IV. Kontexttheorie Context Theory

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IV. Kontexttheorie
Context Theory
9.
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
3.
3.1
3.2
3.3
4.
4.1
4.2
4.3
4.4
5.
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
6.
Kontextabhängigkeit
Die klassische Theorie
Extension und Intension
Intension und Charakter
Arten der Referenz
Arten der Kombination
Varianten und Alternativen
Parametrisierung
Extensionalisierung
Zweidimensionale Modallogik
Tokenanalyse
Erkenntnistheoretische Umdeutung
Aspekte des Kontexts
Standardaspekte unter der Lupe
Demonstrativa
Einschlägiges
Probleme
Bindung
Perspektivische Verschiebungen
Skopismus, Holismus und quantifizierte Kontexte
Mißbrauch
Historisch-bibliographische Anmerkungen
Zur klassischen Theorie
Zu den Varianten und Alternativen
Zu den Aspekten des Kontexts
Zu den Problemen
Zu den historisch-bibliographischen Anmerkungen
Literatur (in Kurzform)
Die in diesem Artikel besproc henen semantisc hen Phänomene könnte man — statt unter
Kontextabhängigkeit — ebensogut unter den
Begriffen Deixis oder direkte Referenz abhandeln. Es geht jedenfalls um eine bestimmte
Art der Situationsabhängigkeit der Bedeutung sprac hlic her Ausdrüc ke. Um allerdings
diese Situationsabhängigkeit genauer fassen
zu können, bedarf es eines allgemeinen theoretisc hen Rahmens für die Besc hreibung des
Verhältnisses der Sprac he zur Welt. Ein solc her Rahmen wird von der in Teil 1 dargestellten allgemeinen Referenztheorie bereitgestellt, die zugleic h auc h die klassische Theorie
der Kontextabhängigkeit ist. Andere, größtenteils mit der klassisc hen Theorie eng ver-
wandte Bezugsrahmen werden im darauffolgenden Teil kurz vorgestellt. Erst danac h gibt
es (im dritten Teil) einen Überblic k über den
Phänomenbereic h; dabei sollen vor allem die
deskriptive Spannweite und Flexibilität der
klassisc hen Theorie und ihrer Varianten erkennbar werden. Ihre Grenzen sind Gegenstand von Teil 4.
1.
Die klassische Theorie
Die hier zum Ausgangspunkt erkorene klassisc he Theorie der Kontextabhängigkeit läßt
sic h nur verstehen, wenn man sie auf dem
Hintergrund eines bestimmten Bildes des Zusammenhangs zwisc hen Sprac he und Welt
sieht. Als grobe Skizze steht dieses Bild am
Anfang der folgenden Darstellung. Nac h dem
Begriff ‘Kontext’ wird man in dieser Darstellung der klassisc hen Theorie übrigens vergeblic h suc hen: er gehört — in der hier bevorzugten Terminologie — zu einer erst in Absc hnitt 2.1 zu besprec henden Variation des
klassischen Rahmens.
1.1 Extension und Intension
Durc h die Verwendung sprac hlic her Ausdrüc ke beziehen sic h Sprec her oft auf Personen oder Dinge. Wenn z. B. Erwin den Satz:
(1) Ich bin Vertreter.
äußert, so bezieht er sich mit dem Subjekt ich
auf sic h selbst, also Erwin. In dieser Situation
ist Erwin der Referent oder, wie man auc h
sagt, die Extension des Wortes ich. Für das
Substantiv Vertreter läßt sic h ebenfalls eine
Extension angeben, wenn auc h nic ht in so
naheliegender Weise. Ist die von Erwin aufgestellte Behauptung wahr, so könnte man
zunäc hst vermuten, daß dieses Substantiv genau wie das Subjekt auf den Sprec her Erwin
verweist. Doc h worauf soll sic h das Wort
Vertreter beziehen, wenn Erwin Unrec ht hat?
Eine möglic he Antwort wäre, daß es sic h in
diesen Fällen auf unbestimmte Weise auf alle
9. Kontextabhängigkeit
beliebigen Vertreter bezieht oder — was auf
dasselbe hinausläuft — auf die Gesamtheit
aller Vertreter. Die Extension des Substantivs
Vertreter ist nac h der letzteren Sic htweise, der
wir uns hier ansc hließen, die Menge der Vertreter, also etwas Abstraktes. Diese Sic htweise
erlaubt es auc h, für die Verwendung der Kopula bin eine Extension anzugeben: Erwins
Behauptung besagt, daß er ein Element der
Extension von Vertreter ist, so daß man als
Kopula-Extension die Elements
c haftsbeziehung ansehen kann.
In ähnlic her Weise kann man jetzt versuc hen, für beliebige Verwendungen beliebiger
sprac hlic her Ausdrüc ke Extensionen zu finden. Eine notorisc he Sc hwierigkeit bereiten
dabei vor allem Sätze. Auf den ersten Blic k
sc heint es hier keine intuitiv vorgegebenen
Referenten zu geben. Eine Überlegung aus
der Prädikatenlogik zeigt aber, daß man über
Umwege auc h Satz-Extensionen bekommen
kann. Betrac htet man nämlic h Satzsc hemata
wie:
(2) x liebt y.
oder — in prädikatenlogisc her Notation —
(offene) Formeln wie:
(2′) LIEBEN(x,y),
so liegt es nahe, als ihre Extension die Menge
aller geordneten Paare ⟨a,b⟩ festzulegen, die
(2) bzw. (2′) erfüllen, für die also gilt: a liebt
b. Bei mehr als zwei freien Variablen bekommt man dementsprec hend Mengen von
Tripeln, Quadrupeln etc . als Extensionen. Im
allgemeinen ist dann die Extension einer Formel φ mit n freien Variablen die Menge aller
n-Tupel ⟨a1,..., an⟩, die φ erfüllen. Da nun das
einzige 0-Tupel die leere Menge ∅ ist, bleibt
für eine Formel φ ohne freie Variablen als
Extension entweder die Einermenge {∅} —
falls φ wahr ist — oder aber die leere Menge
∅ (für ein falsc hes φ). Natürlic hsprac hlic he
(Aussage-)Sätze entspre
c hen insofern gesc hlossenen Formeln, als sie offenbar keine
freien Variablen enthalten. Als Extensionen
von Sätzen kämen somit die mengentheoretisc hen Objekte {∅} und ∅ infrage: {∅} ist die
gemeinsame Extension der wahren Aussagen,
die falsc hen haben alle ∅ zur Extension. Diese
beiden abstrakten Objekte bezeic hnet man
auc h als die beiden Wahrheitswerte. In der
Mengenlehre und im folgenden werden sie
überdies mit den Zahlen 0 (= ∅) und 1 (= {∅})
identifiziert.
Mit den bisher getroffenen Festlegungen
über die Extensionen sprac hlic her Ausdrüc ke
157
ergibt sic h unmittelbar eine interessante Konsequenz für einfac he Sätze wie (1): ihre Extensionen lassen sic h aus den Extensionen
ihrer jeweiligen Teilausdrüc ke ermitteln. Sie
erfüllen also ein
Naives Kompositionalitätsprinzip
Die Extension eines komplexen Ausdruc ks
ergibt sic h aus den Extensionen seiner Teile
und der Art ihrer Kombination.
Dieses Kompositionalitätsprinzip für Extensionen läßt sic h aber nic ht auf beliebige Sätze
ausdehnen. Typisc he Gegenbeispiele sind vor
allem Sätze mit eingebetteten daß-Sätzen:
(3) Monika vermutet, daß Erwin Vertreter
ist.
Aus dem Naiven Kompositionalitätsprinzip
und der Annahme, daß die Extension des
Teilsatzes Erwin Vertreter ist gleic h dem
Wahrheitswert dieses Satzes ist, folgt sofort,
daß man ihn durc h jeden beliebigen deutsc hen
(Neben-)Satz mit demselben Wahrheitswert
ersetzen könnte, ohne daß sic h am Wahrheitswert der Gesamtaussage (3) etwas änderte.
Doch das ist natürlich absurd.
Um die im Zusammenhang mit (3) auftretenden Sc hwierigkeiten zu umgehen, muß
man entweder das Naive Kompositionalitätsprinzip oder die Annahme, daß Satzextensionen Wahrheitswerte sind, aufgeben. Hier wird
nur die erste Alternative weiterverfolgt. (Für
die zweite siehe den Artikel 6.) Eine minimale
Absc hwäc hung des Naiven Kompositionalitätsprinzips besteht nun darin, für solc he Problemfälle wie die Satzeinbettung in (3) eine
Art ‘Ersatzextension’ vorzusehen: der Wahrheitswert von (3) hängt dann nic ht vom Wahrheitswert des eingebetteten Satzes, wohl aber
von der durc h ihn ausgedrüc kten Proposition
(dem Satzinhalt) ab, und letztere übernimmt
die Rolle der Ersatzextension bei einer kompositionellen Besc hreibung der Extension von
(3). Statt von ‘Ersatzextensionen’ spric ht man
üblic herweise von Intensionen. Propositionen
sind also Satzintensionen. Die entsprec hende
Abänderung des Naiven Kompositionalitätsprinzip lautet dann:
Fregesches Kompositionalitätsprinzip
Die Extension eines komplexen Ausdruc ks
ergibt sic h aus den Extensionen bzw. den
Intensionen seiner Teile und der Art ihrer
Kombination.
Syntaktisc he Konstruktionen, bei denen (wie
etwa bei den meisten Anwendungen der Subjekt-Prädikatsregel) die Extensionen der Teilausdrüc ke zur Ermittlung der Extension des
158
Gesamtausdruc ks ausreic hen, nennt man extensional, die anderen heißen dementsprec hend intensional. Satzeinbettungen wie in (3)
sind also intensionale Konstruktionen. Andere intensionale Konstruktionen sind z. B.
der Ansc hluß des direkten Objekts bei Verben
wie suchen oder schulden sowie die Attribution gewisser Adjektive wie angeblich oder
vorsätzlich. Es ist bemerkenswert, daß sic h die
meisten dieser intensionalen Konstruktionen
(wenn nic ht sogar alle) durc h geeignete Paraphrasen auf Satzeinbettungen zurüc kführen
lassen. Propositionen sind also möglic herweise die einzigen Intensionen, die man tatsächlich braucht.
Aber was sind Propositionen? Die bisherige
Charakterisierung als Satzinhalte ist ausgesproc hen vage. Eine traditionelle, aber (wie
sic h noc h herausstellen wird) nic ht ganz hinreic hende Präzisierung des Propositions- und
allgemein des Intensionsbegriffs besteht in
einer Gleic hsetzung von Inhalt und Information: die Intension eines Ausdruc ks ist danac h die Information, die benötigt wird, um
seine Extension zu bestimmen. Da die Extension eines sprac hlic hen Ausdruc ks im allgemeinen von den Umständen seiner Äußerung
abhängt, kann man sic h die Intension als ein
Verfahren vorstellen, das unter beliebig gegebenen Umständen eine Spezifikation der
jeweiligen Extension liefert. Oder, abstrakter
und allgemeiner: als eine Funktion (durc haus
im mathematisc hen Sinne des Wortes), die
sic h auf möglic he Situationen anwenden läßt
und deren Werte stets Extensionen sind. Die
Intension eines Substantivs wie S pion läßt sic h
etwa auf die Situation der Bundesrepublik
Deutsc hland in den frühen siebziger Jahren
anwenden und liefert eine Menge, deren prominentestes Mitglied wohl Günter Guillaume
ist (wer weiß?), während der Wert derselben
Intension für die Romanwelten von Ian Fleming eine häufig von Roger Moore und Sean
Connery verkörperte Gestalt enthält: in jedem
Falle ist der Wert der Intension die Menge
der Geheimagenten. Insbesondere ist also in
diesem Beispiel die Intension stets dieselbe
Zuordung von Situation zu Extension, selbst
wenn erstere nic ht von dieser Welt und letztere nur in den seltensten Fällen vollständig
bekannt ist.
1.2 Intension und Charakter
Propositionen sind also charakteristische
Funktionen, d. h. Funktionen von Situationen
in Wahrheitswerte, oder, was praktisc h auf
dasselbe hinausläuft: Mengen von Situatio-
IV. Kontexttheorie
nen — vorausgesetzt, man identifiziert c harakteristisc he Funktionen jeweils mit den
Mengen der Argumente, für die sie den Wert
1 ergeben. Demnac h besagt Satz (3), daß Monika in der durc h das Verb vermuten ausgedrüc kten Einstellung V zu einer gewissen
Menge p steht; dabei ist p die Menge derjenigen Situationen, in denen Erwin Vertreter
ist, und die Beziehung V läßt sic h ungefähr
so besc hreiben: x steht in V zu p, falls x eine
Vermutung hegt, bei deren Zutreffen eine Situation aus p vorliegt. Das Zutreffen der Beziehung V ist natürlic h selbst wieder situationsabhängig, so daß sic h als Intension des
Verbs vermuten eine Funktion ergibt, die Situationen Relationen zwisc hen Personen und
Propositionen zuordnet. Unter der (in diesem
Zusammenhang harmlosen) vereinfac henden
Annahme, daß die Gesamtheit aller von einer
Person gehegten Vermutungen selbst wieder
eine Vermutung dieser Person bildet, gelangt
man zu der folgenden (provisorisc hen) Bedeutungsregel:
(R*) Die Intension des Verbs vermuten ist
eine Funktion V, die jeder Situation s
eine zweistellige Relation Vszuordnet,
so daß für beliebige Individuen x und
Propositionen p gilt:
(*) x steht zu p in der Relation Vs, falls
p in jeder Situation s’ gilt, die mit
den von x in s gehegten Vermutungen vereinbar ist.
(R*) ist eine typisc he Regel für die Deutung
einer intensionalen Konstruktion. Wendet
man sie auf Sätze wie (3) an, verweist die
Variable s auf die Situation, an der der betreffende Ausdruc k geäußert wird und für die
seine Extension ermittelt werden soll; s’ bezieht sic h dagegen auf Situationen, die für die
Ermittlung der Intension eines der Teilausdrüc ke zu Rate gezogen werden müssen. Es
empfiehlt sic h für das folgende, diesen Untersc hied in der Rolle von s und s’ festzuhalten:
man sagt, daß sic h s bei einer (einfac hen)
Anwendung von (R*) auf eine Äußerungssituation bezieht, während s’ für Auswertungssituationen steht.
(R*) ist ein Beispiel für eine rec ht gängige
Analyse von Einstellungsverben wie vermuten. Es ist bekannt, daß diese Analyse wegen
der logisc hen Inkonsequenz propositionaler
Einstellungen zu Sc hwierigkeiten führt, die
sic h durc h einen logisc h feineren (aber komplizierteren) Propositionsbegriff umgehen lassen. (Vgl. dazu Artikel 34.) Dieses Phänomen
ist jedoc h weitgehend (genauer: abgesehen
9. Kontextabhängigkeit
von einem in Absc hnitt 4.2 noc h anzusprec henden möglic hen Zusammenhang) unabhängig von Fragen der Kontextabhängigkeit.
Wir werden uns deshalb weiter auf (R*) beziehen und stillsc hweigend voraussetzen, daß
die gleic h zu diskutierenden Probleme auc h
im Zusammenhang mit logisc h strukturierten
Propositionen auftreten und sic h dann in analoger Weise lösen lassen.
Wenden wir nun (R*) auf das folgende
Beispiel an:
(4) Monika vermutet, daß ich in Radolfzell
bin.
Um das Problem, das sic h für eine Analyse
von (4) nac h (R*) ergibt, klar zu sehen, sei
hier eine bestimmte (etwas verquere) Äußerungssituation s0 von (4) betrac htet, deren
Vorgesc hic hte sic h folgendermaßen abgespielt
hat: Erwin ruft aus Sc hwäbisc h-Hall Monika
an, um ihr mitzuteilen, daß er nac h Radolfzell
fahren will. Unterwegs überlegt er es sic h
jedoc h anders und fährt stattdessen nac h
Konstanz, wo Monika — die beiden führen
dort einen gemeinsamen Haushalt — an ihrem Sc hreibtisc h im Arbeitszimmer sitzt, während ihre Eltern im Wohnzimmer fernsehen.
Bei seiner Ankunft trifft Erwin als erstes Monikas Eltern und äußert nun (4). Monika hört
dies zwar durc h ein Loc h in der Wand zwisc hen Wohn- und Arbeitszimmer, hält es jedoc h für eine (etwas abwegige) Äußerung ihres Vaters; die Stimmen der beiden ähneln
sic h nämlic h, und Monika wähnt Erwin in
Radolfzell. So weit die Besc hreibung der uns
interessierenden Äußerungssituation s0 von
(4). Versuc hen wir nun, (R*) zur Ermittlung
des Wahrheitswertes von (4) in s0 heranzuziehen. Die Bedingung (*) läuft in diesem Falle
darauf hinaus, daß in jeder (Auswertungs-)
Situation s’, die mit den von Monika in s0
gehegten Vermutungen vereinbar ist, die
durch (5) ausgedrückte Proposition wahr ist:
(5) Ich bin in Radolfzell.
(5) ist aber offenbar in einer Situation s’ gerade dann wahr, wenn sic h (in s’) die in s’
sprec hende Person in Radolfzell aufhält. Damit (4) gemäß (R*) in s0 wahr ist, müßten
also Monikas Vermutungen darauf hinauslaufen, daß sic h der Äußerer von (4) in Radolfzell befindet. Doc h das ist natürlic h absurd: Monika ist in Konstanz, und sie kann
ja hören, daß der Sprec her nebenan ist. (R*)
sagt also die Falsc hheit von (4) in s0 voraus,
wo doch Erwin ganz offensichtlich recht hat.
Es ist klar, was hier sc hiefgelaufen ist: Er-
159
win behauptet mit seiner Äußerung von (4)
nämlic h keineswegs, daß Monika vermute,
die Person, die jetzt gerade im Nebenzimmer
sprec he, sei in Radolfzell. Die Vermutung, die
Erwin meint, bezieht sic h vielmehr auf ihn
selbst, den augenblic klic hen Sprec her; es handelt sic h also um eine sog. singuläre Proposition, eine Proposition über ein bestimmtes
Individuum. Die bisherigen Festlegungen zur
Bestimmung von Intension und Extension
tragen dieser Tatsac he offenbar nic ht Rec hnung. Eine Revision tut not.
Es bieten sic h hier im Prinzip zwei Möglic hkeiten an, diese im Zusammenhang mit
(4) aufgetretenen Sc hwierigkeiten aus dem
Weg zu räumen: (A) entweder man ändert die
Deutung (R*) des Verbs vermuten und besc hränkt sic h in der Klausel (*) auf solc he
Auswertungssituationen, in denen dieselbe
Person spric ht wie in der Äußerungssituation;
(B) oder man gibt die Voraussetzung auf, daß
(5) ausdrüc kt, daß sic h der (jeweilige) S precher in Radolfzell aufhält und nimmt stattdessen an, (5) besage, daß sic h Erwin in Radolfzell aufhalte. Wir werden beiden Möglic hkeiten nac hgehen und dabei feststellen,
daß (A) wieder zu neuen Problemen führt,
während man mit (B) zu einem neuen Intensions-Begriff gelangt, der es dann erlaubt,
diese Probleme zu umgehen. Später (in Absc hnitt 2.1) wird sic h allerdings herausstellen,
daß sic h die Alternative (A) bei einer abstrakteren Betrachtungsweise wieder retten läßt.
Untersuc hen wir also zunäc hst die Alternative (A). Dabei handelt es sic h lediglic h um
eine leic hte Verfeinerung der Regel (R*); die
Klausel (*) müßte ersetzt werden durch:
() x steht zu p in der Relation Vs, falls p in
jeder Situation s’ gilt, die mit s den Sprecher gemeinsam hat und die mit den von
x in s gehegten Vermutungen vereinbar
ist.
(+) ist natürlic h noc h etwas unfertig: variiert
man nämlic h das Beispiel (5) ein wenig, so
stellt sic h sc hnell heraus, daß die in (+) herangezogenen Auswertungssituationen s’ neben dem Sprec her auc h beispielsweise die Gespräc hspartner, den Äußerungstag, den Ort
der Handlung u. a. m. von der Äußerungssituation s übernehmen müssen: ihr, heute, hier
etc . verhalten sic h in dieser Hinsic ht nämlic h
ganz analog zu ich. Die Aspekte der Äußerungssituation, die in dieser Weise von den
Auswertungssituationen
übernommen
werden, nennen wir hier einmal die [für (R+)]
festen Situationsaspekte, während wir die anderen Aspekte als [durch (R+)] verschiebbar
160
bezeic hnen. (Man beac hte, daß Aspekte von
Situationen gewissen Eigensc haften derselben
entsprec hen: s und s’ stimmen im Aspekt
‘Sprec her’ überein, falls sowohl s als auc h s’
die Eigensc haft zukommt, daß eine gewisse
Person X in ihr spric ht; Genaueres zu diesem
Aspekt-Begriff erfährt man in Absc hnitt 2.1.)
Die Revision (A) besagt also einfac h, daß
(R+) bestimmte Aspekte der Äußerungssituation festhält. Um welc he Aspekte handelt es
sic h dabei? Das Beispiel (4) legt nahe, daß der
Sprec her auf jeden Fall dabei ist: nac h (+)
müssen ja Äußerungs- und Auswertungssituation den Sprec her gemeinsam haben. Doc h
das ist nur die halbe Wahrheit, wie eine kleine
Erweiterung des obigen Beispiels zeigt. Erwin
könnte nämlic h seiner Äußerung von (4)
durc haus wahrheitsgemäß folgendes hinzufügen:
(6) Monika vermutet, daß nicht ich spreche,
sondern jemand anders.
Nac h (R+) würde aber Erwin mit (6) im wesentlic hen behaupten, daß es keine Situation
gibt, die mit Monikas Vermutungen vereinbar
ist und in der Erwin spric ht: die durc h den in
(6) eingebetteten Satz ausgedrüc kte Proposition besteht aus den Situationen s, in denen
jemand spric ht, dieser Jemand aber nic ht
Sprec her in s ist; solc he s kann es offenbar
nic ht geben, so daß die Bedingung (+) in
diesem Falle darauf hinausläuft, daß es keine
Situation s’ gibt, die mit Monikas Vermutungen vereinbar ist und die mit s0 den Sprec her
Erwin gemein hat. Doc h Monika mag in der
skizzierten Situation s0 sogar der Meinung
sein, daß Erwin gerade etwas sagt; auf jeden
Fall widerspric ht diese Annahme nic ht ihren
Vermutungen über Erwin, so daß die besc hriebenen Situationen s’ doc h existieren. Sie
glaubt eben nur nic ht, daß Erwin der Sprec her
ist, den sie gerade, also in s0, hört — aber in
irgendwelc hen anderen Situationen kann sie
ihn sic h durc haus als Sprec her vorstellen.
(R+) funktioniert also auch nicht.
Wie ist es nun um die Alternative (B) bestellt? Danac h ist (R*) vollkommen in Ordnung, und der Fehler ist in der Voraussetzung
zu suc hen, daß der in (4) eingebettete Satz (5)
die Proposition ausdrüc ke, nac h der sic h der
(jeweilige) Sprec her in Radolfzell aufhält:
nehmen wir nämlic h stattdessen an, die durc h
(5) ausgedrüc kte Proposition bestünde aus
den Situationen, in denen Erwin in Radolfzell
ist, so würde (4) laut (R*) besagen, daß sic h
Erwin in allen mit Monikas Annahmen kompatiblen Situationen in Radolfzell aufhält;
IV. Kontexttheorie
und genauso ist es ja wohl auc h. Eine Komplikation bei dieser Lösung besteht nun allerdings darin, daß die Annahme, (5) besage,
daß Erwin in Radolfzell sei, vollkommen ad
hoc ist und sc hon in der näc hstbesten Situation s1, in der jemand anders als Erwin
spric ht, zu offenkundigem Unsinn führt: hier
kann ja die durc h (5) ausgedrüc kte Proposition unmöglic h besagen, daß Erwin in Radolfzell ist, sondern allenfalls, daß sic h eine
gewisse Person, die in s1 Sprec her ist, in Radolfzell befindet. Damit würde aber (5) in s1
eine andere Proposition ausdrüc ken als in s0,
d. h. die Intension von (5) hinge von der
Äußerungssituation ab. Die Alternative (B)
läuft also letztlic h darauf hinaus, die Intension eines Ausdruc ks — ähnlic h wie die Extension — als etwas mit der Äußerungssituation Variierendes aufzufassen: (5) drüc kt —
je nac h dem, wer diesen Satz gebrauc ht —
einmal diese, einmal jene (singuläre) Proposition aus, wie auc h der Wahrheitswert dieses
Satzes von Situation zu Situation sc hwanken
kann.
Um zu gewährleisten, daß die durc h (5)
ausgedrüc kte Proposition in der gewünsc hten
Art und Weise von der Äußerungssituation
abhängt, müssen die oben dargestellten Prinzipien zur Bestimmung von Extension und
Intension verfeinert werden. Was man
brauc ht, ist ein Sc hema, nac h dem ein Satz
wie (5) in jeder Äußerungssituation s eine für
s c harakteristisc he Intension bekommt —
oder, anders ausgedrüc kt: Festlegungen für
die Bestimmung der funktionalen Abhängigkeit der Intension von der jeweiligen Äußerungssituation. Diese Abhängigkeit werden
wir von nun an den Charakter des betreffenden sprac hlic hen Ausdruc ks nennen. Der
Charakter χ5 von (5) ist also eine Funktion,
die jeder Äußerungssituation s die Menge derjenigen Situationen s’ zuordnet, für die gilt:
der Sprec her in s befindet sic h in der Situation
s’ in Radolfzell.
Um den Charakter χ5 systematisc h mit dem
Aufbau von (5) in Verbindung zu bringen,
muß sc hon unterhalb der Satzebene zwisc hen
Äußerungs- und Auswertungssituation untersc hieden werden. Denn die Extension des
Subjekts ich in (5) wird in der Äußerungssituation bestimmt, während sic h die Extension
des Prädikats (bin in Radolfzell) nac h der Auswertungssituation ric htet. Dieser Untersc hied
in der Gewic htung von Äußerungs- und Auswertungssituation liegt nic ht an den Rollen
von Subjekt und Prädikat, sondern an dem
Wort ich. (Das läßt sic h z. B. anhand von
9. Kontextabhängigkeit
Sätzen mit mich in Objektsposition oder Eigennamen als Subjekt unmittelbar einsehen.)
Soll also die Extension e des Subjekts ich
angegeben werden, so muß bekannt sein, welc he Situation s Äußerungssituation ist, während die Auswertungssituation keine Rolle
spielt: e ist der Sprec her in s. Der Charakter
χich von ich läßt sic h dann als eine Funktion
auffassen, die für beliebige Äußerungssituationen s und Auswertungssituationen s’ als
Wert stets den Sprec her in der Situation s
liefert. χich ist also wie χ5 eine Funktion, die
auf Äußerungssituationen angewandt wird
und deren Werte Intensionen sind, d. h. Funktionen von Auswertungssituationen in Extensionen. Dies gilt für Charaktere im allgemeinen. Es ergibt sich somit das folgende Bild:
Die Pfeile sind dabei in folgendem Sinne zu
lesen: ‘[am Ursprung des Pfeils] legt in [rec hts
vom Pfeil] eindeutig [am Ziel des Pfeils] fest’.
‘K’ steht für die Klassisc he Kontexttheorie
von David Kaplan aus Kalifornien.
(K) ist natürlic h nur dort anwendbar, wo
überhaupt sinnvoll zwisc hen Äußerungs- und
Auswertungssituation unters
c hieden werden
kann, also bei intensionalen Konstruktionen.
Doc h läßt sic h das Sc hema leic ht auf extensionale Konstruktionen ausweiten: dazu überlegt man sic h z. B., was passiert, wenn ein
Satz wie (5), dessen Charakter χ5 wir ja jetzt
ungefähr kennen, als solc her behauptet wird.
Zunäc hst kann natürlic h χ5 auf die Äußerungssituation s unmittelbar angewandt werden; das Ergebnis ist die durc h (5) in s ausgedrüc kte Proposition χ5(s), die aus den Situationen besteht, in denen die Person, die (5)
in s äußert, in Radolfzell ist. Was aber ist die
Extension, der Wahrheitswert von (5) in s?
Das Sc hema (K) sagt, daß man zur Beantwortung dieser Frage noc h eine Auswertungssituation hinzuziehen müßte; eine solc he
sc heint aber zunäc hst gar nic ht gegeben zu
sein. Andererseits ist klar, daß (5) in der
Äußerungssituation s natürlic h genau dann
wahr ist, wenn die Person, die (5) in s äußert,
in der Situation s selbst in Radolfzell ist, wenn
also s zu χ5(s) gehört. Die durc h (5) in der
Äußerungssituation
ausgedrü
c kte
Proposition muß in diesem Fall also im Hinblic k auf
die Äußerungssituation selbst ausgewertet
161
werden. Um das Sc hema (K) allgemein anwendbar zu mac hen, kann man somit einfac h
vereinbaren, daß — falls keine Auswertungssituation als solc he deklariert wurde — immer
die Äußerungssituation als Default-Wert herhalten muß:
(D) Außerhalb intensionaler Konstruktionen
fungiert die Äußerungssituation als Auswertungssituation.
Anhand von (D) läßt sic h ein interessanter
Aspekt des Untersc hiedes zwisc hen den beiden weiter oben betrac hteten Möglic hkeiten
(A) und (B) zur Deutung eingebetteter daßSätze aufzeigen. Nac h (D) zeic hnen sic h nämc
li h intensionale Konstruktionen dadur
c h
aus, daß man bei ihnen neben der Äußerungssituation noc h weitere Situationen zur Extensionsbestimmung heranzieht: die Auswertungssituation kann hier gegenüber dem Ausgangspunkt verschoben werden. Dies erinnert
an die nac h der verworfenen Alternative (A)
postulierte
Vers
c hiebung
situationeller
Aspekte. Nac h (D) werden sogar (innerhalb
intensionaler Konstruktionen) Situationen als
ganze versc hoben. Daß dies aber nic ht wieder
zu den im Zusammenhang mit (6) angetroffenen Sc hwierigkeiten führt, liegt daran, daß
durc h die Untersc heidung zwisc hen Äußerungs- und Auswertungssituation der Ausgangspunkt der Versc hiebung, die Äußerungssituation, immer erhalten bleibt: wenn
auc h das Hauptverb vermutet in (6) bewirkt,
daß der eingebettete Nebensatz in diversen
Auswertungssituationen betrac htet wird, so
kann sic h sein Subjekt ich dennoc h nac h der
Äußerungssituation des Gesamtsatzes ric hten.
Normalerweise wird (D) nur für den speziellen Fall eines nic ht eingebetteten Aussagesatzes φ gefordert; auf die allgemeine Version kann man dann mit irgendwelc hen Hilfsannahmen sc hließen. In jedem Falle erhält
man auf diese Weise ein einfac hes Rezept zur
Ermittlung der Extension (des Wahrheitswertes) v von φ in einer Äußerungssituation s0:
v = χφ(s0)(s0), wobei χφ der Charakter von φ
ist. Stellt man sic h Charaktere als Tabellen
vor, in denen für jede Kombination von
Äußerungs- und Auswertungssituation die jeweilige Extension eingetragen ist, so besagt
also (D), daß für extensionale Konstruktionen (insbesondere auc h für Sätze in Isolation)
nur die Einträge auf der Diagonalen von Interesse sind. Dieses Bild von Charakteren als
Tabellen sollte man für das folgende stets im
Auge behalten. An ihm wird besonders deutlic h, daß der ursprünglic h (in einem in Ab-
162
IV. Kontexttheorie
sc hnitt 2.3 noc h zu vertiefenden Sinne) zweidimensionale Wahrheitsbegriff der klassisc hen Theorie durc h (D) auf eine Dimension
reduziert und somit überhaupt erst wieder mit
dem vortheoretisc hen Wahrheitsbegriff vergleichbar wird.
Die Untersc heidung zwisc hen Äußerungsund Auswertungssituation markiert einen
Untersc hied in der Rolle, die Situationen bei
der Bestimmung der Extension sprac hlic her
Ausdrüc ke spielen können. Doc h während offenbar jede nur denkbare Situation in einer
Regel wie (R*) als Auswertungssituation herangezogen werden kann sind Äußerungssituationen nur solc he, in denen eine sprac hlic he
Äußerung stattfindet; sie bilden nur einen
kleinen Teil der möglic hen Situationen. Diese
Beobac htung ist insofern interessant, als sie
zeigt, daß das obige Sc hema (K) keineswegs
dazu geeignet ist, die Extension von Ausdrüc ken bezüglic h beliebiger Paare ⟨s,s’⟩ von
Situationen zu ermitteln, wobei dann s als
Äußerungssituation fungiert und s’ als Auswertungssituation. (Solc he Paare ⟨s,s’⟩ werden wir ab jetzt als Referenzpunkte bezeichnen.) Wenn in s beispielsweise kein Sprec her
(oder Äußerer) zugegen ist, ist (K) überhaupt
nic ht anwendbar. Charaktertabellen sind also
ni
c ht quadratis
c h, und ihre Diagonalen
durc hkreuzen nur die den Äußerungssituationen vorbehaltene Hälfte:
1.3 Arten der Referenz
Äußerungssituation keine Rolle. Auf diese
Weise ergibt sic h eine natürlic he Klassifikation sprac hlic her Ausdrüc ke nac h ihren ‘Charaktereigenschaften’:
Definition:
(a) Ein sprachlicher Ausdruck a referiert direkt, falls für beliebige Äußerungssituationen s0 und Auswertungssituationen s
und s’ gilt:
χα(s0)(s) = χα(s0)(s’).
(b) Ein Ausdruck α referiert absolut, falls für
beliebige Äußerungssituationen s0 und
Auswertungssituationen s und s’ gilt:
χα(s0)(s) = χα(s1)(s).
Die Extension eines sprac hlic hen Ausdruc ks
a ergibt sic h nac h (K) aus seinem Charakter
χα, einer Äußerungssituation s0 und einer
Auswertungssituation s. Wie die bisher betrac hteten Beispiele sc hon zeigen, genügt in
einigen Fällen neben χα bereits die Kenntnis
einer der beiden Situationen, um die Extension χα(s0)(s) eindeutig festzulegen. So ist es
beispielsweise für das Wort ich vollkommen
gleic hgültig, was s ist, da χich(s0)(s) stets der
Sprec her in der (Äußerungs-) Situation s0 ist;
ganz analog spielt für die Ermittlung der Extension eines Substantivs wie Vertreter die
Direkt referentielle Ausdrüc ke sind also solc he, bei denen man die Auswertungssituation
9. Kontextabhängigkeit
im Sc hema (K) überspringen kann: sie beziehen sic h direkt, ohne Vermittlung einer Inhalts- oder Intensionsebene, auf die Welt. Absolute Ausdrüc ke sind hingegen solc he, die
inhaltlic h, also auf der Intensionsebene, stets
dasselbe besagen, und zwar unabhängig davon, zu welc her Gelegenheit sie geäußert werden. Da beide Begriffe nur den Charakter χα
eines Ausdruc ks a betreffen, kann man sie
auc h direkt auf χα beziehen, was wir gelegentlich tun werden.
Die obigen Begriffsbestimmungen sc hließen nic ht aus, daß ein und derselbe Ausdruc k
a sowohl direkt als auc h absolut referiert.
Allerdings muß a dann per definitionem eine
konstante Charaktertabelle besitzen, seine
Extension muß also an allen Referenzpunkten
gleich sein:
χα(s0)(s) = χα(s1)(s’), für beliebige s0, s1, s
und s’.
Ausdrüc ke, die dieser harten Bedingung genügen, sind nic ht gerade häufig, aber es gibt
sie: logisc he Wörter wie und, oder, nicht, jedes
etc . sowie tautologisc he Sätze (wie es regnet
oder es regnet nicht) gehören zumindest nac h
landläufiger Auffassung dazu; auc h Eigennamen werden oft als absolut und direkt analysiert; wir sc hließen uns dieser Praxis an.
Beide Auffassungen sind allerdings nic ht ganz
unumstritten. (Siehe Absc hnitt 4.4 bzw. Artikel 16.) Es sei darauf hingewisen, daß die
Definition (a) nur verlangt, daß die Extension
des betreffenden Ausdruc kes nicht von der
Auswertungssituation abhängt, woraus aber
natürlic h nic ht folgt, daß sie von der Äußerungssituation ec ht abhängt. Diese Konsequenz läßt sic h aber erreic hen, wenn (a) um
die Zusatzklausel erweitert wird:
(a’) für irgendwelche Äußerungssituationen
s0 und s1: χα(s0) ≠ χα(s1).
Direkt referentielle Ausdrüc ke a, die zusätzlic h der Bedingung (a’) genügen, heißen deiktisch. Typisc he deiktisc he Wörter sind du, gestern und hier.
Die in (a) und (b) definierten Begriffe sind
gänzlic h unabhängig voneinander. Ein Ausdruc k kann nic ht nur (a) und (b) zugleic h
erfüllen oder (wie die deiktisc hen Ausdrüc ke)
direkt referentiell sein, ohne absolut zu referieren. Auc h das Umgekehrte ist möglic h, wie
‘rein inhaltlic he’ Wörter wie essen oder Vertreter zeigen. Und sc hließlic h gibt es eine
ganze Reihe von Ausdrüc ken, die weder direkt noc h absolut referieren. Sc hon bei einem
einfachen Satz wie (7) ist das der Fall:
(7) Ich bin ein Berliner.
163
Einerseits hängt der Wahrheitswert von (7)
immer von der Auswertungssituation ab. So
war die bislang bekannteste Äußerung von
(7) sic herlic h falsc h, denn der Sprec her
stammte aus Brookline (Mass.). Dennoc h ist
es natürlic h vorstellbar und insofern in einer
möglic hen Situation s der Fall, daß John F.
Kennedy in Berlin zur Welt gekommen ist.
Das beweist, daß (7) nic ht direkt referentiell
ist, denn χ7(s0)(s0) ≠ χ7(s0)(s), wenn s0 die
entsprec hende tatsäc hlic he Situation vor dem
Sc höneberger Rathaus ist und s so ist wie
besc hrieben. Andererseits ist (7) natürlic h
auc h kein absoluter Ausdruc k. Äußert nämlic h etwa Arnim von Stec how den Satz (7),
so drüc kt er damit offenbar eine andere Proposition aus als der US-amerikanisc he Präsident seinerzeit; findet die Äußerung in dieser
Welt statt, wird sie sic h sogar im Wahrheitswert von ihrer berühmten Vorgängerin unterscheiden.
Es sollte beac htet werden, daß (7) ein komplexer Ausdruc k ist. Eindeutige Fälle von
Wörtern, die weder (a) noc h (b) erfüllen, sind
weitaus sc hwieriger zu finden. Es gibt allerdings gewisse Verwendungsweisen absoluter
Wörter, die eine Abhängigkeit der Extension
von der Äußerungssituation nac h sic h ziehen.
So kann man bei zweistelligen, also auf Relationen oder Funktionen bezogenen Substantiven wie Bruder oder Mutter das Argument weglassen, das dann aus der Äußerungssituation ergänzt werden muß:
(8) a. Bevor er zum Familientreffen fuhr, rasierte sich Karl Marx. Nicht einmal die
Brüder haben ihn daraufhin erkannt.
(8) b. Vor der Schwarzwaldklinik wurde ein
Säugling gefunden. Die Mutter ist nach
wie vor unbekannt.
Bei einer Äußerung von (8a) versteht man
zumindest normalerweise Brüder im Sinne
von Brüder von Karl Marx; ebenso bezieht
sic h Mutter in (8b) natürlic h auf die Mutter
des Findelkindes, von dem gerade die Rede
war. Genauer: die durc h den zweiten Satz von
(8a) in einer Äußerungssituation s0 ausgedrüc kte Proposition χ8(s0) besteht aus den
(zeitlic h vor s0 liegenden) Situationen s, in
denen die Brüder der in s0 nahegelegten Person
den Referenten von ihn (also Karl Marx) nic ht
erkennen; genauso besteht in einer Äußerungssituation s1 die durc h den zweiten Satz
von (8b) ausgedrüc kte Proposition aus den
Situationen s’, in denen die Mutter des in s1
zur Debatte stehenden Kindes unbekannt ist.
164
In beiden Fällen muß also das fehlende Argument aus der Äußerungssituation erschlossen werden. Wie dies genau gesc hieht, soll an
dieser Stelle nic ht weiter verfolgt werden
(siehe aber Absc hnitt 3.3). Hier sei lediglic h
darauf hingewiesen, daß fehlende Argumente
nic ht immer aus der Äußerungssituation ergänzt werden können und dürfen. Oft bleibt
das Argument nämlich unbestimmt:
(9) Vater werden ist nicht schwer.
Hier wird Vater wie Vater von jemand oder
Vater eines Kindes benutzt und eben nic ht im
Sinne von Vater von x, wobei x dann eine
durc h die jeweilige Äußerungssituation nahegelegte Person ist. (Zu Sätzen wie (9) vgl.
Abschnitt 4.3).
Ein anderer Fall, in dem die Extension
eines einzelnen Wortes von Äußerungs- und
Auswertungssituation zugleic h abhängt, liegt
bei flektierten Verbformen wie schläfst vor:
anders als bei dem absoluten Wort schlafen
hängt die Extension der finiten Form von der
Äußerungszeit (und möglic herweise auc h vom
Sprec her) ab. Doc h dieses Wort läßt sic h als
Produkt einer syntaktisc hen Regel bzw. eines
morphologisc hen Prozesses und nic ht als
‘nac ktes Lexem’ einstufen; unter Verwendung
der grammatisc hen Terminologie: schläfst zerlegt sic h in V + INFL, wobei letzteres deiktisc h, ersteres aber absolut referiert. Ähnlic h
kann man das Possessivpronomen mein in das
deiktisc he Wort ich und ein possessives Element zerlegen (vgl. dazu Absc hnitt 3.3). Wir
haben damit Anlaß zu der folgenden Hypothese über das Lexikon:
(L) Lexikalische Grundeinheiten sind immer
deiktisch oder absolut.
Von den Extensionen gewisser Adjektive wird
gelegentlic h eine doppelte situationelle Abhängigkeit behauptet. Ein einsc hlägiges Beispiel ist das Adjektiv aus (9). In Verbindung
mit einem Substantiv verweist es in seiner
Grundform (Positiv) auf eine Menge, deren
genaue Zusammensetzung von vielerlei Faktoren abhängt. Ob ein bestimmter Gegenstand in der durc h schweres Lehrbuch denotierten Menge liegt, hängt unter anderem davon ab, auf welc he Dimension sic h der Sprec her mit schwer bezieht: also etwa auf den
Sc hwierigkeitsgrad der Lektüre oder einfac h
auf das Gewic ht des Papiers; und innerhalb
derselben Dimension gibt es untersc hiedlic he
Standards: die Standards für Lesbarkeit
sc hwanken mit der vom Sprec her ins Auge
gefaßten Lesersc haft, und die Gewic htskriterien haben auc h etwas damit zu tun, ob von
IV. Kontexttheorie
Lehrwerken für das Chemiestudium oder von
Lesefibeln die Rede ist. Sowohl den von einigen Adjektiven unterdeterminierten Dimensionen als auc h den bei allen steigerbaren
Adjektiven zu beobac htenden sc hwankenden
Standards wird gelegentlic h eine Abhängigkeit von der Äußerungssituation nac hgesagt.
Andererseits ist unbestritten, daß der Auswertungssituation bei der Bestimmung der
Extension von Adjektiven immer eine zentrale
Rolle zukommt: sie liefert die einsc hlägigen
Fakten. Betrac hten wir dazu ein Beispiel. Bei
einer Äußerung von
(10) Die Studenten meinen, daß das Handbuch Semantik ein zu schweres Buch ist.
kann die Sprec herin irgendeiner Gruppe von
Studenten entweder eine Meinung über das
Gewic ht des vorliegenden Werkes zusc hreiben
oder aber eine Einstellung zu dessen intellektueller Zumutbarkeit; doc h sie kann damit
nic ht zum Ausdruc k bringen, daß die besagten Studenten dieses Buc h für in jedem Sinne
zu sc hwer halten. Die Proposition, zu der in
(10) eine Einstellung konstatiert wird, besteht
also (in erster Annäherung) entweder aus denjenigen (Auswertungs-) Situationen, in denen
das Handbuch S emantik mehr wiegt als man
tragen kann, oder sie ist die Menge der Situationen, in der dasselbe Buc h von der Lesersc haft zu viel abverlangt. Um welc he Proposition es sic h handelt, hängt dabei offenbar
davon ab, auf welc he Dimension sic h die
Sprec herin mit schweres bezieht; und das wiederum wird vom Thema des Gespräc hs und
insofern von der Äußerungssituation zumindest beeinflußt. Auf ähnlic he Weise argumentiert man dafür, daß auc h die Wahl des Vergleic hsstandards der Äußerungssituation obliegt. Doc h stehen Dimension und Standard
erst einmal fest, so hängt die Extension von
schwer immer noc h von der Auswertungssituation ab: ob etwa eine Auswertungssituation s zur Menge der Situationen gehört, in
denen das Handbuch S emantik ein größeres
Gewic ht hat als Barwise (ed.) (1977) (oder ein
anderer akzeptierter Standard), hängt von
den Fakten in s selbst ab und nic ht von dem,
was in der Äußerungssituation der Fall ist.
Wir müßten demnac h für schwer folgenden
Typ von Bedeutungsregel ansetzen:
(Rschwer) Es sei s0 eine Äußerungssituation, s
eine Auswertungssituation, und X sei
diejenige Vergleichsdimension aus
der Menge {Gewicht, Schwierigkeitsgrad, ...}, die in s0 am wichtigsten ist.
Dann ist χschwer(s0)(s) eine Funktion,
9. Kontextabhängigkeit
die einer beliebigen Menge M diejenigen Gegenstände y zuweist, für
die gilt:
y ist in M, und in s kommt y bezüglich X ein höherer Wert zu als dem
in s0 einschlägigen X-Standardwert.
(M ist die Extension des Bezugsnomens.) Adjektive wie schwer sc heinen also auf doppelte
Weise gegen die Hypothese (L) zu sprec hen.
Doc h so einfac h ist die Sac he wiederum auc h
nic ht. Wie wir im näc hsten Absc hnitt sehen
werden, wird die unterdeterminierte Dimension keineswegs immer von der Äußerungssituation beigetragen. Und was den Standard
angeht, so wird er bei der Extensionsbestimmung des Positivs stets vergleic hend herangezogen: ein Lehrbuc h ist sc hwer (in welc hem
Sinne auc h immer), wenn es (in diesem Sinne)
schwerer ist als der situationell vorgegebene
Standard. Damit wird offensic htlic h der Positiv des Adjektivs auf den Komparativ (bzw.
ein allen Steigerungsfomen zugrundeliegendes
Grundlexem mit komparativis
c her Bedeutung) zurüc kgeführt. Und der Komparativ
referiert absolut. Der Positiv ließe sic h also
auc h als das Ergebnis eines morphologisc hen
Prozesses auffassen und fiele damit nic ht in
den Zuständigkeitsbereic h von (L). (Siehe die
Artikel 31 und 32.)
(L) ist so gemeint, daß sic h das Lexikon
einigermaßen einfac h und plausibel so darstellen und interpretieren läßt, daß (L) gilt; es
soll keineswegs behauptet werden, daß (L) ein
zwingendes Prinzip ist, ohne das keine empirisc h korrekte Besc hreibung des Deutsc hen
auskommen kann. Weiterhin sei beac htet, daß
sic h (L) definitionsgemäß nur auf die Frage
der Extensionsbestimmung bezieht und keine
anderen semantisc hen Dimensionen wie Stil,
Präsuppositionen etc . erfaßt. Es ist z. B. klar,
daß bei einem pejorativ gefärbten Wort wie
Köter die Extension nur von der Auswertungssituation abhängt, während die Färbung
von dem in der Äußerungssituation zu bestimmenden Sprec her beigesteuert wird, wie
man sic h an einem einfac hen Beispiel klarmachen kann:
(11) Hermann weiß, daß Hellas Hund gestorben ist.
(11′) Hermann weiß, daß Hellas Köter gestorben ist.
In (11) und (11′) wird über den Träger des
Namens Hermann jeweils dasselbe ausgesagt,
daß er nämlic h zu einer gewissen Proposition
p†, die aus den Situationen besteht, in denen
Hellas Hund gestorben ist, in der durc h das
165
Verb wissen ausgedrüc kten Relation steht.
Der Untersc hied zwisc hen den beiden Varianten besteht lediglic h darin, daß in letzterem
der Sprec her zusätzlic h zu verstehen gibt, daß
er selbst das betreffende Tier nic ht gerade
verehrt. Doc h dieser Untersc hied spielt keine
Rolle bei der Ermittlung der Intension p† des
eingebetteten Satzes und insofern auc h nic ht
für den Charakter der in ihm vorkommenden
Wörter. Hund und Köter sind c haraktergleic h
und referieren absolut; sie bestätigen somit
die Hypothese (L). Die Färbung gehört offenbar einer vom Charakter unabhängigen
semantischen Dimension an.
Die Hypothese (L) sagt etwas darüber aus,
wie sic h die kleinsten sprac hlic hen Bedeutungsträger auf die Welt beziehen. Im Falle
eines deiktisc hen Wortes wird die Extension
direkt aus Merkmalen (Aspekten) der Äußerungssituation ermittelt. Dies gilt auc h dann,
wenn das Wort in eine intensionale Konstruktion eingeht: der Beitrag, den ein deiktisc hes
Wort zur Bestimmung der Intension eines
Ausdruc ks leistet, in dem es vorkommt, erschöpft sich in seiner Extension:
(12) Caroline hätte fast übersehen, daß heute
die Sonne scheint.
Mit einer Äußerung dieses Satzes am
26. 12. 1953 wird beispielsweise gesagt, daß
Caroline in einer bestimmten Relation (des
‘Beinahe-Übersehens’) zu der Menge p der
Situationen steht, in denen am 26. 12. 1953 die
Sonne sc heint. Das deiktisc he Wort heute
bringt in die Proposition p lediglic h den Tag
der Äußerung ein; p ist also eine singuläre
Proposition über den 26. 12. 1953. Im Gegensatz dazu trägt z. B. das Verb scheint zu p wie
zur Intension des Gesamtsatzes auc h einen
Inhalt, eine Intension, bei: die bloße Kenntnis
der Extension von scheint in der Äußerungssituation reic ht zur Bestimmung von p nicht
aus. Die Fähigkeit, Extensionen direkt in den
Aufbau von Intensionen (wie p) einfließen zu
lassen, ist das semantisc he Hauptc harakteristikum deiktisc her Wörter und motiviert die
Redeweise von der ‘direkten Referenz’. Gelegentlic h wird sogar gesagt, daß deiktisc he
Wörter wie heute dafür sorgen, daß ihr Referent — aufgrund der Singularität — ein Teil
der ausgedrüc kten Proposition ist. Dieser Redeweise werden wir uns nic ht ansc hließen, da
sie auf Sc hwierigkeiten bei der Präzisierung
stößt; der Begriff der singulären Proposition
ist, nebenbei bemerkt, schon heikel genug.
Der Beitrag deiktisc her Wörter zum Inhalt
der Ausdrüc ke, in denen sie vorkommen, be-
IV. Kontexttheorie
166
steht also lediglic h in ihrem jeweiligen Referenten. Aber mit der Angabe des Referenten
ist natürlic h nic ht die Bedeutung oder Funktion eines deiktisc hen Wortes hinreic hend besc hrieben. Denn die Extension variiert von
(Äußerungs-) Situation zu Situation, und die
Art und Weise der Variation mac ht gerade
den Charakter eines solc hen Wortes aus: die
Ebene der Auswertungssituation kann ja bei
direkter Referenz getrost übersprungen werden. Bei dieser Betrac htungsweise stellt sic h
der Charakter eines deiktisc hen Wortes als
eine Art Mini-Intension dar: als eine partielle
Funktion von Situationen in Extensionen,
aber eben als eine solc he Funktion, die nur
für Äußerungssituationen definiert ist. Die so
durc h Überspringen der redundanten Auswertungs-Ebene aus dem Charakter χα eines
direkt referentiellen Ausdruc ks a gewonnene
Mini-Intension nennen wir den deskriptiven
Gehalt δα von α: für direkt referentielle α,
beliebige Äußerungssituationen s0 und Auswertungssituationen s und s’ gilt also: δα(s0)
= χα(s0)(s) = χα(s0)(s’). Der deskriptive Gehalt eines deiktisc hen Ausdruc ks entspric ht
meistens mehr oder weniger der Intension
irgendeines absoluten Ausdruc ks. So ist die
Intension von der Angesprochene ungefähr
gleich dem deskriptiven Gehalt von du:
χder Angesproc hene(s0) ≈ δdu, für beliebige Äußerungssituationen s0. In diesem Falle nennt
man den absoluten Ausdruc k eine Umschreibung des entsprec henden deiktisc hen Ausdruc ks: der Angesprochene ist also eine Umsc hreibung von du. Man beac hte, daß deiktisc he Ausdrüc ke und ihre Umsc hreibungen
niemals [!] c haraktergleic h sind. Die Umsc hreibung hebt lediglic h die Variabilität des
deiktisc hen Charakters auf eine begrifflic he
Ebene. Oder, etwas prosaisc her: die Abhängigkeit der Extension eines deiktisc hen Ausdruc ks von der Äußerungssituation wird in
der Umsc hreibung zu einer Abhängigkeit von
der Auswertungssituation.
Der Zusammenhang zwisc hen deiktisc hem
Charakter und Umsc hreibung kann als das
Werk eines an der sprac hlic hen Oberfläc he
unsi
c htbaren Operators aufgefaßt werden,
der alle Situationsabhängigkeiten auf die
Äußerungssituation bezieht. Dieser Operator
hat den etwas umständlic hen und sc hwer zu
artikulierenden Namen dthat [phonetisch:
d∂æt]. Die Extension eines Ausdruc ks der Gestalt dthat(α) bestimmt sic h für Äußerungssituationen s0 und Auswertungssituationen s
wie folgt: χdthat(α)(s0)(s) = χα(s0)(s0). Die Ar-
beitsweise von dthat mac ht man sic h am besten anhand metasprac hlic her Besc hreibungen der Charaktere absoluter Ausdrüc ke klar:
angenommen, χder Angesprochene(s0)(s) sei die in s
angespro
c hene Person. Dann ergibt si
c h
dthat(der Angesprochene) als die in s0 angesproc hene Person. Das Ergebnis des dthatOperators läßt sic h immer als eine solc he Einsetzung von Äußerungs- für Auswertungssituationen darstellen. Mehr dazu erfährt man
in Abschnitt 2.3.
1.4 Arten der Kombination
Das Sc hema (K) führt nic ht nur zu einer
natürlic hen Klassifikation sprac hlic her Ausdrüc ke nac h ihren referentiellen Eigensc haften. Man kann es auc h benutzen, um versc hiedene Typen syntaktisc her Konstruktionen zu untersc heiden. Dafür ist es nützlic h,
sic h der Begriffsbildungen der algebraisc hen
Semantik zu bedienen [vgl. dazu auc h Artikel
7] und diese Konstruktionen als Operationen
über sprac hlic hen Ausdrüc ken oder ihren Tiefenstrukturen aufzufassen. Danac h gibt es
z. B. im Deutsc hen eine Operation R, die aus
einem Nomen und einem (kongruenten) Relativsatz ein komplexes Nomen erstellt:
R(Kind,das weint) = Kind, das weint, etc . Im
allgemeinen nimmt eine syntaktisc he Konstruktion F eine bestimmte Anzahl n von Ausdrüc ken (oder Tiefenstrukturen) α1,...,αn als
Argumente und liefert als Ergebnis wieder
einen Ausdruc k (bzw. eine Tiefenstruktur).
Im Rahmen der hier favorisierten kompositionellen Semantik geht man davon aus, daß
sic h der Charakter des Ergebnisses F(α1,...,αn)
aus den Charakteren der Argumente mit Hilfe
einer der Konstruktion F entsprec henden semantischen Operation ΣF bestimmen läßt. Wir
haben also ein:
Allgemeines Kompositionalitätsprinzip
Der Charakter eines komplexen Ausdruc ks
ergibt sic h aus dem Charakter seiner Teile
und der Art ihrer Kombination.
Im Falle der Relativsatzanbindung R ist die
entspre
c hende semantis
c he Operation die
c
S hnittmengenbildung: ΣR(χ1, χ2)(s0)(s) =
χ1(s0)(s) ⋂ χ2(s0)(s). Dabei wird vorausgesetzt,
daß die Extension eines Relativsatzes wie die
eines Nomens eine Menge ist. R ist also (im
Sinne des Absc hnitts 1.1) extensional, da an
jedem Referenzpunkt die Kenntnis der Extensionen der beiden Argumente ausreic ht, um
die Extension des Ergebnisses festzulegen. Im
allgemeinen ist eine n-stellige syntaktisc he
Konstruktion F extensional, falls extensionsgleic he Teilausdrüc ke stets zu extensionsglei-
9. Kontextabhängigkeit
c hen Gesamtausdrüc ken führen, falls also für
alle Charaktere χ1, χ’1 ..., χn, χ’n und Referenzpunkte ⟨s0,s⟩ gilt: χ1(s0)(s) = χ’1(s0)(s), ...,
χn(s0)(s) = χ’n(s0)(s) impliziert ΣF(χ1, ...,
χn)(s0)(s)(s) = ΣF(χ’1, ..., χ’n)(s0)(s). Natürlic h
ist nac h dieser Definition eine solc he Konstruktion F genau dann extensional, wenn
sic h die entsprec hende semantisc he Operation
ΣF jeweils, also an jedem Referenzpunkt
⟨s0,s⟩, in dem Sinne auf eine Operation Σ
über Extensionen zurüc kführen läßt, daß für
beliebige Charaktere χ1, ...,χn, gilt: ΣF(χ1, ...,
χn) (s0) (s) = Σ (χ1, (s0) (s), ..., χn(s0) (s)).
Bei dem Relativsatz-Beispiel ist natürlic h
Σ
immer die Sc hnittbildung ⋂ und hängt
somit insbesondere nic ht vom Referenzpunkt
ab. F ist in diesem Sinne kanonisch extensional; möglic herweise ist jede (tatsäc hlic he) extensionale Konstruktion kanonisch.
Wie wir bereits in Absc hnitt 1.1 am Beispiel
der Satzeinbettung unter Einstellungsverben
gesehen haben, kommt man mit dem Naiven
Kompositionalitätsprinzip ni
c ht aus: ni
c ht
alle tatsäc hlic h vorkommenden syntaktisc hen
Konstruktionen sind extensional. Manc hmal
muß man auc h die Intensionen der beteiligten
Ausdrüc ke kennen, um die Extension des Gesamtausdru
c ks zu bestimmen. Immerhin
brauc ht man aber im Falle einer intensionalen
Konstruktion nic ht die gesamten Charaktere
der Teilausdrüc ke zu kennen, um die Extension des Ergebnisses zu ermitteln. Im allgemeinen ist eine n-stellige syntaktisc he Konstruktion F intensional, falls jeweils intensionsgleic he Teilausdrüc ke stets zu extensionsgleic hen Gesamtausdrüc ken führen, falls
also für alle Charaktere χ1,χ’1, ...,χn,χ’n und
Referenzpunkte ⟨s0,s⟩ gilt: χ1(s0) = χ’1(s0),
..., χn(s0) = χ’n (s0) impliziert ΣF(χ1, ..., χn) (s0)
(s) = ΣF(χ’1, ..., χ’n) (s0) (s). Natürlic h ist nac h
dieser Definition eine solc he Konstruktion F
genau dann intensional, wenn sic h die entsprec hende semantisc he Operation ΣF jeweils,
also in jeder Äußerungssituation s0, in dem
Sinne auf eine Operation Σ über Intensionen
zurüc kführen läßt, daß für beliebige Charaktere χ1,...,χn gilt: ΣF(χ1, ..., χn) (s0) =
Σ (χ1(s0), ..., χn(s0)). Im Falle der erwähnten
Satzeinbettung entspri
c ht die semantis
c he
Operation stets einer bestimmten Art von (intensionaler) Funktionalapplikation; die genaue Spezifikation dieser Operation und ihrer
intensionalen Entsprec hung wird der Leserin
überlassen. Sie wird dabei auc h hier eine gewisse Kanonizität beobac hten, die jedoc h
nic ht so leic ht zu definieren ist wie im Falle
167
der Relativsatz-Anbindung. Der Grund dafür
liegt in dem untersc hiedlic hen Verhalten von
Einstellungsverb und Nebensatz: während
letzterer seine gesamte Intension besteuert,
interessiert bei ersterem lediglic h die Extension. Die Konstruktion ist damit sozusagen
ex-intensional. Auf solc he gemisc hten Konstruktionen läßt sic h der Begriff der Kanonizität dann übertragen, wenn man sie immer
auf dieselbe Operation über Extensionen (von
Einstellungsverben) und Intensionen (von
Sätzen) reduzieren kann. Dieser Art von Kanonizität genügen wiederum möglic herweise
alle in diesem Sinne gemisc hten Konstruktionen.
Man kann sic h leic ht überlegen, daß jede
extensionale Konstruktion auc h intensional
ist; das Umgekehrte gilt natürlic h nic ht. Aber
gibt es eigentlic h Konstruktionen, die nic ht
einmal intensional sind? Die bisherigen Definitionen sc hließen das nic ht aus. Dennoc h
geht allein die Idee einer nic ht-intensionalen
Konstruktion gegen den Geist der hier dargestellten Theorie, weswegen man semantisc he Operationen, bei denen die Extension
des Ergebnisses nic ht durc h die Intensionen
der Argumente festgelegt wird, als Monster
bezeic hnet. Die klassisc he Theorie der Kontextabhängigkeit legt das folgende Prinzip
nahe:
(M) In der natürlichen Sprache gibt es keine
Monster: syntaktische Konstruktionen
sind immer (höchstens) intensional.
(M) ist lediglich eine Reformulierung des Fregesc hen Kompositionalitätsprinzips im Rahmen des Sc hemas (K) und als Einsc hränkung
des Allgemeinen Kompositionalitätsprinzips.
Aus den bisherigen Betrac htungen läßt sic h
(M) etwa folgendermaßen motivieren: ein
Monster müßte für mindestens eines seiner
Argumente die Abhängigkeit der Extension
von der Äußerungssituation in Betrac ht ziehen; die Äußerungssituation wird damit aber
hypothetisc h versc hoben, durc h eine andere
Situation ersetzt, womit sie letztlic h zur Auswertungssituation wird: das vermeintli
c he
Monster entpuppt sic h so als falsc h verstandene intensionale Konstruktion. Dieses Argument, das sic h weiter ausbauen und präzisieren ließe (vgl. Artikel 7), mutet sc hon fast
wie eine definitorisc he Wegerkärung jeglic her
Monster an. Daß sic h die Sac he dennoc h
nic ht so einfac h verhält, kann man anhand
eines Beispiels einsehen. Wir kommen dazu
auf die im vorhergehenden Absc hnitt erwähnten dimensionell unterbestimmten Adjektive
zurüc k. Auc h wenn die fehlende Dimension
IV. Kontexttheorie
168
oft irgendwie aus der Äußerungssituation ersc hlossen werden kann, kann es passieren,
daß keine der vom Adjektiv her denkbaren
Dimensionen in einer gegebenen Sprec hsituation sonderlic h naheliegt. Um nic ht mißverstanden zu werden, muß sic h der Sprec her in
so einer Situation klarer ausdrüc ken, als es
das betreffende Adjektiv erlaubt. Dazu kann
er auf ein expliziteres Adjektiv zurüc kgreifen:
neben schwer gibt es z. B. das dimensionell
determinierte schwierig bzw. das (in der einsc hlägigen Lesart) etwas angestaubte gewichtig. Oft besteht auc h die Möglic hkeit, die fehlende Dimension durc h Hinzufügung eines
Adverbs zu explizieren:
(13) Der zeitlich kürzeste Weg nach Paris
führt über Landau.
Wenn allerdings die von kurz unterbestimmte
Dimension (Dauer, Länge, ...) von der Äußerungssituation abhängen soll, dann wäre die
in (13) eingesetzte Konstruktion der Modifikation eines Adjektivs durc h ein (Dimensions-) Adverb ein Monster! Denn wird (13)
z. B. in einer Situation s0 geäußert, in der die
Längendimension näher liegt als die Dauer,
so bezieht sic h nac h dieser Analyse das bloße
Adjektiv kürzeste in s0 auf die Längenskala;
in der komplexen Adjektivphrase zeitlich kürzeste wird die Länge dann aber durc h die
Dauer ersetzt: χkürzeste(s0)(s) bezeic hnet in Verbindung mit einem Nomen a die Menge derjenigen Gegenstände aus der Extension
χα(s0)(s) von α, denen bezüglic h der durc h s0
bestimmten Dimension der geringste Wert zukommt, die also von minimaler Länge sind;
χzeitlich kürzeste
(s0)(s)
liefert
dagegen
(in
Verbindung mit a) die Menge derjenigen Gegenstände aus der Extension χα(s0)(s) von α, denen bezüglic h der durc h die Bedeutung von
zeitlich bestimmten Dimension der geringste
Wert zukommt, die also von minimaler Dauer
sind. Das Adverb zeitlich operiert somit in
der Weise auf dem Adjektivc harakter, daß —
statt der eigentlic hen Extension am betrac hteten Referenzpunkt — die Extension des
(eingebetteten) Adjektivs an einem anderen
Referenzpunkt ermittelt wird, nämlic h an
einem solc hen, dessen Äußerungssituation für
das eingebettete Adjektiv die Dimension der
Dauer nahelegt: die fraglic he Kombintion Σ
aus χzeitlichund χkürzeste liefert also für den
Punkt ⟨s0,s⟩ die Extension χkürzeste(s1)(s), wobei s1 wie s0 ist — außer daß die für kurz
näc hstliegende Dimension in s1 die Dauer ist.
Diese Bestimmung von s1 ist möglic herweise
etwas unklar und ließe sic h im Rahmen einer
gewissen (in Absc hnitt 2.1 zu besprec henden)
Variante der gegenwärtigen Theorie auf befriedigendere Art und Weise geben. Doc h wie
immer s1 genau ermittelt wird: es handelt sic h
dabei um eine von s0 versc hiedene Situation,
und diese Versc hiebung der Äußerungssituation macht Σ zum Monster.
Das gerade diskutierte Beispiel ist ein Vertreter eines Typs montröser Konstruktionen,
wie sie in der Literatur vorgesc hlagen wurden.
Weitere möglic he Monster werden wir noc h
kennenlernen. Auc h die Frage, ob und wie
sic h zumindest einige von ihnen vermeiden
lassen, wird uns noc h besc häftigen. Sc hon in
Absc hnitt 2.1 werden wir eine Möglic hkeit
kennenlernen, dem soeben bes
c hriebenen
Monster Σ durc h einen theoretisc hen Sc hlenker zu entkommen.
2.
Varianten und Alternativen
Die klassisc he Theorie ist nic ht konkurrenzlos. Vieles, was man mit ihr mac hen kann,
läßt sic h ebensogut oder sogar noc h besser
im Rahmen anderer Theorien erreic hen, deren
Begriffsbildungen zwar teilweise mit den klassisc hen verwandt sind, die aber dennoc h andere Sic htweisen einbringen. Die folgende
Synopse soll den Leserinnen einen groben
Überblic k über die wic htigsten möglic hen Abweic hungen von der klassisc hen Perspektive
vermitteln. Aus Platzgründen ist die Darstellung allerdings weniger ausführlic h als in Teil
1; mitunter kommt sie nic ht einmal über den
Rang einer groben Skizze hinaus. Für tiefere
Einsic hten muß daher auf die in Absc hnitt
5.2 genannte Literatur verwiesen werden.
2.1 Parametrisierung
Aus den bisher betrac hteten Beispielen wird
deutlic h, daß sic h die Rolle der Äußerungssituation s0 bei der Extensionsbestimmung
(durc h den Charakter) jeweils auf den Beitrag
gewisser Aspekte besc hränkt: für ich benötigt
man den Produzenten der in s0 getätigten
Äußerung, gestern verweist auf den Vortag
des Tages von s0, hier bezieht sic h auf den
Ort, an dem sic h s0 abspielt, etc . Was sind
nun Aspekte von (Äußerungs-) Situationen
im allgemeinen? Diese Frage läßt sic h wohl
auf mehrere äquivalente Arten beantworten.
Wir werden jedenfalls situationelle Aspekte als
Werte gewisser Funktionen auffassen, die
(konkreten) Situationen irgendetwas zuordnen; die Funktionen selbst bezeic hnen wir
dabei als situationelle Parameter. So verstehen
wir unter dem Orts-Parameter eine Funktion,
9. Kontextabhängigkeit
die jeder Situation ihren Ort zuweist, der Vortags-Parameter liefert für ein gegebenes s den
Tag vor dem Tag von s, der Sprecher-Parameter ist eine partielle Funktion, die nur für
Äußerungssituationen
definiert
ist
und
mac ht, was man von ihr erwartet, usw.; und
Sprec her, Vortag und Ort einer (Äußerungs-)
Situation s0 sind als Werte der entsprec henden
Parameter Aspekte von s0. Nac h dieser Definition besitzt natürlic h jede Situation eine
Unzahl von abwegigen und uninteressanten
Aspekten, von denen nur einige für die Bestimmung von Extensionen relevant sind.
Welc he dies ungefähr sind, wird uns noc h in
Teil 3 besc häftigen. Im folgenden werden wir
erst einmal so tun, als sei die Liste der einsc hlägigen Parameter wohlbekannt; die Parameter selbst werden wir sogar gelegentlic h
mit ihrer Stelle in dieser Liste identifizieren:
wenn also der Sprec her-Parameter die erste
Stelle einnehmen sollte, so werden wir ihn als
Parameter 1 bezeichnen etc.
Diejenigen situationellen Aspekte, die (in
einer bestimmten Sprac he) für die Bestimmung von Intension und Extension als Beitrag der Äußerungssituation herangezogen
werden, heißen kontextuell; wir werden diesen
Begriff ebenso auf die entsprec henden situationellen Parameter anwenden. Im Sc hema
(K) könnte man also die Äußerungssituation
getrost durc h die Gesamtheit ihrer kontextuellen Aspekte ersetzen, ohne daß sic h am
Kern der klassisc hen Theorie irgendetwas änderte. Man könnte sogar Charaktere als
Funktionen auffassen, die Listen (also n-Tupeln oder Folgen) c von kontextuellen Aspekten Intensionen zuordnen. Solc he c bezeichnet
man üblic herweise als Kontexte. Jeder Äußerungssituation entspric ht demnac h genau ein
von ihr determinierter Kontext, aber derselbe
Kontext kann im Prinzip einer Unzahl von
Äußerungssituationen entsprec hen — wieviele es genau sind, hängt natürlic h von Anzahl und Art der kontextuellen Aspekte ab:
wäre der Sprec her der einzige kontextuelle
Parameter, so bestünden Kontexte im wesentlic hen aus Personen, und alle Äußerungen
Ronald Reagans fänden in diesem Sinne im
selben Kontext statt. Die Tatsac he, daß die
Determination nic ht unbedingt eine ein-eindeutige Beziehung ist, zeigt, daß der soeben
eingeführte Kontextbegriff nic ht immer ganz
dem intuitiven entspric ht — das ist wohl eher
bei dem Begriff der Äußerungssituation der
Fall — doc h gerade dieser Kontextbegriff ist
der in der logisc hen Semantik heutzutage übliche.
169
So wie die Äußerungssituation auf ihre
kontextuellen Aspekte reduziert werden kann,
läßt sic h auc h die Auswertungssituation im
Prinzip auf das wesentlic he zurec htstutzen
und somit als Liste von (für die Bestimmung
der Extensionen sprac hlic her Ausdrüc ke wesentlic hen) situationellen Aspekten auffassen.
Aus der Auswertungssituation wird dann ein
Index. Ganz analog zu dem soeben Gesagten
gilt natürlic h auc h hier, daß eine Auswertungssituation s im allgemeinen mehreren Indizes entspric ht, wobei die Frage, wieviele es
sind, vor allem wieder davon abhängt, welc he
situationellen Parameter und Aspekte indexikalisch sind. Die allgemeine Referenztheorie gibt darüber keine Auskunft: ein Index könnte ebensogut nur aus einem einzigen
Aspekt (etwa einer möglic hen Welt) bestehen
wie aus einer Vielzahl von Aspekten, die in
ihrer Gesamtheit die Auswertungssituation jeweils eindeutig festlegen. (Natürlic h ist die
Anzahl der Aspekte nic ht entsc heidend für
diese Möglic hkeit der eindeutigen Festlegung:
der ‘Aspekt’, mit s identisc h zu sein, legt s
ganz allein eindeutig fest; es ist allerdings
fraglic h, ob und wann ein dermaßen spezieller
Aspekt bei der Bestimmung einer Extension
jemals wirklic h benötigt wird.) Allerdings sei
im folgenden stets vorausgesetzt, daß indexikalisc he Parameter und Aspekte automatisc h
als kontextuell gelten. Diese Annahme ist sowohl theoretisc h sinnvoll als auc h empirisc h
gerec htfertigt. Was den theoretisc hen Sinn angeht, so wird man im näc hsten Absatz sowie
im Absc hnitt 2.3 einige Hinweise finden; die
empirisc he Rec htfertigung wird auf Absc hnitt
3.1 vertagt. Kontextuelle Parameter und
Aspekte, die nic ht zugleic h auc h indexikalisc h
sind, heißen echt kontextuell. Ec ht kontextuelle Aspekte sind naturgemäß solc he, deren
Existenz mit der Tatsac he zusammenhängt,
daß in der betrac hteten Situation eine Äußerung stattfindet. Das typisc he Beispiel ist einmal mehr der Sprecher.
So wie sic h die Äußerungssituation in (K)
durc h den von ihr determinierten Kontext
ersetzen läßt, kann natürlic h die Rolle der
Auswertungssituation von dem ihr entsprec henden Index gespielt werden; entsprec hend
muß man dann Intensionen als Funktionen
von Indizes statt von (Auswertungs-)Situationen in Extensionen definieren. Diese Ersetzung ist allerdings für die klassisc he Theorie
nic ht ganz so folgenlos wie der Übergang von
Äußerungssituationen zu Kontexten. Denn
nic ht alle kontextuellen Parameter tauc hen
auc h im Index auf, wodurc h letzterer stets
170
weniger spezifisc h ist. Während also die Auswertungssituation — wie in der Darstellung
(X) in Absc hnitt 1.2 eigens hervorgehoben
wurde — gelegentlic h selbst eine Äußerungssituation sein kann, ist eine solc he Übereinstimmung zwisc hen Kontext und Index prinzipiell unmöglic h. Insbesondere gibt es in der
Kontext-Index-Variante
der
klassis
c hen
Theorie keine Diagonale im eigentlic hen
Sinne. Allerdings entspric ht natürlic h (weiterhin unter der Annahme, daß indexikalisc he
Aspekte auc h immer kontextuell sind) jedem
Kontext c eindeutig ein durc h Streic hung der
rein kontextuellen Aspekte entstehender Index i(c). Diese Entsprec hung kann als Diagonalen-Ersatz zur Reformulierung des Prinzips (D) herangezogen werden: Default-Wert
für die Auswertung in s0 ist dann nic ht der
Punkt ⟨s0,s0⟩, sondern ⟨c(s0),i(c(s0))⟩, wobei
c(s0) der von s0 determinierte Kontext ist.
Doc h nic ht alle Funktionen der Diagonalen
können in dieser Theorie-Variante simuliert
werden; wir werden das in Absc hnitt 2.3 nac hweisen.
Die Ersetzung von Auswertungssituationen durc h Indizes ließe sic h natürlic h auc h
unter Beibehaltung der Abhängigkeit der Intension von der Äußerungssituation vornehmen, wodurc h sic h nic hts Wesentlic hes gegenüber der Kontext-Index-Variante änderte.
Für eine solc he Beibehaltung der konkreten
Äußerungssituationen könnte der Umstand
angeführt werden, daß die Gesamtheit der
kontextuellen Parameter prinzipiell offen und
insofern nic ht durc h Auflistung darstellbar
ist. Ob dem allerdings wirklic h so ist, hängt
nic ht zuletzt von der bis zu einem gewissen
Grade frei zu wählenden Parametrisierung der
Äußerungssituation ab, über die in Teil 3 noc h
einiges zu sagen sein wird.
Die Einführung von Kontexten und Indizes
kann auc h als Ausgangspunkt für eine ec hte
Erweiterung des in Absc hittt 1 dargestellten
Rahmens genutzt werden. Denn nac h den
obigen Festlegungen sind Kontexte und Indizes Listen von situationellen Aspekten. Bisher sind wir zwar davon ausgegangen, daß
die einzelnen Aspekte eines Kontexts oder
Index in dem Sinne aufeinander abgestimmt
sind, als sie jeweils Aspekte ein und derselben
(Äußerungsbzw.
Auswertungs-)Situation
sind; prinzipiell besteht aber natürlic h die
Mögli
c hkeit, neben derartigen stimmigen
Kontexten und Indizes auc h solc he Aspektlisten zu berüc ksic htigen, die jeweils keine
möglic he Situation determinieren. Und daß
dies Sinn mac ht, zeigen Beispiele wie (14), bei
IV. Kontexttheorie
denen sich die klassische Theorie schwertut:
(14) Vor hundert Billionen Jahren hat es hier
geregnet.
Um zu sehen, wo hier die Schwierigkeit liegt,
stellen wir uns eine reale Äußerungssituation
s0 von (14) vor, die zu irgendeinem Zeitpunkt
in der Vergangenheit stattfand. (14) ist dann
sic herlic h — insbesondere aufgrund des Alters unseres Universums — falsc h. Doc h was
sagt die klassisc he Theorie dazu? Nac h (D)
ist zunäc hst die Auswertungssituation mit s0
gleic hzusetzen. Die den restlic hen Satz einbettende Präpositionalphrase vor hundert Billionen Jahren sorgt nun offenbar dafür, daß
man sic h bei der Auswertung auf Situationen
besc hränken soll, deren Zeit 1014 Jahre zurüc kliegt. Da der Satz jedoc h keine Aussage
über eine andere Welt o. ä. mac ht, muß man
offenbar die restlic hen Aspekte von s0 beibehalten. Aufgrund dieser Überlegung müßte
man die Konstruktion ‘vor n Jahren + φ’ im
Rahmen der klassisc hen Theorie so deuten,
daß das Ganze wahr wird, wenn die durc h φ
ausgedrüc kte Proposition für diejenige Auswertungssituation den Wahrheitswert 1 liefert, deren Zeit vor n Jahren liegt, die aber
ansonsten mit s0 übereinstimmt. Da es nun
für unser s0 keine solc he Situation gibt, käme
(14) — wie erwünsc ht — als falsc h heraus.
Doc h leider erginge es (15) in derselben Situation nicht anders:
(15) Vor einer Billiarde Jahren hat es hier
nicht geregnet.
Denn es gab (zumindest nac h landläufiger
physikalisc her Auffassung) keine Situation,
die sic h zu dem in (15) angegebenen Zeitpunkt
tatsäc hlic h hier zugetragen hat; insbesondere
gab es dann auc h keine solc he regenfreie Situation. (15) wäre also nac h dieser klassisc hen
Analyse falsc h. Diese sic herlic h unerwünsc hte
Konsequenz ließe sic h wohl nur durc h die
unabhängig nur sc hwer zu motivierende Annahme vermeiden, daß die Negation in (15)
den gesamten Restsatz in ihren Skopus nehmen müsse.
Versc höbe man stattdessen den Zeitaspekt
in der Bedeutungsregel für ‘vor n Jahren +
φ’ unabhängig vom Rest der Auswertungssituation, käme zwar ein Index heraus, der keiner realen oder fiktiven Situation entspric ht
— weil er unter dem Aspekt Welt unsere harte
Realität liefert, andererseits aber vor Big
Bang liegt; doc h die Wahrheitsbedingungen
von (14) und (15) könnten dann korrekt erfaßt werden: da der besagte Index keiner Si-
9. Kontextabhängigkeit
tuation entspric ht, kann man davon ausgehen, daß es an ihm auc h nic ht regnet, womit
(15) — im Gegensatz zu (14) — wahr würde.
Wie man leic ht nac hprüft, spielt für diese
Analyse der Skopus der Negation in (15)
keine Rolle; die betreffende Äußerung würde
in jedem Falle als wahr bewertet. Das spric ht
offenbar für eine Erweiterung des IndexBegriffs auf Listen von indexikalis
c hen
Aspekten, die möglic herweise untereinander
nicht stimmig sind.
Die obige Argumentation ist nic ht absolut
stic hhaltig. Wir haben nur angedeutet, daß
eine bestimmte Anwendung der klassisc hen
Theorie auf Beispiele wie (14) und (15) zu
Sc hwierigkeiten führt. Es ist natürlic h denkbar, daß sic h diese Sc hwierigkeiten durc h
Rüc kgriff auf andere Ebenen der Semantik
(wie etwa eine Präsuppositions-Ebene) oder
andere semantisc he Regeln im Rahmen der
klassisc hen Theorie prinzipiell lösen ließen.
Diesen Punkt wollen wir hier allerdings offenlassen.
Das Beispiel (15) ist natürlic h weit hergeholt, doc h läßt sic h an ihm die Grundidee
hinter den unstimmigen Aspektlisten gut einsehen. Eine etwas realistisc here, aber dafür
weniger durc hsic htige Anwendung derselben
Tec hnik kann den zu Ende von Teil 1 aufgezeigten Konflikt um den Status der Dimensions-Adverbien (bzw. der sie einführenden
syntaktis
c hen Konstruktion) lösen. Man
brauc ht dazu nämlic h nur die relevante Dimension als eigenen indexikalisc hen Parameter zu führen, der von den genannten Adverbien (aber nic ht durc h satzeinbettende Verben) versc hoben wird. Das Ergebnis der Versc hiebung ist dann oft ein Index, der nic ht
genau eine Situation determiniert (sondern
zumeist mehrere), womit die Frage der Bestimmung dieser Situation gegenstandslos
würde. Diese Lösung des Problems der Dimensions-Adverbien ist allerdings nic ht die
einzige Möglic hkeit der Vertreibung des Monsters aus Absc hnitt 1.4; eine Alternative ergibt
sic h durc h Adaption der in Absc hnitt 3.3 zu
diskutierenden Beschreibungstechniken.
Die Ersetzung von Auswertungssituationen durc h unstimmige Indizes erlaubt es übrigens auc h, intensionale Konstruktionen im
Sinne der Alternative (A) aus Absc hnitt 1.2,
also durc h Versc hiebung einzelner Aspekte,
zu deuten, ohne daß man auf die dort angetroffenen Sc hwierigkeiten stößt: der Tric k besteht darin, daß das Ergebnis der Versc hiebung nic ht notwendigerweise eine (Auswertungs-)Situation ist (bzw. von einer solc hen
171
determiniert wird). Doc h gilt hier wie stets
beim Umgang mit der Tec hnik der unstimmigen Indizes: man sollte sie nur im äußersten
Notfall anwenden, wenn wirklic h keine andere Besc hreibungsmethode mehr faßt. Sie
kann nämlic h allzu leic ht dazu verleiten, jeden
Konflikt mit dem Monsterverbot durc h eine
steigende Zahl von unabhängig variierenden
indexikalisc hen Aspekten zu umgehen. Das
Ergebnis wäre einerseits eine anekdotisc h anmutende und unbegrenzt erweiterbare Auflistung von zufällig gefundenen situationellen
Parametern — anstelle der klaren klassisc hen
Trennung in Äußerungs- und Auswertungssituation. Zugleic h würde der Untersc hied
zwisc hen Index und Kontext (bzw. Äußerungssituation) immer mehr verwisc ht oder
zumindest graduell: ein Aspekt wie die näc hstliegende Dimension ist natürlic h beinahe kontextuell, weil die ihn versc hiebenden Konstruktionen sehr selten und äußerst gesuc ht
sind, und vielleic ht ist es nur eine Frage der
Zeit, bis man für einen beliebig gegebenen
kontextuellen Aspekt eine entsprec hende Versc hiebungs-Konstruktion findet. Wir werden
uns deshalb im folgenden bemühen, möglic hst
ohne Unstimmigkeiten in den Indizes auszukommen und uns stattdessen im Rahmen der
klassisc hen Theorie von Teil 1 (bzw. einer
ihrer zu Anfang des gegenwärtigen Absc hnitts
angedeuteten Varianten) bewegen. Auf die
grundsätzlic he Frage der Tragweite dieser
Strategie werden wir erst am Ende des Kapitels (in Abschnitt 4.3) zurückkommen.
Für den Kontextbegriff mac ht die Erweiterung auf unstimmige Aspektlisten keinen
guten Sinn. Zumindest läßt sic h in diesem
Falle kein Argument nac h dem obigen Stric kmuster vorbringen, da ja kontextuelle
Aspekte niemals versc hoben oder abgewandelt werden. Und der Ausgangspunkt entspringt stets der Äußerungssituation; er ist
daher von Natur aus stimmig. Diese Überlegung kann — gemeinsam mit den Beobac htungen zu (14) und (15) — dazu benutzt werden, eine Kontexttheorie zu favorisieren, die
auf Äußerungssituationen und teilweise unstimmigen Indizes basiert, in der also die Intension mit Hilfe einer konkreten Situation
ermittelt wird, während man zur Bestimmung
der Extension ein abstraktes Merkmals-Bündel, den Index, heranziehen muß. Andererseits werden wir in Absc hnitt 2.3 einige sehr
elegante semantisc h-pragmatisc he Tec hniken
kennenlernen, die ohne eine Aufspaltung der
Äußerungssituation in Aspekte nic ht auskommen.
172
Bevor wir uns nac h weiteren Alternativen
zur klassisc hen Theorie der Kontextabhängigkeit umsehen, sei darauf hingewiesen, daß es
sic h bei dem soeben diskutierten Problem
nic ht um die Frage der unstimmigen Referenzpunkte handelt, also darum, ob man vielleic ht gelegentlic h mit Kontext-Index-Kombinationen arbeiten muß, die keiner gemeinsamen Situation entsprec hen; denn das passiert ja bereits im Prinzip sc hon in der klassisc hen Theorie: die meisten Referenzpunkte
liegen nic ht auf der Diagonalen (der Charaktertabellen), doc h brauc ht man sie zur Ermittlung der Intension. Die durc h (14) und
(15) aufgeworfene Frage läßt sic h überhaupt
erst sinnvoll stellen, wenn man die klassisc he
Theorie zu verlassen bereit ist und auf jeden
Fall Situationen durc h entsprec hende Aspektlisten ersetzt.
Auf die in diesem Absc hnitt vorgenommene Zerlegung von Situationen in Aspekte
werden wir im Rest dieses Kapitels immer
dann zurüc kgreifen, wenn es aus darstellungstec hnisc hen Gründen ratsam ersc heint. Wir
gehen dann — solange nic hts Gegenteiliges
gesagt wird — stets von einer Zerlegung sowohl der Äußerungs- als auc h der Auswertungssituation aus. Die so entstehende Variante der klassisc hen Theorie bezeic hnen wir
von nun als Parametrisierung.
2.2 Extensionalisierung
Die Extensionen sprac hlic her Ausdrüc ke hängen von irgendwelc hen Situationen bzw. situationellen Aspekten ab. Um die Art und
Weise dieser Abhängigkeit im konkreten Fall
anzugeben, haben wir uns mit Hilfe metasprac hlic her Variablen auf die jeweils beteiligten Situationen bezogen: der Charakter χichdes Personalpronomens ich wurde z. B. als
eine Funktion besc hrieben, die für beliebige
Äußerungssituationen s0 und Auswertungssituationen s die in s0 sprec hende (oder sc hreibende) Person liefert. Um die Extension von
ich festzustellen, bedarf es demnac h der Funktion χich, die ihrerseits gewisse Argumente benötigt, um ein Ergebnis zu liefern. Stattdessen
könnte man das Wort ich selbst als Namen
der Funktion χich auffassen, deren Argumente
auf der sprac hlic hen Oberfläc he unausgesproc hen bleiben. Anstatt also das Wort ich vermittels seines Charakters zu deuten, würde
man ihm dann eine logische Form der Gestalt
ICH(x)(y) zugrundelegen, wobei ICH ein
Funktionssymbol ist und die Variablen x und
y mit der Äußerungs- bzw. der Auswertungs-
IV. Kontexttheorie
situation belegt werden. Man beac hte, daß
auf diese Weise die Untersc heidung zwisc hen
Charakter, Intension und Extension als versc hiedene Ebenen der semantisc hen Analyse
überflüssig wird: ICH(x)(y) benennt einfac h
die Extension des Wortes ich, während
ICH(x) und ICH Namen für seine Intension
bzw. seinen Charakter sind; für die zugrundeliegende logisc he Form gibt es also nur die
Ebene der Benennung, der Extension. Die
Darstellung der Situationsabhängigkeit der
Extension
natürli
c hspra
c hli
c her
Ausdrü
c ke
mit Hilfe von nur in der logisc hen Form sic htbaren Variablen bezeic hnet man daher als Extensionalisierung.
Bereits an der Deutung eines einzelnen
Wortes läßt sic h verdeutlic hen, daß der Untersc hied zwisc hen der klassisc hen Charakteranalyse (K) und der Tiefenanalyse vermittels
Extensionalisierung nic ht so haarspalterisc h
ist, wie er zunäc hst wirken mag: anstatt nämlic h dem Pronomen ich analog zu (K) eine
Funktion zugrundezulegen, für die dann gezeigt werden kann, daß eines ihrer Argumente
(die Auswertungssituation) leerläuft, hat man
im Rahmen der Extensionalisierung die Möglic hkeit, dieses Argument einfac h wegzulassen
und das Wort auf eine einstellige Funktion
zurüc kzuführen. Ganz allgemein läßt sic h
dann der in Absc hnitt 1.3 eingeführte Begriff
der direkten Referenz als Fehlen der der Auswertungssituation entspre
c henden Variablen
in der logisc hen Form darstellen; und ganz
analog zeic hnet sic h absolute Referenz durc h
die Abwesenheit der Äußerungssituation aus.
Die so gewonnenen logisc hen Formen erlauben also eine redundanzfreie und durc hsic htige Darstellung der Situationsabhängigkeit
der Extension eines natürli
c hspra
c hli
c hen
Ausdruc ks. Dies zahlt sic h besonders im Falle
komplexer Ausdrüc ke mit gemisc hten Referenzweisen (direkt, absolut etc .) aus: der Satz
ich bin Vertreter wird dann nic ht als eine
Kombination der jeweils von zwei Argumenten abhängigen Charaktere analysiert, sondern — wenn man einmal das Tempus vernachlässigt — etwa so:
(16) VERTRETER(s)(ICH(s0))
Dabei sind s und s0 wie bereits in den bisherigen Ausführungen Variablen, die für die
Auswertungs- bzw. die Äußerungssituation
stehen. Neu ist nur, daß in der extensionalisierten Darstellung (16) der Charakterbegriff
eliminiert worden ist und die untersc hiedlic hen Referenzweisen von Pronomen und
Substantiv direkt durc h die versc hiedenen Variablen zum Ausdruc k gebrac ht werden. Die
9. Kontextabhängigkeit
Beibehaltung der Notationskonventionen soll
betonen, daß die zur Formulierung der Bedeutungsregeln benutzte Metasprac he in derselben expliziten Weise auf Situationen Bezug
nimmt wie die (extensionalisierten) logisc hen
Formen.
(16) ist nic ht nur eine logisc he Form, sondern auc h eine Formel der Logik — oder
genauer gesagt: eine notationelle Variante
einer prädikatenlogisc hen Formel. Die Variation besteht lediglic h darin, daß man in der
(erststufigen) Prädikatenlogik normalerweise
keine Ausdruc ksmöglic hkeiten für Funktionen besitzt, deren Werte wieder Funktionen
sind; stattdessen hat man Namen für Relationen, was aber in unserem Fall auf dasselbe
hinausläuft. Wir werden deshalb die Form
(16) für das folgende mit der aus der Logik
vertrauteren Darstellung (16′) identifizieren:
(16′) VERTRETER(s, ICH(s0))
Abgesehen von der nic ht besonders aufregenden Reduktion der Stellenzahl für die Charaktere direkt oder absolut referierender Ausdrüc ke verhilft die Extensionalisierung noc h
zu einer anderen Einsic ht in das Zusammenspiel der zentralen Begriffe der klassisc hen
Kontexttheorie. Die Rede ist von der Untersc heidung zwisc hen Äußerungs- und Auswertungssituation sowie dem in diesem Zusammenhang besonders wic htigen Prinzip (M) der
Monsterfreiheit. Wie wir gesehen haben,
zeic hnen sic h intensionale Konstruktionen
dadurc h aus, daß in ihnen die Extensionen
der beteiligten Ausdrüc ke in ihrer Variation
über
vers
c hiedene
Auswertungssituationen
betrac htet werden. Bezieht man dies auf die
Darstellung vermittels extensionalisierter logisc her Formen, so heißt das nic hts anderes,
als daß man bei diesen Konstruktionen von
der konkreten Belegung der entsprec henden
Variablen abstrahieren muß, daß also diese
Variablen gebunden werden. (Abstraktion
vom konkreten Wert ist die allgemeinste
Form der Variablenbindung.) Das Prinzip (M)
wiederum besagt, daß sic h Äußerungssituationen in dieser Hinsic ht grundsätzlic h anders
verhalten: es kann danac h keine Konstruktionen geben, die eine Versc hiebung der konkret
vorgegebenen Äußerungssituation verlangen.
Dieser von (M) postulierte Untersc hied in der
Rolle von Äußerungs- und Auswertungssituation läßt sic h auf die folgende griffige Formulierung bringen:
(EM) Die Äußerungssituation ist ein freier
Parameter: die ihr in der logischen
Form entsprechenden Variablen dürfen nicht gebunden werden.
173
Was diese Reformulierung des Monsterverbots besonders attraktiv mac ht, ist ihre große
Ansc haulic hkeit und die Tatsac he, daß mit
ihr die zunäc hst etwas ungewohnten und abstrakten Betrac htungen aus Absc hnitt 1.4 auf
die altvertraute Unters
c heidung zwis
c hen
freien und gebundenen Variablen zurüc kgeführt werden. Die Tatsac he, daß (EM) eine
Darstellung in einer extensionalisierten logisc hen Form voraussetzt, sollte man dabei
übrigens nic ht überbewerten: worauf es in
(EM) ankommt, ist das Verhalten gewisser
Variablen, und das kann man — wenn man
den Umweg über die logisc he Form vermeiden möc hte — natürlic h genausogut in den
metaspra
c hli
c hen Bedeutungsregeln studieren.
Die obige Formulierung (EM) spielt sic h
im klassisc hen Rahmen (K) ab. Eine analoge
Formulierung läßt sic h für die in Absc hnitt
2.1 diskutierten Parametrisierungen finden,
insbesondere auc h dann, wenn von unstimmigen Aspektlisten Gebrauc h gemac ht wird.
In allen diesen Fällen muß man versc hiedene
Sorten von Variablen für kontextuelle und
indexikalisc he Aspekte einführen und in dem
(EM) entsprec henden Prinzip von den kontextuellen Variablen (anstatt von solc hen für
die Äußerungssituation) sprechen.
Prädikatenlogisc he Formeln wie (16′) lassen sic h bekanntlic h rein formal, also als Aussagen über einen beliebigen Individuenbereic h, interpretieren. Auf diese Weise gelangt
man zu einer abstrakten Referenztheorie, in
der die versc hiedenen Situationstypen (oder
Aspekte) lediglic h die Rolle von zunäc hst
nic ht weiter spezifizierten Individuen spielen.
In einer solc hen Theorie untersc heidet man
zwar normalerweise versc hiedene Sorten von
Individuen (Objekte, Situationen etc .), doc h
mac ht man über die Vertreter der einzelnen
Sorten so wenig Annahmen wie möglic h. Auf
diese Weise ist man gezwungen, alle für die
logis
c h-semantis
c he
Analyse
wesentli
c hen
Voraussetzungen in der Argumentation explizit zu nennen. Darin liegt ein Vorteil dieser
abstrakten
Betra
c htungsweise.
Zu
ihren
Nac hteilen gehört, daß sie den Untersc hied
zwisc hen Situationen und Aspekten derselben
allzu leic ht verwisc hen kann: die Werte der
entsprec henden Variablen sind eben beliebig.
Diese Beliebigkeit kann sogar den Nebeneffekt haben, daß sic h das für die klassisc he
Theorie wesentlic he Prinzip (D) nic ht mehr
174
ohne weiteres formulieren läßt; dafür muß
dann erst der Begriff der Diagonalen axiomatisiert werden.
2.3 Zweidimensionale Modallogik
Geht man von der Darstellung (X) in Absc hnitt 1.2 aus, dann lassen sic h Charaktere
als Funktionen auffassen, welc he Referenzpunkten, also Paaren ⟨s0,s⟩ aus Äußerungsund
Auswertungssituationen,
irgendwel
c he
Objekte zuordnen. Wenn man außerdem einmal für einen Augenblic k von dem Umstand
absieht, daß nic ht jede beliebige (Auswertungs-) Situation zugleic h auc h eine Äußerungssituation ist, dann ersc heinen die Denotate sprac hlic her Ausdrüc ke einfac h als in
doppelter Weise situationell abhängig. Dieser
Art Doppelabhängigkeit von Extensionen begegnet man auc h in der zweidimensionalen
Modallogik, wo einerseits logisc he Formeln
relativ zu Paaren von möglic hen Welten gedeutet werden und wo andererseits gewisse
Modaloperatoren über diese Weltenpaare
quantifizieren. Die klassisc he Theorie der
Kontextabhängigkeit läßt sic h also auc h als
angewandte
zweidimensionale
Modallogik
verstehen: die Rolle der Welten wird hier von
den Situationen übernommen, und als Modaloperatoren hat man beispielsweise die satzeinbettenden intensionalen Konstruktionen,
deren Aufgabe es ist, von den jeweils betrac hteten Auswertungssituationen zu abstrahieren.
Zu den wic htigsten in der zweidimensionalen Modallogik untersuc hten Operatoren
gehören die sog. Diagonaloperatoren, die den
Auswertungspunkt auf die Diagonale (die
Menge der Weltenpaare der Gestalt ⟨w,w⟩)
versc hieben: diagonalisiert man einen Ausdruc k a der zweidimensionalen Modallogik
— d. h. wendet man einen Diagonaloperator
auf ihn an — so ist die Extension des resultierenden Gesamtausdruc ks an einem Weltenpaar ⟨w,w’⟩ einfac h as Extension am entsprec henden Punkt auf der Diagonalen. Es
gibt demnac h genau zwei Diagonaloperatoren, von denen der eine den Auswertungspunkt auf ⟨w,w⟩ projiziert, während der andere auf ⟨w’,w’⟩ versc hiebt. Ersetzt man nun
Welten durc h (Auswertungs-)Situationen, so
stellt sic h heraus, daß wir einen dieser beiden
Diagonaloperatoren
bereits
kennengelernt
haben: es handelt sic h um den in Absc hnitt
1.3 eingeführten Operator dthat, der es gestattet, einen deiktisc hen Charakter aus dem
einer entsprec henden absoluten Umsc hreibung zu gewinnen. Orientiert man sic h an der
IV. Kontexttheorie
Darstellung (X), so ersc heint dthat als waagerechter Diagonaloperator, denn die Auswertungssituation wird unter dthat in waagerec hter Ric htung auf die Diagonale versc hoben.
Das senkrec hte Pendant zu dthat haben wir
indes noc h nic ht kennengelernt. Kein Wunder: ein solc her Operator versc hiebt die Äußerungssituation und ist damit ein nac h (M)
geäc htetes Monster. Über die Rolle dieses
Monsters in der logisc hen Sprac hanalyse wird
noc h in den Absc hnitten 2.5 und 4.2 zu verhandeln sein. Hier sei zunäc hst einmal nur
festgehalten, daß sic h im Vergleic h zwisc hen
waagerec hter und senkrec hter Diagonalisierung die in der klassisc hen Theorie postulierte
Asymmetrie zwisc hen Äußerungs- und Auswertungssituation offenbart: nur die letztere
kann auf die Diagonale versc hoben werden.
Eine solc he Asymmetrie wird in der zweidimensionalen Modallogik normalerweise nic ht
angenommen; sie ist ein zusätzlic hes, für diese
Anwendung charakteristisches Merkmal.
Die Asymmetrie zwisc hen Äußerungs- und
Auswertungssituation ist nic ht nur eine Folge
des Monsterverbots (M). Sie besteht ohnedies
aufgrund der Tatsac he, daß die Charaktertabellen (X) nic ht quadratisc h sind, weil die
Äußerungssituationen nur einen Teil aller
(Auswertungs-) Situationen darstellen. Insbesondere durc hkreuzt die Diagonale nic ht
die gesamte Tabelle, so daß es strenggenommen nic ht nur einen, sondern eine ganze
Reihe von senkrec hten Diagonaloperatoren,
aber nur einen waagerec hten, nämlic h dthat,
gibt: senkrec hte Diagonalisierung sagt nur etwas über das Verhalten eines Operators auf
der linken, von der Diagonalen durc hzogenen
Seite von (X) aus; versc hiedene senkrec hte
Diagonaloperatoren könnten sic h in der rec hten Hälfte verschieden verhalten.
Die Analogie zwisc hen der zweidimensionalen Modallogik und der Theorie der Kontextabhängigkeit wird interessanter, wenn
man von der klassisc hen Version zu der in
Absc hnitt 2.1 skizzierten Parametrisierung
übergeht. Nimmt man nämlic h — wie dort
bereits vorgesc hlagen — an, daß indexikalisc he Aspekte immer auc h zugleic h kontextuell
sind, so ergibt sich eine natürliche Aufspaltung
⟨i,i’,c⟩ der (durc h Aspektlisten vertretenen)
Referenzpunkte: in i sind die von der Auswertungssituation
determinierten
Aspekte
⟨i1,...,in⟩ aufgelistet, i’ umfaßt die indexikalisc hen Aspekte ⟨i’1,...,i’n⟩ der Äußerungssituation, und c besteht aus den rein kontextuellen Aspekten ⟨c1,...,cm⟩ derselben. Bei
dieser Aufspaltung der Referenzpunkte erge-
9. Kontextabhängigkeit
ben sic h diverse Diagonalen und dementsprec hend versc hiedene Möglic hkeiten, Diagonaloperatoren zu definieren. Zunäc hst einmal
gibt es natürlic h nac h wie vor den dthat-Operator, der am aufgespaltenen Referenzpunkt
⟨i,i’,c⟩ die Extension an ⟨i’,i’,c⟩ liefert. Doc h
daneben kann man noc h für jeden indexikalisc hen Parameter j die entsprec hende kleine
Diagonale δj betrac hten, die aus den Punkten
(bzw. Listen) besteht, für die ij = i’j, bei denen
also Auswertungs- und Äußerungssituation
im Aspekt j übereinstimmen. Für jede solc he
kleine Diagonale gibt es dann entsprec hende
Operatoren, die die Auswertung vom vorgegebenen Referenzpunkt ⟨i,i’,c⟩ auf den entsprec henden δj-Punkt versc hieben — und
zwar entweder (in waagerec hter, zulässiger
c
Ri htung)
auf
⟨⟨i1,...,i’j,...,in⟩,i’,c⟩
oder
(senkre
c ht
und
ungeheuerli
c h)
auf
⟨i,⟨i’1,...,ij,...,i’n⟩,c⟩. Während also durc h Anwendung von dthat ein komplexer absoluter
Ausdruc k wie am Ort und zur Zeit auf hier
und jetzt hinausläuft, vermag eine (kleine)
Orts-Diagonalisierung die Bezüge auf die
Äußerungssituation feiner zu differenzieren;
das Ergebnis käme inhaltlic h dem Ausdruc k
hier und zur Zeit gleic h. Ein weniger gekünsteltes Beispiel ist die waagerec hte Weltenversc hiebung, also das auf den Weltenparameter
eingesc hränkte dthat. Sein Effekt auf Sätze
entspric ht in etwa einer Modifikation durc h
das Satzadverb tatsächlich. Man beac hte übrigens, daß Versc hiebungen vermittels kleiner
Diagonalisierungen im allgemeinen auf unstimmige Aspektlisten führen.
Die in c enthaltenen ec ht kontextuellen
Aspekte entbehren offensic htlic h jeder Möglic hkeit zur Diagonalisierung. Daraus folgt,
daß sic h deiktisc he Wörter im Rahmen
der Kontext-Index-Variante der klassisc hen
Theorie im allgemeinen nic ht nac h der gegen
Ende von Absc hnitt 1.3 angedeuteten Methode durc h waagerec hte Diagonalisierung
entspre
c hender
absoluter
Ums
c hreibungen
gewinnen lassen. Der tiefere Grund dafür liegt
in dem untersc hiedlic hen Spezifikationsgrad
von Kontext und Index. Durc h Streic hung
der rein kontextuellen Aspekte können z. B.
zwei sic h im Sprec her untersc heidende Kontexte c und c’ zusammenfallen: Sprec her(c ) ≠
Sprec her(c’), aber i(c) = i(c’). Damit entspric ht dem Index i(c) ein s, das mehrere
Äußerungen versc hiedener Sprec her enthält.
Wegen dieser ‘Überbesetzung’ der Sprec herRolle führt von i(c) kein Weg zurüc k zum
Sprec her von c: die Auswertung der Umsc hreibung der Sprecher liefert an i(c) kein
175
eindeutiges Resultat. Die klassisc he Theorie
vermeidet dieses Problem, weil sie auc h die
lokaleren, c und c’ determinierenden Äußerungssituationen als Auswertungssituationen
zuläßt. Diese Unums
c hreibbarkeit einiger
deiktisc her Ausdrüc ke läßt sic h offenbar nur
dann vermeiden, wenn kontextuelle und indexikalisc he Parameter zusammenfallen. Dies
läßt sic h dadurc h erzwingen, daß man einfac h
jeden kontextuellen Parameter für indexikalisc h erklärt und jeden aufgespaltenen Referenzpunkt ⟨⟨i1,...,in⟩, ⟨i’1,...,i’n⟩, ⟨c1,...,cm⟩⟩
c
dur h
das
längere
⟨⟨i1,...,in,c1,...,cm⟩,
⟨i’1,...,i’n,c1,...,cm⟩,∅⟩ ersetzt. (∅ ist die leere
Liste.) Wir bezeic hnen diese künstlic he Aufblähung der Indizes und Referenzpunkte als
Quadratur, weil sie die Charaktertabellen in
eine quadratisc he Form bringt. In Absc hnitt
2.5 kommen wir darauf zurück.
Aus der Aspektlisten-Sic ht lassen sic h
außer den großen und kleinen Diagonalisierungen auc h noc h mittelsc hwere Operatoren
definieren, die simultane Vers
c hiebungen
mehrerer, aber nic ht aller Aspekte auf die
Diagonale bewirken. In der Praxis kann man
diese sehr umständlic h zu definierenden Operatoren immer meiden, indem man z. B. mehrere Aspekte zu einem neuen vereinigt.
Die in Absc hnitt 2.2 skizzierte Tec hnik der
Extensionalisierung läßt sic h auc h auf Systeme der zweidimensionalen Modallogik anwenden. Man erhält dann eine zweisortige
Logik, deren Ausdrüc ke die Eigentümlic hkeit
aufweisen, daß in ihnen höc hstens zwei (bestimmte) Variablen der Sorte ‘Situation’ frei
vorkommen dürfen. Und die Diagonaloperatoren entpuppen sic h dann als spezielle Ersetzungsoperatoren, also solche, die alle freien
Vorkommen einer (bestimmten) Variablen
durc h solc he einer anderen Variablen ersetzen. Der waagere
c hten Diagonalisierung
durc h dthat entspric ht z. B. ein Operator
DTHAT, der die Situationsvariable s bindet
und sic h mit beliebigen Ausdrüc ken α verbindet; die Extension von (DTHAT s) α hängt
dann von der Variablenbelegung g ab und ist
dieselbe wie die von α an der Belegung g’, die
wiederum so ist wie g, außer daß sie für die
Variable s als Wert g(s0) liefert. Danac h hat
(DTHAT s) α stets dieselbe Extension wie das
durc h Ersetzung aller freien Vorkommen von
s durc h s0 aus a hervorgehende α[s/s0]. In der
Aspektlisten-Variante bewirkt DTHAT entsprec hend eine Ersetzung der indexikalisc hen
Variablen durc h ihre kontextuellen Gegenstüc ke: aus der Auswertungswelt wird die
Realität, die Zeit wird zum Jetzt etc . Per Ana-
176
logie könnte man jetzt erwarten, daß α[s0/s]
einer senkre
c hten Diagonalisierung entspric ht. Das stimmt jedoc h nur ungefähr: das
ursprünglic he a kann nämlic h Bedingungen
enthalten, die wesentlic h voraussetzen, daß
sic h die Variable s0 auf eine Äußerungssituation bezieht — etwa wenn in a vom Sprec her
in s0 die Rede ist. Beim Übergang zu α[s0/s]
mac hen diese Bedingungen dann nic ht mehr
für jede Belegung von s einen Sinn; α[s0/s]
definiert also nur eine partielle Funktion.
Doc h jede Ausweitung dieser Funktion auf
den gesamten Bereic h der Auswertungssituationen ist eine Diagonalisierung im Sinne der
obigen Festlegung.
In der Extensionalisierung zeigt sic h übrigens eine elementare logisc he Eigensc haft, die
allen Diagonalisierungen — ob groß, ob klein
oder mittelsc hwer — gemeinsam ist: indem
sie alle von irgendwelc hen situationellen
Aspekten abstrahieren, mac hen sie dieselben
überflüssig. Das soll heißen, daß ein Ausdruc k, dessen Extension von einem gewissen
Aspekt abhängt, diese Abhängigkeit durc h
Diagonalisierung verlieren kann. In gewisser
Weise haben wir diesen Effekt bereits kennengelernt: das in Absc hnitt 1.2 eingeführte Prinzip (D) läuft mit seiner Einsetzung der Äußerungs- für die Auswertungssituation auf eine
waagerec hte Diagonalisierung, also ein unsic htbares dthat, hinaus und bewirkt so eine
Unabhängigkeit der Extension von der Auswertungssituation — womit letztere für den
Extensionsbegriff (und speziell auc h für die
Wahrheit) entbehrlic h wird. In Absc hnitt 2.5
werden wir uns diesen Abstraktions-Effekt
der senkre
c hten Diagonalisierung zunutze
machen.
2.4 Tokenanalyse
Die klassisc he Theorie geht in der in Teil 1
dargestellten Form davon aus, daß die Äußerungssituation die Extension eines deiktisc hen
Wortes wie du jeweils eindeutig festlegt. Oft
sc heint dies aber gar nic ht der Fall zu sein.
Betrac hten wir z. B. einmal eine für den Kindergartenalltag typisc he Auseinandersetzung
zwisc hen Alain und Fabian, bei der (absolut
gleic hzeitig) die folgenden Vorwürfe zu hören
sind:
(17) Du hast mein schönes Haus kaputt gemacht.
(18) Du hast meinen Flitzer versteckt.
Es ist offenbar unsinnig, von einer solc hen
Situation zu behaupten, sie determiniere eindeutig einen Referenten für das Wort du: in
IV. Kontexttheorie
Alains Äußerung von (17) bezieht sic h die
Anrede auf Fabian, der im selben Moment
mit seiner Äußerung desselben Pronomens
seinen Freund Alain anspric ht. Die ganze
Szene ist allerdings in dem Sinne vielleic ht gar
keine Äußerungssituation, als in ihr mehr als
eine Äußerung stattfindet und wir bisher (zumindest implizit) immer davon ausgegangen
waren, daß sic h Äußerungssituationen gerade
dadurc h auszeic hnen, daß in ihnen genau eine
sprac hlic he Äußerung stattfindet. Man kann
nun vielleic ht die beiden Äußerungen von (17)
und (18) in versc hiedenen Situationsausschnitten ansiedeln: Fabians Äußerung findet danac h in einem anderen Aussc hnitt derselben
Situation statt als Alains, und die jeweiligen
Charaktere werden dann als Funktionen über
diesen Auss
c hnitten definiert. Allerdings
funktioniert diese Strategie nic ht immer so
glatt. Die gerade betrac htete Situation könnte
nämlic h etwa durc h den klärenden Auftritt
der Erzieherin Doris bereic hert werden, die
im Verlaufe ihrer Äußerung von (19) zunäc hst
auf Fabian und anschließend auf Alain zeigt:
(19) Während du das Haus wieder aufbaust,
kannst du ja den Flitzer holen.
Auc h hier besitzt du offensic htlic h zwei Extensionen, nämlic h dieselben wie in den vorher betrac hteten Äußerungen von (17) und
(18). Wollte man nun die beiden Teiläußerungen deshalb an versc hiedenen Situationsaussc hnitten a und a’ auswerten, bräuc hte man
noc h zusätzlic he (der klassisc hen Theorie eher
fremde) Prinzipien zur Deutung komplexer
Ausdrüc ke. Denn was immer der relevante
Situationsaussc hnitt für den Gesamtsatz (19)
sein soll — er kann nic ht sowohl mit a als
auch mit a’ zusammenfallen.
Beispiele wie (17)—(19) legen den Verdac ht nahe, daß die kleinsten deutungsrelevanten Situationsaussc hnitte aus Äußerungen
einzelner Wörter bestehen; man kann sie sogar mit solc hen Wortäußerungen identifizieren. Was aber sind (Wort-) Äußerungen? Eine
naheliegende und üblic he Antwort auf diese
Frage lautet: Äußerungen bestehen aus Ausdrüc ken und (Äußerungs-) Situationen. Dieser Äußerungsbegriff nützt uns hier allerdings
nic ht viel, weil er gerade in den eben diskutierten Fällen nic ht anwendbar ist: hier gab
es ja pro Situation mehr als eine Äußerung
von du. Eine Alternative ergibt sic h, wenn
man die bisher als Grundeinheiten fungierenden sprac hlic hen Ausdrüc ke als (disjunkte)
Klassen von Äußerungen, ihren Realisierungen oder Token, auffaßt. Danac h wären etwa
9. Kontextabhängigkeit
die vier in den obigen Kindergarten-Situationen geäußerten Anreden d1 — d4 allesamt
Realisierungen desselben Wortes: {d1,d2,d3,d4}
⊂ du. Die untersc hiedlic hen Extensionen ließen sic h dann dadurc h erklären, daß der Charakter χdu jedem dieser vier Token einen eigenen Wert zuordnet. Charaktere wären nac h
dieser Auffassung Funktionen, die jeder Realisierung (d. h. jedem Element) eines Ausdrucks eine Intension zuweisen.
In diesem Sinne lassen sic h alle bisher eingeführten
lexikalis
c hen
Bedeutungsregeln
leic ht modifizieren. Für absolute Lexeme ändert sic h dadurc h nic ht viel; die Unabhängigkeit der Extension von der Äußerungssituation wird lediglic h durc h eine Unabhängigkeit
vom Token ersetzt. Aber auc h bei direkt referentiellen Wörtern bereitet diese neue Betrac htungsweise keine Sc hwierigkeiten. So
läßt sic h z. B. χich (I)(s) als Produzentin des
Tokens I ∈ ich c harakterisieren, χheute(D)(s) ist
der Tag, an dem die Äußerung D (∈ du) stattfindet, usw. Dabei ist s immer eine beliebige
(Auswertungs-) Situation; auf der Intensionsebene bleibt also alles beim Alten.
Da Bedeutungsregeln für deiktisc he Wörter
(nac h dieser Auffassung) auf die Realisierungen derselben Bezug nehmen, werden diese
Wörter auc h als tokenreflexiv bezeic hnet. Die
diskutierte Ersetzung von Äußerungssituationen durc h Äußerungen läuft also auf eine
Analyse der Deixis als Tokenreflexivität
(kurz: Tokenanalyse) hinaus. Daß die Tokenanalyse keine triviale Variation der klassisc hen Theorie ist, wird deutlic h, wenn man
von lexikalisc hen zu komplexen Ausdrüc ken
übergeht. Wie wir bereits im Zusammenhang
mit (19) gesehen haben, benötigt man dafür
eine zusätzlic he Theorie-Komponente, die
den Zusammenhang zwisc hen versc hiedenen
Teiläußerungen herstellt. Theorien dieser Art
zeic hnen sic h in der Regel durc h ein großes
Mißverhältnis zwisc hen begrifflic her Komplexität und Erkenntnisgewinn aus; wir werden
uns diesen Teil der Tokenanalyse deshalb ersparen.
Es fällt auf, daß auc h bei der Tokenanalyse
die Extensionen immer nur von bestimmten
Eigensc haften oder Aspekten des Tokens abhängen. Um dem Rec hnung zu tragen, kann
man nac h dem Vorbild des Absc hnitts 2.1
Aspekte von Realisierungen definieren und
Charaktere auf den entsprec henden Aspektlisten operieren lassen; auc h hier gibt es dann
die Möglic hkeit einer Theorie-Erweiterung
dur
c h Hinzunahme unstimmiger Aspektlisten. Die in Absc hnitt 2.2 besc hriebene Tec h-
177
nik der Extensionalisierung läßt sic h ebenfalls
mit der Tokenanalyse kombinieren. In diesem
Fall benötigt man allerdings eine weitere
Sorte von Variablen für Realisierungen
sprac hlic her Ausdrüc ke, was man als Indiz
dafür werten kann, daß die Parallelität zur
klassisc hen Theorie doc h rec ht oberfläc hlic h
ist. Während nämlic h nac h klassisc her Auffassung die Äußerungssituationen einen Teil
der Gesamtheit aller Auswertungssituationen
ausmac hen, verlangt die Tokenanalyse zwei
unabhängige Sorten von Variablen für Realisierungen und Situationen. Insbesondere
sind alle mit dem Begriff der Diagonalen —
und somit auc h die aus der zweisortigen Modallogik entlehnten — Betrac htungen nic ht
ohne weiteres auf die Tokenanalyse übertragbar; dasselbe gilt für die in Absc hnitt 2.1
gemac hte Annahme, indexikalisc he Aspekte
seien zugleic h auc h immer kontextuell. (Auf
einen weiteren substantiellen Unters
c hied
zwisc hen der klassisc hen Theorie und der Tokenanalyse werden wir in Absc hnitt 2.5 hinweisen.)
Angesic hts dieser durc h die Tokenanalyse
eingebrac hten theoretisc hen Komplikationen
und ihrer (teilweise noc h zu demonstrierenden) Defizite stellt sic h die Frage, ob sic h die
Vorzüge der klassisc hen Theorie nic ht doc h
irgendwie mit einer (nic ht allzu komplexen
oder künstlic hen) Lösung der mit (17)—(19)
angesproc henen Probleme vereinbaren lassen.
Dies ist in der Tat der Fall. Denn die klassisc he Theorie läßt sic h als Spezialfall einer
geeignet formulierten Tokenanalyse auffassen. Zunäc hst kann man sehen, daß die Tokenanalyse für die Mehrzahl der diskutierten
Beispiele in dem Sinne zu fein ist, als bei ihnen
eine Differenzierung nac h versc hiedenen Realisierungen desselben Ausdruc ks nic ht nötig
ist: die betra
c hteten Äußerungssituationen
waren meist so gewählt, daß sie die Extensionen der in ihnen geäußerten deiktisc hen Wörter eindeutig festlegten. Solc he Äußerungssituationen bezeic hnen wir als homogen. Der
klassisc hen Theorie (in der in Teil 1 dargestellten Form) liegt die Idealisierung zugrunde, alle Äußerungssituationen seien homogen. Wenn es nun gelingt, diesen Homogenitätsbegriff im Rahmen der Tokenalyse zu
rekonstruieren, dann sollte eine Besc hränkung auf homogene Äußerungssituationen
gerade auf die klassisc he Theorie hinauslaufen. Eine begrifflic he Zurüc kführung der homogenen Äußerungssituationen auf Token
setzt nun allerdings voraus, daß der Zusammenhang zwisc hen Realisierungen komplexer
178
Ausdrüc ke und denen ihrer Teile bereits präzisiert ist. Unter dieser Voraussetzung kann
man eine homogene Äußerungssituation als
eine Äußerung a eines komplexen Ausdruc ks
auffassen, für dessen Teilausdrüc ke β stets
gilt: wenn die Realisierungen b und b’ von β
Teile von a sind, so sind b und b’ intensionsgleic h. Die restlic he Rekonstruktion der klassisc hen Theorie im Rahmen der Tokenanalyse
ist eine mühselige Arbeit am Begriff.
Eine ganz andere Möglic hkeit der Rettung
der klassisc hen Theorie basiert auf der Beobac htung, daß Inhomogenität versc hiedene
Ursac hen haben kann. Einmal kann sie wie
in (17) und (18) auftreten, wenn in einer gegebenen Situation mehr als eine Gesamtäußerung eines Satzes, Textes etc . vorliegt. In
diesem Fall kann man die Situation in mehrere Situationsaussc hnitte aufspalten, mit denen man dann jeweils klassisc h verfährt.
Diese Aufspaltung mag in manc hen Fällen
künstlic h ersc heinen, ist aber offenbar immer
möglic h und erspart eine Tokenanalyse. Die
zweite Art der Inhomogenität wird durc h (19)
vertreten: hier liegt eine mehrfac he Realisierung eines deiktisc hen Lexems innerhalb derselben Gesamtäußerung vor. Nun ist zunäc hst
einmal festzustellen, daß diese Art der Inhomogenität nic ht von jedem deiktisc hen Wort
hervorgerufen werden kann. Wenn z. B. (20)
als Satz geäußert wird, referieren die beiden
Vorkommen von ich niemals auf versc hiedene
Personen:
(20) Wenn ich noch ein Bier trinke, kann ich
nicht mehr fahren.
Hier hilft auch kein Gestikulieren wie im Falle
von du: ich bezieht sic h jeweils auf den Produzenten der Äußerung von (20). Deiktisc he
Wörter, bei denen Gesten etwas ausric hten
können, heißen auc h Demonstrativa. Der
Tric k ist nun der folgende: für Demonstrativa
läßt sic h ein kontextueller Parameter annehmen, der das Problem der Extensionsfindung
auf eine begleitende Zeigehandlung verweist;
nic ht das Token ist aussc hlaggebend, sondern
die Demonstration. (Natürlic h bedarf es dann
noc h einer Sonderregelung für die vielen
Fälle, in denen die Zeigehandlung weggelassen wird.) Es sollte klar sein, daß diese Methode zur Darstellung inhomogener Äußerungssituationen die vom klassisc hen Standpunkt aus einfac hste ist. (Weiteres über Demonstrativa in Abschnitt 3.2.)
2.5 Erkenntnistheoretische Umdeutung
Dieser letzte Absc hnitt fällt insofern etwas aus
dem thematisc hen Rahmen, als die gleic h zu
IV. Kontexttheorie
eröffnenden
philosophis
c hen
Perspektiven
strenggnommen nic ht die Semantik der natürlic hen Sprac he betreffen; andererseits passen sie gerade deshalb hierher, denn sie zeigen,
daß der Anwendungsbereic h der klassisc hen
Theorie weit über die deskriptive Semantik
hinausgeht. Ähnlic h wie die Russellsc he
Kennzeic hnungstheorie [vgl. dazu Artikel 22]
oder die Davidsonsc he Adverbialsemantik [s.
Artikel 36] läßt sic h nämlic h auc h die Kaplansc he Theorie der Kontextabhängigkeit
zur Darstellung und Untermauerung bestimmter philosophisc her Thesen und Positionen heranziehen. Diese philosophisc he Dimension mac ht einen Großteil der ursprünglic hen Motivation hinter dem Begriffsapparat
dieses Kapitels aus, und ihr Studium trägt auf
jeden Fall zu dessen besserem Verständnis bei.
Darüberhinaus spielen einige der in diesem
Zusammenhang zu diskutierenden Beispiele
und Analysen durc haus eine wic htige Rolle
in der linguistisc hen Anwendung der klassisc hen Theorie; doc h darüber wird erst in Abschnitt 4.2 zu reden sein.
Als Einstieg mag eine Rüc kbesinnung auf
die Einführung des Intensionsbegriffs in Absc hnitt 1.1 dienen. Dort haben wir gesagt,
daß man sic h die Intension eines Ausdruc ks
im wesentlic hen als eine Methode zur Bestimmung seiner Extension vorstellen kann: angewandt auf eine beliebig vorgegebene Situation oder Tatsac henkonstellation liefert die
Intension die jeweilige Extension. Im Falle
eines Satzes ist die Extension ein Wahrheitswert, womit die Intension — in diesem Falle
auc h Proposition genannt — als eine Menge
von
(Auswertungs-)Situationen
aufgefaßt
werden kann. Solc he Mengen möglic her Tatsac henkonstellationen lassen sic h wiederum
in naheliegender Weise als Informationen verstehen: eine Menge entspric ht der Information, daß alle ihre Elemente in dem Sinne
möglic h sind, daß ihr Bestehen nic ht ausgesc hlossen werden kann, daß also die Wirklic hkeit zu ihr gehört. (Genauere Ausführungen zu dieser Betrac htungsweise findet man
in Artikel 2.) Damit liegt nun der Verdac ht
nahe, daß die durc h einen Satz (in einer Äußerungssituation) ausgedrüc kte Proposition —
also seine Intension — gerade die durc h ihn
übermittelte Information ist. Halten wir dies
in Form einer Hypothese fest:
(F) Der Informationsgehalt eines Satzes ist
seine Intension.
Ein Großteil dieses Absc hnittes wird der Widerlegung und Modifikation der Hypothese
(F) gewidmet sein; danac h werden wir uns
9. Kontextabhängigkeit
endlic h den philosophisc hen Implikationen
zuwenden.
Um besser zu verstehen, wie (F) überhaupt
gemeint ist, ist es nützlic h, einige naheliegende, hier aber nic ht intendierte Interpretationen dieser Hypothese zu verwerfen. Mit
(F) ist z. B. nic ht gemeint, daß ein (in einer
bestimmten Situation geäußerter) Satz der
Hörersc haft genau die durc h ihn ausgedrüc kte Proposition als Information übermittelt. Welc he Information tatsäc hlic h übermittelt wird, hängt von vielerlei, insbesondere
auc h pragmatisc hen Faktoren ab, die uns hier
nic ht weiter interessieren: die Äußerung kann
z. B. ironisc h gemeint sein und im wesentlic hen nur Informationen über die Einstellung
des Sprec hers vermitteln; sie kann — etwa in
einer Prüfung — die Wohlinformiertheit des
Sprec hers oder — bei einer Parlamentsrede
— dessen Sc hlagfertigkeit unter Beweis stellen
und insofern sehr aufsc hlußreic h sein; sie
kann zeigen, ob es sic h bei der Sprec herin um
eine Muttersprac hlerin handelt usw. In all
diesen Fällen wird jedoc h die im engeren
Sinne vom Satz übermittelte Information
durc h andere, die Äußerung begleitende Umstände ergänzt oder überlagert. Doc h nur um
erstere geht es in (F): um die gemäß der wörtlichen Bedeutung des betreffenden Satzes
übermittelte Information. [Siehe Artikel 3.]
Selbst wenn man sic h strikt an die wörtlic he Bedeutung hält, ist (F) nic ht ganz eindeutig. Denn was ein Satz im wahrsten Sinne des
Wortes in einer Äußerungssituation besagt,
kann für die Hörersc haft je nac h deren Vorwissen mehr oder weniger informativ sein. Die
korrekte Antwort auf eine Frage im mündlic hen Staatsexamen sollte dem Prüfer bekannt
sein, dem ministeriellen Beisitzer vermittelt sie
vielleic ht neue Erkenntnisse: in diesem Sinne
ist ihr Informationsgehalt stark hörerabhängig. Doc h darum geht es nic ht. Wir werden
idealerweise von solc hen Untersc hieden in der
Informiertheit abstrahieren und für die Diskussion des Prinzips (F) keinerlei Voraussetzungen über den Informationsstand der Kommunikationsteilnehmer mac hen. Insofern interessieren wir uns hier nur für den maximalen
Informationsgehalt eines Satzes — also diejenige Information, die er bei wörtlic her Interpretation einer gänzlic h desinformierten
und desorientierten Hörersc haft übermitteln
würde. Es ist natürlic h fraglic h, ob man dieser
Art von Hörersc haft überhaupt irgendwelc he
Informationen übermitteln kann; doc h soll
uns diese rein heuristisc he Idealisierung nic ht
bis in die letzten Verästelungen des Details
179
interessieren.
Nac h diesen Vorklärungen sind wir in der
Lage, die Hypothese (F) anhand einiger Beispiele zu überprüfen. (F) fällt j a nic ht vom
Himmel, und so erstaunt es wenig, daß sic h
dieses Prinzip bei vielen Beispielen gar nic ht
schlecht ausnimmt. So etwa bei:
(21) Tom pennt.
Der Einfac hheit halber nehmen wir an, daß
es sic h bei (21) um einen absoluten Satz handelt, dessen Intension p also nic ht von der
Äußerungssituation abhängt; p besteht also
aus den Situationen, in denen der Referent
des Eigennamens Tom der durc h das Prädikat
pennt bezeic hneten Tätigkeit nac hgeht. Nac h
(F) besteht dann der Informationsgehalt von
(21) gerade in dieser als Information verstandenen singulären Proposition p: wer über
keine weiteren Informationen außer p verfügt,
weiß damit nur, daß nic ht ausgesc hlossen werden kann, daß Tom sc hläft. Dies ist offenbar
eine korrekte Aussage über den maximalen
Informationsgehalt der wörtlic hen Interpretation von (21).
Betrac hten wir als näc hstes einen Satz, der
in versc hiedenen Äußerungssituationen verschiedene Propositionen ausdrücken kann:
(22) Ich bin müde.
Um (F) zu testen, benötigen wir zumindest
eine Information über die Äußerungssituation: wir müssen wissen, wer (22) äußert. Nehmen wir also an, es handele sic h um Tom.
Dann drüc kt (22) im wesentlic hen die Propostion aus, die aus allen Situationen besteht,
in denen Tom müde ist. Was den Informationsgehalt angeht, so hätte Tom also ebensogut (22′) äußern können:
(22′) Tom ist müde.
Dabei setzen wir voraus, daß Tom ein Standardname ist — ein Name, der sic h per
sprac hlic her Konvention direkt und absolut
auf Tom bezieht. Diese Voraussetzung ist
nic ht ganz unproblematisc h (siehe Absc hnitt
1.3). Doc h dient (22′) hier lediglic h der Illustration einer Inadäquatheit von (F): nac h (F)
ist der Informationsgehalt einer Äußerung
von (22) durc h Tom gleic h dem Informationsgehalt, den (22′) hätte, wenn man Tom als
Standardnamen versteht.
Natürlic h ist eine Äußerung von (22′) aus
Toms Mund etwas befremdlic h oder allenfalls
babyhaft. Doc h könnte man — und sei es nur
zur Aufrec hterhaltung von (F) — annehmen,
daß der Grund für diese Abweic hung stilisti-
180
sc her oder pragmatisc her, nic ht jedoc h semantisc her Natur ist: (22) und (22′) besagen
zwar in dieser Situation dasselbe, ihr Informationsgehalt ist damit nac h (F) auc h gleic h,
aber sie unterliegen untersc hiedlic hen Gebrauc hsbedingungen, die dafür sorgen, daß
(22′) einigermaßen inakzeptabel ist. (F)
scheint damit fürs erste gerettet.
Ganz so einfac h ist es nic ht. Denn (22) und
(22′) übermitteln nur dem dieselbe Information, der über die Identität des Sprec hers informiert ist, der also weiß, daß sic h der Name
Tom auf den Sprec her von (22) bezieht. Dieses
Wissen ist aber keine notwendige Vorbedingung für das Verständnis der beiden Sätze:
(F) verlangt hier offensic htlic h zu viel vom
Hörer. Daß es sic h hierbei nic ht nur um einen
marginalen Sc hönheitsfehler, sondern um eine
substantielle Inadäquatheit der Hypothese
(F) handelt, sieht man besser, wenn man vom
Sprec her-Parameter auf Beispiele mit anderen
Kontextabhängigkeiten übergeht, bei denen
Desinformiertheit an der Tagesordnung ist:
(23) Morgen ist Nikolaustag.
(23′) Am 6. Dezember 1985 ist Nikolaustag.
In diesem Falle sc heinen stilistisc he Untersc hiede oder Zweifel am Standardnamen-Status des Datums weniger angebrac ht als bei
den vorherigen Beispielen. Bei einer Äußerung von (23) am 5. 12. 1985 wird aber im
allgemeinen eine andere Information übermittelt als durc h eine Äußerung von (23′). In
unsererm Kulturkreis ist die in (23) enthaltene
Information für die Eltern kleiner Kinder ungleic h wic htiger als der relativ banale Inhalt
von (23′): erstere könnte sie zu einem PanikKauf von Äpfeln, Nüssen und Mandelkernen
veranlassen, während letztere in der Regel ihr
Verhalten kaum beeinflussen dürfte. Dieser
banale Inhalt von (23′) — daß am 6. 12. 1985
der Nikolaus kommt — ist aber gerade die
durc h beide Sätze am 5. 12. 1988 ausgedrüc kte (singuläre) Proposition μ23. (23)
sc heint aber darüberhinaus noc h mehr zu besagen. Und dieses Mehr an Information, dieser Untersc hied im Informationsgehalt zwisc hen (23) und (23′), wird von (F) nic ht erfaßt.
Worin besteht nun eigentlic h die Information, die (23) gegenüber (23′) so interessant
ersc heinen läßt? Und was mac ht sie so interessant? Der Untersc hied zwisc hen den beiden
Sätzen hat offenbar etwas damit zu tun, daß
die von beiden ausgedrüc kte Proposition
durc h (23) unmittelbar in Beziehung zur
Äußerungssituation gesetzt wird und gerade
deshalb einen Einfluß auf das Verhalten der
IV. Kontexttheorie
Informierten ausüben kann. Diese Unmittelbarkeit der Information geht (23′) ab: was
dieser Satz besagt, ist sommers wie winters
dasselbe (nämlic h μ23) und hilft vor allem
denen nic ht weiter, denen das Datum der
Äußerung nic ht gegenwärtig ist, die also die
Äußerung zeitlic h nic ht genau genug lokalisieren können. In (23) wird das Kommen des
Nikolaus aus der Äußerungssituation heraus,
also vom Standort des Sprec hers aus, besc hrieben und insofern mit sprac hlic hen Mitteln lokalisiert; die Besc hreibung in (23′) entbehrt dieser Perspektive. Diese zusätzlic he lokalisierende Dimension im Informationsgehalt ist nun offenkundig ein Effekt der Variabilität der Intension von (23), die wiederum
auf die direkte Referentialität des Temporaladverbs morgen zurüc kgeführt werden kann,
das dazu beiträgt, den der Äußerungszeit folgenden Tag — und insofern auc h die Äußerungszeit selbst — relativ zum Nikolaustag
zu lokalisieren. Während also (23′) lediglic h
eine absolute Information μ23 über die Besc haffenheit der Welt liefert, setzt (23) dieselbe
Information zum Standort des Sprec hers in
Beziehung. Dieser Untersc hied in der Perspektive, aus der die durc h die beiden Sätze
ausgedrüc kte Proposition präsentiert wird,
wird in (F) übergangen.
Eine Modifikation von (F) muß also die
durc h möglic he deiktisc he Teilausdrüc ke eingeführte Perspektive der übermittelten Information berüc ksic htigen. Eine sic h aus diesen
Betrac htungen nahelegende Verbesserung von
(F) besteht somit in einer Differenzierung des
Informationsgehalts in einen absoluten, von
der Intension beigesteuerten Teil und die
durc h den Charakter verliehene lokalisierende
Perspektive. In dem soeben diskutierten Beispiel ergibt sic h dann für (23) einerseits die
auc h durc h (23′) ausgedrüc kte Information
μ23 und andererseits die lokalisierende Information ε23, daß der Nikolaustag dem Tag der
Äußerung folgt, d. h. die Menge der Situationen s, die sic h an einem 5. Dezember abspielen. Diese Proposition ε23 ergibt sic h wiederum einfac h aus dem Charakter χ23 von
(23) durc h Einsetzung der Auswertungssituation s für die Äußerungssituation so: χ23 liefert
ja für den Referenzpunkt ⟨so,s⟩ gerade dann
den Wahrheitswert 1, wenn am Tag nac h so
(in s) der Nikolaus kommt. Nac h einer am
Sc hluß von Absc hnitt 2.3 gemac hten Beobac htung ergibt sic h somit ε23 aus χ23 durc h
senkrec hte Diagonalisierung. Wir erhalten
damit die folgende Modifikation von (F):
9. Kontextabhängigkeit
(S) Der Informationsgehalt eines Satzes besteht aus zwei Komponenten:
a) seiner perspektivelosen Intension und
b) einer durch senkrechte Diagonalisierung seines Charakters kodierten Lokalisierung.
Man beac hte, daß die Monstrosität der senkrec hten Diagonalisierungen an dieser Stelle
keine Rolle spielt: (S) dient ja nic ht der Interpretation einer bestimmten syntaktisc hen
Konstruktion.
Mit (S) wird klar, warum man in Beispielen
wie (23′) keine Zweiteilung der Information
findet: bei absoluten Ausdrüc ken läuft die
Diagonalisierung leer — ihr Charakter kann
ja unabhängig von der Äußerungssituation
besc hrieben werden, womit diese auc h nic ht
durc h die Auswertungssituation ersetzt werden kann: ε23’ = μ23’ (= μ23).
Wir haben in Absc hnitt 2.3 festgestellt, daß
senkrec hte Diagonalisierungen nic ht in jeder
Referenztheorie möglic h sind. (S) mac ht nur
für die klassisc he Theorie aus Teil 1 sowie für
die in Absc hnitt 2.3 skizzierte Quadratur der
Parametrisierung Sinn. Will man ein zu (S)
analoges Prinzip im Rahmen der nic htquadratis
c hen Parametrisierung aus Abs
c hnitt
2.1 formulieren, so muß man berüc ksic htigen,
daß die ansonsten durc h Diagonaliserung erhältlic he Information nic ht in dem Sinne aus
dem Charakter herausdestilliert werden kann,
daß sie — wie das Ergebnis einer senkrec hten
Diagonalisierung — wieder einer Proposition
entspric ht. Wenn einige kontextuelle Aspekte
(nac h dieser Theorie-Variante) unumsc hreibbar sind, sollte man für die lokalisierende
Information also lieber den vollen Charakter
veranschlagen. Wir erhalten damit:
(E) Der Informationsgehalt eines Satzes besteht aus zwei Komponenten:
a) seiner perspektivelosen Intension und
b) einer durch seinen Charakter kodierten Lokalisierung.
Im Untersc hied zu (S) postuliert (E) einen
kategorialen Untersc hied zwisc hen den beiden Informationskomponenten. Der Untersc hied zwisc hen Perspektivelosigkeit und Lokalisierung ist nac h (E) nic ht nur einer des
Inhalts, sondern auc h ein Untersc hied in der
Form der Information: erstere entspric ht
einer Menge von Indizes, während letzterer
ein Charakter, also eine Funktion von Kontexten in Intensionen ist. (S) ist dagegen
durc haus mit der Annahme verträglic h, daß
jede Information propositional ist.
181
Der in (E) für die Kodierung der lokalisierenden Information geforderte volle Charakter ist eigentlic h etwas zu viel des Guten. Das
sieht man am besten anhand einer Extensionalisierung im Stil von Absc hnitt 2.2 ein. Charaktere lassen sic h dann durc h Formeln besc hreiben, die — entsprec hend der Referenzpunkt-Aufspaltung aus Absc hnitt 2.3 — im
wesentlic hen drei Typen von Variablen enthalten: indexikalis
c he, indexikalis
c h-kontextuelle (kurz: mittlere) und rein kontextuelle.
Die Charakterformel für Ich schlafe jetzt enthält beispielsweise eine indexikalisc he Variable
für die Auswertungswelt (wegen der Faktenabhängigkeit der Extension von schlafen),
eine mittlere (von jetzt eingeführte) Variable
für die Äußerungszeit und eine rein kontextuelle Variable für den Sprec her. Welc he (lokalisierende) Information beinhaltet nun der
Charakter χ dieses Satzes? Grob gesproc hen
informiert χ darüber, daß der Sprec her in der
Äußerungswelt zur Äußerungszeit cs hläft.
Insbesondere gibt es also in dieser Hinsic ht
keinen Untersc hied zwisc hen indexikalisc hen
und mittleren Variablen: beide dürfen — dem
Prinzip (D) gemäß — direkt auf die Äußerungssituation bezogen werden. Für die Ermittlung der lokalisierenden Information ist
also die Untersc heidung zwisc hen den Aspekten der Auswertungssituation und den indexikalisc hen Aspekten des Kontexts überflüssig.
(Das äußert sic h übrigens auc h darin, daß das
Wort jetzt in diesem Falle nic ht zur lokalisierenden, wohl aber zur absoluten Information
beiträgt.) Der Charakter χ läßt sic h damit in
(E) insoweit reduzieren, als man (in der extensionalisierten Darstellung) indexikalis
c he
und mittlere Variablen miteinander identifiziert. Von der Formulierung (S) ausgehend
liegt es nun nahe, diese Identifikation durc h
eine senkrec hte Diagonalisierung vorzunehmen und dementsprec hend die mittleren Variablen durc h indexikalisc he zu ersetzten.
Doc h führt natürlic h der umgekehrte Weg
zum selben Ziel: eine Ersetzung der indexikalisc hen Variablen durc h mittlere, also kontextuelle. Das ist aber nic hts anderes als eine
Anwendung des DTHAT-Operators! Natürlic h ist das Ergebnis einer solc hen waagerec hten Diagonalisierung strenggenommen immer
noc h ein Charakter χ’, so daß auf den ersten
Blic k gegenüber (E) nic hts gewonnen sc heint.
Dieser Sc hein trügt aber. Denn das durc h
DTHAT modifizierte χ’ ist direkt referentiell
und läßt sic h daher auf eine Funktion von
Kontexten in Wahrheitswerte oder äquivalenterweise als Menge von Kontexten auffassen.
182
Da ein Kontext nic hts anderes ist als eine nstellige Liste von Aspekten, entspric ht diese
Menge von Kontexten wiederum einer n-stelligen Relation !χ; in unserem Beispiel ist !χ
die Relation, die zwisc hen einem Individuum
x (dem Sprec her), einem Zeitpunkt z und
einer Welt w besteht, wenn x in w zu z schläft.
(E’) Der Informationsgehalt eines Satzes besteht aus zwei Komponenten:
a) seiner perspektivelosen Intension
und
b) einer durch die der waagerechten
Diagonalisierung seines Charakters
entsprechende Relation kodierten
Lokalisierung.
Wir werden zwar im folgenden von der klassisc hen Formulierung (E) ausgehen, dabei
aber diese Reduktion (E’) von χ auf die Relation !χ nic ht ganz aus den Augen verlieren:
in Absc hnitt 4.2 wird sie uns gute Dienste
leisten.
Was hat das nun alles mit Philosophie zu
tun? Der Zusammenhang ergibt sic h aus einer
Verallgemeinerung bzw. Umdeutung einiger
zentraler Begriffe der Referenztheorie. Zunäc hst nehmen wir zur Kenntnis, daß sic h
das Analyse-Instrumentarium der klassisc hen
Theorie ohne große Verrenkungen von der
Besc hreibung öffentlic her Äußerungen auf innere Monologe übertragen läßt. Die Rolle des
Sprec hers wird dann von der den inneren
Monolog führenden Person gespielt — sie ist
ja die intendierte Referentin des Wortes ich
und zählt (in einem in Absc hnitt 3.1 noc h
näher zu untersuc henden Sinn) als Sprecherin
— und statt einer intersubjektiv zugänglic hen
Äußerungssituation mit in der Regel mehreren
Kommunikationsteilnehmern haben wir es lediglic h mit dem inneren Zustand zu tun, in
dem sic h die betreffende Person befindet. Innere Monologe finden allerdings nur sehr selten in dem Sinne statt, daß sic h eine Person
den Wortlaut einer an sie selbst geric hteten
fiktiven Äußerung vergegenwärtigt. In der
Regel begegnet man dieser asozialen Form
von Kommunikation wohl eher in Romanen,
Beric hten und anderen Texten, wo sie als
Kunstgriff angewandt wird, um den Bewußtseinszustand einer Person zu besc hreiben: der
innere Monolog soll auf plastisc he Weise verdeutlic hen, was dem Protagonisten gerade
durc h den Kopf geht. Die sprac hlic he Formulierung steht also für ihren Inhalt als
Denkinhalt oder — allgemeiner — als (momentanen) Bewußtseinsinhalt, der neben dem
Gedankengut auc h Wahrnehmung (und even-
IV. Kontexttheorie
tuell sogar emotional gefärbte Einstellungen)
umfaßt. Aus dem Sprec her wird so ein wahrnehmendes und denkendes Wesen oder —
philosophisc her ausgedrüc kt — ein erkennendes Subjekt; und die Äußerungssituation wird
zum kognitiven (bzw. epistemischen) Zustand.
Das ist die erkenntnistheoretisc he Deutung
der klassischen Theorie.
Es ist nützlic h, sic h an dieser Stelle einige
terminologisc he und inhaltlic he Subtilitäten
einzuprägen. Zunäc hst sollte man sic h den
Untersc hied zwisc hen Bewußtseinsinhalt und
epistemisc hem Zustand klarmac hen. Ersterer
ist abstrakter Natur; es handelt sic h um eine
bestimmte
(perspektivis
c he)
Information.
Prinzipiell — aber wohl nic ht praktisc h — ist
es möglic h, daß die Bewußtseinsinhalte zweier
Personen miteinander identisc h sind. Doc h
befinden sic h diese Personen niemals im selben epistemisc hen Zustand. Denn letzterer ist
die tatsäc hlic he Situation, in der sic h das jeweilige erkennende Subjekt befindet; und
wenn es sic h um zwei versc hiedene Subjekte
handelt, dann hat diese Versc hiedenheit definitionsgemäß einen Untersc hied im epistemisc hen Zustand zur Folge — eben einen
Untersc hied im Subjekts-Aspekt. Der Bewußtseinsinhalt entspric ht also dem subjektiven Bild, das sic h die jeweilige Person von
ihrer Situation, also von ihrem epistemisc hen
Zustand, mac ht. Dazu gehört dann insbesondere eine Lokalisierung von sic h selbst als
Subjekt in Raum, Zeit und Welt. Ob diese
Lokalisierung korrekt ist oder etwa das Subjekt einem Irrtum oder einer Täusc hung unterliegt, hängt dann davon ab, ob der tatsäc hlic he epistemisc he Zustand des Subjekts
mit dem Bewußtseinsinhalt verträglic h ist —
ob also der Charakter für diese Situation eine
in dieser Situation wahre Proposition liefert.
Bei der Bestimmung und Bewertung dieser
Proposition werden die kontextuellen und indexikalisc hen Parameter an der Wirklic hkeit
(und nic ht etwa am subjektiven Bild derselben) ausgewertet.
Wir können diese philosophisc he Interpretation auf einige der oben besproc henen Beispiele anwenden, indem wir diese als innere
Monologe deuten. Wenn sic h Tom (22) sagt
— oder wenn man von Tom zu Rec ht sagen
kann, er sage zu sic h (22) — dann klassifiziert
sic h Tom als müde Person. Das heißt natürlic h nic ht unbedingt, daß Tom sic h damit in
einem (körperlic hen) Zustand von Müdigkeit
befindet: er könnte ja einem Irrtum unterliegen. Es heißt, daß sic h Tom in einem (kognitiven) Zustand des sic h für müde Haltens
9. Kontextabhängigkeit
befindet — ein Zustand, in dem sein Bewußtseinsinhalt dem erkennendem Subjekt
eine bestimmte Eigensc haft (Müdigkeit) zusc hreibt. Damit befindet sic h Tom nic ht notwendigerweise auc h in einem Zustand, in dem
Tom als Individuum diese Eigensc haft zugesc hrieben wird. Dieser subtile Untersc hied
kommt vor allem im Falle einer (in der einsc hlägigen philosophisc hen Literatur deshalb
auc h gerne diskutierten) Identitätskrise zum
Tragen.
(23) ist in dieser Hinsic ht durc hsic htiger.
Wenn (23) in einem von Caroline geführten
inneren Monolog auftauc ht, dann ordnet Caroline ihren momentanen Zustand zeitlic h in
den Tag unmittelbar vor dem Nikolaustag
1985 ein. Selbstverständlic h ist damit nic ht
unbedingt der 5. Dezember angebroc hen; ein
Irrtum ist hier wesentlic h leic hter möglic h als
beim vorhergehenden Beispiel. I n Carolines
Bewußtsein besitzt lediglic h der Tag ihres momentanen Zustandes eine gewisse Eigensc haft
(direkter Vorgänger des Nikolaustages zu
sein). Nehmen wir einmal an, sie irrt sic h
tatsäc hlic h: in Wirklic hkeit haben wir bereits
den 8. Dezember. Heißt das, daß Caroline —
und sei es auc h nur momentan — den 8.
Dezember für den Vorgänger des Nikolaustages hält? Wohl kaum. Oder eben nur: insofern
sie den 8. Dezember als Tag ihres momentanen epistemisc hen Zustands, als Heute, klassifiziert. Im momentanen Weltbild ihres Bewußtseinszustands liegt also der Tag des momentanen Zustands vor dem Nikolaustag;
und in Wirklic hkeit ist der Tag ihres momentanen Zustands der 8. Dezember.
Die Differenz zwisc hen Carolines Perspektive auf den 8. Dezember als Heute und der
Tatsac he, daß es sic h in Wirklic hkeit um den
ac hten Tag des Monats Dezember handelt,
entspric ht natürlic h genau dem zuvor diskutierten Untersc hied zwisc hen lokalisierender
und perspektiveloser Information. Der im inneren Monolog (23) besc hriebene kognitive
Zustand Carolines ist das epistemisc he Analogon zum Charakter in (E) bzw. zur Diagonalisierung desselben in (S). Für den Vergleic h der Carolinesc hen Vorstellungswelt mit
der Wirklic hkeit muß die in (23) gemac hte
Aussage als Aussage über die Wirklic hkeit
gewertet werden. Aus dem Heute der Carolinesc hen Perspektive wird dann der Tag, an
dem sic h der innere Monolog (bzw. die ihm
entsprec hende Überlegung) tatsäc hlic h abspielt — gerade so, wie sonst aus dem Charakter durc h Auffüllung der kontextuellen
Aspekte die Intension wird. Der (möglic her-
183
weise diagonalisierte) Charakter von (23) besc hreibt also, wie Caroline die Welt sieht; die
— sic h am tatsäc hlic hen Zustand Carolines
ergebende — Intension dagegen besc hreibt,
wie die Welt ist. Der Untersc hied zwisc hen
(diagonalisiertem) Charakter und Intension
bzw. der zwisc hen lokalisierender und absoluter Information wird so, in der erkenntnistheoretisc hen Deutung der klassisc hen Theorie, zu einem Untersc hied zwisc hen epistemischer und metaphysischer Perspektive. Hält
man sic h nun an die diagonalisierungsfreie
Variante (E), so ist dieser Untersc hied wieder
kategorialer Natur. Der Bewußtseinsinhalt
des erkennenden Subjekts kann dann prinzipiell nic ht als Information im Sinne des zu
Anfang des gegenwärtigen Absc hnitts thematisierten propositionalen Wissens aufgefaßt werden. Bei der Caroline im Falle des
inneren Monologes vorliegenden Information
χ23 handelt es sic h nic ht nur um eine andere
als die, daß der 8. Dezember 1985 dem Nikolaustag vorangeht (μ23) — es handelt sic h
um einen anderen Typ von Information, nämlic h um lokalisierende Information, um Information aus der Sic ht des Subjekts in seinem momentanen kognitiven Zustand.
Die Alternative (S) ist in dieser Hinsic ht
weniger radikal: nac h ihr ist der Untersc hied
zwisc hen epistemisc her und metaphysisc her
Perspektive rein inhaltlic her Natur. Caroline
befindet sic h zwar nic ht im Besitz der perspektivelosen Information μ23, sie vertraut
aber wohl einer anderen, ebenso propositionalen Information, nämlic h ε23. Heißt das,
daß nac h (S) Carolines Bewußtseinsinhalt jeglic her epistemisc hen Perspektive entbehrt?
Natürlic h nic ht! Die Perspektive ist bei ε23
nur ein Teil des Inhalts: an die Stelle des
kontextuellen Zeit- (bzw. Tages-) Parameters
in χ23 tritt in ε23 die Zeit der Auswertungssituation.
Der Untersc hied zwisc hen lokalisierender
und absoluter Information läßt sic h am eindruc ksvollsten am Grenzfall der Nullinformation oder Trivialität illustrieren. Triviale
Informationen sind solc he, die unter beliebigen Umständen zutreffen, deren Kenntnisnahme also nic hts lehrt. Die in (E) geleistete
Präzisierung der Untersc heidung zwisc hen
Lokalisierung und Perspektivelosigkeit läßt
nun prinzipiell zwei Trivialitätsbegriffe zu:
Trivialität eines Charakters versus Trivialität
einer Proposition. Im Lic hte der erkenntnistheoretis
c hen Umdeutung der klassis
c hen
Theorie entsprec hen diese Begriffe c( um
184
grano salis) zwei alten Bekannten aus der
Philosophie:
Definition:
(a) Eine epistemische Information χ gilt a
priori, falls für beliebige kognitive Situationen s0 gilt:
χ(s0)(s0) = 1.
(b) Eine metaphysische Information p gilt
notwendig, falls für beliebige Situationen
s gilt:
p(s) = 1.
Wir haben diese Begriffe hier im Rahmen der
erkenntnistheoretisc hen Deutung der klassisc hen Theorie gegeben, doc h werden sie häufig auc h direkt für Charaktere und Propositionen im üblic hen Sinne definiert. Den Untersc hied zwisc hen den beiden Begriffen
mac ht man sic h am besten an drei einfac hen
Beispielen klar:
(24) Es regnet oder es regnet nicht.
(25) Ich existiere.
(26) Renatus Cartesius sum.
(24) ist eine Tautologie und insofern — im
Sinne von (D) — in allen Äußerungssituationen wahr. Also gilt χ24 a priori. In einer Äußerungsituation (bzw. relativ zu einem Bewußtseinsinhalt) s0 ist aber die durc h (24) ausgedrüc kte Proposition χ24(s0) ebenfalls trivial:
sie trifft auf eine Situation s zu, falls es in s
regnet oder nic ht regnet. (24) drüc kt somit
immer eine notwendige Wahrheit aus. Die
Untersc heidung zwisc hen a priorisc her und
notwendiger Geltung greift also in diesem
Falle nicht.
Ganz anders bei (25). Wird nämlic h (25)
in einer Situation s0 von einem beliebigen
Individuum geäußert, so existiert diese Person
insbesondere auc h in s0. Also gilt χ25 a priori.
Daran ändert sic h auc h nic hts, wenn man von
der Äußerung zum Denken übergeht und ich
auf das Subjekt desselben bezieht: die Existenz läßt sic h hier mit Hilfe eines altehrwürdigen Desc artesc hen Arguments nac hweisen.
Andererseits sind für jeden Äußerer oder
Denker Situationen s denkbar, in denen er
nic ht existiert. Für solc he s ist aber χ25(s0)(s)
= 0 und somit die durc h (25) ausgedrüc kte
Proposition keine notwendige Wahrheit. Man
beac hte, daß in diesem Falle s0 ≠ s sein muß;
zum Nac hweis der A Priorizität genügte aber
die Wahrheit an allen diagonalen Referenzpunkten. Der Charakter von (25) ist also ein
kontingentes A Priori: χ25 gilt a priori, aber
es gibt Referenzpunkte, an denen sic h der
Wahrheitswert 0 ergibt.
IV. Kontexttheorie
An der Analyse von (25) wird bei näherem
Hinsehen deutlic h, wie man mit Hilfe der
klassisc hen Theorie weitere a priorisc he und
zuglei
c h kontingente Wahrheiten konstruieren kann: geht man von einer extensionalen
Darstellung des Charakters im Stil von Absc hnitt 2.2 aus, so liegt A Priorizität dann
vor, wenn die Einsetzung von s0 für s, also
das Ergebnis der Anwendung des Operators
DTHAT zu einer für Äußerungs- bzw. Erkenntnissituationen s0 allgemeingültigen Aussage führt; Kontingenz wiederum ergibt sic h,
wenn zumindest für eine Belegung von s und
s0 etwas Falsc hes herauskommt. Diese Beobac htung läßt sic h auf eine griffige Formulierung bringen: wenn ein Charakter als Eigensc haft (von Äußerungssituationen), nic ht
aber als Relation (zwisc hen Äußerungs- und
Auswertungssituationen) trivial ist, so liegt
ein kontingentes A Priori vor. (Man beac hte
nebenbei, daß bei Parametrisierung der als
Eigensc haft von Äußerungssituationen aufgefaßte Charakter nic hts anderes ist als die in
(E’) erwähnte, ihm entsprec hende Relation.)
Im vorliegenden Fall ergab sic h der Effekt
durc h eine Interaktion des deiktisc hen Subjekts mit dem absoluten Prädikat: erst die
Ersetzung des Auswertungs-Parameters im
Prädikat läßt die Aussage für Äußerungssituationen trivial werden. Prinzipiell ist jedoc h
auc h A Priorizität möglic h, ohne daß Deixis
vorliegt — wenn nämlic h die durc h den Charakter über die Auswertungssituation gemac hte Aussage für alle Äußerungssituationen trivial ist; und kontingent ist ein solc hes
A Priori dann, wenn diese Trivialität nic ht
auf beliebige Situationen zutrifft. Ein Beispiel
für so ein deixisfreies kontingentes A Priori
ist etwa der Charakter des Satzes Es gibt ein
denkendes Wesen.
Wie nic ht anders zu erwarten, verhält sic h
(26) genau entgegengesetzt zu (25). Denn einerseits kann dieser Satz heutzutage nic ht
mehr
wahrheitsgemäß
geäußert
werden:
χ26(s0)(s0) = 0 für alle (diesseitigen) s0 nac h
dem 11. Februar 1650. Damit gilt (26) auc h
nic ht a priori. Andererseits besteht die mit
einer Äußerung von (26) durc h Desc artes
hö
c hstpersönli
c h
ausgedrü
c kte
Proposition
aus den Situationen s, für die gilt: der Sprec her, also Desc artes, ist mit dem Träger des
(hier wieder als Standardnamen verstandenen) latinisierten Namens Renatus Cartesius,
also mit Desc artes, identisc h. Diese Bedingung wird offensic htlic h von allen s erfüllt.
Desc artes konnte also mit (26) eine notwendige Wahrheit ausdrücken.
9. Kontextabhängigkeit
Wir haben die obige Definition auf dem
Hintergrund der These (E) getroffen. Die Begriffsbildungen sowie die Analyse der Beispiele lassen sic h jedoc h auc h sinngemäß auf
(S) übertragen. Die erkenntnistheoretis
c he
Wendung der klassisc hen Theorie führt somit
auf das aus traditioneller philosophisc her
Sic ht zumindest überrasc hende Ergebnis, daß
A Priori und Notwendigkeit zwei voneinander unabhängige Begriffe sind. Dies ist die
eingangs dieses Abs
c hnittes angekündigte
philosophisc he Implikation der klassisc hen
Theorie.
Die in (a) und (b) definierten Begriffe lassen sic h im Prinzip auf Charaktere beliebiger
Ausdrüc ke (im Gegensatz zu Sätzen) übertragen. Dazu bedarf es lediglic h der Einsic ht,
daß in beiden Fällen eine Invarianz der Extension über gewisse Referenzpunkte hinweg
gefordert wird. Eine natürlic he Verallgemeinerung (a’) des A Priori auf beliebige Charaktere χ ergibt sic h demnac h aus der Bedingung, daß für Äußerungssituationen s0 und s1
stets gilt: χ(s0)(s0) = χ(s1)(s1). Zur Illustration
des A Priori in diesem weiteren Sinne mag
der Charakter der Kennzeic hnung die S prache
dieser Äußerung dienen: jede Äußerung dieses
Ausdruc ks referiert auf das Deutsc he, doc h
ist es in praktisc h jeder Äußerungssituation
zumindest denkbar und insofern (metaphysisc h) möglic h, daß das Gespräc h auf Altisländisc h geführt wird. Die entsprec hende
Verallgemeinerung (b’) des Notwendigkeitsbegriffs führt auf einen der Kernbegriffe von
Absc hnitt 1.3, direkte Referenz: eine Intension
χ(s0) ist notwendig, wenn χ(s0)(s) = χ(s0)(s’)
= 1 (für beliebige s und s’), wenn also der
betreffende Ausdruc k direkt auf den Wahrheitswert 1 referiert und die Auswertungssituation keine Rolle spielt. Als weiterer begrifflic her Zusammenhang zwisc hen den oben
gegebenen Definitionen und den Referenzarten sprac hlic her Ausdrüc ke sei hier noc h
die Unverträglic hkeit von Deixis und A Priorizität — auc h im erweiterten Sinne (b’) —
erwähnt, deren Nac hweis eine Fingerübung
ist.
Die direkte Referenz bedarf im Rahmen
der erkenntnistheoretis
c hen Deutung der
klassisc hen Theorie besonderer Aufmerksamkeit. Direkte Referenz führt bekanntlic h auf
der Intensions-Ebene zu singulärer Information, Information über den Referenten. Da es
sic h dabei um perspektivelose Information
handelt, ist damit nic hts über die Art des
Gegebenseins, d. h. die Identifikation des Referenten aus Sic ht des Subjekts gesagt: es
185
kann sic h um einen unmittelbar gegebenen
kontextuellen Aspekt (Ego, Hic , Nunc ), eine
kausal vermittelte Bekanntsc haft (Wahrnehmung, Erinnerung) oder einen im wesentlic hen deduktiv ersc hlossenen Sac hbezug handeln. Letzterer liegt etwa vor, wenn ein Detektiv aufgrund der Inspektion eines Tatorts
auf die Existenz eines Einzeltäters sc hließt
und diesen einer bestimmten Personengruppe
zuordnet. Die entsprec hende perspektivelose
Information ist dann eine singuläre Proposition über den tatsächlichen Übeltäter; in
einem gewissen, trivialen Sinn weiß der Detektiv, um wen es sic h dabei handelt, nur
reic ht diese sc hwac he Identifikation nic ht für
eine Festnahme aus. Das Beispiel — und für
andere Arten der direkten Referenz lassen
sic h analoge Fälle konstruieren — soll veransc haulic hen, daß direkte Referenz und Singularität von der praktisc hen Identifizierbarkeit des Referenten durc h das Subjekt unabhängige Eigens
c haften des objektivierten
(= am epistemisc hen Zustand ausgewerteten)
Bewußtseinsinhalts sind. Der objektivierende
Sc hritt von der perspektivisc hen Information
zur singulären Propositon ist im allgemeinen
mit einem Informationsverlust verbunden:
mehreren Arten des Gegebenseins entspric ht
in Wirklic hkeit oft dasselbe Individuum. Es
kann daher leic ht passieren, daß dasselbe
Subjekt dieselbe perspektivelose Information
mehrfac h vorliegen hat, ohne dies merken zu
können; oder es liegen widersprüc hlic he singuläre Informationen über dasselbe Individuum vor, das aber dem Subjekt jeweils auf
versc hiedene Art gegeben ist. (Im zweiten Fall
können natürlic h nic ht alle Informationen
ric htig sein.) In dieser Differenz zwisc hen epistemisc her und entsprec hender (d. h. objektivierter) metaphysisc her Information liegt ein
Großteil des Erklärungspotentials der erkenntnistheoretis
c hen Deutung der klassischen Theorie.
Eine der in diesem Teil diskutierten Alternativen zur klassisc hen Theorie widersetzt
sic h einer erkenntnistheoretisc hen Umdeutung. Die Rede ist von der in Absc hnitt 2.4
skizzierten Tokenanalyse. Der Grund dieser
Unverträglic hkeit mit der im vorliegenden
Absc hnitt eingenommenen Perspektive wird
deutlic h, wenn wir ein typisc hes Beispiel einer
Äußerung betrac hten, für die sic h die Tokenanalyse besonders gut eignet:
(27) Jetzt ist es siebenundzwanzig Sekunden
früher als jetzt.
Offensic htlic h kann man (27) so verzögert
aussprec hen, daß in dem Sinne etwas Wahres
IV. Kontexttheorie
186
herauskommt, daß das zweite Token von jetzt
exakt siebenundzwanzig Sekunden nac h dem
ersten geäußert wird. Mit der Tokenanalyse
bereitet die Deutung dieser selbsterfüllenden
Äußerung auc h keine Sc hwierigkeiten: jedes
Token von jetzt wird an seinem Zeitpunkt
und als auf diesen verweisend gedeutet. Versuc ht man jedoc h, (27) als inneren Monolog
aufzufassen — was ja nic ht sonderlic h sc hwierig ist — versagt die in diesem Absc hnitt
dargestellte Umdeutung. Zumindest ist es
nic ht mehr ohne weiteres möglic h, den Charakter von (27) als Momentaufnahme eines
entsprec henden Bewußtseinsinhalts aufzufassen. Denn einerseits führt die klassisc he Auffassung des Charakters zu einer offenkundig
falsc hen Deutung: dem Wort jetzt entspricht
ein einziger kontextueller Parameter, so daß
sic h beide Token auf das eine Jetzt des kognitiven Zustands bezögen. Andererseits ist aber
die von der Tokenanalyse vorgenommene
Aufspaltung in zwei Jetzt-Zeiten nic ht mit der
Auffassung verträglic h, daß χ27 einem in diesem Zustand gefaßten Gedanken entspric ht,
der vermöge der in (27) vorkommenden deiktisc hen Wörter irgendeinen propositionalen
Inhalt aus der Perspektive des Subjekts in
dieser Situation besc hreibt: der Witz an (27)
ist ja gerade, daß er seinen mehr oder weniger
trivialen Inhalt portionenweise aus der Sic ht
zweier versc hiedener Situationen präsentiert.
Ein möglic her Ausweg ist hier die am Ende
des vorhergehenden Abs
c hnitts angesproc hene Deutung einiger deiktisc her Wörter als
Demonstrativa mit unsic htbarer (’innerer’)
Zeigehandlung. Ob diese Strategie generell
genug ist, müssen wir dahingestellt sein lassen. Um jedenfalls die Tokenanalyse für die
erkenntnistheoretisc he Deutung der klassisc hen Theorie fruc htbar zu mac hen und damit
auc h die Charaktere solc her Sätze wie (27)
als Bewußtseinsinhalte aufzufassen, bedarf es
möglic herweise einer subtileren Entsprec hung
zwisc hen Charakter und epistemisc her Information, als wir sie hier angedeutet haben.
Wir besc hließen unseren philosophisc hen
Exkurs mit einer Reihe von Warnungen. Zunäc hst einmal ist aus den obigen Betrac htungen hoffentlic h klar geworden, daß die mit
der klassisc hen Theorie in Verbindung gebrac hten philosophisc hen Thesen strenggenommen auf einer Umdeutung derselben beruhen. Diese Umdeutung ist für sic h genommen noc h keine Begründung dieser Thesen.
Dafür müßte vor allem erst einmal gezeigt
werden, daß die aus der Idee des inneren
Monologs gewonnene Auffassung von Be-
wußtseinsinhalten als Charakteren überhaupt
tragfähig ist. Weiterhin müßte die obige Definition auf ihre Brauc hbarkeit als Rekonstruktion entsprec hender klassisc her Begriffsbildungen überprüft werden. Sonst hätte man
mit (25) und (26) vielleic ht nur eine These
belegt, die zwar im Wortlaut, aber nic ht im
Inhalt gängigen philosophisc hen Positionen
widerspric ht. Und sc hließlic h ist auc h dann
noc h nic ht gezeigt, daß diese Art von Untermauerung der umstrittenen These für das Unterfangen überhaupt wesentlic h ist: vielleic ht
läßt sic h der Nac hweis ja auc h ganz unabhängig von dem aus der Referenztheorie übernommenen Begriffsapparat führen. In diesem
Falle wäre die erkenntnistheoretisc he Umdeutung bestenfalls ein irreführender Umweg.
Von der klassisc hen Theorie der Kontextabhängigkeit zur sprac hanalytisc hen Fundierung der Unabhängigkeit von A Priorizität
und Notwendigkeit — und insbesondere des
durc h (25) angeblic h illustrierten kontingenten A Priori — ist also noc h ein weiter Weg,
dem zu folgen für uns hier allerdings nic ht in
Frage kommt.
3.
Aspekte des Kontexts
Dieser Teil soll in erster Linie einen Eindruc k
von den Anwendungsweisen und -möglic hkeiten der klassisc hen Theorie und ihrer Varianten vermitteln. Ein dafür geeigneter Rahmen ist die in Absc hnitt 2.1 skizzierte Aufcs hlüsselung der Äußerungssituationen in
eine Liste semantisc h relevanter Aspekte. Dabei werden zunäc hst, im ersten Absc hnitt, diejenigen Parameter näher untersuc ht, die uns
oben sc hon öfters begegnet sind: neben den
für die erste und zweite Person zuständigen,
kommunikative
Rollen
c
bes hreibenden
Aspekten gehören dazu vor allem auc h die
für jede Situation definierten, sie lokaliserenden Eigensc haften: Welt, Zeit und Ort. Der
darauffolgende Absc hnitt ist solc hen deiktisc hen Ausdrüc ken gewidmet, die in der Regel
auf eine die Äußerung begleitende Zeigehandlung Bezug nehmen und insofern von einem
‘Zeige-Aspekt’ abhängen. Im letzten Absc hnitt dieses Teils werfen wir noc h einen kleinen Blic k in den Abgrund derjenigen sprac hlic hen Ausdruc ksmittel, die — anstatt von
einem konkret faßbaren Aspekt des Kontexts
abzuhängen — sic h etwas diffus auf durc h
die Äußerungssituation Nahegelegtes zu beziehen scheinen.
Wir haben zu Beginn des Absc hnitts 2.1
festgestellt, daß der dort definierte Aspekt-
9. Kontextabhängigkeit
Begriff extrem liberal ist. So läßt sic h beispielsweise eine Funktion definieren, die jeder
Situation s das näc hste Sc haltjahr nac h s zuordnet, ohne daß es in irgendeiner Sprac he
einen Ausdruc k gibt, dessen Extension von
diesem Aspekt abhängt; ein Gleic hes gilt für
konstante Aspekte wie den, der jeder Situation die Kreiszahl π zuweist. Die Charaktere
sprac hlic her Ausdrüc ke sind eben nic ht für
alle Aspekte von Äußerungssituationen sensibel. Welc he Aspekte semantisc h einsc hlägig
sind, ist überdies keine absolut zu beantwortetende Frage, sondern hängt zum Teil von
metatheoretisc hen Faktoren (Einfac hheit der
semantis
c hen Bes
c hreibung, Kompatibilität
mit anderen Theorien, ...) ab. So gibt es keinen zwingenden Grund dafür, die Extension
von ich als vom Sprec her-Aspekt abhängig zu
besc hreiben: man könnte stattdessen beispielsweise eine Funktion f heranziehen, die
jedem s0 Geburtsort und -datum des Produzenten der Äußerung zuweist. Die Extension
von ich läßt sic h dann in s0 als die Person
besc hreiben, die (in der Welt von s0) an dem
von f(s0) spezifizierten räumlic h-zeitlic hen
Koordinatenpunkt
geboren
wurde;
nur
sc heint es keinen vernünftigen Grund dafür
zu geben, den für ich naheliegenden Sprec herAspekt durc h das bizarre f zu ersetzen. Doc h
sc hon bei gestern ist es einigermaßen zweifelhaft, was denn nun der für die Extensionsbestimmung einsc hlägige situationelle Aspekt
ist: statt des Vortags könnte man ebensogut
den Tag der Äußerung selbst nehmen und
dann in einer für gestern zuständigen semantisc hen Regel festlegen, wie die Abhängigkkeit
von diesem Tages-Aspekt genau aussieht. Auf
diese Weise könnte man gestern, heute und
morgen als auf jeweils untersc hiedlic he Weise
von demselben Aspekt abhängig besc hreiben.
Ja, man kann noc h einen Sc hritt weitergehen
und die genannten Ausdrüc ke lediglic h von
dem für jetzt und gleich benötigten Aspekt
des Sprechzeitpunkts abhängen lassen: morgen
bezieht sic h auf den Tag nac h dem Sprec hzeitpunkt etc . Die Betrac htungen in Absc hnitt
2.4 legen sc hließlic h nahe, daß sic h ein Großteil der kontextuellen Aspekte ohne große
Verrenkungen auf den Token- Aspekt reduzieren läßt, der einfac h jedem s0 die in s0 gemac hte Äußerung zuweist. Sc hließlic h lassen
sic h sogar alle Aspekte auf einen einzigen
reduzieren, nämlic h den Identitäts-Aspekt, der
jeder Situation s einfac h s selbst zuordnet;
doc h diese Reduktion trivialisiert den AspektBegriff und führt zu einer unnötig komplizierten Variante der klassisc hen Theorie. Wie
187
auc h immer: der Entsc heidung zugunsten
eines bestimmten kontextuellen Parameters in
der semantisc hen Besc hreibung wird immer
etwas Willkürlic hes anhaften. Das sollte bei
der folgenden exemplarisc hen Auswahl stets
bedacht werden.
3.1 Standardaspekte unter der Lupe
Das aus der Sic ht der klassisc hen Theorie
typisc he deiktisc he Wort sc hlec hthin ist das
Personalpronomen der ersten Person Singular. Es tauc ht in praktisc h allen Darstellungen
und Anwendungen der klassisc hen Theorie
auf. Auc h wir haben es zur Motivierung der
Untersc heidung von Äußerungs- und Auswertungssituation herangezogen. Wir werden
deshalb den Sprec her-Aspekt als erstes unter
die Lupe nehmen. Zunäc hst ist zu vermerken,
daß das Wort ich — da es auc h in sc hriftlic hen
Äußerungen vorkommen kann — nic ht immer wirklic h auf den Sprecher verweist. Etwas
neutraler könnte man vom Äußereraspekt
sprec hen (bzw. sc hreiben), der den Produzenten des (in der Äußerungssituation eindeutig
bestimmten) sprac hlic hen Ausdruc ks herausgreift. Doc h auc h das ist möglic herweise nic ht
allgemein genug, will man etwa den in Absc hnitt 2.5 bereits thematisierten Gebrauc h
von ich in inneren Monologen oder sonstigen
Denk-Zitaten auf einigermaßen plausible
Weise erklären:
(28) ‘Habe ich heute eigentlich schon gefrühstückt?’ fragte sich Wolfgang.
Auch wenn man in Beispielen wie (28) für die
Ermittlung der Extension von ich die Äußerungssituation in Ri
c htung Auswertungssituation versc hiebt, ist immer noc h nic ht gesagt, wie man denn den Referenten genau
bestimmt: der besc hriebene Denkakt ist ja
nic ht notwendigerweise der einzige in der betra
c hteten Situation stattfindende. (Allerdings ist der Gedanke, der in dem Satz umsc hrieben wird, in dem das fraglic he Pronomen vorkommt, eindeutig bestimmbar: man
sieht, daß man hier auf ähnlic he Probleme
stößt wie im Zusammenhang mit der Tokenanalyse.) Doc h abgesehen davon, daß ich
nic ht unbedingt auf den Urheber eines gewissen sprachlichen Produktes verweist, muß es
sic h auc h nic ht unbedingt um den Urheber
des betreffenden sprac hlic hen Produktes handeln:
(29) Nimm’ mich mit!
Diese eindeutige Aufforderung soll man in
Kürze auf in öffentlic hen Herrentoiletten
bereitgestellten Präservativpa
c kungen lesen
188
können. Wer aber ist der Urheber dieser
sc hriftlic hen Äußerungen? Das jeweilige Token wird zweifellos von einer Masc hine erstellt; die Aufsc hrift gleic ht also in dieser Hinsic ht einem Gesc häftsbrief, wo sic h ich auf
den Chef als den geistigen Urheber und nic ht
auf die Sekretärin als Produzentin des tatsäc hlic hen Briefes bezieht. Doc h (29) ist wohl
kaum als zweideutige Aufforderung seitens
der
Bundesgesundheitsministerin
gemeint.
Das Wort mich bezieht sic h vielmehr auf den
von ihrer Behörde bereitgestellten Gummisc hutz. Der wiederum kommt wohl kaum als
Produzent der genannten Äußerung in Frage.
Dennoc h ist klar, daß er in diesem Falle als
Referent von ich verstanden wird: das Kondom zählt als Sprecher.
Der Sprec her-Parameter liefert also einfac h
das, was immer in dieser Situation als Sprec her zählt. Analoges wird für alle im folgenden zu besprec henden kontextuellen Parameter gelten. Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß diese Aufweic hung der Aspekte
kein rein semantisc hes Phänomen ist, sondern
größtenteils in der Pragmatik unter dem
Stic hwort Akkomodationsregeln abgehandelt
werden kann: in einer Situation, in der überhaupt niemand spric ht, muß die Hörerin —
will sie das Ausgesagte verstehen — das Wort
ich eben auf irgendjemand (oder irgendetwas)
anderes beziehen; und beim Ausfindigmac hen
dieses ‘Sprec her-Ersatzes’ helfen ihr die genannten Regeln. Solc he Regeln bewirken offenbar eine Versc hiebung eines rein kontextuellen Aspekts, womit sie auf den ersten
Blic k das in Absc hnitt 1.4 verhängte Monsterverbot zu unterlaufen cs heinen. Doc h
handelt es sic h bei den Akkomodationsregeln
nic ht um semantisc he Operationen: solc he
Versc hiebungen kommen nur vor, wenn die
im engeren Sinne semantisc hen Regeln versagen. Um das zu unterstreic hen, werden wir
in solchen Fällen von pragmatischen Verschiebungen der entsprec henden Aspekte sprechen.
Mehr wollen wir an dieser Stelle über den
Sprec her-Aspekt nic ht sagen, da wir ihn
sc hon ausführlic h kennengelernt haben. Es
sollte nur erwähnt werden, daß dieser Aspekt
im Deutsc hen wie in vielen (wenn nic ht sogar
allen) anderen Sprac hen rein kontextueller
Natur ist, sic h also stets auf die Äußerungssituation bezieht und nic ht versc hoben werden kann.
Ausgehend von der ersten Person Singular
liegt natürlic h die erste Person Plural, das wir,
nahe. Blendet man einmal sämtlic he Unweg-
IV. Kontexttheorie
barkeiten der Pluralsemantik aus [diese sind
Gegenstand des Artikel 19], so sc heint wir
keine sonderlic h interessanten Probleme aufzugeben: es bezieht sic h offenbar auf eine in
der
Äußerungssituation
naheliegende
Gruppe, die den Sprec her (oder den, der als
Sprec her zählt) und mindestens eine andere
Person (oder ein anderes als Person geltendes
Wesen) umfaßt. Bei nährerem Hinsehen stellt
sic h dann heraus, daß (i) nic ht alle Mitglieder
dieser Gruppe in der Außerungssituation zugegen oder (ii) überhaupt am Leben sein müssen, daß (iii) die Bestimmung der wir-Gruppe
in der Praxis oft eine rec ht vage Angelegenheit
ist und daß es (iv) nebenbei auc h andere,
ebenso naheliegende, den Sprec her umfassende Personengruppen geben kann. Das folgende Beispiel dient als Illustration von (i) —
(iv):
(30) Wir sind wieder wer.
Bei einer Äußerung von (30) durch einen bundesdeutsc hen Ric hter in der Nac hkriegszeit
konnte sic h dieser mit wir natürlic h auf die
Gruppe der Deutsc hen beziehen. Wenn diese
Äußerung im engsten Kollegenkreis stattfindet, ist (i) erfüllt. (ii) gilt auc h, wenn man
einmal unterstellt, daß sic h der Sprec her auf
die Deutsc hen als Gesamtheit und nic ht auf
die Überlebenden bezieht. Eine Vagheit
kommt ins Spiel, wenn man sic h fragt, ob zu
dieser Gesamtheit etwa auc h alle kurz vor
Ende des zweiten Weltriegs geborenenen
Deutsc hen gehören. Und unter den genannten
Umständen hätte der Jurist natürlic h ebensogut sic h und seine Kollegen vom Volksgeric htshof meinen können. Man erkennt an
diesem Beispiel auc h, daß die gelegentlic h
vorgesc hlagene (und in manc hen Sprac hen
markierte) Aufspaltung des wir in eine die
Hörersc haft umfasssende und eine sie aussc hließende Lesart nic ht immer weiterhilft.
Das Gleic he gilt für andere Disambiguierungsversuc he: die konkrete Auswahl der
Gruppe, auf die sic h wir bezieht, ist eine hoc hgradig situationsabhängige Angelegenheit.
Es gibt keinen zwingenden Grund dafür,
für die erste Person Plural einen eigenen kontextuellen Parameter anzusetzen. Ebensogut
könnte man die Extension von wir unter
Rüc kgriff auf den Sprec her-Aspekt und eine
(in Absc hnitt 3.3 noc h näher zu erläuternde)
situationsabhängige Ordnung der Dinge nac h
ihrer Prominenz (oder Einsc hlägigkeit) besc hreiben: wir bezieht sic h dann auf die im
Sinne dieser Ordnung ranghöc hste Gruppe,
der der Sprecher angehört.
9. Kontextabhängigkeit
Wenden wir uns den Personalpronomina
der zweiten Person zu. Einige der Phänomene,
die man hier beobac hten kann, sind den der
ersten Person gleic h oder analog: Ansprec hpartner werden oft nic ht wirklic h angesproc hen, sondern lediglic h als solc he gedac ht (wie
etwa im Selbstgespräc h oder bei einer Anrufung der Götter), der tatsäc hlic he Leser oder
Hörer muß nic ht der Angesproc hene sein (wie
beim Abhören eines Telefongespräc hs), die
Bestimmung der im Plural angesproc henen
Gruppe ist nic ht immer ganz eindeutig usw.
An grundsätzlic h Neuem gegenüber der ersten Person kommt wohl nur die im Deutsc hen (und vielen anderen Sprac hen) vorgenommene Untersc heidung zwisc hen Familiarund Höflic hkeitsform hinzu. Die wiederum
spielt für die Extensionsbestimmung in der
Regel keine Rolle, sondern gehört — ähnlic h
wie die in Absc hnitt 1.3 angesproc hene Färbung — einer anderen semantisc hen Ebene,
dem Register, an; der (durc haus häufige) Fall,
in dem die Referentin von du aufgrund der
Tatsac he ermittelt wird, daß es sic h um die
einzige Anwesende handelt, die vom Sprec her
geduzt wird, läßt sic h im Rahmen pragmatisc her Überlegungen abhandeln — und zwar
analog zu der Situation, in der jemand eine
Aufforderung in französisc her Sprac he auf
sic h bezieht, wenn ihm und der auffordernden
Person klar ist, daß er der einzige weit und
breit ist, der des Französisc hen mäc htig ist.
Die Register-Untersc hiede bei den Personalpronomina der zweiten Person sc hlagen sic h
also nic ht in den Charakteren nieder: du und
S ie im Singular sind ebenso c haraktergleic h
wie das Personalpronomen ihr und das pluralische Sie.
Neben den Produzenten und Rezipienten
der Äußerungen spielen Ort, Zeit und Welt
der Äußerungssituation eine wic htige Rolle
bei der Extensionsbestimmung. Der aus Sic ht
der Referenztheorie wic htigste Untersc hied
zwisc hen diesen Situationsparametern einerseits und den für die Deutung der Personalpronomina der ersten und zweiten Person zuständigen besteht darin, daß letztere rein kontextuell sind, während Ort, Zeit und Welt
jeweils verschoben werden können:
(31) Sicherlich hat es in Rottweil geregnet.
Wir gehen davon aus, daß (31) das Ergebnis
einer sukzessiven Modifikation des Verbs regnen durc h das Vergangenheitstempus Perfekt,
das komplexe Ortsadverb in Rottweil und das
Satzadverb sicherlich ist; das Subjekt spielt
semantisc h offenbar keine Rolle. Es liegt dann
nahe, regnen selbst etwa im Sinne von es
189
regnet zu deuten, also durc h einen Charakter
χ:, der an einem Referenzpunkt ⟨s0,s⟩ den
Wahrheitswert 1 ergibt, falls es in s regnet.
Die in (31) angewandten Modifikatoren versc hieben dann die Auswertungssituation: das
Perfekt führt auf ein vergangenes s’, mit der
Präpositionalphrase gelangt man in ein s” in
Rottweil, und für den gesamten Satz (31) werden dann möglic he Auswertungssituationen
herangezogen, die nic ht mit Sic herheit ausgesc hlossen werden können. Im Rahmen einer
Parametrisierung (im Sinne von Absc hnitt
2.1) sieht dann die gesamte Extensionsbestimmung einer Äußerung von (31) in einer Situation s0 also ungefähr so aus:
Man beac hte, daß bei dieser Auswertung von
(31) von s0 als Äußerungssituation nur im
ersten Sc hritt wesentlic her Gebrauc h gemac ht
wird — nämlic h dort, wo s0 in den Index
eingeführt wird. Man hätte also (31) ebensogut im Rahmen einer prä-klassisc hen Theorie deuten können, die lediglic h zwisc hen Extension und Intension untersc heidet, wobei
erstere von letzterer und einem in Aspekte
aufgesc hlüsselten Index abhängt. Das liegt
daran, daß die von den intensionalen Operatoren in (31) — also von sicherlich, in Rottweil und dem Perfekt — tangierten indexikalisc hen Aspekte nic ht gleic hzeitig durc h
deiktisc he Ausdrüc ke belegt werden. Aber
warum sollten sie auc h? Warum wollte man
z. B. den ursprünglic h (über (D)) kontextuell
gegebenen Ortsaspekt zunäc hst ersetzen und
190
dann wieder zurüc kversc hieben? In der Tat
sc heint ein Nebeneinander von absolutem (in
Rottweil) und deiktisc hem Adverbial (hier)
nur dann angemessen zu sein, wenn sc hon
eines von beiden ausreic hen würde. Allerdings
mac hen solc he Hin- und Herversc hiebungen
von indexikalisc hen Aspekten dann durc haus
Sinn, wenn einer der beteiligten intensionalen
Operatoren in dem Sinne undifferenziert ist,
als er auf mehr als einen Aspekt Bezug nimmt:
der undifferenzierte Operator versc hiebt dann
vielleic ht zunäc hst den gesamten Index, was
durc h gezielte Bindung einzelner Aspekte teilweise wieder rüc kgängig gemac ht werden
kann. Das typisc he Beispiel für so einen undifferenzierten Operator ist das satzeinbettende daß. Denn es mac ht einen Untersc hied,
ob etwa Angela (32) oder (32′) äußert — es
sei denn, sie befindet sich gerade in Rottweil:
(32) Die Leute in Rottweil ärgern sich darüber, daß es ständig regnet.
(32′) Die Leute in Rottweil ärgern sich darüber, daß es hier ständig regnet.
In beiden Fällen verschiebt das daß den WeltAspekt im eingebetteten Satz auf die Welt der
jeweiligen Auswertungssituation. Doc h während in (32) der eingebettete Nebensatz —
ebenfalls aufgrund des daß — auc h am Ort
der Auswertungssituation bewertet wird, wird
dieser Nebeneffekt in (32′) gerade durc h das
hier wieder rüc kgängig gemac ht: der Auswertungs-Ort ist der Ort der Äußerung.
Was für den Ort gilt, gilt nic ht für die Zeit.
Entgegen den obigen Behauptungen sind
nämlic h im Falle des Zeitparameters Doppeltbelegungen durc haus möglic h: neben ein
Vergangenheitstempus wie dem Perfekt in
(31) kann z. B. noc h ein Temporaladverb treten, ohne daß eine der beiden Zeitbestimmungen für sich allein ausreichte:
(33) Heute hat es in Rottweil geregnet.
Deutet man (wie oben) das Perfekt als Quantor über vor der Sprec hzeit Vergangenes, so
kommt heraus, daß (33) besagt, daß es
(irgendwann) vor der Äußerung in Rottweil
geregnet hat; das Adverb heute wäre dann
redundant. Auc h eine Vertausc hung des Skopus von Tempus und Zeitadverb hilft hier
nic ht weiter: danac h wäre das Perfekt überflüssig, und (33) würde bedeuten, daß es in
Rottweil am Tag der Äußerung irgendwann
regnet. Das ist jedoc h nic ht korrekt; der Regen muß vor der Äußerung von (33) fallen,
damit diese wahr ist. Um die Interaktion von
Tempus und Zeitadverb zu erfassen, müssen
offenbar die bisher betrac hteten Deutungs-
IV. Kontexttheorie
tec hniken noc h etwas verfeinert werden. Eine
naheliegende, aber in die Irre führende Strategie besteht in einer Abänderung der PerfektSemantik — nämlic h, indem man das Tempus
(prä-klassisc h) auf die Zeit vor der Auswertungszeit bezieht. Das besc hert uns zwar —
mit der angedeuteten Skopus-Vertausc hung
— eine andere Lesart für (33), aber noc h lange
nic ht die erwünsc hte: der Satz würde besagen,
daß es irgendwann vor dem Tag der Äußerung geregnet hat. (Ohne Skopus-Vertausc hung erhielte man wieder die alte, unerwünsc hte Lesart.) Die Quantifikation muß
dagegen ric htigerweise über die Zeit vor der
Äußerung, aber am Tage derselben, also im
Rahmen der Auswertungszeit, laufen:
An dieser exemplarisc hen und stark vereinfac hten Darstellung der semantisc hen Interaktion von Tempus und Temporaladverb
kann man gleic h mehreres auf einmal erkennen. Erstens setzt das Perfekt die Zeit der
Auswertungssituation (oft auc h Betrachtzeit
genannt) zu der der Äußerungssituation
(= Sprechzeit) in Bezug. Zweitens müssen offenbar diese Zeiten Intervalle und nic ht etwa
Zeitpunkte sein; sonst könnnte man ja nic ht
die eine Auswertungszeit in die andere einbetten. Und drittens verhält sic h der Zeitparameter komplizierter, als man vielleic ht zunäc hst erwartet hätte; dies wird besonders
deutlic h, wenn man sic h an die Analyse komplexerer Beispiele mit anderen Tempora oder
anderen Typen von Zeitadverbien (insbesondere Frequenzadverbien) heranwagt. [Dafür
muß jedoc h auf den Artikel 35 verwiesen werden.]
9. Kontextabhängigkeit
Neben Ort und Zeit ist in unsere Musteranalyse von (31) noc h der Weltparameter eingegangen, der zur Deutung des Modaladverbs
sicherlich benutzt wurde. Die allgemeine Idee
hinter diesem Umgang mit möglic hen Welten
ist bereits in Absc hnitt 1.2, bei der Darstellung der Deutung satzeinbettender Verben,
dargestellt worden. (Die obige Deutung von
sicherlich ging natürlic h davon aus, daß es
sic h bei der Einbettung unter dieses Adverb
um ein vergleic hbares Phänomen handelt.)
Genauere Ausführungen zum Weltenbegriff,
von denen alle Versionen der klassisc hen
Theorie Gebrauc h mac hen, würden leider den
Rahmen des vorliegenden Artikels sprengen.
Es sei lediglic h darauf hingewiesen, daß in der
Literatur
weitgehend
Einigkeit
darüber
herrsc ht, daß jede möglic he Welt alle Fakten
vollständig determiniert — wenn auc h jede
auf ihre Weise: vielleic ht gibt es eine Welt, in
der die Anzahl der Haare auf David Lewis’
Kopf doppelt so groß ist wie tatsäc hlic h, aber
es gibt keine, in der sie unbestimmt ist. Uneinigkeit herrsc ht dagegen unter den Metaphysikern über die Frage, ob man sic h nic htreale Welten als konkrete Universen oder als
abstrakte Mögli
c hkeiten vorzustellen hat.
Von der Beantwortung dieser Frage hängt
unter anderem ab, ob etwa ein und dieselbe
Person in einer nic ht-realen Welt existieren
kann und ob es strenggenommen überhaupt
Sinn mac ht, fiktive Welten zu betrac hten, in
denen diese Person Eigensc haften besitzt, die
ihr in Wirklic hkeit nic ht zukommen. Solange
diese und ähnlic he philosophisc he Fragen
zum Weltenbegriff noc h ungeklärt sind, steht
natürlic h die klassisc he Theorie auf rec ht
wackligen Füßen.
Für Ort, Zeit und Welt gelten wieder ähnlic he Vorbehalte wie für den Sprec herparameter. Solange keine lokalen Angaben den
Auswertungsort versc hieben, gilt der Äußerungsort als solc her; doc h letzterer ist oft nur
sehr vage umrissen. In versc hiedene Äußerungen von (34) kann man sic h bei versc hiedenen Gelegenheiten jeweils auf das Zimmer,
in dem man sic h befindet, auf die Region in
einem Umkreis von etwa 150 Kilometern oder
sogar auf den gesamten Kontinent beziehen,
in dem die Äußerung stattfindet:
(34) Im Frühjahr wird es nur selten wärmer
als 34° Celsius.
Diese Art von Vagheit läßt sic h auc h beim
Welt- oder Zeitparameter nac hweisen. Und
auc h vor pragmatisc hen Versc hiebungen sind
die genannten Aspekte nic ht sic her. Ein all-
191
gemein bekannter Fall ist das sog. historische
Präsens, das dem Gymnasiasten gerne als
Grammatikfehler, dem Literaten indes als
Stilmittel ausgelegt wird. Eine Versc hiebung
des Ortsaspekts sc heint allerdings nur möglic h zu sein, wenn die Zeit mitversc hoben
wird. Versc hiebungen der Welt findet man
sc hließlic h dort, wo gleic h die gesamte Äußerungssituation ‘ausgetausc ht’ wird, wie etwa
bei einer Opernaufführung: als Sprec her zählt
die (in der Regel fiktive) Person, die vom
jeweiligen Sänger dargestellt wird, als Sprec hzeit die Zeit, in der die Oper spielt, und die
Welt ist auch nicht die, in der wir leben.
Die Analyse der Beispiele (31)—(33) hatte
gezeigt, daß die drei betrac hteten Parameter
Ort, Zeit und Welt jeweils (semantisc h) versc hiebbar, d. h. indexikalisc h, sind. Damit
sind sie zunäc hst nur aufgrund einer in Abcs hnitt 2.1 vereinbarten Konvention auc h
kontextuelle Parameter. Doc h sind sie auc h
echte kontextuelle Parameter? Gibt es m. a. W.
Wörter oder Konstruktionen, deren semantisc hes Verhalten man nur unter der Annahme
besc hreiben kann, daß sie auf jeweils einen
der drei genannten Aspekte des Kontexts Bezug nehmen? Angesic hts der Relativität der
Zerlegung von Situationen in Aspekte muß
wohl die Antwort auf diese beiden Fragen
strenggenommen negativ ausfallen. Dennoc h
lohnt es sic h, nac h Ausdrüc ken und Konstruktionen zu suc hen, die sic h auf natürlic he
und naheliegende Weise durc h einen Bezug
auf Ort, Zeit und/oder Welt der Äußerungssituation besc hreiben lassen. Und in der Tat
haben wir zumindest für den Zeitparameter
ein solc hes Beispiel kennengelernt: bei der
Deutung von (33) hat es sic h ja herausgestellt,
daß das Perfekt auc h dann auf die Äußerungszeit Bezug nimmt, wenn die Auswertungszeit bereits (in diesem Falle durc h ein
Zeitadverb) versc hoben wurde. Damit ist die
Kontextualität der Zeit auc h empirisc h untermauert. Für den Ortsaspekt sind eindeutig
deiktisc he Ausdrüc ke sc hon sc hwieriger zu
finden. Das bereits erwähnteWort hier ist natürlic h ein guter Kandidat, doc h werden wir
in Absc hnitt 3.3 noc h sehen, daß es keineswegs unbedingt durc h Bezug auf den Ortsaspekt gedeutet werden muß. Bei Orientierungsangaben wie links und unten ist zumindest zu beac hten, daß sie eher die Perspektive
des Sprec hers (und insofern allenfalls den
Sprec her-Aspekt) als den Ort der Äußerung
berüc ksic htigen. Doc h könnte man den Begriff des Ortsparameters dahingehend präzisieren, daß er sic h auf den Sprec her mit dessen
192
Orientierung bezieht; dafür spric ht auc h, daß
bei Telefongespräc hen als Ort der Äußerung
der Ort gilt, an dem sic h die Sprec herin befindet. Was sc hließlic h die Welt angeht, so
wurde bereits im Zusammenhang mit der
zweidimensionalen Modallogik (in Absc hnitt
2.3) bemerkt, daß der waagerec hte Diagonaloperator (dthat) in der Anwendung auf Sätze
dem Modaladverb tatsächlich entspricht.
Eine Lupe ist kein Mikroskop, und so können diese Bemerkungen nur einen Eindruc k
von den Problemen vermitteln, die sic h der
klassisc hen Theorie bei ihrer Anwendung auf
die Besc hreibung versc hiedener Typen von
Kontextabhängigkeit stellen. Die Details sind
oft ungleich komplexer.
3.2 Demonstrativa
Den im vorangehenden Absc hnitt diskutierten kontextuellen Aspekten ist eine gewisse
Äußerlic hkeit gemeinsam: sie alle betreffen
objektive, mehr oder weniger leic ht feststellbare Merkmale konkreter Situationen. Doc h
die Extensionen sprac hlic her Ausdrüc ke hängen nic ht immer nur von solc hen einfac hen
Aspekten des Kontexts ab. Deixis ist das griec hisc he Wort für ‘Zeigen’, und viele deiktisc he
Ausdrü
c ke
werden c harakteristis
c herweise
von Zeigehandlungen begleitet. Ganz typisc h
ist die Verwendung von Zeigegesten im Zusammenhang mit den (wohl auc h deshalb so
genannten) Demonstrativa:
(35) Das mag ich nicht!
Wer einen Satz wie (35) äußert, kann dabei
mit dem Finger auf irgendetwas zeigen, und
genau dieses Objekt ist dann in der Regel die
Extension des Demonstrativpronomens das.
Natürlic h ist die Zeigegeste oft nic ht eindeutig. So kann z. B. unklar sein, ob das Kleinkind bei seiner Äußerung von (35) den häßlic hen Plastikteller oder den darauf liegenden
lec keren Spinatbrei meint. Geht man nun davon aus, daß sic h der Charakter von das (im
wesentlic hen) durc h die Kennzeic hnung dasjenige Ding, auf welches der S precher zeigt
umsc hreiben läßt, so liegt es nahe, das Ziel
der Zeigehandlung als kontextuellen Parameter anzusehen; Demonstrativa würden auf
diese Weise insofern einheitlic h behandelt, als
ihre Extension dann jeweils von diesem ZeigeAspekt abhängt. Was nun aber diesen ZeigeAspekt von den in Absc hnitt 3.1 betrac hteten
‘harten’ Aspekten untersc heidet, ist das für
mögli
c he Mißverständnisse verantwortli
c he
subjektive Moment: worauf sic h ein Demonstrativpronomen bezieht, hängt davon ab,
IV. Kontexttheorie
worauf der Sprec her zeigt, und das ist den
Umstehenden nic ht immer klar, wohl aber
dem Sprec her. Was mit einem Satz wie (35)
in einer Situation s0 gesagt wird, was also die
durc h ihn ausgedrüc kte Proposition ist, hängt
teilweise davon ab, was die Sprec herin in s0
mit das meint. Allerdings kann sie mit ihrer
Äußerung (plus Zeigegeste) nic ht Beliebiges
meinen; sie muß sic h sc hon an die bei Zeigehandlungen üblic hen Gepflogenheiten halten:
ein substantieller Teil des Gegenstandes sollte
also in angemessener Entfernung auf einer als
Verlängerung des zeigenden Fingers gedac hten Linie liegen; Abweic hungen von dieser
Regel sollten zumindest durc h besondere Umstände gerec htfertigt sein. Weiterhin gilt, daß
es natürlic h im eigenen Interesse der Sprec herin liegt, Formulierung und Zeigehandlung so
eindeutig wie möglic h zu gestalten. Man kann
also davon ausgehen, daß das Ziel der ZeigeGeste für den Adressatenkreis als solc hes
identifizierbar sein muß und im Normalfall
auc h ist. Dem Zeige-Aspekt kommt somit ein
gewisses Maß an Intersubjektivität zu.
Um die Nac hvollziehbarkeit ihrer Intention auc h wirklic h sic herzustellen, kann die
Sprec herin zur Unterstützung ihrer Zeigehandlung zusätzlic he sprac hlic he Mittel einsetzen. So kann sie beispielsweise das Demonstrativpronomen in Artikelfunktion verwenden und mit einem Nomen versehen. Eine
solc hermaßen gebildete, im folgenden als demonstrativ bezeic hnete Nominalphrase (wie
diesen Fraß) hilft dann, eventuell beim nac kten Demonstrativum (plus Zeigegeste) zu befürc htenden Mißverständnissen von vornherein aus dem Weg zu gehen. Eine aus theoretisc her Sic ht interessante Frage betrifft nun
die Referenzweise demonstrativer Nominalphrasen: wie bestimmt sic h etwa die Extension von diesen Fraß? Wenn wir einmal
davon ausgehen, daß es sic h bei diesen in der
Tat um ein ec ht deiktisc hes Wort (mit Bezug
auf einen Zeige-Aspekt) handelt, reduziert
sic h die Frage nac h der Referenzweise der
Gesamt-NP auf die nac h dem Einfluß des
Artikels auf die Auswertung des Nomens:
Substantive referieren normalerweise nic ht
deiktisc h, und so würde man für diesen Fraß
zunäc hst eine gemisc hte Referenzweise erwarten; eine Auswertung an der Äußerungssituation wäre also nur durc h einen Einfluß des
deiktisc hen Artikels erklärbar. Wegen des
Prinzips (D) kann man diese Frage natürlic h
nur unter Heranziehung intensionaler Konstruktionen klären. Und in der Tat sc heint
dann einiges für die Annahme zu sprec hen,
9. Kontextabhängigkeit
daß Nominalphrasen mit deiktisc hem Artikel
selbst wieder deiktisc h sind, wie die näc hsten
Beispiele zeigen werden:
(36) Vor fünf Minuten war dieser Wassertropfen noch gefroren.
In (36) versc hieben die temporale Präpositionalphrase und das Tempus gemeinsam die
Auswertungszeit vor die Äußerungszeit. Die
Extension des Subjekts sollte eigentlic h dementsprec hend für diesen vergangenen Zeitpunkt ermittelt werden. Doc h offenkundig
bezieht sic h die Spezifikation der Form der
besagten Flüssigkeitsmenge auf die Zeit der
Äußerung von (36): ob diese sc hon im gefrorenem Zustand in Tropfenform war, spielt für
die mit Hilfe von (36) gemac hte Ausssage
offenbar gar keine Rolle. Im Gegenteil: wer
statt (36) den Satz (36′) äußert und dabei auf
einen Wassertropfen verweist, sagt selbst
dann nic hts Ric htiges, wenn selbiger erst 5
Minuten vor der Äußerung aufgetaut ist; es
ist sogar fraglic h, ob unter diesen Umständen
mit (36′) überhaupt eine Behauptung aufgestellt wird.
(36′) Vor fünf Minuten war dieses Eisstückchen noch gefroren.
Diese Beobac htungen lassen sic h auc h auf
andere Typen intensionaler Konstruktionen
übertragen: der in (37) eingebettete daß-Satz
muß an den mit des Paten Vorstellungen vereinbaren Situationen ausgewertet werden:
(37) Der Pate geht davon aus, daß dieser von
uns eingeschleuste Mann absolut vertrauenswürdig ist.
Doch wenn etwa ein Polizeiinspektor (37) benutzt, um seinen Kollegen einen neuen Under-Cover-Agenten vorzustellen, sollte — im
Interesse der Polzeibehörden — der besagte
Mafioso gerade nic ht auf die Idee kommen,
daß es sic h um einen Maulwurf handelt. Umgekehrt hätte der Polizeibeamte keine lediglic h aus Sic ht des Gangster-Bosses korrekte
Charakterisierung der vorgestellten Person
mit einem deiktisc hen Artikel versehen können. Wenn es sic h bei dem Spitzel um einen
tessinisc hen Bauernsohn handelt, wäre (37′)
auf ähnlic he Weise unangemssen wie sc hon
zuvor (36′):
(37′) Der Pate geht davon aus, daß dieser
ehemalige sizilianische Chorknabe absolut vertrauenswürdig ist.
Weitere Beispiele würden den Verdac ht, daß
sic h die Eigensc haft, deiktisc h zu referieren,
vom Artikel auf die gesamte Nominalphrase
193
überträgt, nur noch erhärten.
Die dem Zeige-Aspekt inhärente Subjektivität haftet auc h demonstrativen Nominalphrasen an — allerdings in weit geringerem
Maße: im Normalfall determinieren nämlic h
die Zeige-Geste und die durc h das Nomen
ausgedrüc kte Eigensc haft gemeinsam gerade
einen Gegenstand bzw. (im Plural) eine
Gruppe von Gegenständen. Aber es gibt auc h
Fälle, in denen das Nomen nic ht die erwünsc hte Disambiguierung der Zeigehandlung bewirkt. Wer etwa auf die Frage des
Kellners, welc hes der Getränke denn für ihn
bestimmt sei, etwas vage auf das Tablett weist
und dabei:
(38) Dieses Bier!
artikuliert, drüc kt sic h möglic herweise deshalb nic ht eindeutig aus, weil sic h auf dem
Tablett drei Biergläser versc hiedenen Inhalts
befinden. Die Ungenauigkeit kann versc hiedene Ursac hen haben. Zum einen kann der
Gast übersehen haben, daß sic h mehrere Biere
auf dem Tablett befinden; andererseits ist es
aber auc h möglic h, daß ihm lediglic h die Zeigegeste mißlungen ist. Im ersten Fall referiert
(38) auf nic hts. Im zweiten Fall hängt die
Frage, ob (38) eine Extension besitzt von den
Referenzbedingungen für Zeigehandlungen
ab. Da für letztere die Absic hten des Sprec hers eine wic htige Rolle spielen, überträgt
sic h die Intentionsabhängigkeit der Zeigehandlung auf die Extensionsbestimmung von
(38). Das ist das subjektive Element in der
Deutung
demonstrativer
Nominalphrasen.
Man beac hte, daß es sic h dabei um einen
subjektiven Aspekt in der Bestimmung der
Extension
c
na h
allgemeinverbindli
c hen
sprac hlic hen Regeln handelt und nic ht etwa
um die Absic ht des Sprec hers, sic h auf ein
bestimmtes Ding zu beziehen. Es ist nützlic h,
diesen Untersc hied terminologisc h festzuhalten. Den vom Sprec her angenommenen Bezug
eines Ausdruc ks auf einen Gegenstand werden wir als subjektive Referenz bezeichnen.
Der den Sprac hregeln gemäße tatsäc hlic he
Bezug heißt objektive Referenz. Letztere ist
gemeint, wenn von der Extension und ihren
subjektiven Aspekten die Rede ist.
Fassen wir nun unsere Betrac htungen zur
Extensionsbestimmung demonstrativer Nominalphrasen im Singular in Form einer Regel zusammen:
(R Es sei β ein Nomen, s0 eine Äußerungs) situation und s eine Auswertungssituation. Dann ist χdieses β(s0)(s) dasjenige
Ding x, für das gilt:
194
x wird in s0 (durch den Sprecher in s0)
gezeigt, und x ist in χβ(s0)(s0).
Mit der für den definiten Artikel in der Logik
üblic hen Notation ι läßt sic h (RΔ) auc h so
paraphrasieren:
(R') Es sei β ein Nomen. Dann läßt sich
dieses β auch so paraphrasieren:
dthat(ιx (x wird gezeigt & x ist ein β)).
Gibt es neben den traditionell als demonstrativ bezeic hneten Artikeln und Pronomina
(dieses und jenes) noc h weitere sprac hlic he
Ausdrüc ke, die sic h auf den kontextuellen
Zeigeparameter beziehen? Prinzipiell kann
natürlic h jede sprac hlic he Äußerung von einer
Zeigegeste begleitet werden. Doc h das mac ht
den betreffenden Ausdruc k deshalb noc h
nic ht zum Demonstrativum. Wenn Rumpelstilzchen auf sich selbst zeigt und dabei
(39) Ich bin der Schönste im ganzen Land!
ruft, spric ht er nic ht deshalb von der eigenen
Person, weil er auf sic h zeigt, sondern weil er
das Personalpronomen der ersten Person Singular verwendet; würde er stattdesssen auf
der Königin Kind zeigen, könnte er dadurc h
allenfalls Verwirrung stiften, keineswegs aber
die (objektive) Referenz des Subjekts von (39)
versc hieben. Wenn sic h jemand auf die Stirn
tippt und dabei sein Gegenüber mit den Worten Du hast sie wohl nicht alle! beleidigt, so
mag der Fingerzeig vielleic ht zur Verdeutlic hung der Mitteilung beitragen, doc h hängt
weder die Extension der Gesamtäußerung (0
oder 1) noc h die einer ihrer Teile vom Ziel
der Zeigegeste (Stirn? Hirn? Vogel?) ab. Andererseits kann eine die zweite Person begleitende Zeigegeste durc haus zur Klärung der
Referenz beitragen, wie wir in Absc hnitt 2.4
(im Zusammenhang mit der Tokenanalyse)
gesehen haben. Das legt den Verdac ht nahe,
daß der für die zweite Person einsc hlägige
Aspekt des Angesproc henen unter Berüc ksic htigung eventueller, die jeweilige Äußerung
(das Token) begleitender Zeigegesten bestimmt werden muß. Noc h stärker sc heint
hier vom Zeige-Parameter abzuhängen: solange auf nic hts gezeigt wird, verweist hier
offensic htlic h immer auf den Ort der Äußerung — also auf irgendeine, von diversen
Situationsfaktoren abhängige Umgebung des
Sprec hers. Tritt eine Zeigegeste hinzu, fungiert aber der Ort des Ziels derselben als Referent von hier. Ein besonders beac htenswerter Fall liegt vor, wenn diese Zeigegeste auf
einen Stellvertreter des gemeinten Gegenstands (ein Symbol im weitestmöglic hen
Sinne) geric htet ist — wie etwa der berühmte
IV. Kontexttheorie
Finger auf der Landkarte, der bewirkt, daß
mit einer Äußerung von (40) nic ht unbedingt
etwas Wahres gesagt wird:
(40) Wir sind jetzt hier.
Dieses, in der Literatur gelegentlich als Deixis
am Phantasma bezeic hnete Phänomen kann
mitunter Verwirrung stiften. Denn zum einen
kann es passieren, daß in einer konkreten
Situation einmal tatsäc hlic h unklar ist, ob auf
das Symbol oder auf das symbolisierte Objekt
verwiesen wird; und zum anderen kann, durc h
diese Art von Mißverständnis angeregt, der
Theoretiker auf die abwegige Idee kommen,
es handele sic h hier um eine sprac hlic he Ambiguität — wo doc h die Unbestimmtheit im
Akt des Zeigens liegt.
Die zuletzt diskutierten Beispiele sollten
verdeutlic hen, daß begleitende Zeigegesten
bei der Extensionsbestimmung für sprac hlic he
Äußerungen oft eine wic htige Rolle spielen,
die Ausübung dieser Rolle aber ganz offensic htlic h durc h semantisc he Faktoren beschränkt und kontrolliert wird.
3.3 Einschlägiges
Ein Großteil der soeben im Zusammenhang
mit demonstrativen Nominalphrasen beobac hteten Phänomene läßt sic h ebensogut anhand (singularisc her) Kennzeichnungen, also
definiter Nominalphrasen des Typs der/die/
das + Nomen, illustrieren. Auc h diese können
bekanntlic h mit Zeigehandlungen verknüpft
werden, und sie weisen dann — wie man leicht
durc h Variation der obigen Beispiele sieht —
dieselben referentiellen Eigensc haften wie demonstrative Nominalphrasen auf. Man kann
also von einem demonstrativen Gebrauch der
betreffenden Kennzeic hnungen sprec hen. Demonstrativ gebrauc hte Kennzeic hnungen sind
insbesondere immer deiktisc h. Eine naheliegende Frage ist nun, ob man mit einer Kennzeic hnung auc h dann deiktisc h referieren
kann, wenn man nic ht gleic hzeitig auf irgendetwas zeigt.
Man kann. Um das zu sehen, brauc ht man
lediglic h eines der obigen Beispiele etwas abzuwandeln:
(37″) Der Pate geht davon aus, daß der von
uns eingeschleuste Mann absolut vertrauenswürdig ist.
Der Kriminalinspektor kann (37″) seinem
Vorgesetzten gegenüber äußern, ohne daß der
besagte Agent anwesend ist; er brauc ht also
nic ht auf ihn zu zeigen. Doc h wie sc hon bei
einer Äußerung von (37) sind für die Kenn-
9. Kontextabhängigkeit
zeic hnung der von uns eingeschleuste Mann
nic ht die Auswertungssituationen des Nebensatzes einsc hlägig, sondern die Äußerungssituation selbst. Die Kennzeic hnung wird also
deiktisch gebraucht.
Gegen diesen etwas flotten Nac hweis des
deiktisc hen Gebrauc hs von Kennzeic hnungen
läßt sic h einwenden, daß (37″) möglic herweise
bloß ein Beispiel für flexibles Skopusverhalten
(und nic ht deiktisc hen Gebrauc h) ist und daß
obendrein diese Art Rüc kbezug auf die Äußerungssituation (in der einen oder anderen
Form) bei jeder Nominalphrase beobac htet
werden kann. Wir werden darauf in Absc hnitt
4.3 zurückkommen.
Wenn nun der Referent einer wie in (37″)
gebrauc hten Kennzeic hnung nic ht das Ziel
einer Zeigehandlung ist, woher bekommt
dann die Nominalphrase ihre Extension?
Oder anders ausgedrüc kt: wie sieht der für
die deiktisc h, aber ohne Zeigehandlungen benutzten Kennzeic hnungen zuständige kontextuelle Parameter aus? Eine Antwort besteht
darin, solc he Kennzeic hnungen auf die Form
dthat(α) zu bringen (siehe Absc hnitt 1.3) und
dann jeweils die deskriptiven Gehalte a miteinander zu vergleic hen: was ihnen gemeinsam ist, besc hreibt den gesuc hten Parameter.
Bei der von uns betrac hteten Äußerung von
(37″) ist a sc hnell gefunden: der Inspektor
bezieht sic h auf diejenige Person x, für die in
der Äußerungssituation gilt: x wurde von der
Polizei in die Organisation eingesc hleust. α ist
somit die Kennzeic hnung der von uns eingeschleuste Mann selbst. Genauer gesagt: der
Charakter der in (37″) deiktisc h gebrauc hten
Kennzeic hnung läßt sic h mit der Intension
derselben bei normalem, nic ht-deiktisc hem
Gebrauc h umsc hreiben. Der Inspektor verwendet (37″) also so, als wäre die besagte
Kennzeic hnung in ein unsic htbares dthat eingebettet.
Ist (37″) in dieser Hinsic ht ein Einzelfall?
Oder können deiktisc he Verwendungen von
Kennzeic hnungen a stets mit dthat(α) paraphrasiert werden? Diese einfac he Analyse
kann zumindest dann nic ht zutreffen, wenn
die Kennzeic hnung von einer Zeigehandlung
begleitet wird; in diesem Falle muß nämlic h
der Zeige-Aspekt bei der Extensionsbestimmung hinzugezogen werden. Nimmt man
etwa für α die Kennzeic hnung der Wassertropfen, so ergibt die Übertragung von (R’Δ)
als Paraphrase statt dthat(α) das kompliziertere dthat(ιx (x wird gezeigt & x ist ein Wassertropfen)).
195
Auc h wenn keine Zeigehandlung vorliegt,
muß die deiktisc he Verwendung einer Kennzeic hnung a nic ht unbedingt auf dthat(α) hinauslaufen. Bemühen wir noc h einmal das Beispiel (37″)! Selbstverständlic h kann bei Äußerung dieses Satzes zu den genannten Umständen noc h die Voraussetzung treten, daß die
Polizeibehörden dem organisierten Verbrec hen mit einer ganzen Riege von Spitzeln
beizukommen versuc hen. Nur einer von ihnen
— so wollen wir außerdem annehmen — ist
aber ganz neu, und über ihn erstattet jetzt der
Inspektor Beric ht. Es ist klar, daß sic h die
Kennzeic hnung der von uns eingeschleuste
Mann auf den besagten Agenten bezieht, daß
dieser aber kaum als dasjenige Individuum
bezeic hnet werden kann, dem in der Äußerungssituation die Eigensc haft, Agent zu sein,
zukommt; eher läßt sic h die Person, von der
die Rede ist, als einziger Agent, der in der
betreffenden Situation zur Debatte steht, c harakterisieren, also als dasjenige einschlägige
Individuum, das die durc h durc h das Nomen
ausgedrüc kte Eigensc haft besitzt. Als Faustregel für die Deutung deiktisc h gebrauc hter
Kennzeichnungen ergibt sich somit::
(R Es sei a eine deiktisch gebrauchte Kenn) zeichnung der Gestalt δβ, wobei δ ein
definiter singularischer Artikel und β die
kongruente Form eines Nomens ist.
Dann läßt sich α folgendermaßen paraphrasieren:
dthat (ιx (x ist einschlägig & x ist ein β)).
Statt x ist einschlägig hätte die Bedingung
ebensogut x ist relevant, x steht zur Debatte
oder ähnlic h lauten können. Auf die genaue
Wortwahl kommt es uns hier nic ht an. Der
Inhalt der Bedingung ist allerdings wic htig;
um ihn geht es im folgenden.
Eine Sc hwac hstelle der Regel (Rδ) ist der
Begriff der Einsc hlägigkeit, den wir hier als
kontextuellen Aspekt auffassen wollen. Da es
sic h dabei um einen ausgesproc hen vagen,
aber — wie wir gleic h noc h sehen werden —
vielseitig einsetzbaren Begriff handelt, sollte
sic h eine Theorie der Kontextabhängigkeit
um Klärung oder Präzisierung bemühen. Was
also mac ht in einer Äußerungssituation den
einen oder anderen Gegenstand einsc hlägig
und hebt ihn gegebenenfalls aus dem Meer
der anderen seiner Art hervor? In dem zuvor
diskutierten Beispiel war es der Umstand, daß
von der betreffenden Person bereits seit längerem die Rede war. Doc h kann es auc h ganz
andere Ursac hen geben. Wenn z. B. ein Babysitter mit seiner Freundin telefoniert und
196
dabei (41) äußert, so kann er sic h mit dem
Subjekt des Nebensatzes auf die ihm anvertrauten Kinder beziehen, ohne daß von denen
vorher die Rede war:
(41) Brunners denken natürlich, daß die Gören schon längst schlafen.
Was die betreffenden Kinder hier besonders
einsc hlägig mac ht, könnte z. B. der Lärm sein,
den sie verursac hen — oder ganz einfac h die
den beiden Gespräc hspartnern wohlvertraute
und für sie wic htige Tatsac he, daß der Sprec her sie hütet. Etwaige andere, den beiden
bekannte Kinder können dagegen vernac hlässigt werden: Brunners Kinder liegen den
Kommunikationsteilnehmern in der gesc hilderten Situation am nächsten. Einsc hlägig
kann also alles sein, was auffällig ist oder
sonstwie besonders naheliegt. Dazu genügt es
dann im allgemeinen nic ht, daß der betreffende Gegenstand (bzw. die betreffende Person) jedem einzelnen Gespräc hsteilnehmer
naheliegt. Wenn sic h nämlic h der besagte Babysitter — etwa zu Anfang des Telefonats —
unsic her ist, ob seine Freundin überhaupt
weiß, was er gerade treibt, dann wird er so
etwas wie (41) gar nic ht äußern — selbst wenn
die Freundin sehr wohl über die von ihm
ausgeübte Tätigkeit unterric htet ist. Er wird
sic h nur dann der Kennzeic hnung die Gören
bedienen, wenn er weiß, daß auc h die Freundin weiß, von wem die Rede ist. Einsc hlägigkeit basiert demnac h auf einem Fundus den
Kommunikationspartnern gemeinsamer oder
gemeinsam zugänglicher Informationen.
Einsc hlägigkeit ist kein absoluter Begriff
— und das im dreifac hen Sinne. Neben (i)
seiner Relativität zu einer betrac hteten Situation hängt sein Umfang in der Regel auc h
von (ii) einer Bezugs-Eigensc haft ab: in der
eben betrac hteten Situation bildet vielleic ht
der Brunner-Na
c hwu
c hs eine eins
c hlägige
Gruppe G von Kindern — doc h ist G damit
nic ht in jedem Sinne einsc hlägig: wenn etwa
unmittelbar vor dem Telefongespräc h — aber
ohne Wissen des Babysitters oder seiner
Freundin — das Ehepaar Brunner an den
Folgen eines Unfalls gestorben ist, so würde
sic h die Kennzeic hnung die Erben jedenfalls
nic ht auf G beziehen. Sc hließlic h ist Einsc hlägigkeit auc h in dem Sinne relativ, als es sic h
um eine (iii) graduelle Eigensc haft handelt:
vielleic ht sind auc h die Gesc hwister der
Freundin des Babysitters irgendwie einsc hlägig, aber eben nic ht so einsc hlägig wie der
Nac hwuc hs der Familie Brunner. Der Relativität (i) wird in (Rδ) Rec hnung getragen, als
IV. Kontexttheorie
das Adjektiv einschlägig dort im Skopus eines
dthat ersc heint, wodurc h seine Extension relativ zur Äußerungssituation ermittelt wird.
(ii) und (iii) sind in (Rδ) nic ht berüc ksic htigt.
Eine entsprec hende Änderung der Regel wäre
zwar prinzipiell möglic h, würde aber in viele
tec hnisc he Details führen, die mit dem Stoff
dieses Kapitels nic ht viel zu tun haben. Wir
belassen es also bei der obigen Formulierung
und behalten notfalls immer im Auge, daß sie
noc h einiger Korrekturen bedarf. Der Rest
des vorliegenden Absc hnitts ist einer weiteren
Vertiefung und Erklärung des Einsc hlägigkeits-Begriffs anhand einsc hlägiger Beispiele
gewidmet.
Besonders naheliegend und insofern einsc hlägig sind natürlic h die Dinge, auf die die
Sprec herin zeigt. Damit dec kt die Regel (Rδ)
prinzipiell auc h demonstrative Verwendungen
singularisc her Kennzeic hnungen ab. Dennoc h
kann der Einsc hlägigkeits-Aspekt den ZeigeAspekt nic ht immer ersetzen: rein demonstrative Ausdrüc ke wie das da bedürfen im Normalfall eines zeigenden Hinweises und können nic ht einfac h auf irgendwelc he naheliegenden Referenten bezogen werden. Rein demonstrative Ausdrüc ke sind deshalb auc h in
der Sc hriftsprac he in der Regel nic ht zu finden; Ausnahmen von dieser Regel sind allenfalls Vorkommen in Bilderläuterungen oder
in der direkten Rede.
Ebenfalls besonders naheliegend ist der
Ort, an dem sic h die Sprec herin befindet. Das
läßt vermuten, daß der Orts-Aspekt zumindest prinzipiell durc h ein Zusammenspiel der
kontextuellen Einsc hlägigkeit mit der absoluten Eigensc haft, ein Ort zu sein, simuliert
werden kann. Was die Deutung des lokal
deiktisc hen Wortes par exc ellenc e, nämlic h
hier, betrifft, so spric ht einiges für diese Vermutung. Zunäc hst ist festzustellen, daß sic h
hier demonstrativ verwenden läßt, also mit
Bezug auf das Ziel einer die Äußerung begleitenden Zeigegeste. Interpretiert man hier
also im Sinne von dthat(ιx x ist einschlägig &
x ist ein Ort), so ergibt sic h dieser Bedeutungsaspekt ganz von selbst: solange kein anderer Ort im Mittelpunkt des Interesses steht,
kann man getrost den Ort der Äußerung als
den einzig einsc hlägigen ansehen; doc h wenn
die Sprec herin auf einen bestimmmten Ort
(oder auf ein Symbol für einen bestimmten
Ort) zeigt, so verdrängt dieser den Ort der
Sprec hhandlung von seiner herausragenden
Position. Darüberhinaus kann — wie bei den
Kennzeic hnungen — neben dem Zeigen auc h
das Erwähnen einen Ort nahelegen, wodurc h
9. Kontextabhängigkeit
sic h ebenfalls die Extension von hier ändert.
Sol
c he Veränderungen können oft sehr
sc hnell und unvermittelt gesc hehen, wie der
folgende Typ von Beispiel zeigt:
(42) Im Alter von sechsundsechzig Jahren
reiste Karl erstmals nach Amerika: hier
fand er endlich jene Freiheit, der er hier
so sehr entbehrt hatte.
Das erste hier in (42) bezieht sic h offensic htlic h auf Amerika, während das zweite Vorkommen desselben Wortes im selben Satz auf
Europa, Deutsc hland oder jedenfalls eine
Umgebung des Äußerungs-Ortes verweist.
Man könnte diesen plötzlic hen Wec hsel der
Extension in einer pragmatisc hen Verlegung
des Ortes sehen — in Analogie zu dem in
Absc hnitt 3.1 angesproc henen historisc hen
Präsens. Ansonsten bleibt — wollte man unbedingt das auf den Äußerungs-Ort bezogene
hier auf einen Orts-Aspekt zurüc kführen —
die Annahme einer ec hten Ambiguität von
hier; allerdings müßten selbst dann die übrigen Lesarten unter Rüc kgriff auf andere kontextuelle Aspekte (Gezeigtes, Vorerwähntes,
...) gedeutet werden. Die Einsc hlägigkeitsAnalyse hat gegenüber diesen Alternativen
den Vorteil der Einfac hheit. Hinzu kommt,
daß die Referenten deiktisc her Kennzeic hnungen unter ähnlic hen Umständen und ähnlic h sc hnell wec hseln können wie die Extension von hier. Ein wegen der ungesc hic kten
(vom Sprec her aber vielleic ht beabsic htigten)
Wiederholung stilistisc h etwas mißglüc ktes
Beispiel ist:
(43) Auf unser letzten Neuseeland-Rundreise
ist uns der Rolls-Royce nach zwei Tagen
verreckt, aber in Europa haben wir mit
dem Rolls-Royce bisher Glück gehabt.
Geht man davon aus, daß es sic h bei dem in
(43) ersterwähnten Luxus-Gefährt um einen
Mietwagen handelt, während der zweite zum
Wagenpark des Äußerers gehört, so verändert
sic h in (43) die Extension der NP der RollsRoyce etwa so sc hnell wie der in (42) thematisierte Ort. Daß so etwas wie Einsc hlägigkeit
im Redekontext eine Rolle spielt, ist also
kaum zu bezweifeln; und diese Einsc hlägigkeit ist es, die so rasant mit der Rede-Zeit
geht. Insgesamt sprec hen diese Beobac htungen für eine Deutung des Hier als Ort der
Einschlägigkeit.
Wenn sc hon der sc heinbar direkte Bezug
von hier durc h Einsc haltung des Einsc hlägigkeits-Aspekts zerlegt werden kann, wie steht
es dann um die anderen, zunäc hst ebenso
irreduzibel anmutenden Parameter? Sind z. B.
197
Sprec her und Hörer die in ihren Rollen als
Kommunikationspartner einsc hlägigsten Personen der Äußerungssituation? Wenn dem so
wäre, müßte allerdings die Referenz von ich
und du durc h ähnlic he Ablenkungsmanöver
wie in (42) und (43) manipuliert werden können. Ein entsprec hendes Beispiel sc heint auc h
schnell gefunden:
(44) Ich weiß noch, wie der Arzt zu meinem
Schwager sagte: ‘Das nächste Mal kann
ich Ihnen vielleicht nicht mehr helfen.’
In der Tat verweisen die beiden Vorkommmen
des Personalpronomens der ersten Person
Singular bei einer Äußerung von (44) in der
Regel auf versc hiedene Personen. Der dadurc h möglic herweise nahegelegte Verdac ht,
daß die Erwähnung einer anderen Äußerungssituation einen no
c h eins
c hlägigeren
Sprec her als den tatsäc hlic hen und somit
einen neuen Referenten von ich sc hafft, läßt
sic h jedoc h rasc h wieder zerstreuen: die Ersetzung der direkten durc h indirekte Rede
ändert offenbar so gut wie nic hts an der Aussage — aber nur, wenn mit dem Modus auc h
die Person gewechselt wird:
(44′) Ich weiß noch, wie der Arzt zu meinem
Schwager sagte, daß er ihm das nächste
Mal vielleicht nicht mehr helfen könne.
(44″) Ich weiß noch, wie der Arzt zu meinem
Schwager sagte, daß ich ihm das nächste Mal vielleicht nicht mehr helfen
könne.
Anders als in (44) muß sich in (44″) das zweite
ich wie das erste auf den Sprec her der Gesamt-Äußerung beziehen; und anders als (44′)
ist also (44″) auc h keine ungefähre Paraphrase
von (44). Aus dieser banalen Beobac htung
werden wir gleic h zwei wic htige Sc hlußfolgerungen ziehen: erstens ist (44) kein Indiz für
eine Einsc hlägigkeits-Analyse von ich; und
zweitens ist die direkte Rede ein weites Feld.
Die erste Folgerung ziehen wir indirekt:
wenn die Versc hiedenheit der Extensionen der
ich-Vorkommen in (44) dadurc h erklärt werden soll, daß hier durc h die Erwähnung einer
anderen Äußerungssituation mit anderem
Sprec her letzterer einsc hlägiger wird als der
tatsäc hlic he Produzent der Äußerung, so wäre
eine Übertragung der Argumentation auf
(44″) kaum zu verhindern; das ist aber —
wegen unserer simplen Beobac htung — unerwünsc ht. Wir werden ohne weitere Argumentation die etwas kühnere, in der Literatur
aber selten ernsthaft bezweifelte Folgerung
ziehen, daß sic h durc h Themenwec hsel, Ablenkung und andere für die Änderung der
198
Einsc hlägigkeit einsc hlägige Methoden die
Extension von ich nic ht verändern läßt; der
Einsc hlägigkeits-Parameter ist also für die
Deutung der ersten Person nic ht einsc hlägig.
Insbesondere ist er damit auc h nic ht in dem
Sinne trivial, daß sic h jede deiktisc he Referenz
mit ihm erklären ließe. Und was für die erste
Person ric htig ist, gilt ebenso für die zweite.
Was Zeit und Welt der Äußerung angeht, so
wollen wir allerdings im folgenden offenlassen, ob auc h diese Parameter durc h entsprec hende
Eins
c hlägigkeits-Analysen
ersetzt
werden können.
Daß die direkte Rede ein Thema für sic h
ist, sieht man gerade daran, daß sie die ansonsten unmöglic he Versc hiebung von ich zuläßt oder sogar erzwingt. Doc h ist dies keineswegs die einzige oder auc h nur die auffälligste Eigentümlic hkeit der direkten Rede. Im
Gegenteil: bei genauerem Hinsehen entpuppt
sic h die vermeintlic he Versc hiebung der Extension in (44) als Nebeneffekt einer allgemeinen Umdeutung aller in der direkten Rede
vorkommenden (= angeführten) Ausdrüc ke.
Bei geeigneter Variation des Beispiels sieht
man nämlic h, daß sic h ein angeführtes ich
nic ht nur auf einen anderen Sprec her, sondern
auc h auf mehrere Sprec her oder auf niemanden beziehen kann:
(45) Schon oft hat ein Arzt zu meinem
Schwager gesagt: ‘Das nächste Mal
kann ich Ihnen vielleicht nicht mehr helfen.’
(45′) Es ist nicht auszudenken, was passiert,
wenn einmal ein Arzt zu meinem
Schwager sagt: ‘Das nächste Mal kann
ich Ihnen vielleicht nicht mehr helfen.’
Die einfac hste Erklärung für dieses auf den
ersten Blic k etwas verwirrende Verhalten des
angeführten ich ist, daß es sic h bei der direkten Rede um eine metasprac hlic he Redeweise
handelt, daß also die Extension des angeführten ich strenggenommen das Wort ich
selbst ist, und daß der Eindruc k einer anderen, ‘sekundären’ Extension nur von der im
jeweiligen Satz über dieses Wort gemac hten
Aussage herrührt. Für diese Erklärung spric ht
unter anderem auc h die Tatsac he, daß zumindest unter gewissen Umständen angeführte
Ausdrüc ke einer anderen Sprac he entstammen können. Wir werden jedoc h diese Betrac htung hier nic ht weiter vertiefen, weil sie
vom Thema abführt. Es sei nur angemerkt,
daß die eigentlic h sehr naheliegende metasprac hlic he Aufassung der direkten Rede im
Detail zahlrei
c he, teilweise überras
c hende
IV. Kontexttheorie
Probleme aufwirft. Neben den notorisc hen
Sc hwierigkeiten des Verhältnisses zwisc hen
Sprac he und Metasprac he im allgemeinen ist
hier vor allem die in der natürlic hen Sprac he
oft nur mangelhaft durc hgehaltene Trennung
der beiden Ebenen zu nennen.
Wenn auc h nic ht jede Kontextabhängigkeit
mit Einsc hlägigkeit in Beziehung gebrac ht
werden kann, so gilt dies doc h für die meisten
Arten der Bezugnahme auf die Äußerungssituation. Zum Absc hluß dieses Absc hnitts soll
dies anhand einer skizzierten Fallstudie, der
Deutung von Genitivattributen, gezeigt werden.
Grundsätzlic h kann man im Deutsc hen
zwei Arten von Genitivattributen untersc heiden: solc he, die gemeinsam mit einem (möglic herweise syntaktisc h komplexen) Nomen
wieder ein Nomen bilden, und solc he, die sic h
syntaktisc h wie (definite) Artikel verhalten
und ein Nomen zu einer Nominalphrase vervollständigen. Wegen ihrer Stellung innerhalb
der NP wegen werden wir sie als rechte bzw.
linke Attribute bezeic hnen. Zunäc hst zu den
rechten Attributen:
(46) Guinivere ist die Gemahlin Arthurs.
(47) Lancelot ist ein Getreuer Arthurs.
(48) Excalibur ist das Schwert Arthurs.
Von Details abgesehen ist die Deutung von
(46) unproblematisc h: es handelt sic h um die
Behauptung der Identität zwisc hen der durc h
das Subjekt bezeic hneten Guinivere und derjenigen Person, die mit dem durc h das Genitivattribut Arthurs benannten König vermählt
ist. Gemahlin läßt sic h in diesem Zusammenhang als Bezeic hnung für eine Funktion auffassen, deren Argumente und Werte jeweils
Mensc hen sind. Substantive wie Gemahlin bezeic hnen wir daher als funktionale Substantive.
Nur die wenigsten Substantive sind funktional. Fälle wie in (47) sind weitaus häufiger:
was ein ordentlic her König ist, hat eine große
Sc har von Fans. Als Funktionswert brauc ht
man also eine Menge, was auf eine Deutung
von Getreuer als Relation zwisc hen Personen
hinausläuft. Derartige Substantive heißen
deshalb auc h relationale Substantive. Natürlic h läßt sic h Funktionalität als Spezialfall
von Relationalität auffassen, womit (46) und
(47) durc h eine einzige Regel interpretiert werden können: in beiden Fällen wird der Extension eines Substantivs a durc h ein Genitivattribut ein Argument zugeführt. Genauer:
(G) Es sei α ein relationales Nomen, β ein
Eigenname im Genitiv, s0 eine Äuße-
9. Kontextabhängigkeit
rungs- und s eine Auswertungssituation.
Dann gilt:
χαβ(s0)(s) = {x xχα(s0)(s)χβ(s0)(s)}
Notation und Idee dieser Regel sind anhand
der Beispiele (46) und (47) leic ht erläutert: für
Getreuer Arthurs liefert (GQ) als Extension die
Menge der (Personen) x, für die gilt: x G a,
wobei G die Extension von Getreuer ist und
a der Träger des Namens Arthur; ein Getreuer
Arthurs muß demnac h jemand sein, der in
einem gewissen (Treue-) Verhältnis zu Arthur
steht. Für die Deutung von Gemahlin Arthurs
müssen wir natürlic h die Ehe als Relation
auffassen, die zwisc hen x und y genau dann
besteht, wenn x die Ehefrau von y ist. (GQ)
liefert dann die Menge der Ehefrauen von a;
Aufgabe des bestimmten Artikels muß es sein,
das einzige Element dieser Menge herauszugreifen und zur Extension der gesamten Nominalphrase zu machen.
Was hat das nun mit Kontextabhängigkeit
im allgemeinen und Einsc hlägigkeit im besonderen zu tun? Nic ht immer werden die Argumente relationaler Substantive so explizit
genannt wie in (46) und (47). Häufig findet
man sie auch in Sätzen wie:
(49) Arthur fühlte sich einsam: die Gemahlin
war unpäßlich, und die Getreuen hatten
ihn verlassen.
Keines der beiden relationalen Substantive ist
hier mit einer anderen Argumentangabe versehen. Das ist allerdings auc h nic ht nötig: aus
der Tatsac he, daß kein Argument genannt
wird, kann man in (49) sc hließen, daß es sic h
bei dem Gesuc hten in beiden Fällen um Arthur handelt. Warum? Weil er gerade erwähnt
wurde und insofern naheliegt. Arthur ist also
einsc hlägig. Wir gelangen damit zu folgender
Ellipsenregel:
(G) Es sei α ein relationales Nomen, ∅ eine
leere genitivische Nominalphrase, s0 eine
Äußerungs- und s eine Auswertungssituation. Dann gilt:
χα∅(s0)(s) = {x x χα(s0)(s)y},
wobei y (in seiner Eigenschaft als Argument von α) einschlägig in s0 ist.
(G∅) setzt eine syntaktisc he Analyse voraus,
nac h der relationale Nomina eines GenitivAttributs bedürfen, dessen Fehlen irgendwie
strukturell (hier durc h eine leere NP) markiert
wird. Offen bleibt, ob jede Weglassung eines
Genitiv-Attributs bei einem relationalen Nomen im Sinne von (G∅), also definit, gedeutet
werden muß. Immerhin ist — wie sc hon in
Absc hnitt 1.3 erwähnt — eine weitere indefi-
199
nite Regel denkbar, die die entsprec hende Argumentstelle existentiell abbindet.
Wir wenden uns nun der vermutlic h häufigsten Art von rec hten Attributen zu, die in
(48) exemplifiziert wird. S chwert hat so gar
nic hts Relationales: offenbar drüc kt dieses
Substantiv einfac h nur eine Eigensc haft aus.
Es gehört somit zur großen Gruppe der gesättigten Nomina, die ebenso wie relationale
Substantive mit rec hten Attributen versehen
werden können. Sehr viele dieser Beispiele
legen ein Besitzverhältnis nahe. S chwert Arthurs kann sic h aber auc h auf Sc hwerter beziehen, die Arthur leihweise benutzt, oder solc he, die er im Auftrag des Britisc hen Museums präpariert. Die Relation, die zwisc hen
den Trägern der durc h das gesättigte Substantiv ausgedrüc kten Eigensc haft und die
Extension der Nominalphrase hergestellt
wird, muß also nic ht unbedingt ein Besitzverhältnis sein. Im Interesse des Sprec hers sollte
jedoc h stets klar sein, welc he Relation R gemeint ist. R muß also einsc hlägig sein. Hier
ist eine entsprechende Deutung:
(G) Es sei α ein gesättigtes Nomen, β ein
Eigenname im Genitiv, s0 eine Äußerungs- und s eine Auswertungssituation.
Dann gilt:
χαβ(s0)(s) =
{x x ∈ χα(s0)(s) & x R (s) χβ(s0)(s)},
wobei R (in ihrer Eigenschaft als Relation zwischen Elementen der Extension
von α und der Extension von β) einschlägig in s0 ist.
Unter der Annahme, daß Besitz solange einsc hlägig ist, bis etwas dagegen spric ht, dec kt
(GR) auc h die vielen Fälle ab, bei denen der
Genitiv eine im engeren Sinne possessive
Funktion ausübt. Besitz ist dann der DefaultWert für Einschlägigkeit von Relationen.
Nac h (GR) hängt das Bestehen der von der
Äußerungssituation beigesteuerten Relation
R von der Auswertungssituation ab. Warum
ist das so? Die Rec htfertigung ergibt sic h wieder durc h Einbettung in intensionale Umgebungen:
(50) Lancelot glaubt, daß der Becher Arthurs
Gift enthält.
Nac h einer naheliegenden Interpretation besagt (50), daß zu den mit Lanc elots Glauben
vereinbaren Situationen nur solc he s gehören,
für die gilt: der Bec her, aus dem Arthur in s
trinkt, enthält in s Gift. Besitz ist für diese
Deutung offenbar nic ht einsc hlägig, vielmehr
muß das gesuc hte R die Relation zwisc hen
Zec her und Bec her sein. Diese Relation ist
200
aber nur insofern einsc hlägig, als sie in den
Glaubens-Welten von Lanc elot besteht. Daher die in (GR) postulierte Abhängigkeit von
R von der Auswertungssituation.
Der Effekt von (GR) läßt sic h auc h als eine
situationsabhängige Umdeutung des betreffenden Substantivs auffassen: das normalerweise gesättigte Becher wird in den einsc hlägigen Äußerungssituationen im Sinne eines
relationalen BecherRgedeutet. Man könnte
deshalb daran denken, die auf den Einsc hlägigkeits-Parameter
zurü
c kgreifende
Regel
(GR) durc h eine Mehrdeutigkeits-Analyse des
betreffenden Nomens zu ersetzen, wobei dann
die häufigste Lesart von der Besitz-Interpretation geliefert wird. Gegen eine solc he lexikalisc he Ambiguität spric ht die Tatsac he, daß
die Zahl der potentiellen Lesarten im Prinzip
unbesc hränkt ist. Es handelt sic h hier um eine
Art Polysemie, eine systematisc he Ambiguität
im Lexikon, und (GR) dient zur Besc hreibung
dieser Polysemie. Wir kommen hierauf in Abschnitt 4.4 zurück.
Auc h die Strategie einer ersatzlosen Streic hung von (GQ) zugunsten einer Verallgemeinerung von (GR) auf beliebige Substantive ist
denkbar: der problematis
c hen Unters
c heidung zwisc hen relationalen und nic ht-relationalen Nomina könnte man aus dem Weg gehen, indem man Wörter wie Gemahlin im
Sinne des gesättigten Gemahlin von jemanden
deutet und dem Einsc hlägigkeitsparameter
die Arbeit überläßt, die ric htige Relation
(Ehe) zu liefern. Dieses Vorgehen würde auc h
erklären, warum selbst in Verwendungen typisc her relationaler Substantive gelegentlic h andere, vom Kontext offenbar stärker forc ierte
Relationen ins Spiel kommen: in einem Gespräc h unter Psyc hotherapeuten kann sic h
der Äußerer von (51) beispielsweise auf einen
Teil der weiblic hen Patientensc haft seines geschätzten Kollegen beziehen:
(51) Die Ehefrauen des Dr. Leid sind allesamt
hysterisch.
Doc h die inhärente Relationalität einiger
Substantive läßt sic h nic ht so leic ht wegerklären. Die angedeutete Strategie könnte etwa
den einfac hen und offenkundigen Bedeutungsunters
c hied zwis
c hen Vorabend und
Abend gar nic ht oder nur auf sehr gezwungene
Weise erklären: der Vorabend eines Tages ist
zugleic h auc h der Abend eines (freilic h anderen) Tages. Die ‘Sättigung’ der beiden Wörter führt also jeweils zum gleic hen Resultat.
Warum sollte dann für dieses Resultat einmal
IV. Kontexttheorie
die eine, einmal die andere Relation einsc hlägig sein?
Beispiele wie (51) sind durc haus im Geiste
der oben diskutierten Regeln erklärbar. Zunäc hst kann man das relationale Substantiv
Ehefrauen mit Hilfe der Regel (GQ) kontextuell sättigen; dafür benötigt man allerdings
eine pluralisc he Version von (GQ), die dann
eine Gruppe einsc hlägiger Ehemänner an die
Argumentstelle setzt. Bei akutem Mangel an
solc hen Männern müßte man auf die oben
nur angedeutete indefinite Sättigungsregel zurüc kgreifen. Das Resultat dieser Umkategorisierung ist ein gesättigtes Nomen, womit
(GR) anwendbar wird und die einsc hlägige
Therapeut-Patient-Beziehung ins Spiel bringt.
Kommen wir nun noc h kurz auf die linken
Genitivattribute zu sprec hen. Zunäc hst wieder ein paar Beispiele:
(46′) Queenie Vera ist Atzes Braut.
(47′) Latzehos ist Atzes Kumpel.
(48′) Exknallibus ist Atzes Knarre.
Offensic htlic h führt das linke Attribut stets
ein definites Element in die Nominalphrase
ein: Atzes Braut heißt soviel wie die Braut
Atzes, Atzes Kumpel bedeutet der Kumpel
Atzes etc . Im wesentlic hen läßt sic h also das
linke Attribut als eine Kombination zwisc hen
rec htem Attribut und definiten Artikel auffassen. Die Rolle des Einsc hlägigkeitsparameters ist damit — von etwaigen Eingriffen
in die Deutung des Artikels abgesehen —
dieselbe wie in den oben diskutierten Fällen.
Erwähnenswert ist die Konstruktion, weil sie
in unmittelbarem Zusammenhang zu der in
Absc hnitt 1.3 genannten Deutung der Possessivpronomina steht. Der Zusammenhang ist
folgender: die Position, die das linke GenitivAttribut innerhalb der NP einnimmt, ist die
des Artikels. Man könnte diese Konstruktion
also als eine Umkategorisierung der GenitivNP zum (genus- und kasusneutralen) Artikel
ansehen. Wir bezeic hnen diese Umkategorisierung hier einmal als Possessivierung. Es
fällt dann auf, daß dieselbe Konstruktion für
Personalpronomina tabu ist: *seiner Getreuer.
An die Stelle der zu erwartenden GenitivForm des Personalpronomens tritt hier das
Possessivpronomen. Damit ergibt sic h das
Possessivpronomen als Resultat der Possessivierungs-Regel (linkes Attribut) in Anwendung auf das Personalpronomen; es liegt somit nic ht im Einflußbereic h der Hypothese
(L).
Wie sie beim Genitiv-Attribut fehlende Argumente und Relationen einführt, so kommt
9. Kontextabhängigkeit
die Einsc hlägigkeit oft dann zu Hilfe, wenn
es in der logisc hen Form irgendwelc he Löc her
zu stopfen gilt. Damit läßt sic h vor allem die
Anzahl der nötigen kontextuellen Aspekte radikal reduzieren. Insbesondere lassen sic h auf
diese Weise allerlei abstruse vorgeblic he Kontextparameter ausmerzen wie beispielsweise
die in der Literatur gelegentlic h erwähnte Previous Drink Coordinate (PDC), die dafür sorgen soll, daß die an den Ober geric htete Aufforderung Noch so eins! nic ht nur von diesem,
sondern auc h von der Theorie korrekt interpretiert wird. Grob gesproc hen benötigt man
anstelle der an den Haaren herbeigezogenen
PDC lediglic h eine ähnlic he Strategie der Ellipsendeutung wie im Falle des Genitivattributs sowie eine vom Einsc hlägigkeitsaspekt
abhängige Deutung des Wortes so: erstere
führt die kontextuell einsc hlägige Eigensc haft, vom Gast gewünsc ht zu werden, ein,
während so auf die für diese Eigensc haft einsc hlägige Getränkesorte verweist. Natürlic h
stec kt auc h hier wieder der Teufel im Detail,
doc h ist diese Art der Ausnutzung von Einsc hlägigkeiten intuitiv und theoretisc h befriedigender als eine Kollektion von ‘Ad-Hoc ereien’ wie der PDC.
Selbst bei optimaler Ausnutzung des Becs hreibungs-Potentials des Eins
c hlägigkeitsParameters bleiben noc h einige zusätzlic he,
irreduzible Aspekte übrig: zumindest der
Sprec her-Parameter sc heint sic h einer Zurüc kführung auf Einsc hlägiges zu widersetzen. Ein weiterer, bisher nic ht erwähnter
Aspekt des Kontexts, der in diesem Sinne
ebenso irreduzibel ist, ist der Präzisionsgrad
der Aussage. Dabei handelt es sic h um denjenigen Parameter, der für eine großzügige
Deutung solc her Angaben wie zwei Millionen
Einwohner verantwortlic h ist und der durc h
gewisse Gradadverbien wie ungefähr oder
haargenau versc hoben werden kann (und sic h
damit als indexikalisc h erweist). Die Nic htReduzierbarkeit des Präzisionsgrads auf in
der Äußerungssituation Einsc hlägiges mac ht
man sic h analog zu den oben im Zusammenhang mit (44) angestellten Überlegungen zur
Irreduzibilität des Sprechers klar.
Wir wollen das Thema ‘Einsc hlägigkeit’
nic ht verlassen, ohne auf eine der Sc hattenseiten dieses sehr nützlic hen Parameters aufmerksam zu mac hen. Aus der Vielfalt der in
diesem Absc hnitt diskutierten Beispiele sollte
bereits hervorgegangen sein, daß sic h eine
Präzisierung des Begriffs der Einsc hlägigkeit
extrem sc hwierig gestalten dürfte. Vor allem
aber gilt dies dann, wenn man um eine zirkelfreie Erklärung bemüht ist, wenn also die
201
in einer Situation (hinsic htlic h beliebiger Eigensc haften) einsc hlägigen Gegenstände, Relationen usw. ohne Bezugnahme auf die —
aufgrund dieser ja erst zu ermittelnden —
Extensionen der in ihr gemac hten Äußerung
bestimmt werden sollen. Daß dies vielleic ht
nic ht einmal immer möglic h ist, belegt das
folgende Beispiel:
(52) Beim Überschreiten des Innenhofes hat
sich Martin das Bein gebrochen.
Selbst wenn man annimmt, daß Martin die
für die Relation des Bein-Besitzes beim Äußern von (52) einsc hlägigste Person ist, bleibt
die Tatsac he, daß er ein ungefiederter Zweibeiner ist. Was aber das Interesse auf eine der
beiden Extremitäten lenkt, sc heint nun gerade
die in (52) selbst zur Sprac he gebrac hte Fraktur zu sein. Einsc hlägig — so sc heint es jedenfalls — wird das gebroc hene Bein dadurch, daß von ihm geredet wird.
4.
Probleme
Dieser Teil dient dazu, ein wenig an den Wurzeln der klassisc hen Theorie und ihrer Varianten zu nagen. Die Probleme, um die es in
den folgenden vier Absc hnitten geht, sind
rec ht untersc hiedlic her Natur. Gemeinsam ist
ihnen, daß sie dazu beitragen, das in den
ersten drei Teilen dieses Kapitels vermittelte
heile Weltbild etwas ins Sc hwanken zu bringen. Nebenbei werden wir auc h einige weitere
Anwendungen der klassisc hen Theorien kennenlernen.
4.1 Bindung
Wir beginnen mit der Frage, ob die Personalpronomina der dritten Person Singular der
Hypothese (L) aus Absc hnitt 1.3 genügen.
Hier ist ein harmloses Beispiel:
(53) Er ist ein Genie.
Wir nehmen einmal an, (53) werde auf einem
Filmkritikertreffen in einer Diskussion über
Wim Wenders geäußert. In diesem Zusammenhang ist klar, daß sic h das Pronomen er
auf den Regisseur von Paris-Texas bezieht:
Wim Wenders ist das in dieser Diskussion
(hinsic htlic h Genialität) einsc hlägigste Individuum. Das legt die folgende einfac he Interpretationsregel für er nahe:
(R) Es sei s0 eine Äußerungssituation und s
eine Auswertungssituation. Dann gilt:
χer (s0)(s) ist das in s0 einschlägigste Individuum.
202
(Rer) ist alles andere als perfekt. Sc hon für
die Analyse von (53) reic ht die Regel nic ht
ganz aus, weil sie die Relativierung auf die
Genialität vernac hlässigt. Wenn nämlic h gerade vom jüngsten Opus des Meisters die
Rede ist, so ist dieser Film ebenso einsc hlägig
wie sein Regisseur. Aber als Eigensc haft eines
Film ist Geniehaftigkeit gänzlic h unpassend;
sie ist das Attribut des Künstlers. Deshalb ist
Wim Wenders in der genannten Situation hinsic htlic h der über den Subjekts-Referenten in
(53) gemac hten Aussage einsc hlägiger als sein
Werk. Um diese Überlegungen in eine Reformulierung von (Rer) einzubeziehen, bedarf
es offenkundig einer sorgfältigen Tokenanalyse.
Eine ähnlic he, aber leic hter zu behebende
Unzulänglic hkeit betrifft das Genus des Pronomens. Es ist denkbar, daß Wim Wenders
nic ht die einzige zur Debatte stehende sc höpferisc h tätige Person ist. Vielleic ht war ebensosehr von Doris Dörrie die Rede. Dennoc h
ist klar, daß man sic h mit er in (53) oder
sonstwo kaum auf diese Regisseurin beziehen
kann — und sei sie als Gespräc hsthema und
Genie-Kandidatin noc h so einsc hlägig: ihr natürlic hes Gesc hlec ht gebietet es, möglic hst mit
Pronomina femininen Generis auf sie zu verweisen. Zur thematisc hen Einsc hlägigkeit in
der Situation tritt also beim deutsc hen Personalpronomen in der dritten Person Singular
noc h eine sprac hlic he Nebenbedingung: das
Genus des Pronomens muß zum Referenten
passen. Im Falle von Personen heißt dies in
der Regel, daß männlic hes Gesc hlec ht mit
Maskulinum, weiblic hes aber mit Femininum
korreliert. Doc h das ist nur die halbe Wahrheit. Denn erstens kann man bekanntlic h auf
eine zuvor mit dem Attribut Mädchen oder
Fräulein versehene Person unter Umständen
mit neutralem es referieren; und auc h der Fall,
daß eine Person männlic hen Gesc hlec hts ist
und ein feminines Pronomen auf sie verweist,
ist gar nic ht so selten. Zweitens gibt es viele
Lebewesen und Gegenstände, die gar kein
natürlic hes Gesc hlec ht besitzen oder deren
natürlic hes Gesc hlec ht für die Auswahl des
Pronomens oft unerheblic h ist. Dies gilt z. B.
für Kater, auf die man sic h mit dem femininen
Substantiv Katze und in der Folge mit femininen Pronomina beziehen kann, oder auc h
für als Tasse bezeic hnete Trinkgefäße. Insgesamt spielen damit für die Entsc heidung des
Genus natürlic he Eigensc haften der Referentin ebenso eine Rolle wie die üblic herweise
oder unmittelbar vorher in der Äußerungssituation bereits auf sie bezogene Bezeic hnungen. Ohne alle Details zu rec htfertigen oder
IV. Kontexttheorie
zu kommentieren, geben wir hier eine hinsic htlic h der beiden eben genannten Unzulänglichkeiten verbesserte Version von (Rer):
(R) Es sei x ein Vorkommen des Personalpronomens er in dem in der Situation s0
geäußerten Satz α und s eine Auswertungssituation. Dann gilt:
χer(s0)(s) ist das in s0 bezüglich [λxα] einschlägigste Individuum, auf das entweder (a) in s0 kurz vor der Äußerung von
x mit einer maskulinen Nominalphrase
referiert wurde oder das (b) (für alle an
der Kommunikation in s0 Beteiligten offensichtlich) in der Extension eines gängigen maskulinen Nomens liegt.
Dabei ist [λxα] diejenige Eigenschaft, die
ein Individuum y in einer Situation s’
besitzt, falls die Ersetzung von x durch
einen Standardnamen von y zu einem
am Referenzpunkt ⟨s0,s’⟩ wahren Satz
führt.
Die Rolle der Eigenschaft [λxα] in (R2) besteht
darin, potentielle Referenten von er hinsichtlic h der durc h a ausgedrüc kten Eigensc haft
miteinander zu vergleic hen. Wie die Notation
andeuten soll, entspric ht dieser Bestimmung
einer Eigensc haft durc h hypothetisc he Substitution potentieller Alternativen zum Vorkommen eines Pronomens gerade die Abstraktion vom konkreten Wert einer Variablen. Bei der Definition von [λxα] wird — wie
in der sog. substitutionellen Deutung der Variablenbindung üblic h — vorausgesetzt, daß
jedes überhaupt infrage kommende y einen
(Standard-) Namen besitzt; diese Voraussetzung ließe sic h auf versc hiedene Weisen umgehen, würde aber die Regel (R2) nur noc h
umständlic her mac hen, als sie ohnehin sc hon
ist. Auf die Rolle der Bindung von x in (R2)
kommen wir gleic h wieder zurüc k. Zuvor
überzeugen wir uns aber noc h davon, daß
diese Bedeutungsregel tatsäc hlic h der Beschränkung (L) genügt.
Natürlic h bestätigt (R2) die Hypothese (L).
Da nämlic h im Definiens der Extension von
er die (metasprac hlic he) Variable s gar nic ht
ersc heint, führt die Anwendung von χer(s0)
auf
vers
c hiedene
Auswertungssituationen
stets zum selben Ergebnis. er ist demnac h
direkt referentiell. Da sic h weiterhin Äußerungssituationen hinsic htlic h der Einsc hlägigkeit einzelner Individuen stark untersc heiden
können, ist die Gleic hung χer(s0) = χer(s1)
nic ht allgemeingültig. er ist nac h (R2) also
deiktisch und erfüllt damit insbesondere (L).
9. Kontextabhängigkeit
Wenn nun er deiktisc h ist, dann läuft die
für die Bestimmung der Eigensc haft [χxα] vorgenommene Bindung auf eine Abstraktion
von der Äußerungssituation hinaus. Unterläuft damit (R2) das Monsterverbot (M)?
Nein. Denn (R2) ist ja nic ht für die Bestimmung der Extension des metasprac hlic hen
Ausdruc ks [λxα] zuständig. Diese wird zwar
am Rande auc h definiert, was aber nur eine
Erläuterung der Notation ist. Die Abstraktion von der Äußerungssituation findet also
bei [λxα] in der Metasprac he statt; und daß
sie dort zulässig — ja sogar unumgänglic h —
ist, steht außer Zweifel: jede in diesem Kapitel
diskutierte Bedeutungsregel nimmt auf Äußerungssituationen im allgemeinen Bezug und
abstrahiert somit von ihnen.
Sic herlic h könnte man (R2) noc h in versc hiedener Hinsic ht verfeinern. Wie auc h immer die Details dazu aussehen mögen: an der
Bestätigung von (L) aufgrund der direkten
Referentialität der Personalpronomina wird
sic h wohl nic hts ändern. Damit steht die Szenerie für das hier zu diskutierende Problem.
Nun heißt es: Vorhang auf! Eintritt:
(54) Jeder Kritiker läßt gerne einfließen, daß
er ein Genie ist.
Zunäc hst ist festzustellen, daß (54) die eingebettete Nebensatz-Variante von (53) als Teil
enthält. Was zu (53) gesagt wurde, sollte auc h
für (54) gelten. In einer Situation, in der von
Wim Wenders die Rede ist, wäre (54) folgendermaßen zu paraphrasieren:
(55) Jeder Kritiker läßt gerne einfließen, daß
Wim Wenders ein Genie ist.
Natürlic h ist diese Deutung möglic h. Doc h
besitzt (54) noc h eine andere Lesart, nac h der
sic h das Pronomen er auf das Subjekt des
Gesamt-Satzes zurüc kbezieht. Dieser Rückbezug ist nic ht so zu verstehen, daß das Pronomen als Abkürzung für das Subjekt steht;
denn (55″) untersc heidet sic h deutlic h von
dieser (und überhaupt jeder) Lesart von (54):
(55′) Jeder Kritiker läßt gerne einfließen, daß
jeder Kritiker ein Genie ist.
(54) ist in der rückbeziehenden, anaphorischen
Lesart möglic herweise wahr, (55′) mit Sic herheit falsc h. Damit kommt eine auf quantifizierende Nominalphrasen erweiterte Einsc hlägigkeits-Analyse nac h dem Vorbild von
(R2) für diese Lesart nic ht infrage. Was man
brauc ht, ist eher eine Tec hnik der Variablenbindung, wie man sie aus der Logik kennt.
Üblic herweise werden anaphorisc he Bezüge
203
durc h Bindung unsic htbarer Variablen in
einer zugrundeliegenden Struktur dargestellt.
Für die einsc hlägige Lesart von (54) müßte
man den Satz in sein Subjekt jeder Kritiker
und eine sog. Matrix oder offene Formel der
Gestalt x läßt gerne einfließen, daß x ein Genie
ist zerlegen. Um nun aus Subjekt und Matrix
den erwünsc hten Satz (54) zu konstruieren,
bedarf es einer speziellen syntaktisc hen Operation Q namens Quantorenbindung, deren semantisc hes Pendant ΣQ denselben Effekt wie
ein (auf die Extension des Nomens relativierter) die Variable x bindender Quantor hat. ΣQ
ist also eine zweistellige Operation über Charakteren mit dem folgenden Effekt:
(QS)
∑Q(χjeder Kritiker, χx läßt gerne einfließen, daß x ein Genie ist)
(s0)(s) = 1, falls für jede Einsetzung eines
(Standard-) Namens k für ein Individuum
aus der Extension χKritiker(s0)(s) gilt:
χk läßt gerne einfließen, daß k ein Genie ist (s0)(s) = 1.
ΣQ ist in dieser Form nic ht kompositionell
[vgl. dazu Artikel 7]. Eine sic h an das Kompositionalitätsprinzip haltende Reformulierung muß statt der Einsetzungen von Standardnamen für Kritiker untersc hiedlic he Belegungen, also Benennungen der Kritiker
durc h Variablen, heranziehen, von denen die
Extension der Matrix dann jeweils abhängt.
Aus (QS) wird damit:
(QB)
ΣQ(χjeder Kritiker, χx läßt gerne einfließen, daß x ein Genie ist)
(s0)(s) = 1, falls für alle Belegungen b von
x durch ein Individuum aus der Extension
χKritiker(s0)(s) gilt:
χk läßt gerne einfließen, daß k ein Genie ist (s0)(s) = 1, bei
der Belegung b.
Auc h diese Formulierung ist strenggenommen nic ht kompositionell, weil sie (für die
Relativierung) eine Zerlegung des Subjekts
vornimmt.
Dieses
Kompositionalitätsproblem hat aber nic hts mit den gegenwärtigen
Betrac htungen zu tun und läßt sic h auf leic hte
und befriedigende Weise mit den üblic hen
Methoden der Quantorensemantik [s. Artikel
21] lösen. Uns interessiert an (QB) vor allem
die Nebenbedingung bei der Belegung b. Damit die vom Charakter zugewiesene Extension
überhaupt von einer Belegung abhängt, muß
diese im Definitionsbereic h dieses Charakters
auftauc hen. Das kann sie prinzipiell an drei
Stellen: (i) als Bestandteil der Außerungssituation, also kontextuell; (ii) als Bestandteil
der Auswertungssituation, also indexikalisc h;
(iii) als weiteres Argument neben Äußerungsund Auswertungssituation, also eigenständig.
204
Alle drei Lösungen haben jedoc h ihre Tüc ken.
Das werden wir jetzt der Reihe nach zeigen.
Ad (i): Faßt man Belegungen als kontextuelle Parameter auf, gelangt man zu einer
Aufweichung des Monsterverbots (M). Wie
man an (QB) sieht, ist es gerade der Sinn (der
kompositionellen Deutung) der Quantorenbindung, daß man von irgendeiner festen Benennung abstrahiert und somit bei der Extensionsbestimmung auc h andere Benennungsmöglic hkeiten untersuc ht als etwa eine einzige, zufällig vom Kontext gegebene (in der
Äußerungssituation akute?) Belegung. (QB)
würde somit zu einer Versc hiebung der Äußerungssituation führen, womit ΣQ ein Monster
wäre.
Ad (ii): Die Indexikalisierung der Belegungen läßt zwei Varianten zu, die sic h in der
Besc hreibung des Zusammenhangs zwisc hen
gebundener Variable in der Matrix und Personalpronomen an der sprac hlic hen Oberfläche unterscheiden.
(ii-a) Die den gebundenen Variablen entsprec henden Pronomina werden als Reflexe
der Quantorenbindung aufgefaßt, die in Lautform und syntaktisc h-morphologisc hem Verhalten zufällig mit den ec hten Personalpronomina in Sinne der Analyse (R2) übereinstimmen. Während letztere als deiktisc he Ausdrüc ke analysiert werden, ist das gebundene
Pronomen im wesentlic hen ein anderes Wort
(oder syntaktisc hes Phänomen), das nic hts
mit direkter Refererenz zu tun hat, sondern
mit Intensionalität — denn nic hts anderes
wäre die durc h Quantorenbindung verursac hte Index-Versc hiebung. Es handelt sic h
um eine Mehrdeutigkeits- Analyse der Pronomina der dritten Person. Gegen eine solc he
Auffassung spric ht die durc h sie hervorgerufene Redundanz oder Umständlic hkeit in der
Sprac hbesc hreibung: jedes in Funktion einer
gebundenen Variablen auftretende Pronomen
müßte entweder im Lexikon doppelt klassifiziert und besc hrieben werden; oder die Operation F führt diese Pronomina synkategorematisch (d. h. ohne Lexikonzugriff) ein, womit die für die Kongruenz zur Bezugs-NP
benötigten morphologis
c hen Informationen
bei der Formulierung dieser Regel reproduziert werden müßten. Zudem bedürfte es einer
Erklärung, warum diese Art von Mehrdeutigkeit in sehr vielen Sprachen auftritt.
(ii-b) Man faßt die gebundenen Vorkommen von Variablen in der Matrix als gewöhnlic he Pronomina auf. Allerdings kann dann
die korrekte Semantik der Pronomina unmöglic h wie in (R2) aussehen. Denn einerseits
IV. Kontexttheorie
hängt nac h (R2) die Extension des Pronomens
nic ht vom Index, sondern vom Kontext ab;
und andererseits ist von einer Belegung in
dieser Regel sowieso nic ht die Rede. Letzteres
ist allerdings ein leic ht zu behebender Makel:
die in (R2) besc hriebene Abhängigkeit der Extension des Vorkommens eines Pronomens
von der Äußerungssituation kann ja als
Funktion von Äußerungen in (möglic he) Extensionen umgedeutet werden. Die so aufgefaßte Belegung müßte dann allerdings noc h
in den Index gesc hoben werden — sonst wären wir ja über die monströse Lösung (i) des
Problems ni
c ht hinausgekommen. Gegen
diese indexikalisc he Auffassung der variierenden Extension von Pronomina spric ht nun
aber eine Grundannahme der klassisc hen
Theorie, nämlic h das den Zusammenhang
zwisc hen Intension und Information postulierende Prinzip (F) oder eine seiner Differenzierungen (siehe Absc hnitt 2.5). Es ist auf
jeden Fall so, daß die in einer Äußerungssituation s0 von einem Satz übermittelte Information — also das, was der S atz in der S ituation besagt — mit seiner Intension (in s0)
übereinstimmt. Diese Identifizierung ist unvereinbar mit der Annahme (ii-b), die impliziert, daß Pronomina absolut gedeutet werden. Um dies einzusehen, kann man einen
beliebigen Satz mit ‘freiem’ Personalpronomen betrachten:
(56) Sie hat einen Holzkopf.
Nehmen wir an, (56) werde in einer Situation
geäußert, in der sic h das Subjekt auf eine sic h
in der erhobenen Hand der Sprec herin befindlic he Handpuppe bezieht. Die so übermittelte Information ist dann dieselbe wie die
durch (57) ausgedrückte:
(57) Diese Puppe hat einen Holzkopf.
Die Intensionen wären aber — wenn das Pronomen als absolut gedeutet wird — versc hieden: (56) würde das Verfahren zur Feststellung des Referenten des Subjekts in die Intension miteinbeziehen, während die durc h (57)
ausgedrüc kte Proposition direkt von der gezeigten Puppe als Gegenstand handelt.
An dieser Stelle wird die Tiefe des Problems
der Quantorenbindung wohl am deutlic hsten:
es weist auf eine in der klassisc hen Theorie
bestehende Spannung zwisc hen der Charakterisierung der Intension als absoluter Information einerseits und der Unversc hiebbarkeit
der Äußerungssituation andererseits hin. Die
Rolle der Pronomina als direkt referentielle,
die Intensionsebene überspringende Ausdrüc ke steht in einem klassisc h nic ht befrie-
9. Kontextabhängigkeit
digend zu lösenden Konflikt mit ihrer Funktion als quantifizierte, also durc h Abstraktion
oder Versc hiebung gedeutete Variablen. Solange dieser Konflikt auf einen eng begrenzten
Bereic h wie den des Einflußbereic hs der
Quantorenbindung besc hränkt ist, mag man
geneigt sein, Ad-hoc -Lösungen wie (ii-a) für
den besten Ausweg zu halten. In Absc hnitt
4.3 werden wir jedoc h sehen, daß sic h Bindungen einer erheblic h weiteren Verbreitung
erfreuen, als man es aufgrund des bisherigen
Diskussionsstandes erhoffen könnte.
Ad (iii): Dem soeben besc hriebenen Konflikt kann man durc h Einführung einer dritten Komponente des Referenzpunktes aus
dem Wege gehen: neben Kontext und Index
beherbergt dieser dann gleic hberec htigt noc h
eine Belegung der Pronomina, die auf diese
Weise — wie sc hon in der Variante (ii-b) —
als eindeutige Wörter aufgefaßt werden können. Gegen diese Vermeidungsstrategie läßt
sic h zweierlei einwenden. Erstens liefert sie
keine Garantie dafür, daß nic ht irgendwann
einmal weitere, der Quantorenbindung vergleic hbare Phänomene entdec kt werden, die
dann analog zu einer Vier-, Fünf- oder Sec hsteilung des Referenzpunktes führen würden.
Außerdem sollte man ein über das bloße Aufzeigen hinausgehendes Identifikationskriterium für das Phänomen der Quantorenbindung haben, das es von der üblic hen, als
Index-Vers
c hiebung aufgefaßten Intensionalität untersc heidet; daß die Angabe eines solc hen Kriteriums keine Trivialität ist, ersieht
man sc hon aus der Tatsac he, daß sic h nac h
dem in Absc hnitt 2.2 besc hriebenen Verfahren
auc h letztere prinzipiell als Variablenbindung
darstellen läßt.
4.2 Perspektivische Verschiebungen
In Absc hnitt 2.5 haben wir gesehen, daß im
Rahmen der erkenntnistheoretisc hen Umdeutung der klassisc hen Theorie Charakteren
momentane Bewußtseinsinhalte entsprec hen.
Da man sic h sprac hlic h auf die Gedanken
und Wahrnehmungen von Personen mit satzeinbettenden Verben wie glauben, befürchten,
hoffen, ahnen etc . beziehen kann, liegt der
Verdac ht nahe, daß eine adäquate Semantik
diese Verben als charakterielle Einstellungen,
also als (indexabhängige) Relationen zwisc hen Individuen und Charakteren analysieren sollte. Eine solc he Klassifikation satzeinbettender Verben widerspric ht nun allerdings
nic ht nur der in Absc hnitt 1.2 (und andernorts) gemac hten gängigen Annahme, daß es
sic h hier um propositionale Einstellungen
205
handelt; sie sc heint auc h mit dem Monsterverbot (M) unvereinbar zu sein. Wir wollen
deshalb näher untersuc hen, welc he Rolle c harakterielle Einstellungen in der logisc hen
Sprachanalyse spielen.
Zunäc hst muß betont werden, daß die erkenntnistheoretisc he Deutung der klassisc hen
Theorie eine Interpretation satzeinbettender
Verben als propositionale Einstellungen nic ht
aussc hließt; denn selbst wenn die Funktion
eines Einstellungsverbs darin besteht, einem
Individuum einen Bewußtseinsinhalt eines bestimmten, im Komplementsatz näher c harakterisierten Typs zu unterstellen, so könnte
diese Charakterisierung immer noc h durc h
eine Proposition erfolgen. Konkreter läßt sic h
diese Möglic hkeit an der folgenden aus Sic ht
der erkenntnistheoretisc hen Deutung nic ht
ganz unplausiblen Bedeutungsregel verdeutlichen:
(Rmeinen) Es sei ψ eine Verbalphrase der Gestalt meint daß φ, wobei φ ein
(Neben-) Satz ist; s0 und s seien
Außerungs- bzw. Auswertungssituationen. Dann ist χψ(s0)(s) die Menge
derjenigen Individuen x, für die gilt:
die durch φ ausgedrückte Proposition χφ(s0) folgt aus dem Bewußtseinsinhalt χx,s von x in s.
Das Meinen wird hier als emotionslose, den
Bewußtseinsinhalt c harakterisierende Einstellung aufgefaßt. Man beac hte nebenbei, daß
(Rmeinen) der Hypothese (L) genügt: meinen
referiert danach absolut.
Die in (Rmeinen) aufgestellte Bedingung soll
in dem Sinne verstanden werden, daß nac h
ihr der (als Charakter aufgefaßte) Bewußtseinsinhalt χx,s von x (in der Welt und zur
Zeit der Auswertungssituation s) so besc haffen ist, daß die ihm entsprec hende (als Proposition aufgefaßte) perspektivelose Information χx,s(sx) — also (in der Terminologie
von Absc hnitt 2.5) der objektivierte Bewußtseinsinhalt — nur Situationen umfaßt, in denen auc h p gilt; sxist dabei der kognitive
Zustand von x, also die von x aus gesehene
Situation s: sxund s stimmen weitestmöglic h
überein, aber x ist das Ego, das erkennende
Subjekt, in sx. Um Motivation und Arbeitsweise dieser Regel zu verstehen, kann man
(Rmeinen) auf ein einfaches Beispiel ansetzen:
(58) Martin meint, daß ich lisple.
Äußert Maria in einer Situation s0 diesen
Satz, bestimmt sic h der Wahrheitswert mit
(Rmeinen) wie folgt:
206
Nac h der so reduzierten Wahrheitsbedingung
besagt Marias Äußerung von (58) also, daß
Maria in jeder mit Martins Bewußtseinsinhalt
(zur Zeit der Äußerungssituation) vereinbaren Situation lispelt. Das ist sic herlic h kein
unerwünsc htes Ergebnis. Uns interessiert hier
vor allem, wie es zustande kommt. Denn einerseits deutet (Rmeinen) das satzeinbettende
Verb als propositionale Einstellung, doc h andererseits faßt diese Regel den Bewußtseinsinhalt des erkennenden Subjekts als Charakter
auf. Der Tric k besteht lediglic h in der perspektivischen Verschiebung: der Charakter des
Nebensatzes wird zunäc hst — den Grundprinzipien der klassisc hen Theorie gemäß —
an der Äußerungssituation ausgewertet; das
Resultat ist eine gewisse (in diesem Falle singuläre) Proposition. Dann wird die Auswertungssituation leic ht versc hoben, zur entsprec henden epistemisc hen Perspektive des Subjekts hin, aus der heraus die (singuläre) Proposition betrac htet wird. Die der Äußerungssituation eigene Perspektive wird also zur Ermittlung der durc h den Nebensatz ausgedrüc kten Propositon benutzt; doc h für die
Feststellung der Einstellung des Subjekts wird
sie ignoriert. Dieses Vorgehen entspric ht natürlic h genau der bereits in Absc hnitt 1.2 skizzierten Deutung von Einstellungsverben. Neu
ist hier lediglic h, daß dem Subjekt der Einstellung eine epistemisc he Perspektive unterstellt wird.
Mit der epistemisc hen Perspektive ist es in
(Rmeinen) nic ht allzu weit her. Ein zweiter Blic k
zeigt nämlic h, daß diese prinzipiell nic ht in
die Deutung von Einstellungssätzen einbezogen wird. Intuitiv gesehen liegt das daran,
daß die Regel ohnehin nur auf einen Vergleic h
IV. Kontexttheorie
zweier perspektiveloser Propositionen hinausläuft: die erste ist die Intension v des eingebetteten Nebensatzes in der Äußerungssituation, die zweite der seiner ihm eigenen Perspektive beraubte, objektivierte Bewußtseinsinhalt μ des Subjekts, und verglic hen werden
die beiden hinsic htlic h der Frage, ob der erste
den zweiten (im Sinne einer Mengeninklusion) umfaßt. Sowohl die dem Charakter des
eingebetteten
Nebensatzes
innewohnende
Perspektive als auc h insbesondere der epistemisc he Blic kwinkel des Subjekts werden in
(Rmeinen) übergangen.
Wir haben bereits in Absc hnitt 2.5 festgestellt, daß der Verlust der epistemisc hen Perspektive durc h Objektivierung einen Informationsverlust nac h sic h ziehen kann: versc hiedene Individuen können dem Subjekt auf
versc hiedene Arten gegeben sein. Dieser Informationsverlust spiegelt sic h in konkreten
semantisc hen Effekten der Regel (Rmeinen)
wider. Der erste, harmlose Effekt mac ht
sic h dann bemerkbar, wenn sic h etwa Martin
und Maria in s0gegenüber sitzen, Martins
Bewußtseinsinhalt χMartin,s0 den Charakter
χDu lispelstumfaßt, Martin aber nic ht nur sein
Gegenüber, sondern auc h seine Vermieterin
für eine Lisplerin hält, die beiden allerdings
nic ht miteinander in Beziehung bringt, obwohl es sic h in beiden Fällen um Maria handelt. Unter diesen Annahmen mac ht (Rmeinen)
Marias Äußerung von (58) sozusagen aus
zwei unabhängigen Gründen wahr: die Intension des eingebetteten Nebensatzes ist dieselbe singuläre Proposition p wie die in Martins epistemisc hen Zustand durc h Du lispelst
bzw. Meine Vermieterin lispelt ausgedrückte.
Der erste Effekt von (Rmeinen) besteht also ganz
einfac h darin, daß zwei voneinander unabhängige Meinungen Martins durc h ein und
dieselbe Besc hreibung Marias abgedec kt werden, daß also Marias Aussage (58) eine gewisse Unbestimmtheit unterstellt wird.
Ein umgekehrter Effekt ergibt sic h, wenn
Martin — vielleic ht aufgrund einer neuen Frisur oder einer Wahrnehmungsstörung — sein
Gegenüber nic ht als seine Lebensgefährtin erkennt, von der er gerade annimmt, daß sie
nic ht lispelt. Ein in etwa dem Satz Meine
Lebensgefährtin lispelt nicht entsprechender
Charakter gehört demnac h ebenfalls zu Martins aktuellem Bewußtseinsinhalt. Da Maria
Martins tatsä
c hli
c he Lebensgefährtin ist,
folgt nun, daß der objektivierte Bewußtseinsinhalt χMartin,s0(s0Martin) auc h das Gegenteil von
p impliziert. χMartin,s0 (s0Martin) ist damit widersprüc hlic h und impliziert — wie man sic h
leicht überlegt — überhaupt jede Proposition.
9. Kontextabhängigkeit
Maria hätte also auc h behaupten können, daß
es nac h Martins Meinung in Kreuzlingen Zebras gibt und damit — nac h (Rmeinen) — auf
jeden Fall rec ht gehabt. Dieser Defekt von
(Rmeinen) läßt sic h nun relativ leic ht ausmerzen,
ohne daß sic h an der Idee der Regel Wesentlic hes ändert: anstatt Bewußtseinsinhalte als
Charaktere aufzufassen, könnte man — intuitiv etwa entsprec hend den vom Subjekt für
wahr befundenen Sätzen — dieselben adäquater durc h Mengen von Charakteren repräsentieren. Die absurde Konsequenz um
(59) würde auf diese Weise vermieden; allerdings wäre dann immer noc h Marias Äußerung von (58′) wahr, was angesic hts der Umstände — insbesondere Martins unersc hütterlic hen Glaubens an die reine Artikulation seiner Lebensgefährtin Maria — jedoc h gar
nicht einmal unerwünscht ist:
(58′) Martin meint, daß ich nicht lisple.
Diese Tec hnik der Widerspruc hs-Vermeidung
— im wesentlic hen eine Adaption der sog.
Umgebungs- Semantik für propositionale Einstellungen — hat ihre Grenzen, die sic h besonders deutlic h zeigen, wenn der eingebettete
Satz oder seine Negation notwendig wahr ist,
ohne zugleic h a priorisc h zu sein. Ein typisc her Fall liegt etwa vor, wenn Maria unter
Anspielung auf ihre perfekte Verkleidung die
folgende zutreffende Behauptung aufstellt:
(59) Martin meint, daß ich Maja bin.
Zumindest unter der Annahme, daß es sic h
bei Maja um einen Standard-Namen (von
Marias Freundin) handelt, drüc kt der in (59)
eingebettete daß-Satz eine widersprüc hlic he
Proposition aus. Damit folgt sofort, daß nac h
(Rmeinen) unter den gegebenen Umständen jede
Äußerung wahr ist, die Martin eine widersprüc hlic he Meinung unterstellt — also auc h
etwa:
(59′) Martin meint, daß ich Ruth Rendell bin.
Der Sc hluß von (59) auf (59′) ist nun allerdings sehr gewagt, zumal zwisc hen Marias
Freundin und der großen britisc hen Kriminalsc hriftstellerin keinerlei äußerlic he Ähnlichkeit besteht.
Die Grenzen, an die die Regel (Rmeinen) hier
stößt, sind natürlic h auc h die Grenzen des der
klassisc hen Theorie zugrundeliegenden und
bereits in Absc hnitt 1.1 als bekanntermaßen
zu grobmasc hig eingesc hätzten Propositionsbegriffs. Der Sc hluß von einem Widerspruc h
auf einen beliebigen anderen (klassisc h: denselben!) bzw. von einer Einstellung zu einem
Widerspruc h auf die Einstellung zu jedem Wi-
207
derspruc h läßt sic h völlig unabhängig von der
hier betrac hteten Regel — einfac h aufgrund
des Propositionsbegriffs und des Monsterverbots — vorführen. Eine Kritik an (Rmeinen)
unter Hinweis auf die offensic htlic h inadäquate Erfassung solc her Beispiele wie (59)
und (59′) könnte damit im gegenwärtigen Zusammenhang als thematisc h verfehlt empfunden werden. Wir werden zwar noc h sehen,
daß der Zusammenhang zwisc hen der Feinheit des Propositions-Begriffs und der Einbeziehung epistemisc her Perspektiven in die
Deutung von Einstellungsberic hten enger ist
(oder jedenfalls enger konstruiert werden
kann), als es hier den Ansc hein haben mag.
Im Interesse einer skeptisc hen Lesersc haft tun
wir jedoc h vorerst einmal so, als handele es
sic h hier um zwei vollkommen unabhängige
Phänomene.
Von solc hen Problemen einmal abgesehen,
lassen sic h also Einstellungsberic hte vermittels satzeinbettender Verben einigermaßen befriedigend mit Hilfe der bezüglic h epistemisc her Arten des Gegebenseins unspezifisc hen
Regel (Rmeinen) besc hreiben. Das unspezifisc he
Element ist aber nic ht bei allen Typen von
Einstellungsberichten erwünscht:
(60) Bettina meint, mit Eddy Merckx verheiratet zu sein.
Im Untersc hied zu den bisher betrac hteten
Beispielen liegt hier (oberfläc hlic h) keine
Satz-Einbettung vor. Daß hier eine gegenüber
den bisherigen Beispielen neue Dimension eröffnet wird, sieht man, wenn man versuc ht,
(60) mit Hilfe von (Rmeinen) zu deuten und den
Infinitiv als Ausdruc k einer unvollständigen,
um das Matrix-Subjekt zu ergänzenden Proposition aufzufassen:
(60′) Bettina meint, daß sie mit Eddy Merckx
verheiratet ist.
Das im eingebetteten Satz ergänzte Personalpronomen müßte dann natürlic h als durc h
das Matrix-Subjekt (im Sinne des vorhergehenden Absc hnitts) gebunden gedeutet werden. (Daß hier eine bloße, auf kontextuelle
Eins
c hlägigkeit zurü
c kgehende extensionale
Übereinstimmung nic ht ausreic ht, sieht man
an analogen Beispielen mit quantifizierendem
Subjekt; es liegt also — syntaktisc h gesproc hen — Kontrolle durc h das Matrix-Subjekt
vor.) Aber ansonsten könnte ja die Deutung
im Stil von (Rmeinen) vonstatten gehen. Da im
Falle von (Standard-) Namen Bindung und
Ersetzung auf intensionaler Ebene keinen Untersc hied mac hen — in beiden Fällen kommt
eine singuläre Proposition über den Referen-
208
ten heraus — und nur die Intension für
(Rmeinen) von Belang ist, könnten wir die Probleme aus Absc hnitt 4.1 verdrängen und (60′)
einfach durch (60″) ersetzen:
(60″) Bettina meint, daß Bettina mit Eddy
Merckx verheiratet ist.
Dabei gehen wir natürlic h davon aus, daß die
beiden Vorkommen des Namens Bettina in
(60″) auf ein und dieselbe Person, Bettina,
verweisen.) Nac h (Rmeinen) besagen also (60)
und (60″) genau dasselbe. Doc h ist das korrekt? Unter den meisten Umständen werden
wohl die beiden Sätze in der Tat auf dasselbe
hinauslaufen, doc h möglic herweise nic ht in
allen. Eine Situation, in der (60) falsc h, aber
(60″) wahr ist, könnte sic h etwa so abspielen:
Bettina findet auf dem Speic her ein altes
Hoc hzeitsfoto von sic h und ihrem Gatten
Wendelin. Das Foto zeigt Wendelin halb verdec kt in seiner Sportausrüstung; sie selbst ist
nur von hinten zu sehen, aber unsc hwer als
seine Braut zu identifizieren. Den Rest kann
man sic h denken: Bettina glaubt, daß es sic h
bei dem abgebildeten Athleten um den großen
belgisc hen Radfahrer handelt und dementsprec hend bei der nic ht zu erkennenden Braut
um dessen Gattin. Nac h (Rmeinen) ist der Fall
dann klar: die (in einer beliebigen Äußerungssituation) durc h den in (60″) eingebetteten
Nebensatz ausgedrüc kte singuläre Proposition folgt in der besc hriebenen Situation aus
Bettinas objektivierten Bewußtseinsinhalt: die
von Bettina auf dem Foto betrac htete Frau
ist ihrer Meinung nac h mit Eddy Merc kx
verheiratet, und in Wirklic hkeit ist die so besc hriebene Frau Bettina selbst. Die Falsc hheit
von (60) sc heint jedoc h durc h diese Gesc hic hte unberührt: von sic h selbst glaubt Bettina nic hts dermaßen Falsc hes, wie ihr in (60)
unterstellt wird. Es sc heint, als müsse Bettina
im Falle der Wahrheit von (60) das Subjekt
der Einstellung als S ubjekt gegeben sein; die
durc h den eingebetteten Satz (in einer entspre
c henden
Äußerungssituation)
ausgedrüc kte Proposition muß sic h also nic ht —
wie in (Rmeinen) gefordert — irgendwie durch
Objektivierung einer Meinung von Bettina ergeben, sondern auf eine ganz bestimmte Art
und Weise, nämlic h durc h Auswertung des
Sprec her- oder Subjekt-Parameters (in einem
gewissen epistemisc hen Zustand Bettinas).
Die in (60) von Bettina behauptete Einstellung muß eben — in einer gängigen Terminologie — eine Meinung de se sein. Und genau
diese Nebenbedingung wird durc h die Zurüc kführung von (60) auf die Paraphrase (60′)
IV. Kontexttheorie
übersehen; die Sc huld daran trägt natürlic h
die weiter oben beobac htete Unbestimmtheit
von (Rmeinen).
Mehreres läßt sic h gegen diese Betrac htungen einwenden. Zum einen ist es gar nic ht so
klar, ob (60″) — oder auc h (60′) — unter den
genannten Umständen wirklic h in irgendeinem Sinne wahr wäre. Dies würde nun allerdings auf eine Kritik der Regel (Rmeinen) hinauslaufen, die bei dieser bereits die Sensitivität
gegenüber der epistemisc hen Perspektive des
Subjekts vermißt. In diesem Falle hätten wir
also gar nic ht erst die infinitivisc he Variante
zu bemühen brauc hen. Diese Kritik wollen
wir dahingestellt sein lassen, weil einerseits
die Frage des Wahrheitswerts der genannten
Sätze möglic herweise nic ht ganz theorieunabhängig beantwortet werden kann und andererseits eine Ablehnung von (Rmeinen) aufgrund
mangelnder Rüc ksic htnahme auf epistemisc he Perspektiven unserem Argumentationsgang ohnehin entgegenkommt. Ein zweiter
Einwand könnte natürlic h genau dem umgekehrten Weg folgen und sc hlic htweg die
Falsc hheit von (60) infrage stellen. Die Infinitiveinbettung wäre dann mit (Rmeinen) korrekt gedeutet. Immerhin müßte man unter
dieser Annahme zunäc hst (etwa pragmatisc h)
erklären, warum denn (60) in der besc hriebenen Situation zumindest falsch wirkt. Die
prinzipielle Möglic hkeit einer solc hen Erklärung können wir hier nic ht bezweifeln; wir
gehen jedoc h davon aus, daß die Falsc hheit
von (60) ein semantisc hes, die wörtlic he Bedeutung dieses Satzes betreffendes Phänomen
ist. Weitere Einwände könnten die spezielle
Art des Gegebenseins Bettinas durc h Vermittlung einer Fotographie betreffen. In so
einem Falle ist der Leser angehalten, sic h ein
besseres Beispiel auszudenken.
An dieser Stelle erhebt sic h natürlic h die
Frage, ob man nic ht den subtilen Bedeutungsuntersc hied zwisc hen (60) und (60′) durc h eine
genauere Paraphrase besc hreiben kann. Also
etwa durch:
(60) Bettina meintde se, daß sie mit Eddy
Merckx verheiratet ist.
Wir wollen einmal dahingestellt sein lassen, was wohl der genaue Zusammenhang
zwisc hen den beiden Verben meinen und
meinende sesein könnte. Stattdessen zeigen wir,
daß eine kompositionelle Deutung der Paraphrase (60s) keineswegs eine triviale Angelegenheit ist. Betrac hten wir zunäc hst die intendierte Deutung von meinende se:
9. Kontextabhängigkeit
(Rmeinen de se) Es sei ψ eine Verbalphrase der
Gestalt meintde se daß φ, wobei φ
ein (Neben-) Satz ist; s0 und s
seien Äußerungs- bzw. Auswertungssituationen. Dann ist
χψ(s0)(s) die Menge derjenigen
Individuen x, für die gilt: der
Bewußtseinsinhalt χx, s von x in
s impliziert denjenigen Charakter x, der an einem Referenzpunkt ⟨s1,s’⟩ den Wahrheitswert
1 liefert, falls der Sprecher von
s1 die durch φ ausgedrückte Proposition χφ(s0) in s’ erfüllt.
Den bislang undefinierten Implikationsbegriff für Charaktere kann man entweder —
in Analogie zu dem in Absc hnitt 2.5 eingeführten A Priori — als Folgerung an allen
diagonalen Referenzpunkten oder — wenn
man Bewußtseinsinhalte durc h Mengen von
Charakteren rekonstruiert — als Elementschaftsbeziehung auffassen.
Wie (Rmeinen de se) gemeint ist, mac ht man
sic h am besten anhand des Beispiels (60s) klar.
In diesem Falle verlangt die Regel (von einer
Auswertungssituation), daß Bettinas Bewußtseinsinhalt (in dieser Situation) den Charakter
des Satzes Ich bin mit Eddy Merckx verheiratet impliziert; denn dieser ist gerade an
einem Punkt ⟨s1,s’⟩ wahr, falls die Sprec herin in s1 die durc h sie mit Eddy Merckx verheiratet ist ausgedrüc kte Proposition erfüllt.
(Rmeinen de se) sc heint uns also in der Tat die
intendierte Deutung de se für (60) zu geben.
Bei der Formulierung von (Rmeinen de se)
haben wir an entsc heidender Stelle gemogelt.
Wir haben nämlic h vergessen zu sagen, was
es für ein Individuum x bedeutet, eine Proposition zu erfüllen. Auf den ersten Blic k
sc heint es sic h hier um ein harmloses Versehen
zu handeln. Denn wir sind ja in diesem Falle
nur an singulären Propositionen p interessiert,
die jeweils aus genau den Situationen bestehen, in denen ein bestimmtes, festes Individuum xp eine bestimmte, feste Eigensc haft Ep
hat; und in (Rmeinen de se) ist natürlic h in diesem
Falle mit der Erfüllung von p durc h x (in s)
gemeint, daß x (in s) die Eigensc haft Epbesitzt. Diese Definition mac ht nun allerdings
offensic htlic h nur dann Sinn, wenn sic h aus
dem singulären p die Eigensc haft Epeindeutig
ermitteln läßt. Das kann man im allgemeinen
jedoc h nic ht erwarten: sc hon in unserem Beispiel sc hlägt nämlic h diese Bestimmung fehl,
handelt doc h die zur Debatte stehende Proposition genausogut von Eddy Merc kxs wie
209
von Bettina, wobei allerdings den beiden ganz
vers
c hiedene
Eigens
c haften
zugespro
c hen
werden. Nac h (Rmeinen de se) müßte also (60s)
noc h eine Lesart besitzen, nac h der Bettina
meint, mit Bettina verheiratet zu sein. Doc h
das ist offenkundig absurd.
Die Situation ist nic ht hoffnungslos. Denn
(Rmeinen de se)läßt sic h dann retten, wenn es nur
gelingt, den Gegenstand der durc h den Nebensatz ausgedrüc kten Proposition eindeutig
als die Stelle zu bestimmen, an der das auf
das Einstellungssubjekt zurüc kbezogene Pronomen steht. Neben einer Markierung der
Einstellung als Meinung de se benötigt die
Paraphrase also auc h noc h eine Markierung
des Pronomens als an die Sprec her-Perspektive gebundenes Pronomen:
(60) Bettina meintde se, daß sie* mit Eddy
Merckx verheiratet ist.
Der Stern deutet dabei gerade an, daß das
Pronomen das Thema der durc h den Satz
ausgedrüc kten Proposition ist. Dabei muß
natürlic h der Themenbegriff irgendwie präzisiert werden. Das kann z. B. dadurc h gesc hehen, daß man die gesamte Proposition p
in Thema und Rest (= Rhema) strukturiert,
indem man sie etwa als Paar ⟨xp,Ep⟩ auffaßt.
Die Details einer solc hen Verfeinerung des
Propositionsbegriffs sind äußerst tric kreic h
und können an dieser Stelle unmöglic h vorgeführt werden. [Siehe dazu Artikel 34.] Wir
erwähnen hier lediglic h die prinzipielle Möglic hkeit einer Präzisierung von (Rmeinen de se) mit
Hilfe thematisch strukturierter Propositionen.
Die Version (60C) weist den Weg zu einer
ganz anderen Möglic hkeit der Deutung von
(60) im Rahmen der klassisc hen Theorie, aber
ohne Verfeinerung des Propositionsbegriffs.
Denn wenn die gesternten Pronomina in jedem Falle als Ausdruc k der Subjekts-Perspektive gedeutet werden, sind sie selbst —
solange nur irgendwie die Stellen markiert
werden, an die sie gehören — vollkommen
redundant. Statt auf (60C) könnte man (60)
also genausogut auf (60*) zurückführen:
(60.) Bettina meint, daß * mit Eddy Merckx
verheiratet ist.
Der Untersc hied zwisc hen (60C) und (60*) ist
nun, daß bei letzterem ein unvollständiger,
lüc kenhafter Satz eingebettet ist; dem eingebetteten Satz fehlt das Subjekt, womit er (zumindest semantisc h gesehen) eine Art VP ist.
Statt wie in (R*meinen) könnte man also die
Extension der Konstruktion ‘meinen + Infinitiv’ auf den Charakter dieser VP zurüc kführen. In der Tat: nic hts liegt oberfläc hlic h
210
näher; diese VP ist ja — von der Finitheit
des Verbs abgesehen — der eingebettete Infinitiv! Die entsprec hende Regel kann dann
(Rmeinen de se) ersetzen. Und so sieht sie aus:
(Rmeinen + INF) Es sei ψ eine Verbalphrase der
Gestalt meint φ, wobei φ ein
Infinitiv (mit zu) ist; s0und s
seien Äußerungs- bzw. Auswertungssituationen. Dann ist
χψ(s0)(s) die Menge derjenigen
Individuen x, für die gilt: der
Bewußtseinsinhalt χx, s von x in
s impliziert denjenigen Charakter χ, der an einem Referenzpunkt ⟨s1,s’⟩ den Wahrheitswert 1 liefert, falls der Sprecher
von s1 in s’ die durch φ ausgedrückte Eigenschaft χφ(s0) besitzt, falls also gilt: χich(s1)(s’) ∈
χφ(s0)(s’).
Die Überprüfung von (Rmeinen + INF) am Beispiel (60) überlassen wir diesmal der Leserin.
Wir weisen zudem darauf hin, daß nac h dieser
Regel die Infinitiveinbettung unter meinen
kein Monster ist. Das wiederum ersieht man
unmittelbar aus dem Umstand, daß in der
obigen Bedingung zur Festlegung der Extension der Verbalphrase vom Charakter des eingebetteten Infinitivs nur insofern die Rede ist,
als seine Intension in der Äußerungssituation
betrac htet wird. Für zwei intensionsgleic he
Infinitive kommt also jeweils dieselbe Menge
meinender Individuen heraus. Die geneigte
Leserin möge auc h diese Behauptung am Beispiel (60) und unter Heranziehung etwa des
durc h Eddy Merc kx geäußerten Satze (61)
überprüfen:
(61) Bettina meint, mit mir verheiratet zu
sein.
Meinungen de se sind nac h (Rmeinen + INF)
Selbstzuschreibungen von Eigensc haften. Da
im Falle von (60) die zugesc hriebene Eigensc haft gerade die Intension des eingebetteten
Infinitvs ist, ist die Deutung nac h (Rmeinen + INF)
sehr direkt und elegant. So besehen ist sie der
nur um den Preis einer Verfeinerung des Propositions-Begriffs präzisierbaren Zurüc kführung (Rmeinen de se) der Infinitiveinbettung auf
eine Satzeinbettung überlegen. Andererseits
ist die Deutung der perspektivisc hen Bindung
mit Hilfe strukturierter Propositionen eine
universeller einsetzbare Strategie als die oberfläc hennahe Deutung der Infinitiveinbettung
als Selbstzusc hreibung, läßt sic h doc h auf
diese Weise auc h das im Zusammenhang mit
(59) und (59′) angesproc hene Problem der
IV. Kontexttheorie
Einstellung zum Widerspruch lösen.
Die Deutung des Meinens de se als Selbstzusc hreibung einer gewissen Eigensc haft läßt
sic h mit der in Absc hnitt 2.5 angesproc henen
Version (E’) der Untersc heidung von perspektiveloser und lokalisierender Information in
Verbindung bringen. Den Zusammenhang erkennt man am klarsten im Rahmen einer Parametrisierung von Äußerungs- und Auswertungssituationen (im Sinne von Absc hnitt
2.1). Um ihn herzustellen, bedarf es allerdings
der Annahme, daß es genau einen rein kontextuellen Parameter gibt, und zwar den des
Sprec hers. Dann läßt sic h mit (E’) die Regel
(Rmeinen + INF) folgendermaßen äquivalent umformulieren:
(R’meinen + INF) Es sei ψ eine Verbalphrase der
Gestalt meint φ, wobei φ ein
Infinitiv (mit zu) ist; c sei ein
Kontext, i ein Index. Dann ist
χψ(c)(i) die Menge derjenigen
Individuen x, für die gilt: der
Sprecher jedes Kontexts c’ aus
!χx,i ist in χφ(c)(i(c’)).
Unter den gegebenen Annahmen läßt sic h die
Äquivalenz dieser Formulierung mit der Ausgangsregel leic ht nac hweisen. (E’) lag ja die
Idee zugrunde, daß die lokalisierende Information eines Charakters χ bereits in der als
Menge von Kontexten aufgefaßten waagerec hten Diagonalisierung !χ derselben stec kt.
Insbesondere müssen also Folgerungen aus
Bewußsteinsinhalten χx,s als Folgerungen aus
!χx,i darstellbar sein (wobei i die Parametrisierung von s als Auswertungssituation ist). Was
soll es aber heißen, daß ein Charakter χ aus
der Menge !χx,i von Kontexten folgt? Hier
hilft ein beliebig gewähltes Beispiel weiter:
offenbar impliziert Alains Bewußtseinsinhalt
etwa den Charakter χmir ist kalt, falls sic h Alain
in einer Situation zu befinden meint, deren
Ego zu deren Zeit an deren Ort in deren Welt
etc . friert, falls also χmir ist jetzt hier tatsäc hlic h kalt an
allen Kontexten in !χx,i — im Sinne des Default-Prinzips (D) — wahr ist. Letzteres heißt
aber gerade, daß !χx,i
eine Teilmenge von χmir ist kalt
ist. In dem uns interessierenden Fall wird
so aus der in (Rmeinen + INF) geforderten Implikation zwisc hen χx,s und χ eine Teilmengenbeziehung zwisc hen !χx,i und der Menge
der Kontexte c’, für die χich(c ’)(i(c ’)) in
χφc( )(i(
c ’)) liegt. Damit ist klar, daß
(Rmeinen + INF) in der Tat nur eine Reformulierung von (Rmeinen + INF) auf der Basis von (E’)
ist.
9. Kontextabhängigkeit
Die Formulierung (R’meinen + INF) ist dann
besonders aufsc hlußreic h, wenn der eingebettete Infinitiv φ keinerlei deiktisc he Elemente
enthält. In diesem Falle besagt die Regel, daß
alle indexikalisc hen Parameter durc h die
durc h einen Kontext c’ repräsentierte epistemisc he Situation des Subjekts besetzt werden.
Unserer Annahme gemäß ist der einzige zusätzlic he kontextuelle Parameter der des Sprec hers; und dieser wird nac h (R’meinen + INF)
ebenfalls von c’ determiniert. Die durc h einen
Satz wie (62) beric htete Einstellung läuft also
auf eine Lokalisierung der epistemisc hen Situation des Subjekts hinaus: der Satz ist wahr,
falls Alain seine eigene Situation als eine solc he begreift, zu deren Zeit, an deren Ort, in
deren Welt etc. das Subjekt friert:
(62) Alain meint zu frieren.
Der Beitrag des in (62) eingebetteten Infinitivs
zur Extensionsbestimmung reduziert sic h somit auf die Menge der Kontexte c’, deren
Sprec her die durc h das Verb ausgedrüc kte
Eigensc haft besitzen. Das dem Infinitiv fehlende Subjekt wird also nac h (R’meinen + INF)
implizit als Aspekt eines Kontexts aus dem
Bewußtseinsinhalt des Einstellungssubjekts
aufgefaßt. Der eingebettete Infinitiv ersc heint
so als unmittelbarer Ausdruc k einer gewissen
lokalisierenden Information im Sinne der Untersc heidung (E’). Dabei ist freilic h zu beac hten, daß diese Lokalisierung nic ht durc h den
!-Operator aus dem infinitivisc hen Charakter,
sondern lediglic h durc h eine (in der metasprac hlic hen Erläuterung gegebene) Deutung
der unbesetzten Subjekts-Stelle gewonnen
werden kann. Aber immerhin: (R’meinen + INF)
liefert in der Anwendung auf Beispiele wie
(62) eine gute Illustration für (E’): lokalisierende Informationen kann man sic h als die
durc h absolut referierende Infinitive ausgedrückten Eigenschaften vergegenwärtigen.
Bevor wir das Thema ‘Einstellungsverben’
endgültig verlassen, sei noc h darauf hingewiesen, daß sic h die anhand infinitiveinbettender Verben dargestellte Deutung von Einstellungen de se durc h Selbstzusc hreibung
prinzipiell auc h auf satzeinbettende Verben
übertragen läßt. Die für diese Übertragung
erforderlic he semantisc he Tec hnik ist die aus
der Kategorialgrammatik entlehnte Lückenvererbung, deren Darstellung hier allerdings
zu weit führen würde. (Eine ausführlic he
Würdigung enthält Artikel 7.) Dieser Hinweis
mag jenen Rest von Skepsis gegenüber der
weiter oben vorgeführten Deutung (Rmeinen)
satzeinbettender Verben zerstreuen, der an-
211
gesic hts eventueller Lesarten de se noc h verblieben sein könnte. Daß die Details sehr
kompliziert sind, wird der geduldige Leser
spätestens dann merken, wenn er selbst einmal versuc ht, den subtilen Bedeutungsuntersc hied zwisc hen (63) und (63′) den einsc hlägigen Regeln gemäß zu beschreiben:
(63) Lakoff träumte, daß er Brigitte Bardot
war und ihn selbst küßte.
(63′) Lakoff träumte, daß er Brigitte Bardot
war und sich selbst küßte.
In (63) soll dabei das akkusativisc he Personalpronomen auf das Matrix-Subjekt Lakoff
zurüc kbezogen sein, während das Reflexivum
in (63′) an das Subjekt er des eingebeteten
Satzes gebunden werden soll. Selbst wer (wie
der Verfasser dieser Zeilen an allen Tagen mit
ungeradem Datum) für (63) die Lesart, nac h
der Lakoff in seinem Traum die Welt aus BBs
Augen sieht und aus dieser Perspektive einen
bedeutenden Linguisten küßt, nic ht so rec ht
nac hempfinden kann, ist herzlic h dazu eingeladen, diesem Satz einmal zu Übungszwekken ebendiese Interpretation zu unterstellen.
Den bisher in diesem Absc hnitt betrac hteten Beispielen ist gemeinsam, daß die in ihnen
enthaltenen deiktisc hen Elemente — ganz im
Sinne der klassisc hen Theorie — stets unmittelbar auf die Äußerungssituation bezogen
waren und daß andere, dieser Situation
fremde Perspektiven niemals zur Ermittlung
der Intensionen irgendwelc her Teilausdrüc ke
herangezogen werden mußten: in (Rmeinen)
wurden die für das Einstellungs-Subjekt einsc hlägigen Arten des Gegebenseins der Referenten direkt referentieller Ausdrüc ke offengelassen und somit insbesondere nic ht von
den im Einstellungs-Beri
c ht verwendeten
Ausdrüc ken determiniert; und in (Rmeinen + INF)
wird zwar für das implizite Subjekt des Infinitivs eine ganz bestimmte Perspektive gefordert, doc h wird dieses Subjekt synkategorematisc h gedeutet und gerade nic ht als sprac hlic her Ausdruc k, dessen Charakter die betreffende Einstellung als de se kennzeic hnet. Um
nun aber im Beric h der Einstellungsberic hte
die klassisc he Theorie aufs Glatteis zu führen,
bedarf es offenbar mehr als nur solc her Beispiele, für deren Deutung andere Äußerungssituationen oder epistemisc he Zustände herangezogen werden müssen. Wie ein potentielles Gegenbeispiel zur klassisc hen Theorie
besc haffen sein könnte, mac ht man sic h vielleic ht an dieser Stelle anhand einer abwegigen
Deutung des eingebetteten Infinitivs klar,
nac h der einfac h das dem Infinitiv implizite
212
Subjekt durc h ich besetzt wird, wobei gleic hzeitig gefordert wird, daß die Extension dieses
nic ht realisierten ich am epistemisc hen Zustand des Einstellungs-Subjekts bestimmt
wird. Eine solc he systematisc h versc hobene
Deutung des ich hat offenbar denselben
Effekt wie die oben angegebene Interpretation der Infinitiv-Einbettung; doc h diese der
klassisc hen Theorie fremde Ersetzung der
Äußerungssituation ist natürlic h einigermaßen ad hoc und — wie die äquivalente Regel
(Rmeinen + INF) beweist — vermeidbar. (Sie
führt obendrein zu syntaktisc hen Komplikationen.) Die Frage aber bleibt, ob es nic ht
Beispiele gibt, bei denen eine solc he Ersetzung
der Äußerungssituation durc h eine andere
epistemisc he Perspektive die einzige Möglic hkeit ist. Dies wäre natürlic h insbesondere
dann der Fall, wenn das entsprec hende deiktisc he Element an der sprac hlic hen Oberfläc he ersc heint und nic ht — wie das vorgeblic he
ich des Infinitivs — durc h grammatisc he Analyse hin- oder wegerklärt werden kann. Hier
ist so ein Fall:
(64) Schweißgebadet wachte Tom mitten in
der Nacht auf: morgen war Heiligabend,
und er hatte völlig vergessen, dem Weihnachtsmann seinen Wunschzettel zu
schicken.
Das Problem ist das Temporaladverb morgen,
das sic h für gewöhnlic h auf den Tag nac h der
Äußerungssituation bezieht (und somit deiktisc h ist). Im vorliegenden Fall ist zunäc hst
nic ht hundertprozentig klar, worauf morgen
überhaupt verweist: ist es der auf die besc hriebene (Auswertungs-) Situation folgende
Tag, oder handelt es sic h um den näc hsten
Tag aus Toms Sic ht? Wie dem auc h sei: die
Äußerungssituation spielt — zumindest in der
näc hstliegenden Lesart von (64) — für die
Bestimmung der Extension von morgen gar
keine Rolle. Es sc heint, als müsse sie für den
kurzen Moment der Äußerung von morgen
durc h eine andere Situation ersetzt werden.
Wir haben also unser Gegenbeispiel gefunden.
Oder etwa nic ht? Immerhin basierte die
Argumentation des vorhergehenden Absatzes
auf der Voraussetzung, daß morgen deiktisch
ist und also seine Extension aus der Äußerungssituation bezieht. Nun zeigt aber doc h
(64) gerade, daß das nic ht der Fall sein kann.
Statt der gesamten klassisc hen Theorie sollten
wir vielleic ht einfac h nur die Annahme aufgeben, daß morgen deiktisc h ist, und (64) im
Gegenteil als Indiz dafür werten, daß es sic h
IV. Kontexttheorie
um ein absolutes Wort zur Kennzeic hnung
des auf die Auswertungssituation folgenden
Tages handelt. Wenn wir dann noc h annehmen, daß der Satz morgen war Heiligabend in
(64) unter ein unsic htbares Einstellungsprädikat (mit unsic htbarem Subjekt Tom) eingebettet ist, kämen wir der intendierten Deutung von (64) offenbar rec ht nahe. Gegen
diese bequeme Lösung spric ht der Umstand,
daß Beispiele wie (64) sehr selten sind und in
der überwältigenden Mehrzahl der Fälle das
Wort morgen eben doc h auf die Äußerungssituation bezug nimmt, was zumindest irgendwie erklärt werden müßte. Für eine absolute Deutung spric ht wiederum die Tatsac he, daß eine analoge Versc hiebung der Äußerungssituation für die Bestimmung der Extension eines so klar deiktisc hen Wortes wie ich
unmöglic h zu sein sc heint: (64′) besagt etwas
ganz anderes als (64).
(64′) Schweißgebadet wachte Tom mitten in
der Nacht auf: morgen war Heiligabend, und ich hatte völlig vergessen,
dem Weihnachtsmann meinen Wunschzettel zu schicken.
Es ist natürlic h fraglic h, ob sic h aus der Existenz solc her isolierter Beispiele irgendein entsc heidender Einwand gegen die klassisc he
Theorie konstruieren läßt. Sätze wie (64) muten ohnehin irgendwie metasprac hlic h an oder
sind jedenfalls sonstwie markiert. Die Gesuc htheit solc her vermeintlic her Gegenbeispiele ist vielleic ht gerade ein Hinweis darauf,
daß die klassisc he Theorie mit ihrer Analyse
des Normalfalls nicht so ganz schief liegt.
4.3 Skopismus, Holismus und quantifizierte
Kontexte
In diesem Absc hnitt dreht es sic h weniger um
einen Phänomenbereic h, der sic h im Rahmen
der klassisc hen Theorie nic ht oder nur auf
unbefriedigende Weise besc hreiben ließe, als
vielmehr um einen weiteren Ansatz zur Semantik deiktisc her Ausdrüc ke: den Skopismus. Aus zweierlei Gründen handeln wir diese
Alternative erst hier und nic ht sc hon im zweiten Teil ab: einerseits hat nämlic h offenbar
niemand jemals eine ernstgemeinte skopistisc he Analyse des Phänomens der Deixis geliefert; die Möglic hkeit geistert lediglic h als
Sc hrec kgespenst durc h die klassisc h geprägte
Literatur. Andererseits ergeben sic h aus der
Kritik des Skopismus aus klassisc her Sic ht
wiederum tiefe Einsic hten in und möglic herweise sc hwerwiegende Einwände gegen die
klassische Theorie selbst.
9. Kontextabhängigkeit
Um überhaupt zu sehen, daß und wie der
Skopismus ursprünglic h motiviert ist, führen
wir zunäc hst ein Beispiel vor, bei dem man
die für den Skopismus zentrale Skopus-Analyse auf gewisse absolut referierende Ausdrücke anwendet:
(65) Anfang der siebziger Jahre war in der
National-Zeitung zu lesen, in schwerer
Zeit habe der Kanzler das Vaterland im
Stich gelassen.
Uns interessiert an (65) nur ein ganz spezieller
semantisc her Aspekt, nämlic h der Beitrag,
den die Kennzeic hnung der Kanzler zur Extensionsbestimmung leistet; und bei dieser
Nominalphrase ist es vor allem die Zeitabhängigkeit ihrer Extension, der unsere Aufmerksamkeit gilt. Zunäc hst einmal müssen
wir aber die Grobstruktur von (65) irgendwie
in den Griff bekommen. Wir gehen davon
aus, daß es sic h bei war in der National-Zeitung zu lesen um ein subjektloses EinstellungsPrädikat handelt, dessen Extension (in einer
Auswertungssituation) die Propositionen umfaßt, die durc h die in der National-Zeitung
(in derselben Situation) behaupteten Sätze
ausgedrüc kt werden. Die adverbialen Bestimmungen Anfang der siebziger Jahre und in
schwerer Zeit dagegen quantifizieren (existentiell) über die Auswertungs-Zeiten jeweils
ganz bestimmter Zeiträume. Der gesamte Satz
besagt damit, daß es einen Zeitpunkt z am
Anfang der 70er Jahre gibt, so daß in der zu
z ersc hienenen Ausgabe der National-Zeitung
eine Behauptung aufgestellt wurde, die dann
zutrifft, falls es eine Zeit z’ zwisc hen 1933 und
1945 gibt, zu dem die durc h den Satz der
Kanzler hat das Vaterland im S tich gelassen
ausgedrüc kte Proposition p wahr ist. Nac h
der in Absc hnitt 3.3 skizzierten Semantik der
Kennzeic hnungen hängt nun die Identität von
p davon ab, ob die Kennzeic hnung der Kanzler deiktisc h oder absolut verstanden werden
soll; der eingebettete Satz ist gerade in dieser
Hinsic ht mehrdeutig. Nac h der ersten Lesart
würde zur Zeit der Abfassung dieses Kapitels
die Intension des eingebetteten Satzes pdgerade die (fiktiven und realen) Situationen umfassen, in denen Helmut Kohl das Vaterland
im Stic h läßt; die zweite Lesart padagegen
besteht aus den Situationen s, in denen der
Kanzler in s das Vaterland im Stic h läßt. Im
einen Falle würde also (65) auf die Behauptung hinauslaufen, daß die National-Zeitung
zu Beginn der 70er Jahre Helmut Kohls Vergangenheit unter die Lupe genommen hätte;
im zweiten Falle würde dem Blättc hen unter-
213
stellt, es werfe dem Reic hskanzler Adolf Hitler Vaterlandsverrat vor. Es ist nic ht zu bestreiten, daß (65) in der Tat diese beiden —
offenkundig falschen — Lesarten besitzt.
Das Problem ist natürlic h, daß (65) in gewisser Weise stimmt. Doc h hatte es die rec htsradikale Presse zum genannten Zeitpunkt natürlic h weder auf den pfälzisc hen Konservativen noc h auf den Braunauer Rassisten abgesehen. Zielsc heibe der Angriffe war vielmehr der damals amtierende Bundeskanzler
Willy Brandt. Neben pdund pasc heint also
der eingebettete Satz auc h noc h die Proposition pmausdrüc ken zu können, die gerade in
den Situationen zutrifft, in denen derjenige,
der zum einsc hlägigen Ersc heinungsdatum z
der National-Zeitung Kanzler war, im Dritten
Reic h das Vaterland im Stic h gelassen hat.
Diese dritte (oder mittlere) Lesart, die man
mit der Auflösung der Kennzeic hnung der
Kanzler in zwei Lesarten offensic htlic h nic ht
bekommen kann, ergibt sic h nun auf natürliche Weise mit einer Skopus-Analyse.
Wir führen das Verfahren hier nur sehr
grob vor; die Details können an anderer Stelle
nac hgelesen werden. Wir verweisen auf die
Artikel 22 und 7. In der Tat haben wir die
Tec hnik sc hon in Absc hnitt 4.1 kennengelernt, wo wir für den Zwec k der Quantorenbindung Sätze in Nominalphrasen und offene
Formeln zerlegt haben. Entsprec hende Zerlegungen können wir nun auc h bei (65) und
seinen Teilsätzen vornehmen, obwohl dort natürlic h gar kein Pronomen gebunden werden
muß. Drei dieser Zerlegungen interessieren
uns hier besonders, da sie — wie wir sogleic h
sehen werden — den drei beobac hteten Lesarten entsprec hen. Zunäc hst einmal kann
man (65) in die (absolut zu deutende) Nominalphrase der Kanzler und die verbleibende
Matrix md (Anfang der siebziger Jahre war in
der National-Zeitung zu lesen, in schwerer Zeit
habe x das Vaterland im S tich gelassen) zerlegen; diese Zerlegung läßt sic h dann so deuten, daß die Extension von mddie Menge Md
der Individuen ist, die die Matrix (anstelle
von x) erfüllen und daß der ganze Satz wahr
ist, wenn die Extension der Kennzeic hnung
ein Element von Mdist. Eine zweite Möglic hkeit ergibt sic h, wenn wir lediglic h den eingebetteten Satz in der Kanzler und die Matrix
mm (in schwerer Zeit habe x das Vaterland im
S tich gelassen) zerlegen und das Ganze analog
deuten. Drittens und letztens können wir den
eingebetteten Satz ‘unterhalb’ des Temporaladverbs in der Kanzler und eine Matrix ma
(x habe das Vaterland im S tich gelassen) se-
214
zieren. Wie man nun leic ht nac hweist (und
die Notation sc hon andeutet), entsprec hen
diesen drei Zerlegungen gerade die drei vorher
ausgemac hten Lesarten. Das war die SkopusAnalyse von (65).
Es ist bemerkenswert, daß die SkopusAnalyse ohne die Annahme einer Ambiguität
in der Kennzeic hnung der Kanzler auskommt.
Daraus könnte man an dieser Stelle die (freilic h voreilige) Konsequenz ziehen, genau diese
Annahme sei überflüssig. Wir lassen diesen
Punkt vorerst offen und wenden uns zunäc hst
einer weit radikaleren Spekulation zu, die sic h
an dieser Stelle ebenso aufzudrängen sc heint.
Dazu sc hauen wir uns noc h einmal genauer
an, wie die direkt referentielle Lesart der
Kennzeic hnung der Kanzler durc h die Skopus-Analyse von (65) abgedec kt wird. Wir
haben bereits erwähnt, daß der gewünsc hte
Effekt dadurc h erreic ht wird, daß der gesamte
Satz (65) in die betreffende Nominalphrase
plus Rest-Matrix zerlegt wird: die Extension
der NP wird dann an der für die Auswertung
dieses Gesamtsatzes einsc hlägigen Situation
vorgenommen, und das ist — aufgrund des
Prinzips (D) — gerade die Äußerungssituation. Dieser Effekt ist natürlic h von Einzelheiten des Beispiel (65) unabhängig: sobald
ein Satz in eine NP plus Rest-Matrix zerlegt
und im angedeuteten Sinne interpretiert wird,
hängt die Extension der NP — eben wegen
(D) — nur von der Äußerungssituation ab.
In diesem Sinne läßt sic h direkte Referentialität durc h Skopus simulieren. Da man den
komplexen Apparat der Skopus-Analyse —
wie (65) zeigt — ohnehin zu benötigen
sc heint, ist es nur billig zu fragen, warum man
ihn dann nic ht auc h auf dem Terrain der
klassisc hen Theorie, der Semantik deiktisc her
Ausdrüc ke, zum Einsatz bringen sollte. Genau diese Übertragung der soeben besc hriebenen skopusanalytis
c hen Te
c hniken auf
deiktisc he Ausdrüc ke bezeic hnen wir hier als
Skopismus. Sc hauen wir uns genauer an, wohin diese Spekulation führt.
Zunäc hst einmal muß klargestellt werden,
daß eine Skopus-Analyse für deiktisc he Ausdrüc ke nic ht genau nac h dem Muster des eben
diskutierten Beispiels vorgenommen werden
darf. Denn der Witz an solc hen Ausdrüc ken
wie ich und jetzt ist es ja gerade, daß sie sic h
immer auf die Äußerungssituation beziehen
und nic ht — wie der Kanzler in (65) — je
nac h Lesart (Zerlegung) auf sie bezogen werden können oder nic ht. Eine Übertragung der
Skopus-Analyse auf deiktis
c he Ausdrü
c ke
müßte also sämtlic he Lesarten bloc kieren, bei
IV. Kontexttheorie
denen diese nic ht in Abhängigkeit von der
Äußerungssituation gedeutet würden. Daß
die Durc hführung einer solc hen Bloc kade
kein triviales Unternehmen sein kann, sieht
man vielleic ht sc hon daran, daß eine einfac he
Regelung, nac h der jedes deiktisc he Element
a zu einer Zerlegung des Gesamtsatzes φ(α)
in a plus Rest-Matrix φ(x) Anlaß geben soll,
sc hon deshalb nic ht funktionieren kann, weil
der Gesamtsatz mehr als ein deiktisc hes Element enthalten könnte. Von diesem tec hnisc hen Detail abgesehen, würde eine Zurüc kführung der Deixis auf Skopus-Verhalten in
einen ernsthaften Konflikt mit jeder Art von
Kompositionalitätsprinzip führen. Ein Satz,
der Deiktisc hes enhält, könnte nämlic h nac h
dieser Analyse so gut wie nie in einen anderen
Satz eingebettet werden, ohne daß sic h durc h
diese Einbettung nic ht auc h seine Bedeutung
ändern würde: durc h die Einbettung ergibt
sic h ein neuer Gesamtsatz und somit auc h
eine neue Zerlegung, die im allgemeinen nic ht
zur ursprünglic hen Zerlegung äquivalent ist.
In gewisser Weise liegt genau hier der Angriffspunkt der klassisc hen Theorie gegen den
Skopismus; doc h davon später mehr. Sc hauen
wir uns zunäc hst einmal an, was durc h die
Besc hreibung der Deixis mit Hilfe der Skopus-Analyse gegenüber der klassisc hen Theorie gewonnen sein könnte.
Was den Skopismus gegenüber der klassisc hen Theorie so attratkiv mac ht, ist leic ht
gesagt: er kommt ohne eine Untersc heidung
von Äußerungs- und Auswertungssituation
und somit ohne den Charakter als zu Extension und Intension zusätzlic her semantisc her
Ebene aus. Da die Untersc heidung von Charakter und Intension ja gerade durc h die klassisc he Analyse deiktisc her Ausdrüc ke in intensionalen Umgebungen motiviert war, ist
das nic ht weiter verwunderlic h. Dennoc h
lohnt es sic h, einmal genau nac hzusc hauen,
was eigentlic h im Rahmen einer skopistisc hen
Analyse aus dem ursprünglic hen Situationenpaar wird. Dazu ziehen wir eine Variante eines
Beispiels zurate, das uns einmal (in Absc hnitt
1.2) zur Motivation der Dualität von Äußerungs- und Auswertungssituation gedient hat:
(66) Monika vermutet, daß ich nicht spreche.
Der klassisc hen Theorie gemäß sieht die logisc he Form von (66) — in der extensionalisierten Notation von Absc hnitt 2.2 — in etwa
folgendermaßen aus:
(66′) VERMUTEN(s, Monika,
{s  SPRECHEN(s, ICH(s0))})
9. Kontextabhängigkeit
In (66′) haben wir die in der Metasprac he
übli
c he Notation für Mengenabstraktion
durc h gesc hweifte Klammern benutzt. Man
beac hte, daß die zwisc hen ‘{’ und ‘’ stehende
Variable s im Mengenterm gebunden ist und
sic h in dieser Hinsic ht von dem ersten, freien
Vorkommen von s in (66′) untersc heidet; wir
haben dieselbe Variable gewählt, um hervorzuheben, daß es sic h um dieselbe Art der
Bezugnahme
auf
Auswertungssituationen
handelt. Weniger verwirrend ist jedoc h diese
— vollkommen äquivalente -Notation:
(66) VERMUTEN(s, Monika,
{s’ ﹁ SPRECHEN(s’, ICH(s0))})
Vergleic hen wir nun diese Formel mit dem
Ergebnis der entsprec henden Skopus-Analyse! Dafür müssen wir (66) zunäc hst in das
deiktisc he ich und die Restmatrix vermutet,
daß x nicht spricht zerlegen. (Morphologisc he
Feinheiten übergehen wir wieder einmal.)
Letztere enthält keine deiktisc hen Elemente
— zumindest wenn wir die Finitheit ignorieren — und besitzt demnac h die folgende absolut referierende Form:
(67) VERMUTEN(s, Monika,
{s ﹁ SPRECHEN(s,x)})
Die Skopus-Analyse bildet jetzt aus (67) eine
Menge und weist (66) die Aussage zu, daß die
Extension von ich ein Element derselben ist.
Wir erhalten damit:
(66′) ICH(s0) ∈ {x VERMUTEN(s, Monika,
{s ﹁ SPRECHEN(s, x)})
Wir haben wie in der klassisc hen Theorie die
Extension von zwei Situationen abhängig gemac ht, obwohl wir ja zeigen wollen, daß nac h
skopistisc her Auffassung eine einfac he Situationsabhängigkeit
vollkommen
ausrei
c ht.
Das in (66′) freie Vorkommen von s (das die
Auswertungssituation für das Prädikat VERMUTEN andeutet) und das (für die Extensionsbestimmung von ICH zuständige) s0
müßten also durc h dieselbe Variable ersetzt
werden können, wenn unsere Vermutung ric htig ist; und da der Sprec her-Parameter ICH
nur in Bezug auf Äußerungssituationen Sinn
mac ht, sollte diese eine Variable gerade s0sein.
Wir erhalten somit aus (66′) eine Formel, die
sic h — wieder unter Rüc kgriff auf eine gebundene Umbenennung — auf die folgende
kompaktere Form bringen läßt:
(66) VERMUTEN (s0, Monika,
{s’ ﹁ SPRECHEN (s’, ICH(s0))})
Wir sehen also, daß das bei der klassisc hen
Analyse (66k) herangezogene Paar aus Äuße-
215
rungs- und Auswertungssituation in der Skopus-Analyse (66s) durc h den entsprec henden
waagerec hten Diagonalpunkt ersetzt wurde:
die Skopus-Analyse ist damit zur waagerec hten Diagonalisierung der klassisc hen Analyse
äquivalent. Zwisc hen den beiden besteht somit durc haus ein kleiner Untersc hied. Ist damit unsere Vermutung, der Skopismus könne
die klassisc he Theorie ohne Charaktere simulieren, widerlegt? Nicht ganz.
Der Sc hlüssel zur Klärung des Verhältnisses der beiden Ansätze zueinander liegt in dem
der klassisc hen Theorie eigentümlic hen Default-Prinzip. Denn das Prinzip (D) besagt,
daß ein Satz genau in den (Äußerungs-)Situationen wahr ist, in denen auc h seine waagerec hte Diagonalisierung wahr ist. Der von
Haus aus zweidimensionale Wahrheitsbegriff
der klassisc hen Theorie wird auf diese Weise
eindimensional. Mit Hilfe der soeben an (66)
gemac hten Beobac htungen — die sic h bei
einer geeigneten Präzisierung auf beliebige
Sätze verallgemeinern ließen — sc hließen wir,
daß der Skopismus auf denselben eindimensionalen Wahrheitsbegriff führt wie die klassisc he Theorie. Soweit sic h die zentralen semantisc hen Begriffsbildungen auf den (auf
Äußerungssituationen
relativierten)
Wahrheitsbegriff zurüc kführen lassen, ist also der
Skopismus — seine Mac hbarkeit einmal vorausgesetzt — zumindest in deskriptiver Hinsic ht der klassisc hen Theorie ebenbürtig. Eine
klassisc he Kritik der Gleic hsetzung von direkter Referenz und weitem Skopus muß damit entweder (a) über die deskriptive Adäquatheit hinausgehende externe Kriterien für
die Bevorzugung semantisc her Theorien angeben oder aber (b) wenigstens einen nur klassisc h (im Gegensatz zu: skopistisc h) definierbaren Begriff nennen, der nic ht nur innerhalb
der klassisc hen Theorie selbst von Interesse
ist.
Vertreter der klassisc hen Theorie versuc hen
in der Regel, den Forderungen (a) und (b)
auf einen Sc hlag nac hzukommen. Wir haben
ja sc hon gesehen, daß der Skopismus mit dem
Makel einer inhärenten Nic ht-Kompositionalität behaftet ist. Kompositionalität ist
dann auc h das klassisc herweise angeführte externe Kriterium. Der Skopismus erfüllt es
nic ht; die klassisc he Theorie hingegen —
Durc hführbarkeit des Programms wieder einmal außen vor — erfüllt das Monsterverbot
(M) und damit eine relativ strenge Kompositionalitats-Anforderung:
Kompositionalität
gilt nic ht nur auf Charakter-, sondern sogar
auf Intensions-Ebene. Die Intension ist zu-
216
gleic h auc h der wic htigste gegen vermeintlic he
Skopisten als Beleg zu (b) ins Felde geführte
klassisc he Begriff: in der Skopus-Analyse verwisc ht sic h der Untersc hied zwisc hen Charakter und Intension. Wir können uns diese klassisc he Kritik leic ht anhand des obigen Analyse-Beispiels klarmac hen. Der kleine Untersc hied zwisc hen (66k) und (66s) besteht ja gerade darin, daß nur in der klassisc hen Variante (durc h die Wahl untersc hiedlic her Variablen) zwisc hen Äußerungs- und Auswertungssituation differenziert wird. Bei der Defintion
der Intension aus der Charakterformel (66k)
mac ht man sic h diesen Untersc hied zunutze,
indem man erstere, nic ht aber letztere mit
einem konkreten Wert belegt. Eine solc he differenzierte Belegung ist aber in (66s) unmöglic h, da es hier nur eine freie Variable gibt,
deren Vorkommen alle (zu)gleic h belegt werden müssen. Die Nic ht-Definierbarkeit der
Intension erklärt das Sc heitern der Kompositionalität: die Intension wird gerade für eine
Einbettung in intensionale Umgebungen benötigt. Daß Intensionen über ihre Rolle für
eine kompositionelle Deutung hinaus irgendein Interesse haben können, muß freilic h erst
noc h gezeigt werden. Dazu genügt es, sic h auf
einen speziellen Typ von Intensionen, die Propositionen, zu konzentrieren.
Bereits bei ihrer intuitiven Motivierung (in
Absc hnitt 1.1) sind Propositionen als Satzinhalte, als das, was S ätze besagen, eingeführt
worden. Sie haben somit eine — wenn auc h
etwas vage — außertheoretisc he Charakterisierung erfahren. Genauer: der klassisc he Propositionsbegriff beanspruc ht, ein vortheoretisc h gegebenes Phänomen zu erfassen. Dieser
Anspruc h der klassisc hen Theorie, die mit
Sätzen (in Äußerungssituationen) gemac hten
Aussagen durc h die von ihnen ausgedrüc kten
Propositionen zu erfassen, manifestiert sic h in
der Aufspaltung (E) des Informationsgehalts
in zwei Komponenten. Und hier versagt der
Skopismus: da mit ihm der Propositionsbegriff nic ht definierbar ist, ist er auc h nic ht in
der Lage, ein Analogon zu (E) zu liefern.
Damit ist er insbesondere auc h als Ausgangspunkt für die in Absc hnitt 2.5 angedeuteten
erkennntistheoretis
c hen
Betra
c htungen
ungeeignet.
Die
die
Kompositionalität
betreffende
klassisc he Kritik (a) des Skopismus wollen
wir hier nic ht weiter diskutieren, weil sie offenkundig gerec htfertigt ist. Uns interessiert
hier mehr der Einwand (b), der klassisc he
Propositions-Begriff sei von unabhängigem
Interesse. Wir haben bereits darauf hingewie-
IV. Kontexttheorie
sen, daß der ihm entsprec hende vortheoretisc he Begriff des Besagten ein wenig vage ist.
Machen wir uns das an einem Beispiel klar:
(68) Ich bin jetzt in Grasse.
Was (68) besagt, hängt offensic htlic h davon
ab, unter welc hen Umständen der Satz geäußert wird. Günter Grass hätte mit einer
Äußerung von (68) anno 1959 etwas anderes
gesagt, als es Patric k Süskind mit demselben
Satz im Jahre 1989 vermag: im ersten Fall
läuft die Äußerung auf die Behauptung hinaus, daß sic h der bekannte Sozialdemokrat
zu einem gewissen Zeitpunkt der fünfziger
Jahre in der Parfümstadt befindet, während
die zweite Äußerung von einem gewissen Gegenwartsautoren besagt, er weile zu einer bestimmten späteren Zeit in der Provenc estadt.
So jedenfalls lehrt es uns die klassisc he Theorie. Doc h stimmt das auc h? Stellen wir uns
einmal vor, die beiden Äußerungen von (68)
wären Texte auf Ansic htskarten, die die Autoren jeweils an ihre Verleger gesc hic kt hätten.
Auf der Buc hmesse treffen sic h nun diese beiden Verleger, wobei der eine die Karte des
anderen sieht und dieselbe mit folgenden
Worten kommentiert:
(69) Das hat Grass damals auch geschrieben;
in Wirklichkeit hat er sich dann in Godesberg herumgetrieben.
Uns interessieren die ersten drei Buc hstaben
von (69), mit denen sic h der Sprec her auf die
in Süskinds Ansic htskarte aufgestellte Behauptung bezieht. Da er nac h unserer Gesc hic hte zumindest mit dem ersten Teilsatz
von (69) rec ht hat, kann die Extension des
das in dieser Lesart (A) unmöglic h die (nac h
der klassisc hen Theorie) auf Süskinds Ansi
c htskarte ausgedrü
c kte Proposition sein;
denn über seines zukünftigen Kollegen zukünftigen Aufenthaltsort hat sic h Günter
Grass zur Zeit des Parteitags sic herlic h keine
Gedanken gemac ht. In einem gewissen Sinne
ist also das, was mit der von uns betrac hteten
Äußerung von (68) gesagt wird, nic ht dasselbe
wie die Intension dieses Satzes. Natürlic h
kann man den Begriff auc h in dieser Situation
im Sinne der klassisc hen Theorie verstehen:
wenn Süskinds Verleger ein Witzbold ist,
kann er vielleic ht auf die Äußerung seines
Kollegen mit seiner Bewunderung der Weitsic ht des Autoren der Blechtrommel kontern
— oder seiner Verwunderung darüber Ausdruc k geben, daß sic h der von ihm selbst
verlegte Erfolgsautor sc hon in so jungen Jahren für Politik interessierte. Im ersten Falle
(B) hätte er dann das das im Sinne von daß
9. Kontextabhängigkeit
S üskind zur Zeit der Abfassung seiner Karte
in Grasse sei, also der Intenison der betreffenden Äußerung von (68), verstanden; im zweiten Falle (C) hätte er offenbar das Demonstrativum auf die durc h S üskind befindet sich
1959 in Grasse ausgedrüc kte Proposition bezogen. Wohlgemerkt: alle drei Möglic hkeiten
des Verständnisses von das sind in dieser Situation legitim — wenn auc h zwei von ihnen
aus inhaltlic hen Gründen abwegig ersc heinen;
und alle drei Möglic hkeiten ergeben sic h aus
der waagerec hten Diagonalisierung des Charakters von (68) durc h Bezug jeweils versc hiedener situationeller Parameter auf die Äußerungssituation — aber es ist keineswegs klar,
daß eine dieser drei Möglic hkeiten in einem
besonderen, von den anderen beiden verfehlten Sinne das mit dem Satz (in der Situation)
Gemeinte trifft. In der sc hon weiter oben benutzten Notation der Extensionalisierung
kann man die drei Verständnisse des in der
betreffenden Situation durc h (68) Besagten so
darstellen:
(68) LOKALISIERUNG(Welt(s0), Zeit(s0),
ICH(s0), Grasse)
(68) LOKALISIERUNG(Welt(s0),1989,
Süskind, Grasse)
(68) LOKALISIERUNG(Welt(s0), Zeit(s0),
Süskind, Grasse)
Die von der klassischen Theorie beanspruchte
Rekonstruktion eines vortheoretisc hen Begriffs ist also alles andere als offenkundig: das
Beispiel legt eher den Verdac ht nahe, daß das
vage alltagssprac hlic he Verständnis vom Gesagten zwisc hen der Intension (68B) im klassisc hen Sinne und anderen Möglic hkeiten der
Abstraktion von Aspekten der Äußerungssituation c hangiert. Bei der vermeintlic hen Rekonstruktion handelt es sic h also allenfalls
um einen normativen Eingriff in die Alltagssprac he: verwende den Begriff des Gesagten
stets im Sinne des klassisc hen PropositionsBegriffs. Die Äußerung (69) des Verlegers von
Grass zeugt dann von laxem Sprachgebrauch.
Natürlic h waren Intensionen und speziell
Propositionen in der klassisc hen Theorie und
ihren Vorläufern in erster Linie herangezogen
worden, um den Beitrag zu bestimmen, den
ein sprac hlic her Teilausdruc k in einer nic htextensionalen Umgebung zur Bestimmung
der Extension des Gesamtausdruc ks leistet.
Diese Bestimmung des Propositions-Begriffs
ist gegen die soeben vorgebrac hten kritisc hen
Betrac htungen immun. Doc h mit ihr allein
läßt sic h auc h kein wesentlic h über den Vor-
217
wurf der Nic ht-Kompositionalität hinausgehender Einwand gegen den Skopismus konstruieren — allenfalls der, daß der Begriff des
(kompositionellen) Beitrags zur Extension
von unabhängigem (empirisc hen?) Interesse
sei. Versuc ht die klassisc he Theorie, mit ihrem
Intensions-Begriff irgendeinen weitergehenden Anspruc h zu stellen, bleibt ihr nur die
Flucht in eine zweifelhafte Normativität.
Wie die Intension in der klassisc hen Theorie aufgefaßt wird, gerät sie nic ht nur häufig
mit dem vortheoretisc hen Begriff vom Gesagten in Konflikt, sondern ebensooft auc h mit
einem sic h durc h einfac he Plausibilitäts-Überlegungen aufdrängenden umgebungsrelativen
Begriff des Beitrags zur Extension. Das gilt
zumindest im Rahmen einer Parametrisierung. Wie wir sc hon in Absc hnitt 2.3 gesehen
haben, läuft eine Parametrisierung (immer
unter der Annahme, daß jeder kontextuelle
Parameter zugleic h auc h indexikalisc h ist) auf
eine Aufspaltung ⟨i,i’,c⟩ jedes Referenzpunkts in die Aspekte i der Auswertungssituation, die indexikalisc hen Aspekte i’ der
Äußerungssituation und die rein kontextuellen Aspekte c der Äußerungssituation hinaus.
In welc her Aspektliste sic h ein Parameter P
niedersc hlägt, hängt von seiner Verschiebbarkeit ab: wenn es eine (intensionale) Konstruktion gibt, die die Extension eines Gesamtausdruc ks von den Extensionen seiner Teile an
solc hen Situationen abhängig mac ht, die sic h
von der Äußerungssituation in P unterscheiden, dann ist P indexikalisc h; sonst ist P rein
kontextuell. Man beac hte, daß die Einordnung von P ein für allemale und insbesondere
unabhängig von der für die Versc hiebbarkeit
verantwortli
c hen
Konstruktion
ges
c hieht:
wenn es auc h nur eine einzige solc he den
Parameter P betreffende Versc hiebung gibt,
dann ist P grundsätzlic h indexikalisc h; die
Abhängigkeit der Extension von Ps Wert muß
in diesem Falle bei jeder intensionalen Konstruktion — und sei es auc h nur pro forma
— berüc ksic htigt werden. In dieser Unflexibilität in der Aufspaltung der Referenzpunkte
läßt sic h die Ursac he einiger Unplausibilitäten der klassischen Theorie erkennen.
Ein paar Beispiele zeigen hoffentlic h, was
gemeint ist. Bei ihrer Analyse werden wir uns
noc h weiter von jeglic hen Standards der deskriptiven Semantik entfernen, als wir es
ohnehin sc hon in diesem Kapitel getan haben.
Möge der didaktisc he Zwec k, einen allgemein-theoretis
c hen Punkt aufzuhellen, die
Skrupellosigkeit gegenüber den Daten und
ihrer Beschreibung rechtfertigen!
218
Ein Modaladverb wie möglicherweise bezieht sic h — jedenfalls nac h einer naheliegenden semantisc hen Analyse — auf den Weltparameter und auf keinen anderen:
(70) Möglicherweise war alles umsonst.
Wenn Fritz nac h Verspeisen eines opulenten
Mahls in einem Restaurant mehrere Male vergeblic h nac h der Rec hnung verlangt und dann
seiner Gemahlin gegenüber die Hoffnung (70)
äußert, so bringt er damit zum Ausdruc k, daß
es zumindest in gewissen, wohl eher irrealen
Situationen s so ist, daß der unter das Modaladverb eingebettete Satz es war alles umsonst in s wahr ist. Nic ht von jedem überhaupt
denkbaren s ist jedoc h dabei die Rede, sondern lediglic h von solc hen, die sic h zur selben
Zeit am selben Ort, aber nic ht unbedingt in
der Wirklic hkeit abspielen. Versc hoben wird
also nur der Weltaspekt. Als Beitrag des eingebetteten Satzes zur Extension des Gesamtsatzes bietet sic h somit diese Abhängigkeit
vom Weltaspekt an.
Ein Lokaladverb wie nirgends bezieht sic h
— ebenfalls nac h einer naheliegenden semantisc hen Analyse — auf den Ortsparameter
und auf keinen anderen:
(71) Nirgends gibt es einen für diese Zwecke
geeigneteren Ort.
Wenn ein Sc hüler auf die Anordnung seiner
Lehrerin, sc hleunigst den auf ihrem Stuhl befindlic hen Reißbrettstift zu entfernen, (71) erwidert, so bringt er damit zum Ausdruc k, daß
keine Situation s so ist, daß der unter das
Lokaladverb eingebettete Satz es gibt einen
für diese Zwecke geeigneteren Ort in s wahr
ist. Nic ht von jedem überhaupt denkbaren s
ist jedoc h dabei die Rede, sondern lediglic h
von solc hen, die sic h zur selben Zeit in derselben Welt, aber nic ht unbedingt am Ort der
Äußerung abspielen. Versc hoben wird also
nur der Ortsaspekt. Als Beitrag des eingebetteten Satzes zur Extension des Gesamtsatzes
bietet sic h somit diese Abhängigkeit vom
Ortsaspekt an.
Die im Zusammenhang mit (70) und (71)
angestellten Betrac htungen sind mit der klassisc hen Theorie nic ht hundertprozentig vereinbar. Wenn nämlic h die Analyse von (70)
zeigt, daß der Weltparameter versc hiebbar ist
und die Analyse von (71) auf die Versc hiebbarkeit des Ortsparameters hinweist, dann
muß in jedem der beiden Fälle die im jeweils
anderen Fall beobac htete Versc hiebbarkeit in
den globalen, von der einzelnen Konstruktion
unabhängigen Intensions-Begriff eingehen.
Beitrag des eingebetteten Satzes zur Extension des Gesamtsatzes muß also in beiden
IV. Kontexttheorie
Fällen die Abhängigkeit von der Welt, vom
Ort und von weiteren, in anderen Umgebungen beobac heten Aspekten sein. Was der Beitrag eines Teils zur Extension des Ganzen ist,
hängt also nac h der klassisc hen Theorie
strenggenommen von allen nic ht-extensionalen Konstruktionen der jeweiligen Sprac he
bzw. von deren Besc hreibung ab. In diesem
Sinne haftet der klassisc hen Theorie (bei einer
Parametrisierung
der
Auswertungssituationen) ein holistisches Element an. Eine Alternative zu diesem Holismus könnte sic h durc h
eine etwas flexiblere Auffassung von Referenzpunkten ergeben. Wir skizzieren hier nur
ein denkbares Vorgehen; ob es wirklic h zu
intuitiveren Resultaten führt als die klassisc he
Theorie, steht in den Sternen am Ideenhimmel.
Für die Skizze setzen wir eine feste Parametrisierung voraus. Für eine beliebige
Menge M von indexikalisc hen Parametern ist
dann ein M-Referenzpunkt ein Paar, bestehend aus einem Kontext sowie einem M-Index, d. h. einer Liste von indexikalisc hen
Aspekten, die nur für jedes Element von M
einen Wert enthält. Ein M-Index m läßt sic h
in der Weise in einen gewöhnlic hen Index i
einarbeiten, daß alle M-Aspekte in i durch
die entsprec henden Aspekte von m ersetzt
werden; das Resultat notieren wir als i/m. Jeder
gewöhnlic he Charakter χ determiniert dann
in natürlic her Weise an jedem — parametrisierten, ungespaltenen und möglic herweise
unstimmigen — Referenzpunkt ⟨c,i⟩ eine MIntension namens χ(c)(i-M), also eine Funktion von M-Indizes in Extensionen: χ(c)(i-M)
liefert für einen beliebigen M-Index m als
Wert χ(c)(i/m). Ganz analog zu den in Abcs hnitt 1.4 eingeführten Begriffsbildungen
kann man nun eine n-stellige syntaktisc he
Operation F als M- intensional bezeichnen,
falls jeweils M-intensionsglei
c he Teilausdrüc ke stets zu extensionsgleic hen Gesamtausdrüc ken führen, falls also für alle Charaktere χ1, χ1’,..., χn, χn’ und alle Referenzpunkte
⟨c,i⟩ gilt:
χ1(c)(i-M) = χ1’(c)(i-M), ...,
χn(c)(i-M) = χn’(c)(i-M) impliziert
ΣF(χ1, ..., χn)(c)(i) = ΣF(χ1, ..., χn)(c)(i).
Und ganz analog ist eine solc he syntaktisc he
Konstruktion F genau dann M-intensional,
wenn sic h die entsprec hende semantisc he
Operation ΣF jeweils, also an jedem Kontext
c, in dem Sinne auf eine Operation ΣFc über
M-Intensionen zurüc kführen läßt, daß für beliebige Charaktere χ1, ..., χn und Indizes i gilt:
9. Kontextabhängigkeit
ΣF(χ1,..., χn)(c) = ΣFc(χ1(c)(i-M),...,χn(c)(iM)). Wären die für (70) und (71) skizzierten
Beispielsanalysen korrekt, so wäre die Hinzufügung eines Modal- bzw. Lokaladverbs
{Welt}- bzw. {Zeit}-intensional. Die Angabe
der entsprec henden M-intensionalen Operationen überlassen wir — wieder in Analogie
zu Absc hnitt 1.4 — der Leserin. Auf die sinngemäße Übertragung der dort im Zusammenhang mit intensionalen und gemisc hten Konstruktionen angestellten Überlegungen zur
Kanonizität verzichten wir hier.
Ziel der ganzen Sophisterei ist es, einen
begrifflic hen Rahmen für eine Aufweic hung
der klassisc hen Theorie bereitzustellen. Die
Idee dabei ist zunäc hst, für jede syntaktisc he
Operation F eine (im Sinne der Inklusion)
möglic hst kleine Menge M indexikalischer
Parameter zu finden, so daß F M-intensional
ist. Sind solc he minimalen Parameter-Mengen
erst einmal gefunden — in der Regel dürfte
dies keine allzu großen Sc hwierigkeiten bereiten — so kann man die klassisc he Dic hotomie von Intensionalität und Extensionalität
in der Grammatik durc h ein ganzes Spektrum
von M-Intensionalitäten wie Temporalität (M
= {Zeit}), Modalität (M = {Welt}), Propositionalität (M = {Zeit, Welt}) etc . ersetzen.
Das ist zunäc hst nur eine Verfeinerung der
klassisc hen Theorie. Die Situation ändert sic h
aber dann, wenn die M-Intensionen nic ht nur
zur Klassifikation syntaktisc her Konstruktionen herangezogen werden, sondern auc h in
andere Bereic he der Theorie vordringen, wie
es etwa der Fall wäre, wenn man in dem
Prinzip (E) als perspektivelose Information
jeweils das ganze Spektrum der M-Intensionen berüc ksic htigte, die sic h in einer Äußerungssituation durc h Abstraktion von einigen
indexikalisc hen Aspekten bei gleic hzeitiger
Besetzung der anderen durc h den Kontext
ergeben. Sieht man einmal von der — zumeist
angenommenen — reinen Kontextualität des
Sprec her-Parameters ab, so hätte man hier
einen Ausgangspunkt zur Erfassung des im
Zusammenhang mit (68) beobac hteten Changierens des Besagten; die angesproc hene
Lüc ke läßt sic h dann entweder durc h Quadratur oder durc h Erweiterung des Begriffs
der M-Intensionaltitäten schließen.
Die obigen Andeutungen sind zugegebenermaßen sehr vage und unfertig, können
aber als Anregung für eine weitere Besc häftigung mit dem neuerlic h im klassisc hen Rahmen aufgetauc hten, leic ht beunruhigenden
Phänomen der quantifizierten Kontexte verstanden werden. Das Phänomen besteht
219
darin, daß gestandene kontextuelle Parameter
urplötzlic h dabei erwisc ht werden, wie sie
durc h sprac hlic he Operatoren gebunden, also
versc hoben, werden. Hier zunäc hst ein harmloses, weil klassisc h erklärbares Beispiel, das
wir bereits in Absc hnitt 1.3 angesproc hen
haben:
(72) Vater werden ist nicht schwer, Vater sein
dagegen sehr.
Immer unter der Annahme, daß es sic h bei
Vater um ein funktionales Substantiv handelt
und daß weiterhin ein fehlendes Argument
stets durc h den Kontext beigesteuert wird,
gibt es hier ein ernsthaftes Problem. Offensic htlic h besagt ja (72) in seiner näc hstliegenden Lesart nic ht, daß die Vatersc haft eines
ganz bestimmten, vielleic ht unmittelbar vor
Äußerung des Satzes erwähnten Kindes eine
Bürde ist; gemeint ist offenbar vielmehr eine
Aussage über die Vatersc haft im allgemeinen.
Je nac h Skopus der Negation ist also die
Argumentposition existentiell oder universell
abquantifiziert. In jedem Falle müßte man
dann aber von der für kontextuelle Auffüllung vorgesehenen Stelle abstrahieren, was
nac h den Regeln der klassisc hen Theorie nic ht
möglich ist.
Das Problem mit (72) kann man auf versc hiedene Weisen lösen. Zunäc hst sei darauf
hingewiesen, daß die betreffende deiktisc he
Position unsic htbar ist und insofern — ähnlic h wie das fehlende Subjekt des Infinitivs im
vorhergehenden Absc hnitt — relativ beliebig
manipuliert werden kann: vielleic ht handelt
es sic h bei der für die quantifizierte Lesart
verantwortlic hen Konstruktion um eine andere, nic ht deiktisc he Possessivierung als die
in Absc hnitt 3.3 diskutierte. Eine andere
Möglic hkeit der Erklärung ist rein pragmatisc her Natur: (72) hat so etwas Spric hwörtlic hes. Und bei allgemeinen Lebensweisheiten
abstrahiert man sc hon einmal vom Kontext.
So z. B. auch in:
(73) Ich kann doch nicht einerseits andauernd Nächstenliebe predigen und andererseits sämtliche Nachbarn verklagen.
Das ich wird in (73) weniger als Bezeichnung
des Sprec hers, sondern eher als Stellvertreter
für dessen Perspektive oder Rolle (moralisc hes Subjekt) verstanden, über die durc h den
Einleitungssatz quantifiziert wird. Es gibt
gute Gründe für die Annahme, daß man derartige Quantifikationen in die Art des Sprec hakts und somit in die Pragmatik absc hieben
kann. Und was bei (73) geht, könnte auc h bei
(72) funktionieren.
220
Die näc hsten beiden Beispiele zeigen, daß
die Fluc ht in die Pragmatik keine Erlösung
vom Übel der quantifizierten Kontexte bringt:
(74) Die meisten Unternehmen sprechen die
Preisgestaltung mit der Konkurrenz ab.
(75) Jeder Gast ist mir willkommen — und
sei es nur, damit wir über den Rest der
Welt lästern können.
Es sollte klar sein, daß eine Deutung von (74)
als Spruc h über die Konkurrenten im allgemeinen zu einer abwegigen Lesart führt. Allerdings besteht natürlic h hier wieder die
Möglic hkeit einer Wegerklärung der KontextVersc hiebung durc h eine weitere Possessivierungs-Konstruktion, bei der weder durc h den
Kontext aufgefüllt noc h existentiell (oder
sonstwie) quantifiziert wird, sondern eine unsic htbare Variable für spätere Bindungen (im
Sinne von Abschnitt 4.1) eingeführt wird.
(75) ist härter. Das Problem ist, daß das
Wort wir nic ht auf eine bestimmte, in der
Äußerungssituation besonders wic htige, den
Sprec her umfassende Gruppe verweist, wie
wir das von den Betrac htungen zu Beginn des
Absc hnitts 3.1 her erwarten würden. Vielmehr
sc heint sic h das Wort wie eine durc h das Subjekt des Hauptsatzes gebundene Variable für
relevante, den tatsächlichen Sprec her umfassende Gruppen zu handeln: wir heißt so viel
wie ich und der jeweilige Gast. Damit wird
aber der für die Bestimmung der ric htigen
Gruppe zuständige Eins
c hlägigkeits-Aspekt
gebunden; nac h der klassisc hen Theorie erweist er sic h damit als indexikalisc h. Doc h
damit widerspric ht das Pronomen ich der
Hypothese (L); denn der Sprec her-Aspekt
wird für die Bestimmung der Extension von
wir in (75) nac h wie vor vom Kontext beigesteuert.
Alle diese Beispiele weisen offenbar darauf
hin, daß die Untersc heidung von indexikalics hen (vers
c hiebbaren) und kontextuellen
Aspekten nic ht in der von der klassisc hen
Theorie postulierten Weise funktioniert. Ob
eine Aufweic hung der Theorie hier wirklic h
weiterhilft, ist allerdings unklar. In jüngster
Zeit werden stattdessen auc h Möglic hkeiten
einer radikalen Revision oder sogar Ersetzung
der klassisc hen Theorie der Deixis untersuc ht.
Ausgangspunkt einiger dieser Untersuc hungen sind gewisse Inadäquatheiten der SkopusAnalyse von Kennzeic hnungen und quantifizierenden Nominalphrasen. So kann man mit
der Skopus-Analyse beispielsweise nic ht so
rec ht erkären, warum (76) (auc h) in dem
Sinne zu verstehen ist, daß der besagte Alt-
IV. Kontexttheorie
Nazi lediglic h in der Zeit vor den im zweiten
Satz beric hteten Aktivitäten Bürgermeister
war:
(76) Nach dem Krieg blieben viele der Parteimitglieder ohne Gesinnungswechsel
im Amt. Der Bürgermeister, der freilich
inzwischen hatte zurücktreten müssen,
wurde noch Jahre später auf NPDKundgebungen gesehen.
Als Ersatz für die Skopus-Analyse werden
deshalb oft Strategien zur Verteilung von Referenzpunkten (genauer: Variablen für solc he)
für die Extensionsbestimmung von absoluten
Teilausdrüc ken vorgesc hlagen. Diese Strategien lassen sic h dann wieder zur Analyse der
Deixis heranziehen. Ob sic h damit die in diesem Absc hnitt genannten Probleme der klassisc hen Theorie lösen lassen und welc he neuen
Probleme sic h aus einer solc hen Vorgehensweise ergeben, steht natürlic h auf einem anderen Blatt. Aber eine neue Perspektive ergibt
sich allemale.
4.4 Mißbrauch
Zum Absc hluß des Artikels stellen wir zwei
Erweiterungen der klassisc hen Theorie vor,
die sic h zwar teilweise nac h dem Buc hstaben
derselben ric hten, ihrem Geist jedoc h fremd
sind. Die erste dieser Erweiterungen ergibt
sic h aus der sc hon zu Beginn von Teil 3 angesproc henen und von der Theorie nur sc hwer
auszus
c hließenden
Mögli
c hkeit
abwegiger
Parametrisierungen; die zweite ist eine Revision, die die in Absc hnitt 2.5 betrac hteten
Konsequenzen
der
erkenntnistheoretis
c hen
Umdeutung noc h einmal neu interpretiert.
Die Tatsac he, daß die klassisc he Theorie nic ht
in der Lage ist, sic h vor diesen — keineswegs
fiktiven — Mißbräuc hen zu sc hützen, muß
natürlic h besonders heutzutage jeden verantwortungsbewußten
Wissens
c haftler
c
na hdenklich stimmen.
Für den ersten Mißbrauc h genügt es, sic h
eine auffällige Eigentümlic hkeit deiktisc her
Wörter vor Augen zu halten. Ein Charakteristikum von ich ist es beispielsweise, daß es
in versc hiedenen Situationen versc hiedene Extensionen annehmen kann. Darin untersc heidet sic h das deiktisc he Wort nic ht von den
meisten absoluten Wörtern. Der Untersc hied
besteht — wenn die klassisc he Theorie rec ht
hat — darin, daß die Situationsabhängigkeit
beim absoluten, nic ht aber beim deiktisc hen
Wort einen Beitrag zur Extensionsbestimmung leisten kann. Untersc hiedlic he Extensionen in versc hiedenen Situationen trifft man
9. Kontextabhängigkeit
aber auc h aus offensic htlic h ganz anderen
Gründen an. Vom sc hwierigen Sonderfall der
Eigennamen [die Gegenstand von Artikel 16
sind] einmal abgesehen, begegnen wir wec hselnden Extensionen insbesondere dort, wo
auc h die Intensionen wec hseln, nämlic h bei
Ambiguitäten. Und ganz wie beim deiktisc hen
Ausdruc k leistet der Intensionswec hsel als solc her keinen Beitrag zur Extensionsbestimmung. So wie sic h ich stets auf den Sprec her
der Außerungssituation bezieht, bezieht sic h
auc h ein mehrdeutiges Wort wie S chloß stets
auf das, was in der Äußerungssituation mit
S chloß gemeint ist. Mac hen wir uns diese elementare Tatsac he anhand eines einigermaßen
beliebigen Beispiels klar:
(77) Caroline hat vor, sich morgen ein Schloß
zu kaufen.
(77) hat (mindestens) vier Lesarten, die sic h
durc h Ausmultiplikation einer uns hier nic ht
weiter interessierenden strukturellen (Skopus-) Mehrdeutigkeit — beliebiges versus bestimmtes Sc hloß — mit der lexikalisc h bedingten Ambiguität von S chloß ergeben.
Nac h einer dieser vier Lesarten plant etwa
Caroline (im Sinne einer in Absc hnitt 4.2 dargestellten Analyse), die Eigensc haft zu besitzen, die ein Individuum x in einer Welt w
genau dann hat, wenn es in w ein Herrsc haftsgebäude gibt, welc hes x (in w) am Tag nac h
der Äußerung von (77) käuflic h erwirbt. Eine
Lesart, die (77) nic ht besitzt, ist die, nac h der
sic h Carolines Trac hten auf einen beliebigen
Zeitpunkt ric htet, an dessen darauffolgenden
Tag sie sic h dann das Sc hloß kauft: morgen
rec hnet vom Tag der Äußerung an. Ebenso
gibt es keine Lesart, nac h der Caroline am
Tag nac h der Äußerung etwas kaufen will,
das entweder eine Sc hließvorric htung oder ein
Gebäude ist — je nac hdem, wie in der Kaufsituation S chloß verstanden würde: die Disambiguierung findet also in der Äußerungssituation statt.
Die Tatsac he, daß lexikalisc he Disambiguierungen in der Äußerungssituation stattfinden, könnte man nun als Indiz für einen
Bezug mehrdeutiger Lexeme auf die Äußerungssituation werten. Lexikalisc he Ambiguität wäre demnac h ein Spezialfall von direkter
Referenz. Damit ließen sic h die Begriffsbildungen der klassisc hen Theorie von der Referenzbestimmung auf die — für gewöhnlic h
als davorgesc haltet aufgefaßte — Disambiguierung übertragen. Alles, was man dazu
benötigt, ist offenbar ein Bezug auf die durc h
ein (mehrdeutiges) Lexem in einer Äuße-
221
rungssituation ausgedrüc kte Lesart bzw. —
im Rahmen einer Parametrisierung — einen
(rein kontextuellen) Disambiguierungsparameter. Die Einführung eines solc hen Parameters stellt den ersten von uns angekündigten Mißbrauc h der klassisc hen Referenztheorie dar. Mac hen wir uns einige Konsequenzen
dieses sträflichen Vorgehens klar.
Ein erster Grund für Skepsis gegenüber
einem Disambiguierungsparameter ist, daß
mit ihm das Prinzip (L) von der Zweiteilung
des Lexikons zerstört wird. Das können wir
uns wieder anhand des Beispiels (77) klar
mac hen. Carolines Vorhaben ric htet sic h bei
der von uns ins Auge gefaßten Lesart ja nic ht
auf die Objekte, die zum Zeitpunkt der Äußerung Sc hlösser sind: was heute ein Sc hloß ist,
kann in unserer sc hnellebigen Zeit sc hon morgen eine Ruine sein. Die Extension von Schloß
wird also für die Auswertungssituation ermittelt. Damit besitzt aber das Lexem S chloß eine
gemisc hte Referenzweise: die Extension hängt
— wegen der Disambiguierung — sowohl von
der Äußerungs- als auc h von der Auswertungssituation ab.
Mehr Unbehagen gegen eine Disambiguierung durc h die Äußerungssituation stellt sic h
ein, wenn man bedenkt, daß diese zu einer
Erweiterung des Einflußbereic hs der Tokenanalyse führt:
(78) In Carolines Schloß muß das Schloß am
Hauptportal erneuert werden.
Eine einzige Äußerungssituation für (78)
würde für die beiden Vorkommen von Schloß
ein und dieselbe Lesart determinieren. Um
das zu verhindern, müßte man also die Situation im Sinne einer Tokenanalyse aufspalten.
Ohne Disambiguierungsparameter wäre das
nicht nötig.
Damit nic ht genug. Wenn man dem Kontext sc hon die Arbeit aufbürdet, (78) zu disambiguieren, sollte man eigentlic h (79) gleic h
dazutun:
(79) Ein Wechsel der Bank bewirkt keinen
Unterschied im Gehalt.
(79) besitzt (mindestens) ac ht Lesarten, von
denen die meisten freilic h aus inhaltlic hen
Gründen rec ht eigenartig sind. Der Untersc hied zu (78) ist, daß die Mehrdeutigkeiten
in (79) nic ht auf Mehrdeutigkeiten der beteiligten Wörter, sondern auf das Zusammenfallen von Wortformen zurüc kzuführen sind.
Wechsel kann ein Austausc h oder ein Zahlungsmittel bezeic hnen, aber nur im zweiten
Fall kann man auc h einen Plural bilden. (Bei
der Bewertung dieses Beispiels mag es dialek-
222
tale Untersc hiede geben!) Die Pluralbildung
entlarvt auc h die beiden Lesarten der Wortform Bank als zu versc hiedenen Wörtern gehörig. Bei Gehalt ist es noc h einfac her: hier
gibt es (neben anderen morphologisc hen Untersc hieden) zwei Genera. Wollte man nun
(79) mit Hilfe der Charaktere der betreffenden
Wörter disambiguieren und etwa ein einziges
Wort Bank mit kontextabhängiger Intension
unterstellen, so könnte man sc hlec ht erklären,
warum dann der Plural einmal Banken, ein
anderes Mal Bänke lautet und wieso obendrein die Intension von der Wahl der Pluralform abhängt. Wenn man andererseits den
Formen selbst Charaktere zuweist, gibt man
damit den Wortbegriff für semantis
c he
Zwec ke auf und könnte nic ht mehr erklären,
warum beispielsweise in der überragenden
Zahl der Fälle morphologisc h eng verwandte
Formen auc h die gleic hen Charaktere besitzen. Will man derartig absurde Konsequenen
vemeiden, muß man den Aktionsradius des
Disambiguierungsparameters auf ec hte lexikalisc he Ambiguitäten — unsystematisc he
Mehrdeutigkeiten auf der Wortebene — wie
in (78) einsc hränken. Da aber auc h für Mehrdeutigkeiten auf der Formebene in aller Regel
Disambiguierungen vorgenommen werden,
muß man diese auf andere Mec hanismen —
etwa auf pragmatisc h erklärbare Verstehensstrategien — zurüc kführen. Die Annahme
solc her zusätzlic hen, über den Disambiguierungsparameter
hinausgehenden
Strategien
mac ht aber ebendiesen überflüssig: die Auflösung einer Ambiguität wie (79) sc heint kein
prinzipiell anderes Unternehmen zu sein als
die Disambiguierung von (78) und so werden
sic h Strategien zur Lösung des ersten Problems auch auf das zweite übertragen lassen.
Au
c h
bei
strukturellen
Ambiguitäten
dürfte die Annahme eines Disambiguierungsparameters zu Sc hwierigkeiten führen. Denn
die Bestimmung der Extension komplexer
Ausdrüc ke gesc hieht zumindest nac h landläufiger Meinung anhand der syntaktisc hen
Struktur, die also für diese Zwec ke bereits
vorausgesetzt wird. Nac h einer ebenso verbreiteten Ansic ht werden strukturelle Ambiguitäten aber durc h die syntaktisc he Struktur
aufgelöst, weswegen die Identifikation der
korrekten Lesart über einen kontextuellen Parameter — wie auc h immer diese vonstatten
gehen mag — wieder überflüssig zu sein
scheint.
Wenig einwenden gegen eine Disambiguierung durc h Kontextabhängigkeit läßt sic h dagegen bei einer Besc hränkung auf Polysemien,
IV. Kontexttheorie
also Mehrdeutigkeiten auf der Wortebene mit
erkennbarem,
systematis
c hen
Zusammenhang zwisc hen den Lesarten. Ein typisc hes
Beispiel ist die Möglic hkeit, mit Bezeic hnungen für Institutionen, die in einem Gebäude
untergebrac ht sind, zugleic h auc h auf die Gebäude zu verweisen:
(80) Die Universität ist vollkommen uninteressant.
Wenn ein Baumeister (80) in einem Vortrag
über die Bodenseestadt Konstanz äußert,
kann er damit (a) ein fac hlic h-ästhetisc hes
Urteil über ein gewisses Bauwerk ausdrüc ken
oder aber zu verstehen geben, daß (b) Arc hitektur nic ht zu den an der dortigen Universität gelehrten Fäc hern gehört. Wollte man
diese Mehrdeutigkeit unter Rüc kgriff auf
einen Disambiguierungsparameter auflösen,
so ließen sic h dagegen dieselben Bedenken
vorbringen wie in den anderen bisher betrac hteten Fällen. Das Systematisc he an dieser
Zweideutigkeit eröffnet aber zugleic h eine
ganz andere Möglic hkeit, die klassisc he Analyse der Kontextabhängigkeit zum Einsatz zu
bringen. So könnte man etwa der Lesart (a)
eine komplexere logisc he Form unterlegen, in
der dem Subjekt von (80) eine Besc hreibung
wie ‘das der Universität entsprec hende Gebäude’ oder (falls die Polysemie Ausdruc k
eines allgemeineren Phänomens sein sollte)
‘das der Universität entsprec hende konkrete
Ding’ entspric ht. Die einsc hlägige Entsprec hungs-Relation beizusteuern wäre dann Aufgabe eines Kontext-Parameters. Wenn dieses
Vorgehen hier auc h etwas gezwungen wirken
mag, so wollen wir zumindest auf die prinzipielle Möglic hkeit einer solc hen semantisc hen
Auflösung von Polysemien und den prinzipiellen Untersc hied zur Annahme eines Disambiguierungsparameters hinweisen: die hier
skizzierte — und sc hon in Absc hnitt 3.3 angesproc hene — Zurüc kführung von Polysemien auf unsic htbare Kontextvariablen setzt
einen hohen Grad von systematisc her Vorhersagbarkeit der Lesarten voraus. Insbesondere ist also keineswegs gesagt, daß man alle
in der Literatur als Polysemien abgehandelten
Phänomene in dieser Weise behandeln könnte
oder sollte.
Daß die klassisc he Theorie nic ht zur Auflösung lexikalisc her Ambiguitäten herangezogen werden sollte, heißt natürlic h nic ht, daß
jeglic he Besc hreibung oder Erklärung dieses
alltäglic hen Vorgangs mit der klassisc hen
Theorie unvereinbar ist. Die Bestimmung der
korrekten Lesart ist nur nic ht Gegenstand der
9. Kontextabhängigkeit
Semantik, sondern der Pragmatik. Die Frage,
welc he Lesart eines Ausdruc ks in einer bestimmten Äußerung gemeint ist, hat für die
klassisc he Theorie also weniger mit der Extensionsbestimmung zu tun als etwa mit der
Frage, was der Sprec her mit seiner Äußerung
wohl bezwec ken will, welc her Sprac he diese
Äußerung entstammt und ob er überhaupt
etwas aussagt oder nic ht vielmehr nur hustet
oder nachplappert.
Über das Verhältnis von Kontextabhängigkeit und Mehrdeutigkeit ließe sic h noc h einiges mehr sagen, doc h interessiert uns hier
eigentlic h nur der Aspekt der Pervertierung
der klassisc hen Theorie durc h Hinzunahme
eines Disambiguierungsparamters. Wir weisen noc h einmal darauf hin, daß es — abgesehen von der Hypothese (L) — keine theorieinternen Gründe für den Aussc hluß eines
solc hen Parameters zu geben sc heint und sehen darin zumindest eine unerfreulic he Lüc ke
der klassischen Theorie.
Der Ausgangspunkt des zweiten TheorieMißbrauc hs ist die gegen Ende von Absc hnitt
2.5 notierte und dort philosophisc h gewendete
Beobac htung, daß die klassisc he Theorie zwei
voneinander unabhängige Trivialitätsbegriffe
bereitstellt: das auf Charaktere bezogene A
Priori und die Notwendigkeit als Eigensc haft
von Propositionen. Der erste Begriff spielt
dabei eine der Gültigkeit aus der Logik analoge Rolle: eine gültige Formel ist eine solc he,
die — als alleinstehende Formel und nic ht als
Teilformel betrac htet — stets (in allen Modellen) wahr ist; ebenso ist ein Satz a priori
wahr, wenn er in Isolation — also nic ht eingebettet — geäußert stets (in allen Äußerungssituationen) wahr ist. Da es einen Untersc hied mac ht, ob ein Satz in diesem Sinne
logisc h trivialerweise wahr ist oder ob er eine
notwendige Proposition ausdrü
c kt, könnte
man hier einen neuen Ansatzpunkt für das
Problem der mangelnden Feinheit des Propositions-Begriffs suc hen, das sic h ja — wie
wir in Absc hnitt 4.2 gesehen haben — vor
allem darin äußert, daß äquivalente Sätze im
Rahmen der klassisc hen Theorie allzu leic ht
füreinander ersetzbar ersc heinen. Doc h a
priorische Äquivalenz — also Extensionsgleic hheit in allen Äußerungssituationen —
impliziert ja nic ht unbedingt intensionale
Äquivalenz, d. h. (im Falle von Sätzen)
Gleic hheit der ausgedrüc kten Proposition. So
sind zwar (81) und (81′) a priori äquivalent,
drüc ken aber — nac h klassisc her Auffassung
— niemals dieselbe Proposition aus:
223
(81) Alain geht zur Schule.
(81′) Alain geht jetzt zur Schule.
Der intensionale Untersc hied zwisc hen diesen
beiden Sätzen erklärt dann auc h — ebenfalls
nac h klassisc her Auffassung — warum sie
sic h z. B. bei Einbettung unter die temporale
Präpositionalphrase nächstes Jahr verschieden verhalten. Könnte man da nic ht einen
ebenso feinen Untersc hied zwisc hen (81) und
dem logisc h äquivalenten (81″) annehmen, der
sic h dann ganz analog erst bei Einbettung
unter, sagen wir einmal, Einstellungsverben
bemerkbar macht?
(81″) Wenn Alain nicht zur Schule geht oder
Tom den Kindergarten besucht, dann
geht Alain zur Schule.
(Wir nehmen selbstverständlic h an, daß in
(81″) wenn — dann, nicht und oder im Sinne
der klassisc hen Aussagenlogik zu verstehen
sind; wer Skrupel hat, möge das Beispiel austausc hen.) Die Annahme möglic her intensionaler Untersc hiede zwisc hen logisc h äquivalenten Sätzen stellt den zweiten hier betrac hteten Mißbrauc h der klassisc hen Referenztheorie dar. Mac hen wir uns einige Voraussetzungen für dieses sträfliche Vorgehen klar.
Wir wollen hier nic ht infrage stellen, daß
logisc he Äquivalenz auc h Äquivalenz a priori
nac h sic h zieht. Demnac h müssen Satzpaare
wie (81) und (81″) in allen Äußerungssituationen denselben Wahrheitswert zugewiesen bekommen. Die näc hstliegende (und hier einzig
betrac htete) Methode, um das zu garantieren,
besteht ganz einfac h darin, dem in solc hen
Sätzen auftretenden logisc hen Material (in
unserem Falle: den Junktoren) eben an allen
entsprec henden Referenzpunkten die von der
Logik her zu erwartende Extension zuzuweisen: nicht denotiert danac h an beliebigen
Punkten der Gestalt ⟨s0,s0⟩ die Umkehrung
der Wahrheitswerte etc . Die a priorisc he
Äquivalenz von (81) und (81″) ist dann im
wesentlic hen das Werk der Kompositionalität. Natürlic h dürfen wir jetzt nic ht — wie
sonst in der klassisc hen Theorie üblic h —
diese Annahme des Standardverhaltens des logisc hen Materials auf beliebige Referenzpunkte übertragen; denn auf diese Weise würden — wie man leic ht nac hprüft — die entsprec henden Sätze auc h stets intensional
gleic h, was wir ja verhindern wollen. Also
benötigen wir Punkte ⟨s0,s⟩, an denen beipielsweise nicht nic ht die Wahrheitswertumkehrfunktion denotiert. Wir nennen solc he
⟨s0,s⟩ einmal Nonstandard-Punkte. Mit der
Annahme von Nonstandard-Punkten sind
224
nun zwei Probleme verbunden, die sic h beide
nic ht auf befriedigende Weise lösen zu lassen
sc heinen. Diese Tatsac he und der Umstand,
daß zwisc hen dem Kontrast (81) versus (81′)
einerseits und dem Untersc hied zwisc hen (81)
und (81″) andererseits keine intuitive Parallele
besteht, läßt uns die hier angedeutete Möglic hkeit zur Verfeinerung des PropositionsBegriffs als Irrweg erscheinen.
Die beiden Probleme deuten darauf hin,
daß der Begriff des Nonstandard-Punkts
rec ht dunkel ist; die Annahme eines intensionalen Untersc hieds zwisc hen (81) und (81″)
impliziert also die Existenz von höc hst zweifelhaften Objekten. Problem Nummer Eins
ist sc hlic ht: wie soll ein Nonstandard-Punkt
⟨s0,s⟩ überhaupt aussehen, was ist seine interne Struktur? Wir können lediglic h sagen,
daß es sic h bei s0und s nic ht um dieselbe
Situation handeln kann. Unklar aber ist, ob
die beiden überhaupt etwas gemeinsam haben
oder haben können (die Welt oder die Zeit
etwa), ob s eine Äußerungssituation sein
kann, ob s unstimmig sein kann oder gar muß
etc . Das Problem ist nic ht, daß diese Fragen
nic ht so zu beantworten wären, daß sc hließlic h irgendeine Verfeinerung des Propositionsbegriffs herauskäme. Das Problem ist, daß
offenbar jede Beantwortung dieser Fragen
willkürlic h zu sein sc heint. Ein NonstandardPunkt ist einfac h ein Referenzpunkt, an dem
die Logik nic ht mehr stimmt. Warum das so
ist und wie der Referenzpunkt ansonsten aussieht, ist egal — solange er nur nic ht auf der
Diagonalen liegt. Und diese letzte, einzig von
dem Bestreben, die A Priorizität der logisc hen
Wahrheit zu garantieren, geleitete Einsc hränkung ersc heint noc h besonders willkürlic h.
Problem Nummer Zwei betrifft das Nonstandardverhalten der logisc hen Ausdrüc ke: wenn
die üblic he, von der Logik her zu erwartende
Extension tabu ist, was ist dann die Extension
eines logisc hen Ausdruc ks an einem Nonstandard-Punkt? Bezeic hnet also etwa das Wort
nicht stets entweder die Umkehrfunktion oder
eine ganz bestimmte, andere Funktion —
oder variiert die Extension der NegationsPartikel von einem Nonstandard-Punkt zum
näc hsten? Kann die Extension eines ansonsten extensionalen Junktors an einem Nonstandard-Punkt intensional sein? Wieviele logisc he Ausdrüc ke können an einem Nonstandard-Punkt von ihrem Standardverhalten abweic hen: alle, fünf oder nur einer zur Zeit?
Auc h bei diesen Fragen besteht nic ht das Problem, daß man sie nic ht irgendwie beantwor-
IV. Kontexttheorie
ten könnte; aber man muß sie eben irgendwie
beantworten.
Die gemeinsame Ursac he dieser Probleme
ist offensic htlic h, daß man sic h unter einem
Referenzpunkt, an dem die Logik versagt,
nic hts Rec htes vorstellen kann. Lediglic h die
Idee, eine spezielle Eigensc haft der klassisc hen
Theorie zur Verfeinerung des PropositionsBegriffs heranzuziehen, hat überhaupt erst
zur Annahme der Existenz dieser Punkte geführt. Oder waren sie vielleic ht sc hon vorher
da, ohne daß sie jemand bemerkt hat? War
vielleic ht die in Absc hnitt 1.3 erwähnte, für
gewöhnlic h als Selbstverständlic hkeit hingenommene Annahme, logisc he Wörter seien
sowohl deiktisc h wie auc h referentiell und
hätten mithin stets dieselbe Extension,
sc hlic htweg falsc h? In der Tat: ist denn nic ht
sc hon eine fiktive Situation, in der eine andere
Sprac he gesproc hen wird, die sic h vom Deutsc hen lediglic h in der Semantik einiger (bei
uns) logisc her Wörter untersc heidet, ein geeigneter Ausgangspunkt zur Konstruktion
eines Nonstandard-Punkts? Nein. Denn die
Extensionsbestimmung mit Hilfe klassisc her
Charaktere erfolgt ja nic ht nac h den Regeln
der Sprac he, die in einer betrac hteten Situation gesproc hen wird. Wäre dies so, könnten
wir mit klassisc hen Mitteln nic ht einmal Sätze
deuten, in denen von der Frühzeit der Erde
die Rede ist; und Sätze über fremde Länder
und Kulturen bekämen haufenweise falsc he
Lesarten zugewiesen. Außerdem hätte die
Hinzunahme und entsprec hende Deutung solc her Äußerungssituationen unmittelbar zur
Folge, daß A Priori und Notwendigkeit leere
Begriffe würden. Die Tatsac he, daß wir auc h
an exotisc hen Referenzpunkten die Extensionsbestimmung nac h den tatsäc hlic hen Regeln des Deutsc hen vornehmen müssen, zeigt
also gerade, daß es im Rahmen der klassisc hen Theorie keine Nonstandard-Punkte geben kann.
Aus der Not der Unbekanntheit von Nonstandard-Punkten könnte man natürlic h eine
Tugend der Unterdeterminiertheit mac hen.
Wie das geht, zeigt eine Analogie zu einem in
der logisc hen Semantik durc haus üblic hen (in
Abschnitt 1.2 als abstrakt und formal bezeichneten) Vorgehen bei der Deutung sprac hlic her
Ausdrüc ke. Anstatt ihnen nämlic h einfac h —
bei lexikalisc hen Ausdrüc ken durc h Auflistung und ansonsten über Regeln — Charaktere zuzuordnen, wird normalerweise nur
gesagt, wie so eine Zuordnung im allgemeinen
auszusehen hat. Das läßt dann allerhand, für
semantisc he Zwec ke in der Regel uninteres-
9. Kontextabhängigkeit
santen Spielraum für die konkrete Ausführung. Diesen Spielraum könnte man durc h
definitorisc he Setzung einfac h auf die Hinzunahme beliebiger Nonstandard-Punkte erweitern. Die Konsequenz wäre, daß jede Beantwortung der Fragen des vorletzten Absatzes zu einer theoretisc h möglic hen Interpretation führt. Auf diese Weise könnte man
zwar peinlic hen Fragen nac h der Natur der
Sac he gesc hic kt aus dem Weg gehen, hätte
aber keine Einsic ht in das tatsäc hlic he Funktionieren der Sprac he gewonnen, sondern nur
ein Wohlverhalten des zur Modellierung herangezogenen formalen Apparats erzwungen.
Und soll das der Zwec k des ganzen Unternehmens sein?
5.
Historisch-bibliographische
Anmerkungen
Die Literatur zum Thema ‘Kontextabhängigkeit’ ist ausgesproc hen umfangreic h und dem
Verfasser dieser Zeilen nur zu einem Bruc hteil
bekannt. Die folgenden Hinweise erheben daher keinen Anspruc h auf Vollständigkeit,
nic ht einmal auf Repräsentativität. Genannt
werden lediglic h die wic htigsten Quellen, auf
denen der Text basiert, ein paar Klassiker
sowie ausgewählte Werke, die tiefer ins Detail
gehen. Die Bemerkungen sc hließen sic h in
Aufbau und Reihenfolge in etwa an den
Haupttext an; Absc hnitte entsprec hen Teilen
(1—4), Absätze Abschnitten (1.1 etc.).
5.1 Zur klassischen Theorie
Die Beobac htung, daß sic h sprac hlic he Ausdrüc ke gelegentlic h auf die Welt beziehen und
insofern Extensionen haben, ist zu offensic htlic h, um historisc h belegt zu werden. Ein früher Versuc h, auf systematisc he Weise Extensionen (’Bedeutungen’) für beliebige sprachlic he Ausdrüc ke zu finden, ist Frege (1892).
Aus demselben Werk stammt auc h die Idee
des Wahrheitswertes als Satzextension sowie
die Einführung von Ersatzextensionen (’Sinnen’) zur Rettung eines (impliziten) Kompositionalitätsprinzips. Die mengentheoretisc he
Bestimmung der Wahrheitswerte und ihre
prädikatenlogisc he Motivation findet man allerdings erst in Tarski (1936). Die Charakterisierung von Intensionen als extensionsbestimmende Funktionen geht letztlic h auf Carnap (1947) zurüc k, wo jedoc h (in § 29) ausdrüc klic h auf die Untersc hiede zum Fregeschen Sinn-Begriff hingewiesen wird.
Deutungen von Satzeinbettungen wie in
225
(R*) gehören — ausgehend von Hintikka
(1969b) — zum logisc h-semantisc hen Allgemeingut; der Begriff der singulären Proposition geht auf Kaplan (1975) zurüc k, wo er
mit der Russellsc hen Ontologie in Zusammenhang gebrac ht wird. Daß deiktisc he Ausdrüc ke sic h nic ht nahtlos in das durc h die
Untersc heidung von Extension und Intension
gewonnene Bild fügen, ist sc hon in Frege
(1918) gesehen worden. Die im Text gegebene
Darstellung sc hließt sic h im Geiste Kaplan
(1977) an, dem Urtext der hier als ‘klassisc h’
bezeic hneten Referenztheorie. Die Ursprünge
dieser Theorie sind nic ht ganz eindeutig zu
ermitteln, sc heinen aber in Kalifornien zu liegen: Kamp (1971) und Vlac h (1973) gelten als
erste Vorläufer; Montague (1968: Absc hnitt
3) und Montague (1970: Absc hnitt 4) sind
weitere frühe (freilic h wenig explizite) Zeugnisse. Einen guten und ausführlic hen Einstieg
bietet das erste Kapitel von Kratzer (1978).
Die Untersc heidung versc hiedener Referenzweisen liegt im Rahmen der klassisc hen
Theorie zu nahe, um irgendjemandem zugesc hrieben werden zu können. Die Hypothese
(L) ist wahrsc heinlic h neu (aber ebenfalls
nic ht besonders originell). Auf den Zusammenhang zwisc hen (L) und die in der generativen Syntax üblic he Abspaltung der Finitheit vom lexikalisc hen Verb hat Arnim von
Stec how (in einem Kommentar zu einem Vorläufer dieses Kapitels) hingewiesen. Die Auffüllung
unterdeterminierter
Dimensionen
durc h die Äußerungssituation ist in Bartsc h
(1986) vorgesc hlagen worden; eine entsprec hende Einbeziehung von Standards findet
man in E. Klein (1980). Der Operator dthat
ist prä-klassisc h und stammt aus Kaplan
(1978); vgl. auch Kaplan (1977: Kapitel XII).
Das Allgemeine Kompositionalitätsprinzip
findet man in Montague (1970: Absc hnitte 3
und 4), wo Monster explizit zugelassen werden. Für das Monsterverbot (M) wird erstmalig in Kaplan (1977: VIII) plädiert; hier
kommt auc h die Bezeic hnung ‘Monster’ her.
Die monströse Analyse der Dimensions-Adverbien folgt von der Idee her wieder Bartsc h
(1986). Auf weitere im Bereic h der Modifikatoren-Semantik heimisc he Monster mac ht
Pinkal (1977: Kapitel 6) aufmerksam.
5.2 Zu den Varianten und Alternativen
Situationelle Parameter und Aspekte tauc hen
sc hon in den frühesten Formulierungen der
klassisc hen Theorie und davor auf: vgl. z. B.
S
c ott (1970) (prä-klassis
c h) und Kaplan
IV. Kontexttheorie
226
(1979) (klassisc h). In der Tat: einiges spric ht
dafür, daß die ‘offizielle’ Version der klassisc hen Theorie in Kaplan (1977) die Parametrisierung ist und daß das, was wir hier als
‘klassisc h’ bezeic hnen, allenfalls heuristisc hen
und illustrativen Charakter hat. (Daneben
gibt es noc h eine weitere terminologisc he
Falle in unserer Darstellung: das englisc he
Adjektiv indexical entspric ht nicht unserem
indexikalisch; letzteres leitet sic h von Index —
im Englisc hen auc h meist index — her, während ersteres dem deutsc hen Wort deiktisch
entspric ht und somit so ziemlic h das Gegenteil bedeutet!) Für unstimmige indexikalisc he
Aspektlisten wird in Lewis (1980a: Absc hnitt
6) argumentiert; dort wird auc h für die Beibehaltung der Äußerungssituationen plädiert,
um dem in Cresswell (1972: Absc hnitt 4) beklagten Wildwuc hs der kontextuellen Parameter Einhalt zu gebieten. In Kaplan (1977)
wird diese Frage nur am Rande (in Fußnote
16) berührt (und offengelassen).
Ein früher Verfec hter extensionalisierter logisc her Formen ist Tic hý (1971). Neuere Arbeiten haben sic h allerdings eher von Gallin
(1975: § 8) inspirieren lassen. Die Reformulierung (EM) des Monsterverbots gehört zur
logisc h-semantisc hen Folklore. Die klassisc he
Theorie ist bereits in ihren frühesten Darstellungen als abstrakte Referenztheorie aufgefaßt worden: vgl. z. B. Kaplan (1979). Eine
Version, in der sic h nic ht einmal (D) ohne
axiomatis
c he Zusatzannahmen formulieren
läßt, ist Montague (1970: Absc hnitt 4); die
Diagonale tritt dort in Gestalt der Menge der
‘ausgezeichneten
Referenzpunkte
logis
c h
möglic her Modelle’ [’designated points of referenc e of logic ally possible models’] (ebd.,
382) auf.
Der Urtext der zweidimensionalen Modallogik ist Segerberg (1973); der Zusammenhang zur Kontextabhängigkeit wird dort bereits erwähnt. Die aufgrund der Asymmetrie
der ‘Dimensionen’ bestehenden Untersc hiede
zwisc hen zweidimensionaler Modallogik und
klassisc her Referenztheorie sind vor allem in
Kapitel VIII von Kaplan (1977) herausgestellt
worden. Die Idee zur Quadratur der Charaktere, um die Umsc hreibbarkeit beliebiger
deiktisc her Ausdrüc ke zu garantieren, kann
man in Stalnaker (1981: Absc hnitt IV) hineinlesen, wo die Kontexte und Indizes verwirrenderweise als ‘Welten’ (’worlds’) bezeic hnet werden.
Die Analyse der Deixis als Tokenreflexivität ist älter als die klassisc he Theorie und geht
auf Reic henbac h (1947: 50) zurüc k. Als eine
dem Wesen der Sprac he näherkommende Al-
ternative zur klassisc hen Theorie ist sie in
Cresswell (1973: Kapitel 8) propagiert und
präzisiert worden. Die für die klassisc he
Theorie wic htige Rolle von Zeigehandlungen
wurde sc hon in Kaplan (1977: Kapitel II)
gesehen. Eine detaillierte klassisc he Behandlung inhomogener Äußerungssituationen findet man in von Stechow (1979b).
Die Analogie zwisc hen der Semantik deiktisc her Ausdrüc ke und der Analyse epistemisc her Situationen hat eine mindestens auf
Russell
(1940)
zurü
c krei
c hende
Vorgesc hic hte; der moderne Klassiker ist Castañeda
(1966). Eine ausführlic here Diskussion der
philosophisc hen Aspekte (und weitere Literaturhinweise) bietet Forbes (1989). Die Identifikation (F) von Informationsgehalt und Intension stammt aus Frege (1892). Der Begriff
des Standard-Namens geht auf Kaplan (1969:
§ VIII) zurüc k. Die Version (S) der Gewinnung der epistemisc hen Perspektive enspric ht
dem Vorgehen in Stalnaker (1978); die Formulierung folgt einem Vorsc hlag aus Lewis
(1980a: 94). (E) findet man in Kaplan (1977:
Kapitel XVII). Das Resultat der Reduktion
(E’) ist gerade die (dort unabhängig motivierte) Charakterisierung der Selbstlokalisierung in Lewis (1979b) — abzüglic h der (nur
in der dort propagierten Ontologie möglic hen) Identifikation von Individuen und Kontexten (einer bestimmten Parametrisierung).
Identitätskrisen werden vor allem seit Perry
(1977), einem weiteren modernen Klassiker,
gerne diskutiert. Die im Text gegebene Gegenüberstellung von (einem Typ von) A Priorizität und (metaphysisc her) Notwendigkeit
gibt die auf Kaplan (1977: Kapitel XVII) zurüc kgehende Rekonstruktion einer geistesverwandten Untersc heidung aus Kripke (1972)
wieder. Der Beweis für die Existenz jedes denkenden Subjekts findet sic h in Desc artes
(1641: Meditatio II,3). Das Beispiel (27) zur
Illustration der Unverträglic hkeit der Tokenanalyse mit der erkenntnistheoretisc hen Deutung der klassisc hen Theorie hat Jean Yves
Lerner (in einer Diskussion mit dem Autoren)
vorgesc hlagen. Daß die erkenntnistheoretisc he Umdeutung zunäc hst nur eine Analogie
ist, wird sc hon in Kaplan (1977: Kapitel XX)
angedeutet. Ein von deiktisc hen Bezügen
freies Beispiel für ein kontingentes A Priori
liefert Williamson (1986).
5.3 Zu den Aspekten des Kontexts
Ausführli
c here Überlegungen zur Bestimmung des Sprec hers in einer gegebenen Äußerungssituation sowie weitere Beispiele im Stil
9. Kontextabhängigkeit
von (29) findet man in Kratzer (1978: 17—
27). Die Idee, solc he Phänomene teilweise mit
pragmatis
c hen Akkomodationsregeln (’rules
of ac c omodation’) zu besc hreiben, stammt
aus Lewis (1979a) und ist eine Verallgemeinerung des Vorgehens in Stalnaker (1973).
(Mehr dazu bringt Artikel 10.) Ein Versuc h,
der notorisc hen Vagheit der Personalpronomina der ersten und zweiten Person Plural
durc h Disambiguierung Herr zu werden, ist
etwa Gardies (1985: 127—134); eine einheitlic he Deutung von wir findet man dagegen in
Kratzer/von Stec how (1977: 109—115). Mehr
über den im Text reic hlic h vernac hlässigten
Ortsparameter erfährt man etwa bei Fillmore
(1975a), W. Klein (1978) oder von Stec how
(1982b). (Vgl. auc h Artikel 37.) Die Literatur
zum Zeitparameter ist dermaßen umfangreic h, daß eine Nennung einzelner Titel nur
irreführend sein kann; die obige Diskussion
wurde von Bäuerle (1979b) inspiriert, wo man
eine genaue Darstellung der Interaktion von
Tempus und Temporaladverb findet. (Zum
Tempus vgl. auc h Artikel 35.) Wic htige Beiträge zum Wesen möglic her Welten sind
Kripke (1972: Lec ture 1), Kaplan (1975) und
Lewis (1986).
Der Zeige-Parameter spielt in Kaplan
(1977: Kapitel II) die Rolle des typisc hen kontextuellen Parameters und dient sogar zur
Motivation der Untersc heidung von Intension und Charakter. Etwaige subjektive Züge
des Zeige-Parameters werden in Kaplan
(1978: 239 f.) als für die objektive Referenz
irrelevant zurü
c kgewiesen; Kaplans Argumentation wird in Bac h (1987: 182—186)
überzeugend widerlegt. Die Untersc heidung
zwisc hen subjektiver und objektiver Referenz
wird in Castañeda (1977) und Kripke (1977)
vertieft. Der Begriff ‘Deixis am Phantasma’
geht auf Bühler (1934: § 8) zurüc k, ist dort
aber weiter gefaßt.
Einer der ersten und einflußreic hsten Beiträge zum deiktisc hen Gebrauc h von Kennzeic hnungen ist Donnellan (1966); mindestens
ebenso wic htig ist die Kritik in Kripke (1977).
Der Einsc hlägigkeitsbegriff wird von Lewis
(1979a: Example 3) ins Spiel gebrac ht. Bei
Satz (42) hat ein Beispiel aus W. Klein (1978:
26) Pate gestanden. Das sc hwierige Verhältnis
zwisc hen direkter Rede und Kontextabhängigkeit wird in Grabski (1981) unter die Lupe
genommen. Die Darstellung der Possessivierung gibt wohl die gängige (und sic herlic h
auc h irgendwo anders besc hriebene) Sic htweise dieses Phänomenbereic hs wieder. Die
PDC ist ein Buhmann aus Cresswell (1972:
227
8). Den Präzisionsgrad als kontextuellen Parameter findet man in Lewis (1980a: Absc hnitt 5). Irene Heim hat (vor einigen Jahren,
beim Kaffeetrinken) den Autor dieses Kapitels erstmals mit Beispielen wie (52) bekanntgemac ht; sie gehören inzwisc hen zu den alten
Bekannten jedes Semantikers.
5.4 Zu den Problemen
Eine Präzisierung der Deutung von Personalpronomina mit Hilfe einer Einsc hlägigkeitshierarc hie findet man in Smaby (1979: Absc hnitt 2). Die Darstellung der Quantorenbindung gibt die Idee hinter der gängigsten, auf
Montague (1973) zurüc kgehenden Behandlung der Quantifikation wieder. Weitere Details entnimmt man dem Artikel 21. Die Monster in Kauf nehmende Lösung (i) des StatusProblems von Belegungen wird in Montague
(1970: Absc hnitte 6 und 7) vertreten. Die
Mehrdeutigkeits-Analyse (ii-a) wird bei Bennett (1978) und Janssen (1980) vorgesc hlagen;
bei der Absc hiebung (ii-b) der Belegung in
den Index handelt es sic h um einen Buhmann,
der wohl von keinem Anhänger der klassics hen Referenztheorie ernsthaft vertreten
wird und dessen Widerlegung durc h die entsprec henden Passagen in Kaplan (1977: Kapitel II) inspiriert wurde. Belegungen mit Eigenstatus (iii) sind der ratlose Ausweg von
Kaplan (1979).
Die Diskussion um die korrekte Semantik
der Einstellungsberic hte wird in der sprac hanalytisc hen Literatur naturgemäß nic ht immer klar getrennt von der Diskussion um die
ric htige Theorie der kognitiven, epistemisc hen
etc . Einstellungen; die meisten der zu Absc hnitt 2.5 gegebenen Literaturhinweise lassen sic h somit ohne weiteres auc h auf Absc hnitt 4.2 übertragen. Die Regel (Rmeinen) ist
die offenkundige Übersetzung der in Absc hnitt 1.2 gegebenen üblic hen Semantik der
Einstellungsverben im Rahmen der klassisc hen Theorie (und ihrer erkenntnistheoretisc hen Deutung); eine ähnlic he Regel (für say)
findet man z. B. in Kaplan (1977: Kapitel
XX). Die mangelhafte Behandlung der Einstellung zum Widerspruc h wird in von Stec how (1984c : Absc hnitt 2) zum Hauptangriffspunkt gegen (Rmeinen) gemac ht. Die (auc h
dort implizite) Umgebungs-Semantik geht
letztlic h auf Montague (1968: Absc hnitt 1)
zurüc k. Genaueres erfährt man in Artikel 34.
Die Bezeic hung ‘Einstellung de se’ stammt
aus Lewis (1979b); einen Stern am Pronomen
zur Andeutung derselben findet man bereits
in Castañeda (1966). Das Phänomen als sol-
228
c hes hat sc hon Geac h (1957) problematisiert.
Die Aufspaltung der Proposition in Thema
und Rhema wird — im Rahmen der Möglic he-Welten-Semantik — in Cresswell/von Stec how (1982) präzisiert und in von Stec how
(1984c ) erstmals zur Besc hreibung von Einstellungen de se ausgenutzt. Der Satz (63) ist
eine Übertragung eines (im Deutsc hen so
nic ht wiederzugebenden) noc h raffinierteren
Beispiels aus Lakoff (1970c : 245), wo das
Problem allerdings — wohl zu Unrec ht — als
ontologisc hes dargestellt wird. Passagen wie
(64) werden gerne von Feinden der systematisc hen Grammatik (am Biertisc h) als Belege
für die Naturwüc hsigkeit der Sprac he angeführt — nic ht ganz zu Unrec ht, wie man aus
Sic ht der klassisc hen Theorie wohl sagen
muß!
Die Erklärung gewisser durc h Kennzeic hnungen hervorgerufener Ambiguitäten vermittels Skopus-Analyse wird üblic herweise
Bertrand Russell zugesc hrieben; ein Loc us
c lassic us ist Whitehead/Russell (1910: 69—
71). Daß eine an der Nominalphrase selbst
ansetzende Disambiguierung für solc he Fälle
wie (65) nic ht ausreic ht, kann man an vielen
Stellen nac hlesen — so z. B. bei Kripke (1977:
Absc hnitt 2). Der klassisc he, auf die ausgedrü
c kte Proposition bezugnehmende Einwand gegen eine Skopus-Analyse der Deixis
findet sic h (in seiner Anwendung auf Demonstrativa) in Kaplan (1977: Kapitel IX); hier
besteht wieder eine enge Analogie zu der Argumentationsweise in Kripke (1972: Lec ture
1). Die feste Rolle, die dem — in Wirklic hkeit
eher vagen — vortheoretisc hen PropositionsBegriff dabei zugesc hrieben wird, wird in Lewis (1980a: Absc hnitt 11) klar gesehen; in
Evans (1979: 164) findet man eine ähnlic he
Betrac htung zur Kripkesc hen Namens-Theorie. Für einen situationsabhängigen Propositions-Begriff wird dagegen in Stalnaker (1981:
Absc hnitt IV) plädiert. Die Untersc heidung
versc hiedener Typen von Intensionalität ist
gängige, aber für gewöhnlic h nic ht eigens thematisierte Praxis in der logisc hen Semantik.
Ein Beispiel im Stil von (72) und (73) wird in
Kaplan (1977: Fußnote 13.2) angesproc hen
und Ri
c hmond Thomason zuges
c hrieben;
Kaplan kommentiert: ‘What shall one say
about this?’ Von quantifizierten Kontexten
und Beispielen wie (74) und (75) ist in Partee
(1989) die Rede. Kritiken an der SkopusAnalyse und Spekulationen zu ihrer Überwindung enthalten Bäuerle (1983), Enç (1986)
und Dalrymple (1988).
IV. Kontexttheorie
Die prominenteste Stelle, an der ein Disambiguierungsparameter vorgesc hlagen wurde, ist wohl Bennett (1978: 9 f.), wo auc h mit
einem ähnlic hen Beispiel wie (78) auf die Notwendigkeit einer Tokenanalyse hingewiesen
wird. Die Bemerkungen zum pragmatisc hen
(’vor-semantisc hen’) Status der Disambiguierung sc hließen sic h an Kaplan (1977: Kapitel
XXII) an. Den Vorsc hlag zur Ausnutzung der
klassisc hen Theorie zur Verfeinerung des Propositions-Begriffs findet man in Montague
(1970: Absc hnitt 4). Die Kritik ist von Cresswell (1975: Absc hnitt 1) inspiriert. Auf die
Tatsac he, daß die Sprac hregeln nic ht mit der
Auswertungssituation wec hseln, wird z. B. in
Kripke (1972: Lec ture 2) hingewiesen. Die
abstrakte, formale Modellierung ist c harakteristisc h für fast die gesamte Montaguesc he
Tradition; wir sind in diesem Kapitel — vor
allem aus darstellungstec hnisc hen Gründen
— ähnlic h wie Cresswell (1973) naiv und direkt vorgegangen.
5.5 Zu den historisch-bibliographischen
Anmerkungen
Jahreszahlen hinter den Autorennamen beziehen sic h nac h Möglic hkeit auf das jeweilige
Datum der Erstveröffentlichung. In einigen
Fällen sind die Texte etwas älter. So wurde
der prä-klassisc he Text Kaplan (1978) bereits
im Herbst 1970 verfaßt. Der Klassiker Kaplan
(1977) ist inzwisc hen in dem Band Almog et
al. (eds.) (1989) mit aktuellen Kommentaren
Kaplans und anderer erschienen.
Danksagung
Im Verlaufe der erstaunlic h langwierigen Arbeiten
an diesem Handbuch-Artikelhabe ic h mit zahlreic hen Freunden und Kollegen über das eine oder
andere oben angesc hnittene Thema diskutiert. Namentlic h erwähnen möc hte ic h an dieser Stelle Rainer Bäuerle, Manfred Krifka, Jean-Yves Lerner,
Kjell Johan Sæbø, Arnim von Stec how, Dieter
Wunderlic h und Sandro Zuc c hi, denen ic h entsc heidende Hinweise, Anregungen und Einwände verdanke. Mein Dank gilt aber auc h vielen Ungenannten sowie Astrid Wahlert für Korrekturen an
der letzten Version des Manuskripts.
6.
Literatur (in Kurzform)
Almog et al. (eds.) 1989 · Bac h 1987 · Bartsc h
1986 · Barwise (ed.) 1977 · Bäuerle 1979b · Bäuerle
1983 · Bennett 1978 · Bühler 1934 · Castañeda
1966 · Castañeda 1977 · Carnap 1947 · Cresswell
1972 · Cresswell 1973 · Cresswell 1975 · Cresswell/
von Stec how 1982 · Dalrymple 1988 · Desc artes
10. Kontextveränderung
1641 · Donnellan 1966 · Enç 1986 · Evans 1979 ·
Fillmore 1975a · Forbes 1989 · Frege 1882 · Frege
1918 · Gallin 1975 · Gardies 1985 · Geac h 1957 ·
Grabski 1981 · Hintikka 1969b · Janssen 1980 ·
Kamp 1971 · Kaplan 1969 · Kaplan 1975 · Kaplan
1977 · Kaplan 1978 · Kaplan 1979 · Klein 1978 ·
Klein 1980 · Kratzer 1978 · Kratzer/von Stec how
1977 · Kripke 1972 · Kripke 1977 · Lakoff 1970c ·
Lewis 1979a · Lewis 1979b · Lewis 1980a · Lewis
1986 · Montague 1968 · Montague 1970b · Mon-
229
tague 1973 · Partee 1989 · Perry 1977 · Pinkal
1977 · Reic henbac h 1947 · Russell 1940 · Sc ott
1970 · Segerberg 1973 · Smaby 1979 · Stalnaker
1973 · Stalnaker 1978 · Stalnaker 1981 · von Stec how 1979b · von Stec how 1982b · von Stec how
1984c · Tarski 1936 · Tic hý 1971 · Vlac h 1973 ·
Whitehead/Russell 1905 · Williamson 1986
Thomas Ede Zimmermann, Stuttgart,
(Bundesrepublik Deutschland)
10. Kontextveränderung
1.
2.
3.
4.
5.
1.
Einleitung
Pragmatische Folgerungen
Redekontext und Äußerungssituation
Anaphora
Literatur (in Kurzform)
Einleitung
Was ein Satz aussagt, welc hen Inhalt oder
welc he Proposition er ausdrüc kt, hängt davon
ab, unter welc hen Umständen, in welc her Situation er geäußert wird — jedenfalls dann,
wenn der Satz indexikalisc he Elemente enthält. Die Bedeutung indexikalisc her Ausdrüc ke und damit die Abhängigkeit der
Wahrheitsbedingung eines Satzes von möglic hen Kontexten seiner Äußerung wird von
der indexikalisc hen Semantik oder der Theorie der Kontextabhängigkeit, wie sie im vorangehenden Artikel dargestellt wurde, untersuc ht. Ihr zentraler Begriff ist der des Charakters. Der Charakter eines Satzes ist eine
semantisc he Regel, die für jeden Kontext angibt, welc hen Inhalt der Satz in diesem Kontext ausdrüc kt. Kontexte hat man sic h in diesem Zusammenhang als möglic he Äußerungssituationen vorzustellen, als begrenzte Weltaussc hnitte, die für die Zwec ke der Semantik
jedenfalls so weit spezifiziert sein müssen, daß
sie den Bezug der indexikalisc hen Ausdrüc ke
festlegen.
Was jedoc h die Äußerung eines Satzes
einem Hörer sagt, welc he Information sie ihm
vermittelt, hängt nic ht nur von der Bedeutung
des geäußerten Satzes, von seinem Charakter
ab, sondern auc h vom Hörer selbst, von seinen Überzeugungen — über die Umstände
der Äußerung und über vieles andere mehr.
Die Äußerung eines Satzes kann dem Hörer
etwas ganz anderes sagen, als der Satz als
solc her aussagt — etwa dann, wenn er sic h
über die Umstände der Äußerung täusc ht. Sie
kann ihm auc h mehr sagen als das, was der
Satz tatsäc hlic h aussagt — weil er das, was
der Satz sagt, zu anderem, was er glaubt, in
Beziehung setzt, und seine Sc hlüsse daraus
zieht. Oder sie kann ihm gar nic hts sagen,
ihm überhaupt keine Information liefern —
dann nämlic h, wenn der Inhalt des Satzes dem
Hörer bereits bekannt ist.
Besc hränkt man sic h auf die Betrac htung
von Gespräc hssituationen, in denen die Vermittlung von Information im Vordergrund
steht, so ist es eine sinnvolle Idealisierung
vorauszusetzen, daß die Überzeugungen der
Gespräc hsteilnehmer in den für die Zwec ke
des Gespräc hs relevanten Hinsic hten übereinstimmen. Solc he gemeinsamen Annahmen
von Gespräc hsteilnehmern — die Prämissen
sozusagen, unter denen neue Äußerungen interpretiert werden — werden wir einen Redehintergrund oder Redekontext nennen.
Es ist wic htig, diese beiden Kontextbegriffe
— Kontext als Äußerungssituation und Kontext als Redehintergrund — auseinanderzuhalten. Denn wenn wir uns im folgenden mit
Theorien der Kontextveränderung besc häftigen, so wird es zunäc hst immer nur um Kontexte im zweiten Sinn gehen. Änderungen von
Kontexten im ersten Sinn, d. h. von Äußerungssituationen, werden wesentlic h von Faktoren bestimmt, deren Besc hreibung außerhalb der Zuständigkeit der Linguistik liegt.
Die Änderung eines Redekontextes sollte hingegen linguistisc h besc hreibbar sein; denn
sc hon allein dadurc h, daß auf einem gewissen
Redehintergrund eine Äußerung fällt und von
den Hörern interpretiert wird, ändert sic h dieser Redehintergrund — geeignete Aufric htigkeits- und Vertrauensannahmen vorausgesetzt. So sollte sic h auc h die Information, die
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