte
gegenüber dem Staat bewerten, da auch Regierungsentscheidungen, die als
signifikanter Eingriff in die grundlegenden Bedingungen der persönlichen
Lebensgestaltung empfunden werden (seien es Steuererhöhungen, seien es
regulative oder protektive Maßnahmen mit restriktivem Charakter), nicht
mit einer entsprechenden Wahlentscheidung sanktioniert werden können.
Quantitativ und qualitativ bedeutender sind jedoch zweifelsohne andere
Entwicklungen, darunter insbesondere die Reaktionen der liberalen Demokratien auf die Bedrohung des internationalen Terrorismus und der
zunehmend länderübergreifend organisierten Kriminalität. Dabei handelt
es sich bei näherer Betrachtung freilich um zwei sehr unterschiedliche
Phänomene. Das zentrale Motiv organisierter Kriminalität besteht in der
Maximierung materieller Güter; beim Terrorismus stehen hingegen politische Ziele, die Zerstörung der herrschenden politischen Ordnung innerhalb eines Staates, im Vordergrund. Allerdings gibt es eine Tendenz zur
Verwischung der Grenzen: Zum einen beteiligen sich Terroristen zunehmend am internationalen Drogenhandel, um ihre Operationen zu finanzieren; zum anderen nutzen sowohl der Terrorismus als auch transnationale
kriminelle Organisationen vom Krieg zerrüttete Staaten als Operationsba-
272
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sen (Jachtenfuchs 2006: 73–74). Grenzverwischungen gibt es auch auf der
Ebene politischer Reaktionsstrategien auf den internationalen Terrorismus
und die organisierte Kriminalität. So neigt die EU dazu, »Terrorismus als
eine spezifische Form von Kriminalität« (Kahl 2006: 123) zu betrachten.
Insgesamt können deshalb internationaler Terrorismus und internationale
organisierte Kriminalität als je spezifische – pathologische – Erscheinungsformen gesellschaftlicher Internationalisierung gelten.
Im Rahmen der Reaktionen des Staates auf diese Herausforderungen
kam es – auf der Grundlage des Strebens nach Gewährleistung von Schutz
und Sicherheit durch den Staat – zu teils weitreichenden staatlichen Einschränkungen von Freiheitsrechten. Das gilt auch für die Bundesrepublik,
obwohl die im Gefolge des Terroranschlags auf das New Yorker World
Trade Center vom 11. September 2001 durchgesetzten Reformen im Hinblick auf Einschränkungen ziviler Freiheitsrechte deutlich defensiver blieben als in Großbritannien und den USA (Pradetto 2004; Wilkinson 2006).
Auch die EU hat die gewachsene Bedrohung mit einer Reihe restriktiver
Maßnahmen beantwortet220, die nicht wenigen Beobachtern als Eingriff in
die Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte von Bürgern erscheinen
(Kahl 2006: 126; Wilkinson 2005).
Vor allem die Anti-Terror-Politik der amerikanischen Regierung unter
Präsident George W. Bush wurde wiederholt als »a textbook illustration of
the ›securitization‹ of key issues for political gain« (Bach 2006: 115) charakterisiert, hinter der das Bestreben einer machtpolitisch motivierten Expansion des Präsidentenamtes im politischen Entscheidungsprozess stehe.
Das grundsätzliche Problem einer Gefährdung ziviler Freiheitsrechte durch
eine restriktive Politik des Staates bleibt freilich auch dort bestehen, wo
diese »in bester Absicht« betrieben wird.221 Ein besonderes Problem ergibt
——————
220 Darunter etwa die Übermittlung persönlicher Daten von Flugreisenden in die USA
an amerikanische Sicherheitsbehörden und die mindestens sechsmonatige Speicherung von Telefon- und Internetdaten ohne konkretes Verdachtsmoment.
221 Ähnlich wie in Bezug auf die Legitimitätsproblematik (vgl. FN 213) entspricht der
Sensibilität und Kritik in weiten Teilen der Wissenschaft jedoch in den seltensten
Fällen ein vergleichbares Betroffenheitsgefühl der Bevölkerung. Das scheint, wie
einschlägige Untersuchungen suggerieren, auch für die Bundesrepublik der Fall zu
sein: »Bei der Mehrheit stößt die Expansion der Sicherheitskompetenzen eher auf
diffuse Zustimmung, wie Meinungsumfragen immer wieder belegen. Der Einschnitt in Bürgerrechte wird als abstrakt empfunden, der Verlust von Datenschutz
beispielsweise als nebensächlich bewertet […], Bürgerrechte als etwas potenziell
Antiquiertes« (Lange 2006: 104).
DE-INSTITUTIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG
273
sich daraus, dass das vom Staat als Gegenleistung für die begrenzte Einschränkung von Freiheitsrechten gegebene Sicherheitsversprechen nicht
mehr zwangsläufig in allen Belangen tatsächlich mit eigenem Personal
umgesetzt wird. Kennzeichnend ist vielmehr eine internationale Tendenz
zur »Privatisierung von Sicherheit und Aushöhlung des Gewaltmonopols«
(Glaeßner 2003: 170–174), aus der sich weitreichende Herausforderungen
liberaler und demokratischer Rechtsstaatlichkeit ergeben können.222
Zu den stärker indirekten freiheitsgefährdenden (zudem demokratiegefährdenden) Folgeerscheinungen vor allem der ökonomischen Internationalisierung gehört ferner die Entstehung rechtspopulistischer und rechtsradikaler Strömungen und Bewegungen. Loch und Heitmeyer (2001) qualifizieren autoritäre Entwicklungen ausdrücklich als »Schattenseiten der
Globalisierung«. Gesteigerte Rassismus- und Fremdenfeindlichkeitspotentiale erscheinen dabei als mittelbare Folge von gesellschaftlicher »Verunsicherung aufgrund von Kontrollverlusten bzw. -befürchtungen« (Heitmeyer
2001: 515). Freilich ist es möglich und sinnvoll, zwischen unterschiedlichen
Gruppierungen zu differenzieren. Während extremistische Gruppierungen
die gesamte Idee der Demokratie in Frage stellen, wenden sich radikale
Gruppierungen »nur« gegen bestimmte liberale Elemente des Systems, wie
etwa den verfassungsrechtlichen Schutz von Minderheiten oder die institutionelle Gewaltenteilung (Mudde 2006: 178). Im Gegensatz zu großen
Teilen des 20. Jahrhunderts, während derer demokratische Regime vor
allem durch extremistische Bewegungen herausgefordert wurden, bestimmen im frühen 21. Jahrhundert radikale, darunter populistische Kräfte mit
anti-liberaler Stoßrichtung das internationale Bild (ebd.: 194).
Der politische Einfluss anti-liberaler (und demokratiefeindlicher) Parteien auf die Entwicklung liberal-demokratisch organisierter Systeme bleibt
umstritten. In der großen Mehrzahl der konsolidierten liberalen Demokratien betraf die direkte Herausforderung der politischen Ordnung durch
radikale Kräfte »lediglich« die Ebene des öffentlichen politischen Diskurses, kaum hingegen die Ebene staatlicher Entscheidungspolitik. Die wichtigste Ausnahme verkörpert das Feld der Immigrationspolitik, auf dem
viele Beobachter eine Tendenz zur »Ansteckung« der etablierten demokratischen Parteien erkennen – selbst in einigen Ländern, in denen populisti-
——————
222 Dabei handelt es sich wohlgemerkt um ein »hausgemachtes« Problem, nicht um
eine Dimension der Internationalisierung. Für eine nicht lediglich operative Internationalisierung des Gewaltmonopols gibt es bislang kaum Anzeichen
(Jachtenfuchs 2006: 88).
274
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER LIBERALEN DEMOKRATIE
sche Parteien nicht einmal parlamentarischen Repräsentationsstatus erlangten (Guiraudon/Jileva 2006: 288).223 Zumindest Regierungsbeteiligungen von entsprechend zu klassifizierenden Parteien blieben innerhalb der
Familie der konsolidierten liberalen Demokratie die große Ausnahme. Zu
nennen wären vor allem Italien und Österreich. Die Auswirkungen der
parteipolitischen Zusammensetzung auf die Regierung, insbesondere im
Hinblick auf den hier interessierenden Aspekt der Einschränkung von
Freiheitsrechten, sind jedoch nicht eindeutig. Zum politischen Vermächtnis der Politik der ÖVP/FPÖ- bzw. ÖVP/BZÖ-Koalition in Österreich
gehörte nach Einschätzung von Beobachtern unter anderem »mehr
Rechtsunsicherheit« (Talós 2006: 240) als Ergebnis einer Schwächung der
verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. In Italien forderten manche
Aktionen der Regierung Berlusconi die Rechtsstaatlichkeit hingegen so
weit heraus, dass zu den jüngeren Veränderungen der italienischen Demokratie paradoxerweise gar eine – vor allem der Beherztheit des italienischen
Staatspräsidenten und den Gerichten zu verdankende – relative Aufwertung rechtsstaatlicher Prinzipien gezählt werden kann (Bull/Newell 2006).
Diese abschließenden Betrachtungen erinnern uns lediglich daran, dass
die liberale Demokratie – auch nach deren politisch und ökonomisch erfolgreicher Konsolidierung – eine außerordentlich verwundbare Staatsform
bleibt. Dabei wurden hier nur einige der wichtigsten internationalisierungsbedingten Gefährdungen berücksichtigt.224 Ein Patentrezept zur erfolgreichen Bewahrung der liberalen Demokratie gibt es ebenso wenig wie einen
Königsweg zu deren erfolgreicher Institutionalisierung. Bei der Begründung wie bei der Entwicklung der liberalen Demokratie bleibt es eine zentrale Herausforderung verantwortlich handelnder politischer Eliten und
deren Ratgeber aus Wissenschaft und Praxis, das länderübergreifend Gültige der Idee des demokratischen Verfassungsstaates mit den spezifischen
Bedürfnissen zunehmend komplexerer Gesellschaften und Kulturen zu
versöhnen.
——————
223 Zu einer entsprechenden Einschätzung gelangt auch Simon Green (2006: 125) in
Bezug auf die politischen Rahmenbedingungen des »Asylkompromisses«, der umstrittenen Reform des Art. 16 GG im Dezember 1992.
224 Eine weit ausgreifende Diskussion der ungezählten inneren Gefährdungen der
liberalen Demokratie bietet neben anderen Leisner (1998).
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