Veranstaltungsreihe Leistung und Solidarität Die Zukunft der Sozialen Demokratie Konzept erstellt von Günther Sandner I) Theorie und Praxis „Sozialer Demokratie“ Konzeptionen Sozialer Demokratie begleiteten die theoretischen Debatten sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Eduard Bernsteins Abhandlung „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1899) ist dabei genauso zu nennen wie Max Adlers populärwissenschaftliches Buch „Politische oder soziale Demokratie“ (1926). Thomas Meyer, Politikwissenschaftler und Leiter der Akademie für politische Bildung der Friedrich Ebert Stiftung, der bereits seit vielen Jahren zu dem Thema forscht und veröffentlicht, hat nun eine umfassende „Theorie der Sozialen Demokratie“ (2004) vorgelegt. In diesem voluminösen, fast 700 Seiten starken Werk nimmt er bereits zu Beginn eine klare Trennung vor: Soziale Demokratie ist zuerst einmal politische Theorie, und dann erst politische Programmatik. Diese beiden Ebenen müssten auseinander gehalten werden. Kernbestand der Sozialen Demokratie sei es, die „formalen“ Prinzipien der liberalen Demokratie um die Aspekte soziale Gerechtigkeit und (politische) Teilhabe zu erweitern. Soziale Demokratie basiert nach Meyer auf der Gültigkeit und dem Bestand universeller Grundrechte. Es geht darum, die sozialen Risiken, die einzelne Individuen oder Gruppen von der Inanspruchnahme oder Realisierung ihrer Grundrechte abhalten, zu identifizieren und diese Risiken zu entschärfen bzw. zu bekämpfen (wie etwa Arbeitslosigkeit, ungenügende Bildung, Krankheit etc.). Die Soziale Demokratie hat zwar den Wohlfahrtsstaat gewissermaßen zur Voraussetzung, geht aber deutlich über diesen hinaus. Ihre Wirksamkeit erstreckt sich über fast alle Bereiche von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, wie auch die umfangreiche thematische Palette, die Meyer in seiner „Theorie der Sozialen Demokratie“ abhandelt, demonstriert. Soziale Demokratie – Libertäre Demokratie und die beiden Versionen der Freiheit Thomas Meyer, dem es vor allem um eine theoretische und empirische Fundierung des Konzeptes der Sozialen Demokratie geht, identifiziert den Hauptunterschied der beiden derzeit konkurrierenden Demokratiekonzepte, der sozialen und der libertären Demokratie, im unterschiedlichen Verständnis von Freiheit. Während der Freiheitsbegriff der libertären Demokratie negativ definiert sei, sei jener der Sozialen Demokratie positiv. Der positive Freiheitsbegriff bedeutet, dass Staat und Gesellschaft aktiv für gleiche Chancen und Gleichberechtigung eintreten. Die sozial-ökonomische Gesellschaftssphäre darf also nicht wie 2 in der liberalen Demokratietheorie einfach ausgegrenzt werden. Für das Funktionieren der Demokratie ist vielmehr ein ausreichendes Maß „sozialer Homogenität“ notwendig, wie es der Staatsrechtler Hermann Heller, auf den sich Meyer wiederholt beruft, bereits in der Zeit der Weimarer Republik formulierte. Soziale Demokratie basiert also auf einem Freiheitsbegriff, der zweidimensional ist: Freiheit von willkürlicher Intervention (also negative Freiheit) einerseits; aber eben auch positive Handlungsermöglichung andererseits. Sieht der libertäre Ansatz positive Freiheit als Widerspruch der negativen an, so sind die beiden Freiheitsbegriffe für die Soziale Demokratie einander bedingende Elemente. Denn aus der Sicht Sozialer Demokratie wird die liberale Demokratie widersprüchlich, wenn sie die Risiken ausblendet, die bestimmte Gruppen von BürgerInnen von jenen Grundrechten trennen, die in einer Demokratie existieren müssen. Im Gegensatz zum Liberalismus geht die Soziale Demokratie auf empirischer Ebene von der Tatsache aus, dass diese Risiken eben nicht prinzipiell individuell kalkuliert werden können, sondern dass sie in der Natur der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation liegen und deswegen auch Gegenstand kollektiver Verantwortung und gesellschaftlicher Kompensation sein müssen. Die Soziale Demokratie bettet beispielsweise das Recht auf Eigentum und Besitz in den gesellschaftlichen Zusammenhang ein und sieht es nicht einfach als ein Naturrecht des Individuums an. Eigentum ist so lange gerechtfertigt, so lange es nicht die Rechte anderer beschränkt. Die automatische Verbindung aus Markt und Freiheit aber, welche die libertäre Demokratie vornimmt, greift zu kurz. Denn die Marktordnung selbst kann für viele auch freiheitsbeschränkend wirken. Wegen der nicht vorhandenen Lösung des Problems, die universell versprochenen Freiheiten auch zu realisieren, werden libertäre Demokratien im Kontext einer Systematik „defekter“ Demokratien diskutiert. Soziale Grundrechte - Soziale Bürgerschaft - soziale Gerechtigkeit Ein Kernpunkt der Sozialen Demokratie besteht in der Sicherung sozialer Grundrechte, ohne die die bürgerlichen und politischen Rechte nicht vollständig realisiert werden können. Denn was nützt die Redefreiheit denen, zitiert Meyer Thomas H. Marshall, die mangels Erziehung nichts zu sagen haben und nicht über die Mittel verfügen, sich Gehör zu verschaffen. Zur realen Wirksamkeit der Grundrechte bedarf es also grundrechtlich garantierter Gewährung der 3 Mittel zu ihrer Ausübung. Erst eine soziale Bürgerschaft garantiert die Übersetzung formaler Freiheitsrechte in die materielle Praxis. „Die Kritik der Identitätsfunktion von Formalgeltung und Realwirkung der Grundrechte unter den Bedingungen marktkapitalistisch verfasster Gesellschaften ist der systematische empirische Ausgangspunkt der Theorie der Sozialen Demokratie“. (S. 87) Die Konzepte von sozialer und libertärer Demokratie folgen auch einer unterschiedlichen politischen Anthropologie. Im Gegensatz zur libertären Auffassung geht Meyer davon aus, dass BürgerInnen nicht nur aus rationalen Eigeninteressen im engeren Sinne handeln, sondern darüber hinaus von normativen kollektiven Orientierungen geleitet werden, wodurch manchmal auch gegen unmittelbare eigene materielle Interessen gehandelt wird. Soziale Gerechtigkeit (realisiert u.a. durch gleiche Freiheitsrechte, Rechtfertigungspflicht für Einkommens- und Reichtumsunterschiede, gleiche Lebenschancen etc.) ist fundamental für die Soziale Demokratie. „Die Theorie der Sozialen Demokratie basiert auf einer egalitären Theorie der Menschenund Bürgerrechte und einer ihr zugrunde liegenden moderat-egalitären Gerechtigkeitstheorie. (S. 146) Wie auch in vielen anderen Kapiteln zeigt sich Meyer bemüht, das Konzept der Sozialen Demokratie möglichst breit anzulegen und präsentiert folglich auch sehr unterschiedliche gerechtigkeitsphilosophische Positionen (z.B. Rawls, Walzer, Dworkin, Habermas) als kompatibel – nicht zuletzt durch deren gemeinsamen Bezug zur positiven Freiheit. Staat – Markt – Zivilgesellschaft Die Verknüpfung der Ebenen von Staat, Markt und Zivilgesellschaft erfolgt auf vielfältige Weise. In der politischen Theorie hätten orthodoxer Liberalismus, Sozialismus und Anarchismus immer nur eine Steuerungsinstanz anerkannt, es gehe aber um den richtigen Mix (Steuerungspluralismus) aus diesen drei Elementen. So erkenne die Soziale Demokratie der Zivilgesellschaft durchaus eine wichtige Rolle in politischen, sozialen und kulturellen Fragen zu, gleichzeitig verwehrt sie sich aber dagegen, diese gegen den Staat auszuspielen. 4 Denn: „Für diejenigen öffentlichen Güter indessen, die die grundlegenden Rechte der Menschen und Bürger betreffen, verlangen die Prinzipien der Sozialen Demokratie, dass der Staat selbst die letzte Gewährleistungsverantwortung übernimmt (...). (S. 265) Doch ähnlich wie jene des Marktes und jene der Zivilgesellschaft wird auch die Rolle des Staates relativiert, d.h. in einem Feld unterschiedlicher Kräfte positioniert. Das wird unter anderem bei der Diskussion der politischen Ökonomie deutlich. Die Soziale Demokratie, argumentiert Meyer, trete nicht für die generelle Aufwertung des Staates als politischer Akteur ein, sondern für ein System koordinierter Marktwirtschaft, dem heute eines der unkoordinierten gegenüberstünde. Koordinierte Marktwirtschaft bedeute konkret geringere Abhängigkeit der Unternehmen vom Kapitalmarkt, mehr Konzentrationsmöglichkeit auf soziale und ökologische Langfristigkeit, aber auch mehr Mitbestimmung. Das Primat der Grundrechte, der negativen und positiven Freiheiten, bestimmt auch hier den Charakter der Sozialen Demokratie. Soziale Marktwirtschaften, koordinierte Marktwirtschaften mit grundrechtssichernden Typen von Sozialstaatsregimen sind ihre (der Sozialen Demokratie, G.S.) geeigneten institutionellen Rahmenbedingungen. (S. 301) In gewisser Weise wird hier die Logik eines Dritten Weges wirksam. Weder durchgehende staatliche Regulierung noch die reine Marktlogik (die immerhin, so Meyer, im 20. Jahrhundert zur Weltwirtschaftskrise und zur Zerstörung der Demokratien geführt habe), sondern eine Balance aus marktwirtschaftlichen und staatlichen Elementen gilt es zu realisieren. Die makroökonomische Koordination keynesianischer Prägung und die neokorporatistische Selbststeuerung erscheinen als die beiden am besten geeigneten Modelle. Sozialstaat und Globalisierung Gøsta Esping-Andersen hat eine Differenzierung der Sozialstaaten in liberale, konservative und sozialdemokratische vorgeschlagen, der Meyer im Wesentlichen folgt. Die Globalisierung, insbesondere die Öffnung der Märkte, stelle eine Herausforderung für das 5 Modell es europäischen Sozialstaates dar, die beträchtlich sei. Dennoch wären alle Beschreibungen, welche die Globalisierung quasi als Naturgewalt darstellen, die sich unabhängig von politischen Einflüssen vollziehe, ungerechtfertigt. Politik habe nach wie vor Handlungsspielräume. Diese müssten auch bei der Gestaltung des sozialstaatlichen Systems ausgenutzt werden. Meyer tritt in diesem Zusammenhang für eine Verlagerung der Sozialstaatsfinanzierung von lohnbezogenen Beitragssystemen auf die Einkommenssteuer ein, wie dies in skandinavischen Ländern existiert. Eine Folge wäre die Senkung der Sozialbeiträge (und damit der Lohnnebenkosten), was wiederum größere Beschäftigungseffekte hätte als Steuersenkungen. Was die Realisierungschancen Sozialer Demokratie innerhalb der EU betrifft, zeigt sich Meyer vorsichtig zurückhaltend, da „die Marktverfassung der libertären Demokratie“ (36667) bereits etabliert worden wäre und die politischen Konzepte einer Sozialen Demokratie (z.B. ökonomische Makrosteuerung, Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Ökologiepolitik, Bildungspolitik) nur mehr im Konsens im Ministerrat, d.h. nur sehr schwer durchsetzbar wären. Dass die „negative Globalisierung“ der Handlungsbeschränkungen der Politik zur Folge hat, wird nicht bestritten. Dem Eindruck, dass eine „Politik der Sozialen Demokratie unter den Bedingungen der Globalisierung (...) als ein politisches Projekt von historisch beispielloser Komplexität“ erscheint (429), kann man sich auch kaum entziehen. Seine Bestandteile: auf Rechten und Pflichten basierende Weltbürgerschaft, Demokratisierung bestehender (internationaler, transnationaler) Institutionen, interne Demokratisierung regionaler Systeme politischer Kooperation (wie z.B. EU, Asean etc.), Demokratisierung der Weltökonomie (Handel, Arbeit etc.), Stärkung der transnationalen Zivilgesellschaft, sowie Formierung einer politischen Weltöffentlichkeit. Die Soziale Demokratie bezieht ihre Inhalte, wie Meyer einmal bemerkt, aus der liberalen Demokratie, aber auch aus dem demokratischen Sozialismus. Deswegen sei für kulturellen Pluralismus niemals eine besonders ausgeprägte Sensibilität entwickelt worden. Dies stelle deshalb eine aktuelle Herausforderung für die Soziale Demokratie dar. 6 Politische Praxis Was die politische Praxis betrifft, so lassen sich soziale Demokratie und libertäre Demokratie als Idealtypen begreifen, die keine festen Zuschreibungen zulassen. Dies eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, dass sich Staaten zwischen diesen beiden Polen bewegen und einmal mehr in die eine, dann wieder mehr in die andere Richtung tendieren. Dennoch existieren auch „institutionelle Grenzen“ (S. 531) bzw. Systemgrenzen. Ein bestimmtes Ausmaß der Dominanz der Märkte etwa bedingt, dass z.B. die USA eindeutig als libertäre, hingegen Länder wie Deutschland, Dänemark, Schweden oder die Niederlande als Soziale Demokratie zu qualifizieren sind. Auf Schweden wiederum trifft die Qualifikation als Soziale Demokratie stärker zu als etwa auf Deutschland. Dies sei nicht so sehr wegen des Niveaus der sozialen Sicherungsleistungen, sondern besonders wegen der Struktur seines Bildungssystems der Fall. Möglichst integrativ wird auch die Frage nach den Akteuren Sozialer Demokratie angegangen. Waren es historisch betrachtet die Sozialdemokratien, so wird auch für diese unter den Bedingungen der Globalisierung (internationaler Wettbewerb) und der neuen Herausforderungen an den Politikstil in der Mediendemokratie (langfristige, programmatisch ausgestaltete Projekte mit hohen normativen Ansprüchen sind schwer kommunizierbar) zusehends zu einem unsicheren Bündnispartner. Resümee „Die Einlösung des demokratiebegründenden Versprechens der universellen bürgerlichen und politischen Grundrechte durch die Gewährleistung gleichermaßen universeller sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass diese für alle Personen real wirksam werden können. Das ist der Geltungssinn der Theorie der Sozialen Demokratie überall auf der Welt, unabhängig vom Unterschied kultureller Traditionen und in der Zielsetzung auch unabhängig vom jeweiligen sozio-ökonomischen Entwicklungsstand“ (590) 7 Die vier geltenden Grundsätze der Sozialen Demokratie lauten: • Demokratie, Grundrechtsgeltung, Mindestsicherung (Gesundheit, wirtschaftliche Erziehung) und Regulation, sozialstaatliche Chancengleichheit sind Ergebnisverpflichtungen. Sie müssen also verwirklicht werden. • Das Niveau sozialstaatlicher Sicherung, das Maß der Verteilung der Teilhabechancen und die Gerechtigkeit der Verteilung sind Verpflichtungen der Zielsetzung politischen Handelns. Allen Beteiligten muss einsichtig sein, dass das Mögliche realisiert wird. • Die primäre Selbstverantwortung ist den Grundrechten gleichwertig. Je größer das Ausmaß an Sozialstaatlichkeit, desto größer das Recht der Gesellschaft, Verletzungen zu sanktionieren. • Soziale Demokratie ist ein Projekt für jede einzelne Gesellschaft, aber auch für regionale Kooperationsbündnisse sowie – letztlich – für die globale Ordnung. 8