Professor Dr. Stefan Selke Soziologe Hochschule Furtwangen im

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Sendung vom 19.3.2014, 21.00 Uhr
Professor Dr. Stefan Selke
Soziologe Hochschule Furtwangen
im Gespräch mit Rigobert Kaiser
Kaiser:
Herzlich willkommen zum alpha-Forum. Die Bundesrepublik ist durch die
Schuldenkrise eigentlich recht glimpflich durchgekommen, denn man
muss ganz klar feststellen: Die Wirtschaft in Deutschland ist gewachsen,
während sie in anderen Ländern deutlich nach unten ging; die
Arbeitslosenzahl in Deutschland fiel in diesem Zeitraum unter drei
Millionen, während sie in anderen Ländern nach oben geschnellt ist. Man
könnte eigentlich zufrieden sein, doch es ist nicht alles eitel
Sonnenschein. Denn man muss ebenso klar feststellen: In Deutschland
gibt es ein wachsendes Armutsproblem. Darüber möchte ich heute
sprechen mit meinem Studiogast, mit Professor Stefan Selke von der
Hochschule Furtwangen im schönen Schwarzwald. Herr Professor
Selke, zuerst einmal vielen Dank, dass Sie zu uns ins Studio gekommen
sind.
Selke:
Ich bin gerne gekommen.
Kaiser:
Herr Selke, Sie beschäftigen sich mit Forschung über Armut und ihren
Folgen für die Gesellschaft. Haben Sie denn eine Erklärung dafür, dass
aufseiten der Konjunkturzahlen, der Arbeitslosenzahlen bei uns in der
Bundesrepublik eigentlich alles in schönster Ordnung ist – und die
Politiker sonnen sich ja darin –, dass es aber gleichzeitig ein
Auseinanderklaffen unserer Gesellschaft gibt, da wir ein wachsendes
Armutsproblem haben?
Selke:
Nun ja, das ist eben genau das Problem: Zahlen sind nicht alles. Und die
"Sonnenbank" der Politiker, die sich vielleicht zu sehr auf die Zahlen
fokussiert, blendet andere Anteile der Lebenswirklichkeit von Menschen
aus. Wenn wir unseren Armuts- und Reichtumsbericht nehmen, der nun
zum vierten Mal wiederholt worden ist, dann stellen wir fest, dass es da
Lücken, blinde Flecken gibt. "Blinde Flecken" meint, dass darin
bestimmte Teile der Lebenswirklichkeit von armutsbetroffenen Menschen
gar nicht vorkommen, nämlich das, was ich armutsökonomische
Angebote nenne, wie Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern usw. Wir
wissen darüber nämlich nur sehr wenig. Der zweite Grund, warum es da
eine Lücke gibt zwischen den Zahlen und dem Armutsproblem, wie Sie
das nennen, ist folgender: Wir haben natürlich in bestimmten Bereichen
ein Wachstum, aber davon profitieren eben nicht alle. Der Blick richtet
sich aber immer noch zu sehr auf diejenigen, die davon profitieren, und
zu wenig auf die, die letztlich nichts davon haben und die dann dauerhaft
in Armutssituationen landen.
Kaiser:
Für die Bewältigung der Krise, wie wir sie in den letzten Jahren hatten,
wird ja immer ein ganz bestimmtes Positivargument genannt: Die
Bundesrepublik sei durch viele soziale Reformen – hier wird auch immer
die Hartz-IV-Gesetzgebung genannt – wettbewerbsfähiger geworden, sei
stabiler geworden. Auf der anderen Seite sagen Sie jedoch in Ihren
Büchern, dass gerade Hartz IV der Auslöser für diese Spaltung sei. Wie
passt das zusammen?
Selke:
Das sind eben die zwei Seiten einer Medaille. Es ist ganz klar, dass sich
in den letzten 10, 20 Jahren das politische Denken verändert hat, und
zwar in Richtung einer Effizienzgestaltung: Die Menschen sollen aktiviert
werden! Damit geht aber auch einher – und das kritisiere ich – eine
Veränderung des Menschenbilds. Wir haben unser Menschenbild von
einem wohlwollenden, positiven und optimistischen Menschenbild
verändert zu einem negativen, misstrauischen Menschenbild, das davon
ausgeht, dass man Menschen kontrollieren muss, dass man sie
aktivieren muss, dass sie freiwillig nichts tun, weil sie nämlich eher faul
sind. Das ist sehr deutlich geworden in den Hartz-IV-Reformen.
Kaiser:
"Fordern und fördern" heißt es dort.
Selke:
Ja, das ist eine Formel, die aus dem anglo-amerikanischen Raum kommt
und in unsere Kultur übersetzt wurde. Sie passt aber nicht so ganz rein in
die Kultur des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates, der sich sorgt um seine
Bürger und eben nicht fordert. Das ist letztlich auch der Punkt: Das ist der
krasseste kulturelle Wandel, an dem man beobachten kann, dass sich
diese Politik verändert hat. Das bildet sich eben ab in ganz vielen Details,
z. B. im Aufkommen von bestimmten Angeboten, in der sozialen
Kategorisierung von Menschen z. B. mit dem Wort "Hartzer". Das Verb
"hartzen" ist ja sogar in den Duden eingegangen. Aber es gibt auch diese
"Parasiten"-Diskussion usw.
Kaiser:
Das ist alles sehr negativ besetzt.
Selke:
Ja, das sind alles sehr negative soziale Kategorien, durch die Menschen
in eine Schublade gesteckt werden und wodurch ein Problem sprachlich
etikettiert und vielleicht auch ein Stück weit entsorgt wird.
Kaiser:
Die Verbindung, die heute hergestellt wird, lautet: "Hartz IV ist gleich
Alkoholproblem, faul, selbstverschuldet." Damit werden diese Menschen
in eine Ecke abgeschoben und haben eigentlich keine Chance mehr.
Selke:
Ich glaube, wir erleben da gerade die Renaissance eines Denkens, das
letztlich aus dem Mittelalter kommt: Würdige und unwürdige Arme
werden unterschieden. Das ist genau diese zweite Seite der Medaille, die
wir gerade angesprochen haben. Auf der einen Seite soll Deutschland
volkswirtschaftlich wettbewerbsfähig sein durch Niedriglöhne usw. Auf
der anderen Seite bleibt den Menschen dann aber nur noch so eine
Restabsicherung. Und das, was dann zu einem menschenwürdigen
Leben fehlt, müssen sie sich woanders holen. Die "würdigen Armen", die
sich gemäß den Regeln, der Kontrolle, der Aktivierungslogik verhalten,
bekommen noch diese Unterstützung. Und die "unwürdigen Armen"
müssen gucken, wo sie bleiben. Das ist ein Stück weit ein Rückfall in die
Vormoderne, wie man kritisch sagen kann.
Kaiser:
Denn die Zahlen sind ja schon eklatant. Man feiert auf der einen Seite,
dass man inzwischen in der Bundesrepublik 42 Millionen
sozialversicherungspflichtige Jobs hat. Das sind so viele wie noch nie.
Auf der anderen Seite haben wir aber auch über sieben Millionen
Menschen, die unterstützt werden müssen vom Staat.
Selke:
Nun, bei diesen Jobs muss man eben genau hinschauen: Was sind das
für Jobs? Weggebrochen ist jedenfalls generell so etwas wie eine
Normalbiografie, bei der Menschen ihr ganzes Leben lang
vollzeitbeschäftigt sind. Wir sprechen ja sogar von perforierten Biografien,
also von Biografien, die immer wieder Löcher haben. Das führt dann in
der Summe dazu, dass die Momentaufnahme durchaus positiv
aussehen kann, dass aber die Längsschnittbetrachtung über 20, 30
Jahre zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. Das Stichwort lautet hier
z. B. "Altersarmut": Wie sehr können denn Menschen im Alter
abgesichert sein, wenn sie nur dieses niedrige Erwerbseinkommen
und/oder dieses unterbrochene Erwerbseinkommen haben? Das ist
einfach eine andere Perspektive.
Kaiser:
Das Problem besteht meiner Meinung nach darin, dass diese Menschen
damit die Fähigkeit und die Chance verlieren, sich selbst zu versorgen,
und auf die Hilfe anderer angewiesen sind.
Selke:
Na, ich würde den Punkt doch woanders ansetzen, denn das klingt doch
wieder sehr stark nach der Sündenbocktheorie: Die Menschen müssen
sich selbst versorgen und sie müssen die Leistung ...
Kaiser:
Aber es wäre doch wünschenswert, dass sie sich selbst versorgen
können.
Selke:
Natürlich muss jeder ein Stück Verantwortung für sich selbst
übernehmen. Aber wir, also sie und ich, sind doch eigentlich in einer
Kultur aufgewachsen, die folgendermaßen ausgesehen hat: Wenn man
in irgendeiner Art und Weise ein Problem hat, wenn man z. B. krank wird
– das Krankwerden ist ja etwas, was niemand steuern kann und für das
es auch keine Schuld gibt –, dann wird man in einem Solidarsystem
aufgefangen, bei dem die Gemeinschaft insgesamt für die einzelnen
Menschen sorgt: im Alter, im Krankheitsfall, bei Arbeitsunfähigkeit usw.
Das alles aber haben wir nach und nach geopfert, und zwar der Logik
"Hilf dir selbst!" bzw. "Schau selbst, wo du bleibst!". Das ist eine sehr
minimalistische Logik und mit dieser Logik kommen in der Tat viele
Menschen nicht klar. Ich würde aber davor warnen, einen solchen
Missstand diesen Menschen anzulasten. Denn man muss immer zuerst
einmal schauen, was es wirklich bedeutet, in solchen Lebenssituationen
zu leben. Ich persönlich habe großen Respekt vor den Menschen, die
genau das schaffen, die sich in dieser Lebenssituation noch ein Stück
Würde bewahren, klarkommen mit dieser Situation und vielleicht sogar
wieder rauskommen aus ihr. Es kritisiert sich nämlich leicht aus einer
komfortablen Position, aber letztendlich ist es eine wahnsinnige Leistung,
die viele Menschen in Deutschland vollbringen müssen, um
einigermaßen über die Runden zu kommen.
Kaiser:
Hier hat sich in den letzten 20 Jahren ein ganz bestimmtes Phänomen
massiv entwickelt. 1993 wurde in Berlin die sogenannte erste "Tafel"
gegründet, und zwar von Frau Sabine Werth. Diese Tafel war die erste,
eben vor 20 Jahren, und mittlerweile gibt es in Deutschland über 900
Tafeln. Die Zahlen sind oft ein bisschen geschätzt, aber man geht davon
aus, dass zwischen einer und 1,5 Millionen Menschen darauf
angewiesen sind, sich bei einer Tafel das zu holen, was sie für ihr Leben
benötigen. Vielleicht könnten Sie für diejenigen, die das Wort "Tafel"
immer nur in der Zeitung lesen – es gibt eine Münchner Tafel, es gibt
eigentlich in fast jeder Stadt eine Tafel –, ein wenig erklären, was hinter
diesem Begriff eigentlich genau steckt.
Selke:
Tafeln sind Organisationen, die von engagierten Menschen betrieben
werden, zum Teil in Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden wie Diakonie
oder Caritas, teils aber auch als Projekte oder Vereine organisiert sind.
Diese Tafeln versuchen, Lebensmittel umzuverteilen: Sie sammeln
überflüssige Lebensmittel aus dem Konsummarkt wie den Supermärkten
ein – teilweise kaufen sie auch Lebensmittel dazu, aber das wäre ein
anderes Thema – und geben dann diese Lebensmittel an bedürftige
Menschen bei diesen Tafeln oder Tafel-Läden weiter. Man muss hier
dazu sagen, dass es in Deutschland auch Lebensmittelvergabestellen
gibt, die sich nicht "Tafel" nennen. Es gibt einen Bundesverband
"Deutsche Tafel e. V." mit Sitz in Berlin, und der Name "Tafel" ist
mittlerweile ein geschütztes Markenzeichen wie "Lego" oder "Tempo".
Die Tafeln, die in diesem Bundsverband organisiert sind, dürfen sich
eben auch "Tafel" nennen. Es gibt aber auch andere Organisationen, die
exakt das Gleiche machen, nämlich Lebensmittel einsammeln und dann
an bedürftige Menschen verteilen, die sich anders nennen, die sich nicht
"Tafel" nennen dürfen. Es ist mir sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass
es auch diese aus der Sicht des Bundesverbandes "wilden Tafeln" gibt
und dass das Engagement zweigeteilt ist. Da gibt es einerseits die
Tafeln, die in dieser großen Lobbyvereinigung, in diesem
Bundesverband organisiert sind und von mir "Bundes-Tafeln" genannt
werden, und da gibt es andererseits noch diesen anderen Markt, auf
dem die Organisationen einen anderen Namen tragen.
Kaiser:
Damit deuten Sie den Umstand an, dass diese Tafeln, die vor 20 Jahren
noch den Zweck hatten, lokal und möglicherweise auch nur
vorübergehend Menschen zu helfen, die in Not geraten sind, mittlerweile
organisiert sind. Das heißt, sie sind angekommen in unserem
organisierten, festgefügten Staatsgefüge.
Selke:
Ja, sie sind mitten in der Gesellschaft angekommen, so wie auch Armut
mitten in der Gesellschaft angekommen ist. Armut ist ja mittlerweile auch
ein Mittelschichtproblem, d. h. es gibt eine Art Demokratisierung von
Armut: Heute kann man durch die politischen Veränderungen – Stichwort
Hartz IV – viel leichter in Armut geraten. Die Bundes-Tafeln sind vom
Umfang her jedenfalls eine riesige Organisation geworden. Ich vergleiche
sie durchaus mit Unternehmen oder auch mit Organisationen, die sich in
der Fläche ausgebreitet haben, die sich in Bezug auf ihre Produkte
diversifiziert haben und die sich immer neue Zielgruppen erschließen. Sie
haben vorhin Sabine Werth angesprochen, die Gründerin der ersten
Tafel in Berlin. Wenn man mit ihr spricht, und das mache ich hie und da,
dann erfährt man, dass sie selbst sehr verwundert ist, was aus ihrer Idee
aus dem Jahr 1993 geworden ist. Damals sollte das Obdachlosen in
Berlin helfen, inzwischen ist daraus aber ein richtiges Netzwerk
geworden, ein armutsökonomisches Netzwerk, das immer weiter wächst
und weiter auf Expansionskurs ist. Das erschreckt mittlerweile doch auch
einige innerhalb der Tafel-Bewegung, denn die Rhetorik in dieser TafelBewegung lautet eigentlich immer: "Am liebsten wären wir überflüssig."
Wenn also eine Tafel ihren fünfjährigen oder gar zehnjährigen Bestand
feiert, dann hört man in den Festreden immer: "Uns gibt es, uns muss es
geben, aber am liebsten wären wir überflüssig." Aber 20 Jahre TafelBewegung ist eben ein Beweis dafür, dass dieses Überflüssig-Werden
nicht geklappt hat bisher. Das Gegenteil ist stattdessen der Fall: Es gibt
eine weitere Expansion.
Kaiser:
Damit verbindet sich doch die Frage: Warum sind diese Tafeln nicht
überflüssig geworden? Liegt das nur an den Tafeln, die, wie Sie sagen,
ihre Geschäftsmodelle ausgeweitet haben? Oder liegt das
möglicherweise auch an unserer Gesellschaft, die sich an Tafeln
gewöhnt hat, und an unserer Politik, die sich ebenfalls an die Tafeln
gewöhnt nach dem Motto: "Wir helfen den Menschen zwar, aber wenn
unsere Hilfe nicht mehr ganz reicht, dann gibt es ja immer noch die
Tafeln."
Selke:
Die Buhmann-Frage ist wirklich nur sehr schwer zu beantworten, weil es,
wie ich das nenne, hier eine Dauersynchronisation von Interessen gibt.
Es gibt da auf der einen Seite die Tafeln, die natürlich ab einer gewissen
Größe ein Eigeninteresse haben: Als Organisation sorgt man sich um
sein Image, um seinen Auftritt, um seine Existenz. Das ist bei den Tafeln
ganz gewiss so. Aber da gibt es auch noch das Interesse von anderen
Akteuren wie z. B. von der Wirtschaft. Die Tafeln werden ja massiv
unterstützt von der Lebensmittelindustrie ...
Kaiser:
Diese Betriebe können damit sagen: "Ich tu was Gutes!"
Selke:
... und auch von anderen Sponsoren, die ihr Engagement für die Tafeln
als gesellschaftliche Verantwortung ausweisen in ihren Jahresberichten.
Die Hauptsponsoren von Tafeln wie z. B. "Rewe" sind sehr stolz auf ihr
Engagement für die Tafeln und vermarkten das auch ein Stück weit.
Nebenbei haben sie auch noch ein wirtschaftliches Interesse daran, weil
sie damit ein wenig Müllentsorgungskosten sparen können und weil sie
einen Imagegewinn erzielen. Der dritte Akteur in diesem Bund ist die
Politik, die natürlich in den Tafeln ein Vorzeigemodell sieht für
zivilgesellschaftliches Engagement. Sie sieht auch, dass die
Privatisierung von Verantwortung in bestimmten gesellschaftlichen
Bereichen hervorragend funktioniert. Das Problem ist nur, dass das, was
funktioniert, nicht zwangsläufig auch das Richtige ist. Das ist der Grund,
warum die Tafeln seit 20 Jahren "erfolgreich" existieren: weil es
mindestens diese drei sich überlagernden Interessenssphären gibt,
nämlich die Wirtschaft, die Politik und die Tafeln selbst.
Kaiser:
Und für den Wahlkampf, sei es auf Landesebene oder auf lokaler Ebene,
gibt das auch noch das eine oder andere schöne Bild, wenn man als
rühriger Politiker mal bei einer Tafel vorspricht und seine verbale und
sonstige Unterstützung zusichert.
Selke:
Das ist überhaupt eine interessante Perspektive, die Sie da aufmachen,
denn ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade die Tafeln so
populär geworden sind und nicht irgendwelche anderen Projekte. Ich
glaube, das liegt schon auch an der medialen Darstellbarkeit der Tafeln:
Die Tafeln bringen gute Bilder. Man kann da sehr konkret etwas zeigen:
Menschen helfen anderen Menschen, und zwar an konkreten Orten mit
konkreten Dingen. Im Mittelpunkt steht sogar etwas sehr Konkretes, was
wir alle kennen, nämlich Lebensmittel. Auch deswegen sind meiner
Meinung nach die Tafeln in den letzten 20 Jahren als Projektionsfläche
für die Medien, für Politiker usw. so sehr interessant geworden.
Kaiser:
Das gebe ich durchaus zu: Man geht dorthin, man trifft dort Leute, man
sieht lange Tische, man sieht eine Essensausgabe, das Ganze ist in
einer gewissen Form öffentlich und nicht versteckt.
Selke:
Und es scheint eine sehr einfache Problemlösung zu sein: indem man
Lebensmittel rettet und transportiert ...
Kaiser:
Alles außen herum ist gut.
Selke:
... und sie weitergibt, ist doch das Problem gelöst, oder?
Kaiser:
Sie kritisieren ja in Ihrem Buch diese Tafeln sehr stark. Ihr Buch, das Sie
im Jahr 2013 herausgegeben haben, trägt den Titel "Schamland. Die
Armut mitten unter uns". Warum dieser Titel "Schamland"? Wir haben ja
gerade darüber gesprochen, dass die Tafeln durchaus Positives im
Sinne haben: Wer schämt sich da und warum?
Selke:
Dieser Titel hat zwei Bedeutungen und die erste davon hat mit den
Tafeln gar nichts zu tun, sondern mit unserer Gesellschaft, mit unserer
Politik. Es ist ein Schamland – und deswegen bin ich auch auf diesen
Titel gekommen –, weil wir so viel Reichtum haben und es einfach nicht
schaffen, diesen besser umzuverteilen; weil wir Wachstum haben, noch
recht gut durch die Krise gekommen sind, aber gerade nicht alle
Menschen an diesem Wohlstand partizipieren können; weil wir so
langsam ein Altersarmutsproblem bekommen usw. Das ist beschämend
für Politiker, die in kurzfristigen Logiken denken und eben keine
nachhaltige Politik machen, die über eine Legislaturperiode hinausgeht.
Das ist die eine Erklärung für den Titel "Schamland". Die andere
Erklärung ist, dass es in Deutschland Orte gibt, an denen man beschämt
wird als Mensch, der durch das normale Raster gefallen ist. Da sind
diese Orte wie die Tafeln. Ich war aber auch bei Suppenküchen und ich
war auch in Sammellagen für Asylbewerber, denn auch dort sind
Menschen gelandet, die aufgrund von geopolitischem Kalkül oder von
wirtschaftlichem oder politischem Kalkül an einem bestimmten Ort
systematisch beschämt werden. Die Frage, die ich in meinem Buch
anhand von vielen Fallbeispielen und Interviews aufmache, lautet, ob
diese Beschämung bereits so etwas ist wie ein systematisches
politisches Steuerungsinstrument, um den Unwillen derjenigen zu
dämpfen, die durch das Raster durchgefallen sind. Es gibt für mich
Anzeichen dafür, dass Beschämung zwar nicht bewusst eingesetzt wird,
aber doch innerhalb der Maschinerie und Bürokratie, die wir mit der
Agenda 2010 und Hartz IV aufgebaut haben, als ein Element eingebaut
ist und Menschen damit mutlos und kraftlos gemacht werden, indem sie
beschämt werden. Ich habe sehr genau hingehört, was mir die
Menschen dort gesagt haben. Ich habe sie z. B. ihre je eigene
Geschichte nacherzählen lassen, wie das war, als sie krank wurden, als
sie den Job verloren haben, wie dass war, als sie dann zur Tafel gingen.
Das war immer eine Geschichte, die zeigt, dass das so ein langsames
Absinken des Selbstwertgefühls war, verbunden mit einer Weigerung der
Anerkennung dieser Situation.
Kaiser:
Weil man sich geschämt hat.
Selke:
Ja, weil man sich geschämt hat, nicht mehr den normalen Normen zu
entsprechen, weil man diese Differenz, diesen Riss ja genau spürt. Man
umkreist dann quasi wie ein Satellit diese Orte, diese Tafeln, bis
irgendwann die Not so groß ist, dass die Menschen dorthin gehen. Aber
sie schämen sich eben. Das ist die zweite Erklärung für diesen Titel
"Schamland". Das ist, um damit noch einmal an den Anfang unseres
Gesprächs zurückzukommen, auch dieser blinde Fleck: Da gibt es auf
der einen Seite diese Indikatoren und Zahlen, die sehr positiv aussehen.
Aber der blinde Fleck ist dort, wo es um die subjektive Empfindung von
Armut geht und um das Gefühl, aus der Mitte der Gesellschaft
herausgefallen zu sein und dann auch nicht mehr wieder
hineinzukommen. Das ist für diese Menschen extrem bedrohlich und
belastend.
Kaiser:
In Ihrem Buch beschreiben Sie auch eine Frau, die auf einer
Diskussionsveranstaltung zu den Tafeln gewesen ist, bei der Sie, wenn
ich mich richtig erinnere, auch selbst mit auf dem Podium gesessen sind.
Ich fand den Kommentar dieser Frau sehr eindringlich. Denn diese Frau
war ja durchaus dankbar dafür, dass es diese Institution wie die Tafeln
gibt, weil das in ihrer schwierigen Lebenssituation die einzige Möglichkeit
war, an Lebensmittel zu kommen, die sie auch bezahlen kann. Diese
Frau scheint dann in Tränen ausgebrochen zu sein, als sie kritisierte,
dass man sich da öffentlich anstellen muss, um an diese Lebensmittel zu
kommen: "Warum wird mit uns diese öffentliche Zurschaustellung
gemacht? Wir sind doch auch Menschen." Ist das die typische
Gefühlslage vieler Menschen, die zur Tafel gehen, gehen müssen?
Selke:
Ich glaube, man muss das an dieser Stelle wirklich etwas differenzierter
betrachten. Ich habe gerade das Forschungsprojekt mit dem Titel "TafelMonitor" beendet, bei dem wir untersucht haben, welche Typen von
Nutzern der Tafeln es gibt. Es gibt im Prinzip wohl drei Typen, und ein
Typ davon würde wohl genau die gegenteilige Reaktion zur Reaktion
dieser Frau zeigen. Das ist der Typus, der sich nicht schämt, zur Tafel zu
gehen. Sie gehen dorthin, nutzen diese Angebote wie Suppenküchen,
Kleiderkammern usw. und schämen sich eben nicht. Das ist für sie
Normalität geworden. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet, ob das
nicht der eigentliche Skandal ist: wenn ein Zustand, der eigentlich nicht
normal ist, nämlich Almosensysteme in einem so reichen Land, von den
Beteiligten in diesen Milieus für normal gehalten wird. Die beiden
anderen Typen bzw. Gruppen schämen sich und spüren diese Scham
und diese Differenz sehr genau. Das führt dazu, dass sich eben nicht alle
Menschen so verhalten, wie das manche Politiker gerne sehen möchten:
Die Politiker stellen sich nämlich die Tafel als eine soziale Utopie vor, an
der man gemeinsam unter seinesgleichen ist. Nein, es gibt durchaus die
Nutzertypen, die nur mit einem gewissen Widerwillen dorthin gehen,
schnell ihre Sachen holen und wieder weggehen. Es gibt also einerseits
eine bewusste Distanzierung von Tafelnutzern und es gibt diejenigen, die
in den Tafeln in der Tat so etwas wie eine Art Ersatzwelt oder
Ersatzraum sehen.
Kaiser:
Die dort auch soziale Kontakte suchen.
Selke:
Ja, auch das. Wobei ich aber darauf hinweisen möchte, dass das eben
gerade keine soziale Teilhabe ist. Denn der Auftrag in unserem
Grundgesetz lautet ja, dass unsere Gesellschaft für materielle
Daseinsvorsorge und für kulturelle Teilhabe aller zu sorgen habe. Ist aber
das gemeinsame Ausgegrenztsein an solchen Orten bzw., ganz neutral
ausgesprochen, ist das Zusammensein an solchen Orten bereits soziale
Teilhabe? Ich bezweifle das in der Tat und glaube nicht, dass das soziale
Teilhabe ist. Die Reaktion dieser Frau, die Sie erwähnt haben, zeigt
eben, dass es ganz unterschiedliche Reaktionen auf Tafeln gibt. Die
dominante Sicht auf die Tafeln ist diejenige aus der Sicht der Helfer, der
Anbieter, die sagen: "Wir engagieren uns hier, wir machen das freiwillig in
unserer Freizeit und mit" – zugegebenermaßen – "viel Aufwand und
auch mit viel Liebe." Teilweise geschieht das aus religiösen Motiven,
teilweise aus anderen Motiven. Aber das Ganze wird eben auch
organisiert, und aus der Sicht der Helfer heißt es, das Ganze muss in
einer bestimmten Weise organisiert werden. Das führt dazu, dass es
Bedürftigkeitsprüfungen gibt, dass es Schlangestehen gibt, dass es all
diese Dinge gibt. Die andere Perspektive aber, nämlich die Perspektive,
wie sich das denn anfühlt, wenn man in dieser Schlange steht, wie sich
das anfühlt, wenn man bei der Bedürftigkeitsprüfung die Hosen
runterlassen muss, wie es sich anfühlt, wenn man Ware nicht anfassen
und auch nicht mehr zurücklegen darf, wenn man sich die Waren nicht
selbst auswählen darf, diese andere Perspektive der Nutzer von Tafeln
bzw. deren "Kunden", wie sie von den Tafelbetreibern genannt werden,
ist systematisch unterbelichtet. Das war auch der Grund dafür, warum ich
mein Buch "Schamland" geschrieben habe. Grundsätzlich ist das wirklich
eine Perspektive der Scham oder der Unterlegenheit, weil das eben kein
wirkliches Konsumverhältnis ist, keine wirkliche Autonomie, keine
Selbstversorgung in dem Sinne, dass man in den Supermarkt geht und
die Lebensmittel dort selbst bezahlt. Stattdessen ist das ein gespieltes
Kaufverhältnis, die Simulation einer Normalität.
Kaiser:
Aber das wird ja auch als positiv dargestellt: Man will bei den Tafeln die
Lebensmittel nicht verschenken, sondern man will dem "Kunden", der da
kommt, schon das Gefühl geben, er bezahlt etwas dafür.
Selke:
Ich bezeichne das nach wie vor als eine Fassade: Man weiß sehr wohl,
dass das nicht normal ist, aber mit diesem symbolischen Euro versucht
man, Normalität zu suggerieren. Was man damit aber auch versucht, ist,
dem Missbrauch wieder einmal vorzubeugen, dem Missbrauch, dass
Menschen mehrfach zu den Tafeln gehen. Bei den meisten Tafeln
funktioniert das Ganze ja so, dass die Kunden nach
Postleitzahlengebieten zugeordnet werden. In der Anfangszeit der Tafeln
hatte es nämlich durchaus auch trickreiche Menschen gegeben, die zu
mehreren Tafeln gegangen sind. Das versucht man heute
auszuschalten. Hier trifft man wieder auf dieses negative Menschenbild,
von dem ich gesprochen habe, denn bei den Tafeln wird das nämlich ein
Stück weit reproduziert, wenn gesagt wird, dass man die Menschen
kontrollieren müsse, dass man aufpassen müsse usw. Das ist z. B. auch
eine Kritik, die nie gehört wird in der Öffentlichkeit: Es gibt nämlich z. B.
auch Vesperkirchen oder andere Organisationen, die ganz anders
funktionieren, denn zu denen darf man einfach so hingehen. Der
Missbrauch, den einige Menschen betreiben, wird dort einfach in Kauf
genommen und es wird auch auf diese Zugangsregelung, auf diese
Bedürftigkeitsprüfung verzichtet. Damit fällt aber ein großes Stück dieser
Beschämung und Stigmatisierung schon mal weg.
Kaiser:
Sie üben ja, wenn man das zusammenfasst, doch eine sehr scharfe
Kritik an den Tafeln. Wenn uns nun jemand zuschaut, der sich bei einer
Tafel engagiert, der viel Freizeit, Liebe und Hingabe aufwendet, um
diesen Menschen zu helfen, dann sagt so jemand u. U. ganz entsetzt:
"Was sagt denn der Selke da? Der hat doch gar nicht verstanden, was
wir wollen."
Selke:
Ich glaube schon, dass ich das verstanden habe, denn ich habe ja selbst
auch mal ein Jahr lang bei einer Tafel mitgearbeitet. So begann für mich
dieses Thema eigentlich auch. Ich kann die Motive der Helfer sehr wohl
verstehen. Meine Mutter arbeitet z. B. bis heute bei einer Tafel und ich
spreche regelmäßig mit ihr darüber, was sie dort macht. Die Motive der
Helfer sind aber nur eine Seite der Medaille und ich versuche eben
erstens, die Seite der Nutzer ein Stück weit zu vertreten. Und zweitens
habe ich eine Perspektive auf Tafeln insgesamt, als Tafel-System, als
Tafel-Bewegung in Deutschland. Ich habe auch eine Perspektive über
mittlerweile mehrere Jahrzehnte dieser Bewegung. Das bedeutet, dass
ich doch etwas anderes betreibe, als mir nur hin und wieder eine Tafel
anzuschauen: an einem Ort, an einem Samstag mit konkreten Personen,
die konkrete Dinge machen. Das sind einfach zwei unterschiedliche
Ebenen. Diese beiden Ebenen kann man aber sehr wohl auch
zusammenbringen, denn sie widersprechen sich ja nicht. Man bekommt
sie an der Stelle zusammen, an der man sagt: Es ist sicherlich sinnvoll,
dass Menschen sich in dieser Art und Weise engagieren, aber sie
müssen über die Grenzen ihres Engagements schon auch ein Stück weit
reflektieren, weil es eben in Deutschland nicht nur eine Tafel gibt,
sondern 1000 Tafeln, weil das ein System geworden ist, das nicht
intendierte Effekte hat. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns
bewegen in der Debatte über Tafeln, über deren Sinn oder Unsinn und
darüber, ob sie eine Lösung oder selbst ein Problem darstellen. Diese
beiden Perspektiven widersprechen sich also nicht völlig.
Kaiser:
Sie sprechen in Ihrem Buch von einer Armutsökonomie, die sich
entwickelt hat, und sagen: Wenn man sich auf dieses Tafelsystem
verlässt, dann verteilt man Almosen, während man als Bürger gegenüber
dem Staat eigentlich einen sozialen Anspruch hat. Almosen zu geben
bedeutet demgegenüber eine Entwürdigung, bedeutet den Verlust der
eigenen Bürgerrechte. Das heißt, damit kritisieren Sie auch den Staat,
wenn er sich auf diesem Gebiet zurückzieht und diesem sozialen
Anspruch, den die Bürger ihm gegenüber eigentlich haben, nicht mehr
gerecht wird, indem er darauf hinweist, dass die Bürger ja zur Tafel
gehen können. Denn genau das wird ja teilweise gemacht von den
staatlichen Stellen.
Selke:
Es ist gut, dass Sie darauf hinweisen, denn ich möchte an dieser Stelle
noch einmal betonen, dass ich eben nicht nur der große Tafelkritiker bin,
sondern dass ich versuche, Gesellschaftskritik am Beispiel der Tafeln zu
üben. Man kann an folgendem Beispiel sehr gut erkennen, dass sich
etwas verändert hat: Bei den Arbeitsagenturen, den Jobagenturen wird
man mittlerweile direkt auf die Tafeln hingewiesen. Bei Hartz-IVSanktionen und -kürzungen um 30 oder gar 60 Prozent werden die
Menschen direkt auf die Tafeln verwiesen mit dem Hinweis: "Das, was
wir Ihnen jetzt kürzen, das holen Sie sich bei der Tafel."
Kaiser:
Das hat schon etwas Zynisches an sich.
Selke:
Das ist selbstverständlich zynisch, aber das ist eben auch Praxis, denn
das sind keine Einzelfälle mehr. Vor drei, vier Jahren, als ich zum ersten
Mal davon gehört habe, waren das noch Einzelfälle: Ich wurde dann
kritisiert dafür, dass ich das kritisiere. Aber mittlerweile haben einige Leiter
von Jobcentern in Presseerklärungen bereits zugegeben, dass sie auf
die Tafeln verweisen. Der neue Imperativ in unserem Land lautet also:
"Wenn du ein Problem hast, dann geh doch zur Tafel." Hier gibt es eine
Durchlässigkeit von Staat und Zivilgesellschaft, die zu kritisieren ist: Das
ist der eigentliche Punkt, diese Selbstverständlichkeit, mit der die Tafeln
auch in Anspruch genommen werden, indem sie eine Platzhalterfunktion
übernehmen. Man könnte fast sagen, dass das ein ADACPannendienst-Effekt ist, wie ich das nenne: Man verlässt sich darauf und
die Menschen werden von staatlichen Stellen dorthin geschickt. Letztlich
ist das aber nichts anderes als eine schleichende Überforderung der bei
diesen Tafeln engagierten Menschen. Deswegen ist die Kritik, die ich
übe, ein Stück weit auch ein Schutz dieser Leute. Ich plädiere nämlich
dafür, dass die Tafeln nicht so sehr in Anspruch genommen werden und
dass es eine Grenzziehung gibt.
Kaiser:
Was sind denn Ihre konkreten Forderungen? Wir könnten diesbezüglich
auch ein riesengroßes Fass aufmachen, was ich jedoch nicht möchte.
Ich würde Sie lediglich bitten, kurz zu formulieren, was die Politik tun
muss, damit die Tafeln nicht diese breite Funktion, diese verlässliche
Funktion einnehmen, sondern dass die Politik selbst bei diesen
Menschen vor Ort wieder ankommt und ihnen hilft, wie das im
Sozialstaat eigentlich vorgesehen ist.
Selke:
Ich habe ja das "Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" gegründet,
und zwar als eine Art Gegenbewegung zur Tafelbewegung. Die
Forderungen, die wir in diesem Aktionsbündnis stellen, sind ganz
einfache Dinge. Ich plädiere z. B. seit Jahren dafür, dass es für Tafeln
keine Schirmherrschaften von Politikern oder Ministerien mehr geben
darf. In Deutschland ist es so, dass die Bundes-Tafeln alle vom obersten
Ministerium, also vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend beschirmherrschaftet werden. Dies sendet an die
Bevölkerung und an die Aktiven der Tafel-Bewegung ein Signal aus, das
ich für fatal halte. Auf kommunaler Ebene und auf Landesebene
funktionieren diese Schirmherrschaften natürlich ganz genauso. Die
Tafeln sollten sich also ein Stück weit davon emanzipieren und sagen:
"Wir als Tafel brauchen diese Schirmherrschaften gar nicht für unser
Engagement." Denn mittlerweile brauchen sie diese Art von
"Unterstützung" tatsächlich nicht mehr. Das wäre das Signal an die
Politik: "Wir wollen uns nicht permanent instrumentalisieren lassen,
reinziehen lassen!" Die Politik wiederum sollte endlich ernsthaft über
wirklich diskriminierungsfreie und auch auskömmliche Mindestsätze
nachdenken, denn das, was den betroffenen Menschen zum Leben, zu
ihrem Glück fehlt, ist nicht viel. Das ist nicht der Griff nach den Sternen.
Die Menschen sind nämlich nicht maßlos – jedenfalls nicht in dieser
Schicht –, sondern sie brauchen nur ein bisschen mehr Geld. Ich glaube,
das kann sich unser Staat wirklich leisten.
Kaiser:
Sie fordern also eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze?
Selke:
Genau. Und die Diskussion, dass hier jede Erhöhung nur dazu führt,
dass damit die Ansprüche immer noch weiter steigen, halte ich für ein
Stück weit zynisch. Diese Menschen wären sehr froh, wenn sie
wenigstens ein bisschen mehr Geld in der Tasche hätten.
Kaiser:
Das kann mit einem Mindestlohn erreicht werden, der nicht immer
ständig aufgestockt werden muss von staatlichen Stellen.
Selke:
Ja, es gibt ja schon die ersten vorsichtigen Tastversuche in dieser
Richtung. Im Hinblick auf den dritten Akteur, nämlich auf die Wirtschaft,
würde ich dafür plädieren, das Engagement für die Tafeln nicht immer so
maßlos – denn ich halte das in der Tat für maßlos – und spektakulär als
riesengroßes gesellschaftliches Engagement auszuweisen, um davon
abzulenken, wie und nach welchen Regeln das eigentliche Kerngeschäft
abläuft.
Kaiser:
Wie sind Sie denn auf dieses Thema gekommen? Wenn man sich
nämlich Ihre Biografie anschaut, dann müssten Sie jetzt eigentlich im
Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum oder gar bei der NASA sitzen,
denn Sie sind erst in einem zweiten Studiengang Soziologe geworden.
Davor haben Sie nämlich Luft- und Raumfahrttechnik studiert. Ganz
objektiv gesehen sind das eigentlich zwei Studiengänge, die überhaupt
nicht zueinanderpassen.
Selke:
Nun ja, vielleicht hilft einem der Überblick, den man hat, ja doch, dieser
Überblick, den man bekommt, wenn man die Fliegerei liebt. Denn so
geschah mein Einstieg in die Luft- und Raumfahrttechnik. Der Abstand
zu den Dingen und die Distanz helfen also sehr wohl. Die
Sozialwissenschaften und speziell die Soziologie haben ja eine sehr
wichtige Methode, und die lautet ganz schlicht: Abstand zu den Dingen
gewinnen und halten! Es braucht in der Soziologie eben diese richtige
Mischung aus Distanz und Engagement. Das ist auch beim Thema
"Tafeln" sicherlich sehr wichtig. An dieser Mischung muss man immerzu
arbeiten. Ich habe mich einfach aus biografischen Gründen noch einmal
umentschieden und habe das auch nie bereut. Ich fand die Fliegerei
immer toll, aber Luft- und Raumfahrttechnik hat mit der Fliegerei so viel
zu tun wie die Meeresbiologie mit der Fliegerei, nämlich gar nichts. In der
Luft- und Raumfahrttechnik konstruiert man sehr arbeitsteilig einen
Airbus oder so – das war damals gerade "in" –, aber das wollte ich nicht.
Mich haben dann die Themen Gesellschaft und Menschen doch mehr
interessiert und deswegen habe ich dann noch Soziologie studiert, die
dann auch wirklich meine große Leidenschaft geworden ist. Aber die
Distanz aus der Fliegerei hilft einem schon auch immer ein bisschen.
Kaiser:
Sie haben mir vor der Sendung erzählt, dass Sie auch immer wieder
einmal mit Ihrem Segelflieger in die Luft gehen, um sich die Welt auch
mal von oben anzuschauen. Sie sind seit 30 Jahren begeisterter
Segelflieger.
Selke:
Genau, als ich Punkt 18 Jahre alt wurde, habe ich mein ganzes Geld
zusammengekratzt und den Segelfliegerschein gemacht. Ab da durfte
ich das nämlich, davor hatten mir meine Eltern das Fliegen verboten. Ich
ging also in eine Flugschule und habe Fliegen gelernt. Das mache ich
auch bis heute, soweit das möglich ist, denn die Zeit dafür wird immer
noch ein bisschen knapper. Das Segelfliegen ist erstens ein sehr
schöner, sehr ästhetischer und auch sehr umweltfreundlicher Sport, und
es verschafft mir zweitens auch einen ganz klaren Blick.
Kaiser:
Sie sind auch sehr erdverbunden, sehr schollenverbunden, denn Sie
sind im Südwesten der Bundesrepublik geboren, nämlich in Rheinfelden,
und leben heute in Furtwangen; Sie sind im Prinzip der Region treu
geblieben. Aber Sie haben auch mal einen weiten Ausflug gemacht,
nämlich nach Brasilien, wo Sie ein oder zwei Jahre gelebt haben. Warum
das?
Selke:
Ich sollte davor vielleicht ganz kurz sagen, dass zwischen der Geburt in
Rheinfelden und Furtwangen noch ungefähr zehn andere Orte lagen, in
denen ich gelebt habe. Es war vielmehr ein großes Zurückkehren in
diese Region. Aber es stimmt schon, letztlich bin ich dort wieder
gelandet. Zu Brasilien: Ich hatte während des Flugzeugbaustudiums
einen Brasilianer kennengelernt, der mir eines Tages eine Postkarte
geschrieben hat. Das war alles lange vor Facebook und Internet usw. Er
schrieb mir, dass er mit seinem Studium jetzt fertig sei und ob ich nicht
Lust hätte, nach Brasilien zu kommen. Ich reiste nach Brasilien und
wollte dort eigentlich nur vier Wochen bleiben, blieb aber letztlich ein
ganzes Jahr in dieser Familie und freundete mich in der Zeit ein bisschen
mit der brasilianischen Kultur an. Das war also überhaupt nicht geplant
und ich vermute mal, heute kann man es in unserer so effizienzverliebten
Kultur nicht mehr bringen, dass man vier Wochen einfach mal auf ein
Jahr ausdehnt.
Kaiser:
Sie sind verheiratet und Sie haben etwas gemacht, was Männer nur
selten machen, obwohl man es vom Namensrecht her schon relativ
lange machen kann: Sie haben den Namen Ihrer Frau angenommen.
Das kommt bis heute nur sehr selten vor, in der Regel nimmt die Frau
den Namen des Mannes an. Bei Ihnen jedoch ist es umgekehrt
gewesen, Ihr Geburtsname lautet Guschker. Warum haben Sie diesen
Wechsel gemacht?
Selke:
Zunächst einmal war das eine Sache von gerade mal drei, vier Minuten.
Ich habe mich sehr spontan und ziemlich schnell dazu entschieden. Ich
fand erstens die Kombination mit meinem Vornamen sehr schön: Stefan
Selke. Aber der eigentliche Grund war, dass die Familienhistorie meiner
Frau sehr interessant ist: Sie ist in Kabul in Afghanistan geboren. Sie ist
Deutsche, denn ihre Eltern waren damals dort Entwicklungshelfer und ihr
Vater ist dann unter ganz dramatischen Umständen in Kabul gestorben.
Die Mutter lebte mit ihren beiden kleinen Töchtern zunächst noch weiter
in Kabul und kam dann nach Deutschland zurück. Ich habe mich sehr
stark mit dieser Familiengeschichte identifiziert und vielleicht war das auf
meiner Seite auch der Versuch, da noch etwas am Leben zu halten. Ich
fand diese Familiengeschichte jedenfalls sehr toll und ein Stück weit hat
mich die sehr außergewöhnliche Geschichte so fasziniert, dass ich dann
sofort gesagt habe: "Diesen Namen will ich auch tragen!"
Kaiser:
Haben Sie es irgendwann einmal bereut?
Selke:
Nein, ich habe das nicht bereut. Es gab allerdings immer Probleme mit
meinem Vater, der einfach aus einer ganz anderen Generation stammte
und der es nie verstanden hat, dass ich als sein Erstgeborener den
Familiennamen nicht weitertrage. Aber ich gehöre definitiv einer anderen
Generation an und bin vielleicht auch durch mein Studium auf diesem
Gebiet ein bisschen freier im Denken geworden, was Lebensformen und
das Zusammenleben und eben auch solche Dinge wie den
Familiennamen betrifft. Ich habe darin also weniger einen Tabubruch
gesehen, sondern eher die Symbolik, wie ich sie gerade beschrieben
habe.
Kaiser:
Die Hochschule Furtwangen, an der Sie lehren und forschen, ist ja eine
kleine Hochschule und nicht so bekannt wie andere Universitäten und
Hochschulen in Deutschland. Aber diese Hochschule scheint Ihnen viele
Freiheiten zu geben: Das Thema "Tafel" haben Sie ja im Rahmen Ihrer
Professur an der Hochschule zusammen mit Ihren Studenten entwickelt
und erforscht. Und Sie bearbeiten noch ein weiteres Thema, das in
Deutschland relatives Neuland darstellt, obwohl das jeder nun langsam
irgendwie kennt: Wer Facebook kennt, weiß, dass es dort immer mehr
Menschen gibt, die darin wirklich ihr komplettes Leben ausbreiten. Ich
kann mir vorstellen, dass das aus soziologischer Sicht höchst interessant
ist. Ihr Forschungsprojekt dazu nennt sich "Lifelogging" und "SelfTracking". Können Sie in wenigen Worten erklären, was das jeweils
bedeutet?
Selke:
Vielleicht darf ich davor noch kurz sagen, dass die Hochschule
Furtwangen einst aus einer Uhrmacherschule entstanden ist. In
Furtwangen wurde u. a. die Kuckucksuhr erfunden! Aus dieser
Uhrmacherschule und ihrer 150-jährigen Tradition hat sich die heutige
Hochschule entwickelt. Sie ist tatsächlich sehr, sehr open minded, wie
man auf Neudeutsch sagt, und fördert eben auch so verrückte Themen
wie meine Themen und die meiner Kollegen, wie es nur möglich ist.
Kleine Hochschulen haben da wirklich einen Vorteil, denn sie müssen
innovativ sein, um zu überleben, und deswegen fördern sie dann eben
auch innovative Dinge. Lifelogging, wie ich das nenne, ist die Idee, sein
eigenes Leben digital zu protokollieren. Im analogen Zeitalter kannten wir
das ja in ähnlicher Form auch schon: Die Menschen schrieben
Tagebücher, stellten sich auf die Waage, maßen ihr Gewicht und trugen
es in langen Tabellen ein usw. So etwas kann man ja nun mit den neuen
digitalen Medien intensiv betreiben.
Kaiser:
Das ist viel einfacher geworden.
Selke:
Ja, viel einfacher. Man kann das heute viel intensiver, automatischer und
unbewusster machen. Mittlerweile gibt es ja sehr viele Technologien
dazu, mit denen man sich umgeben kann, die smartphonebasiert sind
und die alles Mögliche messen, tracken, loggen, wie auch immer man
das nennen möchte. Das ist eben auch ein Aspekt des gesellschaftlichen
Wandels, den ich untersuche. Mein Thema ist also der gesellschaftliche
Wandel. Die Tafeln stehen dabei für den sozialen und politischen
Wandel, und das Lifelogging ist für mich ein Synonym für den
technologischen und medialen Wandel, den wir im Moment durchlaufen.
Kaiser:
Viele unserer Zuschauer sind ja auch auf Facebook vertreten und posten
dort verschiedenste Dinge. Es ist aber nur ein Teil der Wahrheit, dass
sich da jemand quasi exponiert darstellt und auch keine Scheu hat, jeden
Tag z. B. die eigenen Urlaubsbilder dort einzustellen. Denn das, was Sie
mit Lifelogging untersuchen, ist, dass da jemand im Prinzip mit einer
Kamera drei Bilder pro Minute macht: Auf diese Weise dokumentiert er
sein Leben mit Hunderttausenden von Bildern. Ich kann da nur ganz naiv
fragen: Was ist dabei der Sinn?
Selke:
Eine dieser Kameras ist z. B. von Microsoft entwickelt worden, und zwar
in Großbritannien. Der Entwickler Gordon Bell hat diese Kamera in ein
Gesamtkonzept integriert, das er "Total Recall" nennt, also "totale,
umfassende Erinnerung". Die Grundidee bei diesem Lifelogging ist: Man
weiß ja nie, was wichtig wird. Und nur dann, wenn man alles aufnimmt,
hat man die Sicherheit, das eigene Leben irgendwann einmal sozusagen
wie früher bei einem Videorekorder zurückspulen zu können, um sich die
Szene herauszusuchen, die sich erst viel später als die entscheidende
erwiesen hat. Ein sehr schönes Beispiel, das diese Idee deutlich macht,
ist Folgendes: Einer dieser Entwickler hat tatsächlich mehrere Fotos von
seinem ersten Date mit seiner heutigen Frau gemacht. Das ist ja ein nicht
so ganz unwichtiger Moment im Leben von uns Menschen: "Wo waren
wir, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben? Wo haben wir uns
ineinander verliebt?" Normalerweise macht man in so einer Situation
nicht mal eben schnell ein Foto auf Verdacht. Er aber hatte diese
Lifelogging-Kamera und so können sich beide diesen damaligen Moment
in einem 30-Sekunden-Takt heute jederzeit erneut anschauen. Ob man
das braucht, ist eine ganz andere Frage, aber die Argumentation der
Entwickler dieser Kamera lautet eben, dass man eine private
Datenvorratsspeicherung betreiben kann – in der Hoffnung, irgendwann
einmal darauf zurückgreifen zu können, wenn man dann weiß, was
wichtig gewesen ist.
Kaiser:
Vielleicht bin ich da auch nur hoffnungslos altmodisch, aber ich habe in
der Schule noch "1984" von George Orwell gelesen – alleine schon der
Titel zeugt davon, dass dieses Buch sehr, sehr alt ist. In diesem Buch
wird jedenfalls die schreckliche Fiktion von komplett kontrollierten
Menschen beschrieben. Das Lifelogging und das Self-Tracking – das
sind Apps, die z. B. zu jeder Sekunde den eigenen Puls messen und
aufzeichnen – ist ja für mich etwas, das weit über George Orwells
schreckliche Vision hinausgeht.
Selke:
Ja, aber da gibt es nicht mehr diesen "großen Bruder" wie bei Orwell,
sondern diese vielen "kleinen Schwestern". Das Interessante daran ist ja,
dass wir uns über NSA und solche Dinge wahnsinnig aufregen, dass wir
uns also darüber aufregen, dass wir überwacht werden von etwas, was
wir nicht so genau fassen können – auf jeden Fall müssen das Jungs
sein, die ziemlich gutes Spielzeug haben. Und gleichzeitig machen das
immer mehr Leute von sich aus: Sie liefern freiwillig ihre Daten! Wir
nennen das dann "flüssige Überwachung". Wobei man aber sagen
muss, dass nicht jeder, der Lifelogging oder Self-Tracking macht, diese
Daten auch veröffentlicht. Viele machen das nur für sich und diese Daten
verbleiben nur bei ihnen auf der Festplatte. Nur sie selbst können dann
später diese Daten auf irgendwas hin untersuchen.
Kaiser:
Außer die NSA "besucht" den Computer daheim.
Selke:
Ja, außer die NSA schaut da so ein bisschen mit. Aber es gibt eben
schon auch diesen exhibitionistischen Aspekt, der darin besteht, dass
man alle möglichen privaten Daten auf Portalen mitteilt und mit andern
darüber kommuniziert. Die Frage ist also, wohin dieser Trend geht:
Machen das immer mehr Menschen öffentlich, teilen – auf Neudeutsch
heißt das "sharen" – immer mehr Menschen ihre Daten mit anderen oder
wird das nur für sich als so eine Art von digitalem Tagebuch betrieben?
Ich glaube, man kann bereits sagen, dass der Trend in Richtung dieser
Transparenz, in Richtung öffentlicher Einsehbarkeit dieser Daten geht.
Damit sind wir dann in der Situation, in der wir freiwillig selbst Daten
rausrücken. Und das ergibt eben doch eine gewisse Diskrepanz zu der
Aufregung in Sachen Ausforschung durch die NSA vor einigen Wochen.
Kaiser:
Ich kann mir vorstellen, dass das auch eine Generationenfrage ist. Man
muss sich ja nur einmal die heutigen Kinder und Jugendlichen
anschauen, mit welcher Selbstverständlichkeit sie mit all diesen
Smartphones, iPads usw. aufwachsen. Wir beide mit plus/minus 50 sind
da doch noch ganz anders aufgewachsen, nämlich noch analog und
nicht digital.
Selke:
Ja, hier spielt der biografische Einfluss natürlich auch eine sehr starke
Rolle. Ich bin noch jemand, der z. B. Bücher aus Papier mag und keine
E-Books liest. Aber es ist ja auch in Ordnung, wenn die Generation der
Digital Natives, wenn also die "digitalen Eingeborenen" viel
selbstverständlicher mit all diesen Dingen umgehen. Trotzdem besteht
meiner Meinung nach immer noch unsere Aufgabe darin, davor zu
warnen und zu fragen, welchen Preis wir dafür bezahlen, was wir dafür
aufgeben müssen. Wir geben dafür z. B. ein Stück weit auf, dass wir ein
normales, gesundes Körpergefühl haben: Wir verlassen uns auf Daten,
die uns sagen, dass man sich jetzt gerade schlecht fühlt. Wir verlassen
uns auch nicht mehr auf unser räumliches Orientierungsvermögen,
sondern wir verlassen uns auf unser Navi: Dieses Beispiel kennt wirklich
jeder. Das heißt, es geht immer auch etwas verloren, wenn man solche
Technologien zu umfänglich einbaut in die Lebensführung. Das ist der
Punkt, den ich versuche zu untersuchen. Es ist nicht alles schlecht, was
sich hier an Entwicklung abspielt, aber wir müssen doch wissen, was wir
dafür alles aufgeben.
Kaiser:
Diese Entwicklung fing ja schon ganz früh an. Ein ganz banales Beispiel
dafür waren diese ersten Taschenrechner in den 70er Jahren. Bis dahin
hat man noch im Kopf gerechnet oder höchstens den Rechenschieber
verwendet. Je mehr technischen Ersatz man hat, umso schwererfällt es
einem dann, Dinge zu machen, die früher völlig normal waren. Ein
anderes Beispiel ist das Schreibprogramm am Computer: Mir geht es ja
auch so, dass ich mich darauf verlasse, dass mir mein Schreibprogramm
sagt, was richtig ist.
Selke:
Das ist auch in der Tat das Argument der Entwickler von solchen Dingen.
Sie sagen nämlich: Je mehr wir aus unserem Kopf rausbekommen und
in die Maschine, in die Blackbox auslagern können, desto kreativer
können wir sein. Das ist aber nur eine Behauptung. Und ich glaube, dass
das so nicht funktionieren wird: Wenn der Kopf leer ist, wird nicht mehr
viel gehen. Stellen Sie sich vor, wir verlagern unsere Erinnerungen
komplett in die Maschine: Was bleibt dann eigentlich noch von uns?
Kaiser:
Vielleicht wird es eines Tages auch mal eine Generation geben, die eine
ganz bewusste Rückbesinnung betreiben wird, die wieder Abstand
nimmt von diesen vielen technischen "Helferlein".
Selke:
Es gibt heute schon Gegenmodelle, es gibt heute schon Menschen, die
sehr bewusst z. B. analog fotografieren und daher sehr bewusst nur
wenige Fotos machen; Menschen, die malen, statt überhaupt zu
fotografieren; die wieder mit der Hand schreiben usw. Das zeigt ja, dass
es doch ein Bedürfnis nach diesen grundlegenden nicht digitalen,
sondern analogen Technologien und Techniken gibt. Denn das trägt
eben auch ein Stück weit zur Persönlichkeitsbildung bei bzw. trägt auf
eine andere Art und Weise dazu bei.
Kaiser:
Herr Professor Selke, wir sind am Ende dieser Sendung angelangt. Ich
würde Sie bitten, im Hinblick auf das Thema "Tafel" noch einmal ganz
kurz zu sagen, was Sie sich von einer verantwortungsvollen Politik
wünschen, damit die Tafeln tatsächlich eher ein vorübergehendes als ein
dauerndes Phänomen sind.
Selke:
Ich würde mir wünschen, diese Zahlenfixiertheit aufzugeben und eine
Lebensweltorientierung zu implementieren. Und das heißt eben, dass
man verstärkt mit den betroffenen Menschen spricht, auch darüber, wie
es sich anfühlt, mitten im Reichtum arm zu sein. Armut ist eben keine
Schuld einzelner Personen, sondern ein strukturelles Problem und auch
ein politisch verursachtes Problem. Diese Einsicht würde ich mir
wünschen.
Kaiser:
Dann sagen ich vielen Dank für diese informativen 45 Minuten, die wir
miteinander verbracht haben. Vielen Dank, dass Sie zu uns nach
München ins Studio gekommen sind. Das war heute Professor Stefan
Selke, Soziologe an der Hochschule Furtwangen. Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
© Bayerischer Rundfunk
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