Laudatio für Dr. Leif Seibert für seine Untersuchung

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Laudatio für Dr. Leif Seibert für seine Untersuchung
„Religious Credibility under Fire”
Konrad Raiser
Berlin, November 2014
Es ist für mich eine Freude und Ehre, diese Laudatio vortragen zu können, um
die große Untersuchung von Leif Seibert zu würdigen und ihn als diesjährigen
Träger des ifa- Forschungspreises zu ehren. Es mag Sie verwundern, dass ein
Theologe, der zudem nicht mehr institutionell im akademischen Umfeld verankert ist, die Laudatio für eine hoch differenzierte und komplexe sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit hält. Die Einladung zu dieser Aufgabe erreichte mich durch Prof. Dr. Dr. Heinrich Schäfer, Bielefeld; er leitete das Forschungsprojekt über „Das Ethos religiöser Friedensstifter“, in dessen Rahmen
Herr Seibert seine Untersuchung durchgeführt hat. Ich habe seinerzeit die theologische Promotion und die Habilitation von Prof. Schäfer in Bochum betreut
und bin seither mit ihm freundschaftlich verbunden. Durch ihn bin ich in die
praxeologische Theorie und Methode sozialwissenschaftlicher Forschung eingeführt worden, die von Herrn Seibert in seiner Arbeit angewandt und weiterentwickelt wurde. Außerdem habe ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als
Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in den Jahren von 19932003 intensiv mit den politischen und ethischen Fragen der Konflikttransformation und der Rolle der Kirchen in akuten Konfliktsituationen, nicht zuletzt im
ehemaligen Jugoslawien, befasst. Soviel zu meiner Legitimation als Laudator.
Der ifa-Forschungspreis wird vergeben für herausragende Arbeiten in den
Themenfeldern Auswärtiger Kulturpolitik. Der Bezug der Untersuchung von
Herrn Seibert auf diesen kulturpolitischen Rahmen wird aus dem Untertitel
erkennbar: „Eine praxeologische Analyse der Bedingungsfaktoren religiöser
Legitimität im Nachkriegs-Bosnien-Herzegowina.“ Der Krieg in BosnienHerzegowina war in den 90er Jahren ein zentrales Thema auswärtiger Politik in
Deutschland und den westlichen Partnerländern. Auch nach dem Friedensabkommen von Dayton (1995) blieb Bosnien ein politischer Schwerpunkt durch
die Entsendung von Truppen zur Friedensstabilisierung und die Unterstützung
der Aufgaben des Hohen Vertreters der EU beim Wiederaufbau staatlicher und
rechtlicher Strukturen. Der Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina hat jedoch
nach dem Friedensabkommen weiterhin mit einem ungelösten „Kulturkonflikt“ zu kämpfen, der in religiös geprägten Wahrnehmungs- und Denkmustern und daraus abgeleiteten Feindbildern wurzelt. Die Frage, wie dieser Kul1
turkonflikt aufgelöst oder überwunden werden kann, sowie ob, und wie die
Religionen im Land dazu einen Beitrag leisten können, ist offensichtlich ein
Thema der Kulturpolitik aber zugleich auch der internationalen Mitverantwortung für die Umwandlung des „negativen Friedens“ nach dem Ende der
Kampfhandlungen in einen „positiven Frieden“ mit dem Abbau von Feindbildern.
Dieser Dimension ist in der politischen Wahrnehmung und Bearbeitung des
Konflikts in Bosnien-Herzegowina bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Da dieser Konflikt zum Prototyp der „neuen Kriege“ nach
dem Ende der Blockkonfrontation und zum Testfeld für die Entwicklung und
Anwendung der neuen Paradigmen und Instrumente der Konfliktbearbeitung
auf internationaler Ebene geworden ist, eignet sich Bosnien-Herzegowina besonders gut für eine genauere Untersuchung der Beziehungen von Religion,
Krieg und Frieden. Auf Grund der Erfahrungen exzessiver Gewalt während
des Krieges, die durch einen ethnisch-religiös motivierten, aggressiven Nationalismus gefördert wurde, bildete sich die Einschätzung eines mit politischen
Mitteln nur schwer lösbaren Religionskonflikts.
In einer knappen aber präzisen Analyse des Verlaufs der Konflikte im zerbrechenden Jugoslawien gelingt es Herrn Seibert, die komplexen politischen sowie
wirtschaftlichen Ursachen der Gewaltsexzesse in Bosnien-Herzegowina herauszuarbeiten, die zwar durch ethnisch-religiöse Polemik verstärkt, aber nicht
ausgelöst wurden. Durch die Regelungen des Dayton-Abkommens wurden
wohl die direkten Kampfhandlungen beendet, aber zugleich die ethnischreligiösen Differenzen, eben der oben benannte „Kulturkonflikt“ festgeschrieben. Inzwischen engagieren sich vermehrt religiöse Organisationen und Initiativen für eine religiöse Aufklärung mit Dialogcharakter, sowohl inter- als auch
intrareligiöser Art. Das vom Forschungsverbund Religion und Konflikt an der
Universität Bielefeld in den Jahren 2008 – 2012 durchgeführte Forschungsprojekt über das „Ethos religiöser Friedenstifter“ hatte zum Ziel, das Potenzial, die
Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit dieser Initiativen im Vergleich genauer zu
untersuchen und damit herauszuarbeiten, inwiefern Religion nicht nur Teil des
Problems, sondern auch Teil seiner Lösung sein kann.
Herr Seibert konzentriert sich in seiner Untersuchung, die ein integraler Teil
des Forschungsprojektes war, auf die Frage der Legitimität religiöser Gemeinschaften als Akteure im Zusammenhang der Friedenskonsolidierung und des
Wiederaufbaus der Gesellschaft in Bosnien-Herzegowina. Er fragt: „Wie gelingt
es religiösen Experten legitime Autorität im Friedensprozess zu verkörpern,
wenn nur wenige Jahre vorher Priester Waffen gesegnet haben?“ In Aufnahme
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neuer religionssoziologischer Untersuchungen entwickelt er ein Arbeitskonzept
von Religion, das Religion als eine spezifische Praxisform versteht, die in Analogie zu anderen Formen gesellschaftlicher Praxis empirisch untersucht werden
kann. Sein Interesse gilt den spezifischen Aspekten religiöser Praxis, die von
den Akteuren selbst als verbindlich angesehen werden, und die daher religiöse
„Glaubwürdigkeit“ begründen können.
Daraus ergeben sich folgende Leitfragen für die Untersuchung: (1) Welche Akteure prägen das Verständnis von Religion in Bosnien-Herzegowina? (2) Was
ist ihr Verständnis von Religion? (3) Wie wirkt sich dieses Verständnis aus?
Den drei Leitfragen entsprechen drei spezifische methodische Ansätze der Untersuchung, welche die von Max Weber und vor allem von Pierre Bourdieu
formulierten Konzeptionen aufnehmen und weiterentwickeln. Die erste Frage
wird mit Hilfe der Feldtheorie bearbeitet. Das Modell des religiösen Feldes
dient dazu, die unterschiedlichen religiösen Akteure miteinander zu vergleichen im Blick auf ihre jeweiligen Positionen im Wettbewerb um religiöse Meinungsführerschaft. Für die zweite Frage nimmt Seibert die Methode der Habitusanalyse auf als ein Instrument, um das spezifische Religionsverständnis derjenigen Akteure zu beschreiben und zu interpretieren, die sich im religiösen
Feld als dominant erwiesen haben. Für eine Antwort auf die dritte Frage werden Feld- und Habitusanalyse miteinander verbunden, um den Nomos des
Feldes, d. h. die Regeln öffentlichen Einsatzes und Wirkens zu bestimmen, anhand derer die Charakteristika legitimer Religion im Unterschied zu illegitimer
Religion erkennbar werden. Auf dem Hintergrund dieser methodischen Präzisierungen ergeben sich dann folgende spezifische Forschungsfragen: (1) Wie
bietet sich das religiöse Feld in Bosnien-Herzegowina dar? (2) Was ist der Habitus des dominanten Akteurs? (3) Was ist der Nomos des religiösen Feldes? Der
Ausgangspunkt der Untersuchung ist daher das Problem religiöser Glaubwürdigkeit und ihrer Strittigkeit. Die empirische Einschätzung religiöser Glaubwürdigkeit verbindet die drei Forschungsschritte. Und die Studie zielt letztlich
auf ein vertieftes Verständnis von religiöser Glaubwürdigkeit als ein fruchtbares und operationalisierbares Konzept für soziologische Untersuchungen von
Religion.
Ich muss es mir in dieser Laudatio versagen, auf die hoch differenzierte, theoretische Begründung und Entfaltung der soziologischen Methoden, und insbesondere des von Seibert verfolgten praxeologischen Forschungsansatzes einzugehen. Sowohl im Blick auf die Feld-Theorie wie auch die Habitus-Analyse
gelingt ihm eine überzeugende und fruchtbare Weiterentwicklung bisheriger
Methoden, die seiner Studie einen Pioniercharakter für weitere sozialwissen3
schaftliche Untersuchungen mit vergleichbarer Fragestellung verleihen. Um die
Ergebnisse der Studie würdigen zu können, ist es jedoch nötig, zunächst kurz
das Modell des religiösen Feldes zu charakterisieren, wie es von Seibert verwendet wird. In Anlehnung an Bourdieu versteht Seibert das religiöse Feld als
den Raum, in dem religiöse Experten im Wettbewerb miteinander stehen um
die Gewinnung und Vermehrung von religiösem Kapital, d. h. letztlich der
Möglichkeit zur Ausübung legitimer religiöser Autorität und ihrer Anerkennung durch die Laien als Anhänger einer Religion. Religiöses Kapital kann unter zwei unterschiedlichen Aspekten betrachtet werden, d. h. einerseits als bereits gefestigte Autonomie oder authentische Verkörperung der Normen des
Feldes, und andererseits als Ziel im Sinne des Erreichens von Vorherrschaft gegenüber anderen Akteuren. In Aufnahme und Weiterentwicklung der klassischen Unterscheidung bei Max Weber zwischen Priestern und Propheten als
unterschiedlichen Idealtypen von religiöser Praxis führt Seibert für die empirische Untersuchung des religiösen Feldes zwei Kriterien ein: d. h. einerseits die
Komplexität der institutionellen, ‚priesterlichen‘ Organisiertheit als Ausdruck
bereits erreichter Vorherrschaft einer religiösen Gemeinschaft, und andererseits
die charismatische, ‚prophetische‘ Glaubwürdigkeit als Maßstab für die neue,
einer Gemeinschaft zugeschriebene Authentizität und Kompetenz.
Die erste Phase der Untersuchung bezieht sich auf die 15 für den Friedensprozess wichtigsten religiösen Organisationen und Gemeinschaften in BosnienHerzegowina, d. h. zunächst die vier historischen Religionsgemeinschaften
(orthodox, muslimisch, römisch-katholisch und jüdisch), sowie 11 weitere religiöse Organisationen mit diakonischer, zivilgesellschaftlicher oder interreligiöser Orientierung. Nach den Kriterien und Methoden einer quantitativen Meinungsumfrage wurden insgesamt 510 stichprobenartig ausgewählte Personen
in den drei Zentren Sarajevo, Banja Luka und Mostar mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens über religiöse Mentalitäten und Meinungen befragt. Die
Auswertung der so erhobenen öffentlichen Wahrnehmung des religiösen Feldes mit Hilfe der beiden Kriterien der Komplexität oder Organisiertheit und
der Glaubwürdigkeit ergibt das überraschende Resultat, dass die historischen
Religionsgemeinschaften bei hoher Organisiertheit nur geringe Glaubwürdigkeit besitzen; die Organisationen der kirchlichen Diakonie haben eine weniger
komplexe Organisiertheit und ebenfalls eine geringere Glaubwürdigkeit; die
zivilgesellschaftlichen religiösen Gruppierungen haben zwar hohe Glaubwürdigkeit aber geringe organisatorische Durchsetzungskraft; als dominanter Akteur mit hoher Glaubwürdigkeit und hoher Organisiertheit stellte sich der Interreligiöse Rat (MRV) von Bosnien-Herzegowina heraus. Der MRV ist daher
nach der Feldanalyse die einflussreichste religiöse Organisation im Land,
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gleichsam der Prototyp des gesellschaftlichen Verständnisses von Religion, und
es ist zu erwarten, dass er auch den ‚nomos‘ des religiösen Feldes, d. h. die Regeln religiösen Wirkens in der Gesellschaft bestimmt. Das ist insofern überraschend, als der Interreligiöse Rat von Vertretern der historischen Religionsgemeinschaften gebildet wird, die ihrerseits unter dem Vertrauensverlust institutionalisierter Religion leiden.
Um diese hervorgehobene Position des Interreligiösen Rates (MRV) im religiösen Feld und das durch ihn verkörperte Bild authentischer religiöser Praxis
genauer zu untersuchen, unterzieht Seibert im zweiten Durchgang der Untersuchung den MRV einer Habitusanalyse. Auch hier sind zum besseren Verständnis, wie zuvor bei der Feldtheorie, einige Sätze der Erläuterung nötig. Das
Konzept des „Habitus“ ist vor allem von Pierre Bourdieu in die soziologische
Erforschung der Beziehungen von Individuum und Gesellschaft eingeführt
worden. Habitus steht hier für ein relationales Verständnis von Praxis, in dem
sich als Folge von Sozialisation und gesellschaftlicher Interaktion einerseits
bestimmte individuelle Dispositionen und Einstellungen herausbilden und
verfestigen, denen dann andererseits die Aus- und Weiterbildung gesellschaftlicher Strukturen entspricht. Habitus steht also für kognitive und motivierende
Einstellungen, die ihrerseits angepasst sind an über-individuelle, gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensstrukturen. Die Herausbildung des Habitus vollzieht sich im Wechselspiel zwischen Erfahrungen, ihrer Interpretation
und der nachfolgenden Reaktion. Es geht bei der Habitusanalyse darum, die
Prozesse der Identitätsbildung einerseits und der Ausbildung von Handlungsmustern zusammen zu halten. Dem dient die Einführung des so genannten „praxeologischen Vierecks“, in dem positive Erfahrungen und die Interpretation ihrer Ursachen in Beziehung gesetzt werden zu negativen Erfahrungen
und ihrer entsprechenden Interpretation. Wieder muss ich hier darauf verzichten, die theoretischen Zusammenhänge dieser spezifischen Forschungsmethode
im Einzelnen darzulegen. Ihre Fruchtbarkeit jedenfalls wird durch die Studie
von Seibert eindrucksvoll belegt.
Für den Zweck der Habitusanalyse des Interreligiösen Rates als des dominanten Akteurs im religiösen Feld wurden mit den 11 erreichbaren Leitungsmitgliedern halb-strukturierte Interviews geführt; zur Kontrolle wurden nach der
gleichen Methode auch die drei religiösen Organisationen im diakonischen
Bereich untersucht. Die Interviewergebnisse wurden dann nach einem spezifischen Verfahren kodiert und auf Leitbegriffe und ihre Beziehungen untereinander hin kondensiert, um dann mit Hilfe des erwähnten praxeologischen
Vierecks analysiert zu werden. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Analyse sol5
len hier kurz genannt werden, wobei zunächst die negativen Erfahrungen und
ihre Interpretation benannt werden, gefolgt von den positiven Erfahrungen
und Interpretationen.
Bei den negativen Erfahrungen stehen an oberster Stelle der Krieg und die ethnische Polarisierung. Als Ursachen nennt die Interpretation zunächst den Populismus, die Rolle der internationalen Gemeinschaft, aber auch der Regierung
und schließlich die nationalistische Manipulierung von Religion. Dem stehen
als positive Erfahrungen gegenüber an erster Stelle die Kooperation (zwischen
den Religionen), die Treue der Gläubigen und erfolgreiche Bildungsarbeit. Die
positive Interpretation verweist auf die Beständigkeit der religiösen Gemeinschaften, die Tradition des Glaubens und auf den interreligiösen Dialog.
Die Analyse mit Hilfe des praxeologischen Vierecks zeigt dann, dass Solidarität
im Zentrum der Identitätsbildung des Interreligiösen Rates steht. Seibert fasst
zusammen: „Um Krieg und ethnische Polarisierung zu überwinden muss man
sich den religiösen Gemeinschaften, der Tradition des Glaubens und dem interreligiösen Dialog zuwenden, die dazu beitragen, die gute Praxis der Kooperation der Gläubigen zu begründen“. Als zentralen Wert der Handlungsorientierung
des MRV bestimmt Seibert die Beharrlichkeit. Wiederum mit den Worten von
Seibert: „Auch wenn die Kooperation der Gläubigen nicht in der Lage ist, die
Rolle der internationalen Gemeinschaft oder der Regierung direkt in Frage zu
stellen, so kann diese gute Praxis, indem sie sich treu bleibt, den Populismus
überwinden und damit dem
bewussten Spiel mit Symbolen den Boden
entziehen, durch das Krieg und ethnische Polarisierung erzeugt werden.“
Analysiert man die Interviewergebnisse hinsichtlich des darin zum Ausdruck
kommenden Verständnisses von Religion, so ergibt sich zunächst, das die Gewaltfreiheit als zentrales und bestimmendes Merkmal ‚wahrer‘ Religion erscheint.
Das ist überraschend, weil es der noch immer andauernden Verquickung von
Religion und Gewalt zu widersprechen scheint. Der Interreligiöse Rat wendet
sich jedoch damit einerseits gegen den verbreiteten Missbrauch von Religion
zur Legitimierung von Gewalt; andererseits erklärt er darüber hinaus die Frage
der Gewaltfreiheit zum zentralen Unterscheidungsmerkmal zwischen wahrer
und falscher Religion. In den Interpretationen der Ursachen für die negativen
Erfahrungen von Krieg und ethnischer Polarisierung standen die politischen
Strukturen und Prozesse, repräsentiert durch die internationale Gemeinschaft,
die Regierung und die nationalistische Manipulation der Religion im Vordergrund. Für das Verständnis von Religion ergibt sich daraus eine deutliche Distanz zur Politik, entweder im Sinne des eindeutigen Gegensatzes von Religion
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und Politik, oder im Sinn der Opposition zur vorherrschenden Politik und damit der Option für politische Alternativen.
Die Glaubwürdigkeit des Interreligiösen Rates gründet vor allem in seiner
symbolischen Wirkung: Er tritt für die Vorstellung der ‚wahren‘ Religion ein,
wendet sich gegen irreführende und übelwollende Lehren und Ideologien, und
sucht einen Wandel der Mentalitäten und Einstellungen zu befördern. Die Kontrolluntersuchung der drei diakonischen Organisationen bestätigt im Wesentlichen diese Ergebnisse und damit auch die Rolle des MRV als dominanten Akteur im religiösen Feld, als Bezugspunkt für religiöse Glaubwürdigkeit, und als
Verkörperung des Nomos des religiösen Feldes. Der Nomos, vor allem die Bestimmung von wahrer Religion als gewaltfrei, ist einerseits ein Kriterium für
die klärende Interpretation von Erfahrungen, z.B. im Sinne der Feststellung,
dass der Bosnien-Krieg kein religiöser Konflikt war; und andererseits repräsentiert er ein Ideal, das anzustrebende Ziel im Sinn der Aussage: die ‚wahren‘
Gläubigen töten nicht.
Der so bestimmte Nomos des religiösen Feldes besagt, dass wahre Religion
gewaltfrei und unpolitisch, bzw. auf eine politische Alternative ausgerichtet
sei. Das ist ein praxisorientiertes Verständnis von Religion, das an ethischen
Maßstäben orientiert ist und keine Aussage über das Wesen von Religion enthält. Blickt man von hier aus noch einmal zurück auf die Leitfrage der ganzen
Untersuchung nach den Bedingungsfaktoren religiöser Legitimität oder Autorität, so wird erklärlich, warum die historischen Religionsgemeinschaften so geringe Glaubwürdigkeit haben: sie setzen auf eine traditionelle, dogmatisch und
institutionell begründete Autorität, die für die Suche nach ethischer Orientierung der Praxis nicht genügt. Auch die charismatisch begründete Autorität der
zivilgesellschaftlichen religiösen Gruppierungen verfängt letztlich nicht, weil
ihnen die organisatorische Durchsetzungskraft fehlt. Die diakonischen Organisationen liegen irgendwo im Mittelfeld zwischen traditioneller und charismatischer Autorität. Demgegenüber gründet die Legitimität und Autorität des Interreligiösen Rates, neben seinem praxisorientierten, undogmatischen und
ethisch ausgerichteten Verständnis von Religion, vor allem in der Tatsache,
dass zentrale Aktivitäten des MRV auf die Begründung und Stärkung einer
neuen Rechtsordnung ausgerichtet sind. So hat er sich selbst eine auf gleichberechtigte Mitbestimmung und interreligiösen Konsens ausgerichtete Verfassung gegeben und hat einen Entwurf für ein Gesetz über „Religionsfreiheit und
den rechtlichen Status von Religionsgemeinschaften und Kirchen“ ausgearbeitet und durchgesetzt. Der Nachweis dieser symbolisch, ethisch sowie rechtlich
(und nicht dogmatisch oder institutionell) begründeten Form religiöser Legiti7
mität und Autorität muss als wichtiges Ergebnis dieser Studie festgehalten
werden.
Zum Abschluss seiner Studie nimmt Seibert noch einmal die Fragen nach dem
Verhältnis von Religion, Krieg und Frieden sowie der Rolle der Religion im
Nachkriegs-Bosnien-Herzegowina und im Friedensprozess auf. Als erstes Ergebnis hält er fest, dass sich in der Zeit seit dem Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawien ein tiefgreifender Wandel der religiösen Verhältnisse
vollzogen hat: die eindeutige Abkehr von der „Kriegsreligion“ bedeutet, dass
Religion nicht mehr nur als Teil des Problems, sondern auch als ein Faktor seiner Lösung verstanden werden kann. Die Spielregeln des religiösen Feldes entziehen aggressiven Ideologien den Boden, indem sie Extremisten diskreditieren
und ihnen den Zugang zum öffentlichen Forum verweigern. Mit der Ausrichtung am religiösen Nomos der Gewaltfreiheit verbindet sich eine durchgehende Moralisierung des religiösen Diskurses und der Praxis. Die Analyse hat darüber hinaus die starke Betonung der Kooperation zwischen ethnisch und religiös unterschiedenen Gruppen hervorgehoben, die verbunden ist mit einem
dialogischen Verständnis von Religion. Im Blick auf den Friedensprozess zeigt
sich eine Präferenz des Konkordanz-Modells gegenüber dem integrativen Modell.
Es bleiben nach Seibert allerdings auch Fragen und Zweifel hinsichtlich des
Potenzials der Religion im Nachkriegs-Bosnien in ihrem Umgang mit den andauernden Konflikten und den Nachwirkungen des Krieges. Seine Zweifel
richten sich vor allem auf die häufige apologetische Betonung des angeblichen
Missbrauchs der Religion für politische, nationalistische Ziele. Wenn solcher
Missbrauch so weit verbreitet war, kann er nicht nur als Missverständnis oder
Irrtum verstanden werden, sondern verlangt eine inhaltliche Auseinandersetzung, die allerdings bisher kaum geleistet ist. Wenn das Argument des Missbrauchs vor allem der Leugnung dient, dann verhindert es geradezu die Wahrheitssuche. Und schließlich beruht das Argument des Missbrauch auf der Unterscheidung zwischen einer wahren und einer falschen Erscheinungsform:
auch die falsche Religion bliebe dann immer noch Religion. Sie unterscheiden
sich letztlich nur in ihren Konsequenzen. Daher sollte ehrlicherweise auch danach gefragt werden, was wahrer und falscher, friedlicher und gewaltbereiter
Religion gemeinsam ist, und ob diejenigen, die lediglich den Makel einer Ideologie ankreiden, die sich in der Vergangenheit als schädlich erwiesen hat, die
Tragweite des Problems nicht ernsthaft unterschätzen. So kommt Seibert zu
dem Schluss, dass die religiösen Akteure in Bosnien-Herzegowina noch einen
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langen Weg vor sich haben, wenn sie die Religion befreien wollen von ihrem
angeblichen Missbrauch in der Zeit des Krieges.
Noch eine weitere, nachdenkliche, rückblickende Überlegung fügt Seibert am
Ende seiner Studie an. Er bezieht sich dabei auf die Analyse des religiösen
‚nomos‘, der die Kooperation und den notwendigen Dialog zwischen kulturell
autonomen Partnern betont. Das entspricht dem Konkordanz-Modell der Demokratisierung und Friedensbildung, auf dem der Friedensvertrag basiert. Seibert stellt fest: „In Dayton war Trennung eine aufgenötigte Konstruktion, und
es gibt gute Gründe für die Annahme, dass ein vergleichbares Diktat der Notwendigkeit auch die Interaktionen im religiösen Feld bestimmt. Dann leiden
Bosnien-Herzegowina und seine Religionen unter dem gleichen Schicksal,
nämlich dass sich die bosnische Gesellschaft nach wie vor im Zustand eines
Experiments für interkulturelle Friedensbildung befindet. […] Der Prüfstein für
religiöse Glaubwürdigkeit in Bosnien-Herzegowina ist daher letztlich die Suche
nach dauerhaftem Frieden in einer religiös geteilten Gesellschaft oder die Plausibilität der Formel „Brüderlichkeit ohne Einheit“. Diese Formel weckt die Erinnerung an die biblischen Gestalten von Jakob und Esau – aber auch an Kain
und Abel. Es gibt zu denken, dass diese widersprüchlichen Bilder sowohl die
turbulente Dynamik des religiösen Feldes wie auch die Turbulenzen des bosnischen Friedensprozesses widerspiegeln.“
Trotz der unvermeidlichen Länge dieser Laudatio habe ich Ihnen nur die großen Linien dieser ungewöhnlichen Arbeit von Leif Seibert vorstellen können.
Viele Aspekte seiner scharfsinnigen Analyse, die den Fragen von Religion,
Krieg und Frieden sowohl theoretisch-philosophisch wie auch politischgesellschaftlich nachgeht, mussten ausgeblendet bleiben. Der Ertrag für die
sozialwissenschaftliche Forschung zur gesellschaftlichen Relevanz von Religion, nicht zuletzt in Konfliktsituationen geht weit hinaus über das, was man von
einer Dissertation erwarten kann. Für die Auswärtige Kulturpolitik in der Zusammenarbeit mit Ländern in gesellschaftlich-politischen Umbruchs- und
Übergangssituationen enthält die Untersuchung von Seibert die nachdrückliche
Aufforderung, den potenziellen Beitrag der Religionen zum Prozess der Transformation ernst zu nehmen und insbesondere den interreligiösen Dialog nachdrücklich zu unterstützen. Ich beglückwünsche daher das Institut für Auslandsbeziehungen zur Auswahl dieser Untersuchung für den diesjährigen ifaForschungspreis und gratuliere dem Preisträger, Leif Seibert, für diese Anerkennung seiner in der Tat herausragenden Leistung.
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