Der Marktplatz der Muslime

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Titel
Der Marktplatz der Muslime
Mekka, die heilige Stadt des Islam, ist eine der unzugänglichsten und zugleich offensten Metropolen
der Welt. Ausgerechnet in Saudi-Arabien, der Heimstatt des Dschihadismus,
trifft der Islam auf die Globalisierung. Es ist ein Ringen um die Zukunft der Weltreligion.
m Mitternacht machen sich die
ersten Gläubigen auf den Weg.
Das Morgengebet in Mekka beginnt um 5.30 Uhr früh, schon Stunden
vorher ist die Autobahn von der Hafenstadt Dschidda hinauf in die Berge des
Hedschas dicht. Männer, die meisten in
das Pilgergewand aus zwei nahtlosen weißen Tüchern gehüllt, Frauen in schwarzen Abajas, mit schlafenden Kindern im
Arm, die Scharen aus der ganzen Welt
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des Islam, Araber, Afrikaner, Asiaten, be- bahn gespanntes, zehn Meter hohes Portrachten einander müde aus den Fenstern tal und eine kleine maurische Säule die
amerikanischer Limousinen und Reise- Grenze zum heiligen Bezirk. Die Pilger
busse. Keiner hupt, keiner drängt. Es ist richten sich in ihren Sitzen auf: „Hier bin
eine stille, andächtige Karawane auf ich, Gott“, beginnen sie ihre Gebete,
ihrem Weg durch eine vom Halbmond „hier bin ich zu Deinem Befehl.“
Brücken wechseln mit Unterführungen
beschienene Wüstenlandschaft. Jahraus,
jahrein zieht sie hinauf, nie reißt der Pil- ab, Rampen mit Tunnels und eilig hinbetonierten Autowerkstätten. Dann endet
gerstrom ab.
Eine letzte Senke, eine letzte Anhöhe für die meisten die Fahrt in einem unternoch, dann markieren ein über die Auto- irdischen Busbahnhof im Zentrum. Die
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Pilger sind am Ziel: Mekka, die heilige
Stadt des Islam.
Es fühlt sich an wie die Hölle.
Die eben noch andächtig Betenden
sind plötzlich eingetaucht in ein Inferno
aus rotem Neonlicht, aus Lärm und Staub,
aus Hitze und Dieselgestank. Acht JetFans, Ventilationsmaschinen, so groß wie
Flugzeugmotoren, dröhnen an der Decke;
Reisebusse drücken Autos zur Seite, Autos die Fußgänger. Polizisten mit Atem-
MOHAMMED SALEM / REUTERS
Große Moschee mit Kaaba, Shopping- und Hotelkomplex in Mekka
masken und Ohrenschützern brüllen
Kommandos. Dazwischen, mit weit aufgerissenen Augen nach den Ausgängen
suchend, Männer, Frauen, Kinder, Humpelnde, Hustende, Alte in Rollstühlen.
Auf den Treppen ins Freie löst sich allmählich der Ruf des Muezzins aus dem
Lärm. 5.30 Uhr. Unwillkürlich bleiben die
oben Angekommenen einen Augenblick
lang stehen. Zur Rechten: ein 24-stöckiger
Marmor- und Glasquader, das Intercontid e r
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nental-Hotel Dar al-Tawhid, wörtlich:
„Haus des Monotheismus“. Daneben: das
Makkah Hilton&Towers, kürzlich renoviert in arabisiertem Art déco mit hölzernen Erkern bis in die 28. Etage hinauf.
Ganz oben eine Uhr mit dem Schriftzug
des Schweizer Uhrenherstellers Omega,
unten der Eingang zu einer ShoppingMall, die Schilder von Fast-Food-Restaurants: Kentucky Fried Chicken, Hardee’s,
House of Donuts.
Zur Linken, wie ein Gebirge alle anderen Wolkenkratzer dominierend, die sieben Türme des Abraj-al-Bait-Komplexes,
sechs davon fertig, bis zu 48 Etagen hoch,
einer noch im Bau: Auch dies ist ein Uhrturm, der dem Big Ben in London nachgebildet ist, allerdings mehr als sechsmal
so hoch, mit einem Ziffernblatt, das 43
Meter misst. Es wird, nach seiner Fertigstellung diesen Winter, mit 601 Metern
das zweithöchste Gebäude der Welt sein.
„Wo ist die Kaaba?“, fragt, verwirrt und
vom Flutlicht geblendet, ein türkischer
Pilger.
Die Kaaba, der von schwarzen Tüchern
umhüllte Kubus, den der Patriarch Abraham, Stammvater der Muslime wie der
Israeliten, errichtet haben soll, das Heiligtum, um das der Prophet Mohammed
Krieg führte, der Ort, zu dem sich seit 14
Jahrhunderten die Muslime beim Gebet
hinwenden – die Kaaba ist das Letzte, das
die Pilger zwischen den Baustellen, Hochhäusern und Einkaufslandschaften des modernen Mekka zu Gesicht bekommen.
Doch die Kaaba ist jener Ort, ohne den
kein Pilger käme. Sie muss er sehen, siebenmal umrunden und möglichst auch
berühren, wenn er einem der fünf Grundgebote seines Glaubens folgen will –
genau dafür kommt er, zur Umra und
zum Hadsch, zur kleinen und zur großen
Pilgerfahrt.
In Mekka al-Mukarrama, der gebenedeiten Stadt des Islam, zählen Gebete
hunderttausendfach. Mekka ist nicht, wie
die Stadt Jerusalem, ein politisches Symbol, um dessen Herrschaft Juden, Christen und Muslime seit Jahrhunderten ringen. Es ist nicht, wie Rom, Regierungssitz
und Verwaltungshauptstadt einer Weltreligion. Mekka ist weniger und mehr zugleich: Mittelpunkt des islamischen Universums und Kern des individuellen Glaubens. Es ist kein Thron, kein Kirchenfürst,
von dem diese Weihe ausgeht. Sie geht
vom Ort selbst aus, von den ewigen Koordinaten der Kaaba, um die Tag und
Nacht die Pilger kreisen.
Und nun soll Mekka, so haben die Hüter der heiligen Stätten beschlossen, noch
einmal neu entstehen, zum Ruhme Gottes
glänzen und alles in den Schatten stellen,
was die Moderne auf anderen Kontinenten hervorgebracht hat. Vor einem Menschenalter noch war das Wadi, in dessen
Talgrund die Kaaba steht, bei jedem
Regenguss meterhoch überflutet. Heute
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ist dieser Talgrund das teuerste Stück Bauland der Welt, ein Quadratmeter hier kostet doppelt so viel wie vor dem Casino
von Monte Carlo. „Mekka“, zitierte das
Wirtschaftsmagazin „Arabian Business“
einen Investmentbanker, „ist so ziemlich
die krisensicherste Anlage, die sich heute
finden lässt. Mekka hat immer Saison.“
Doch damit steht die heilige Stadt auch
für die Suche des Islam nach dem rechten
Weg zwischen Glaubensstrenge und Weltlichkeit. Für die Herrscher Saudi-Arabiens ist diese Stadt ein widerspenstiger
Ort, zugleich Kronjuwel und Pfahl im
Fleische des Wahhabismus, einer der
striktesten und unerbittlichsten Auslegungen des Islam. Denn das Königreich muss
auch allen anderen Richtungen dieser
Religion Gastgeber sein, den gemäßigten,
aber auch jenen, die eine noch dunklere
Gottesfurcht verbreiten wollen.
Mekka ist das Amalgam all dieser Unvereinbarkeiten. Hier treffen Islam und
Globalisierung aufeinander, Einheit und
Vielfalt, Scholastik und Logistik, Glaube
und Geldgier. Hier wird sich erweisen,
ob diese Religion und die Kultur, die sie
hervorgebracht hat, sich wieder einklinkt
in die Weltgeschichte: ob sie ihre flachen
Hierarchien, ihr entspanntes Verhältnis
zum Handel und zum Geldverdienen, ihr
profundes Desinteresse an Herkunft und
Klasse zum Fortschritt der Muslime nutzen kann. Oder ob ihre Anfälligkeit für
Extremismus, ihr ungeklärtes Verhältnis
zur Gewalt und ihr antiquiertes Frauenbild sie weiter Fremdling bleiben lassen
in der Moderne.
Das ganze Leben frommer Muslime ist
nach Mekka ausgerichtet. In welcher Richtung die Stadt des Propheten liegt, ist das
Erste, was ein Gläubiger herauszufinden
versucht, wenn er an einem unbekannten
Ort ankommt. Wenn er als Kind zu beten
lernt, zeigen ihm die Imame in der Moschee die Kibla, die Gebetsnische, hinter
der, und sei es in 20 000 Kilometer Entfernung, Mekka liegt. Und wenn sie den Verstorbenen zu Grabe tragen, dann wird
sein Kopf in Richtung Mekka liegen.
Das Ziel der Pilger ist, aller profanen
Ablenkung, allem Kommerz zum Trotz,
ein Ort der Reinheit und der Reinigung.
Der „Ihram“, der Weihezustand, in den
der Pilger sich vor den Toren der Stadt
versetzt, verbietet ihm zu fluchen, sich
einzucremen, sich zu rasieren, sich die
Nägel zu schneiden oder zu onanieren.
Er darf nicht jagen, keine Waffen tragen,
keinen lebenden Halm abbrechen, er
darf buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun.
Dieses strikte Verbot, sich an der Schöpfung zu vergehen, diese Botschaft des Friedens klingt merkwürdig leise in dieser
dröhnend kriegerischen Zeit. Denn Mekka
ist das Zentrum einer Weltreligion, die mit
sich ringt. Neun Jahre nach der Katastrophe des 11. September 2001 wirkt dieser
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Pilger vor der Kaaba während des Hadsch 2008: „Wir müssen uns gegen das Eindringen fremden,
Akt des Terrors so unverändert nach wie men: die Burka, das Minarett, die Moschee
die Exzesse, die ihm folgten, von Bali bis – vom New Yorker Ground Zero bis in die
Beslan, von Mumbai bis Madrid, von Lon- hintersten Täler der Schweiz verbreiten
don bis Stockholm, das bei einem Bom- die sichtbaren Zeichen des Islam ein anbenanschlag am vorvergangenen Samstag haltendes Gefühl der Bedrohung. Vor einer
„Islamisierung Amerikas“ warnen in den
nur knapp einer Katastrophe entging.
Es ist ein Ringen um die Frage, wer USA die Gegner eines islamischen Zenden Islam dominiert: die breite Mehrheit trums an der Südspitze von Manhattan,
der Gläubigen oder die Fanatiker, deren eine schleichende Unterwanderung, ein
„Eurabia“, in dem binnen Generationen
mehr Muslime als Christen leben werden,
„Hier bin ich, Gott“,
sagen Populisten in Europa voraus.
beten sie, „hier bin ich zu
Wie viel auch immer die eigenen ÄngsDeinem Befehl.“
te des Westens vor ökonomischem Machtverlust und demografischem Niedergang
zu diesem Unbehagen beitragen mögen
Ideologie genau hier, im Königreich – eines ist nicht zu leugnen: Der DschihaSaudi-Arabien, ihren Anfang nahm und dismus ist nicht besiegt. Die Qaida ist die
seit einem Jahrzehnt fast jeden Monat gefährlichste Terrorbewegung der Gegenweltweit Dutzende Menschenleben for- wart, und sie prägt seit einem Jahrzehnt
dert – die meisten von ihnen muslimische das Bild einer Religion, die als aggressiv,
Menschenleben.
als rückschrittlich und gefährlich wahrgeKein Schurkenstaat, kein feindliches Im- nommen wird.
perium löst im Westen solche Ängste aus
Aber stimmt dieses Bild noch? Bewie der Islam, kein Feindbild kann es heute schreibt es die Gesamtheit eines Kulturmit den Symbolen dieser Religion aufneh- raums, der von den Archipelen Indoned e r
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MOHAMMAD KHEIRKHAH / UPI / LAIF
feindlichen Gedankenguts wehren!“
siens bis zum Atlantik, von den afrikanischen Steppen bis in den Kaukasus reicht
– und den die Globalisierung in den vergangenen Jahren gewiss noch viel stärker
verändert hat als den vergleichsweise statisch gebliebenen Westen?
Eine neue Generation von Gläubigen
hat seit den Anschlägen von New York
und Washington ihr Selbst- und ihr Weltbild geformt. Sie sind fromm und modern,
konservativ und kritisch, sie sind so ungleich wie die Pilger, die im Busbahnhof
von Mekka aus den Autos steigen. Der
Islam verbindet sie, und für die meisten
von ihnen ist es ein anderer Islam als der,
vor dem sich der Westen fürchtet.
Vor allem aber: Es ist nicht nur ein einziger Islam. Es sind deren viele.
Auf 1,57 Milliarden Menschen, stellt
eine Studie des Pew Research Center in
Washington fest, ist die Zahl der Muslime
im vergangenen Jahr gestiegen. Das ist
etwa ein Viertel der Weltbevölkerung.
Nur jeder fünfte von ihnen stammt aus
dem Nahen Osten und Nordafrika. Nur jeder fünfte spricht Arabisch. Die vier größ-
ten muslimischen Gemeinden der Welt
sind die von Indonesien, Pakistan, Indien
und Bangladesch. In Russland allein leben
mehr Muslime als in Libyen und Jordanien
zusammengenommen, in China mehr als
in Syrien – und in Deutschland mehr als
im Libanon.
In Mekka ist diese Vielfalt zu besichtigen. Sie drückt sich aus in Hautfarben,
in Gesichtern, in Kulturen und Lebensstilen. Es ist eine Vielfalt, so der iranischamerikanische Politologe Vali Nasr, die
von unten kommt und nach oben strebt.
Der verordnete Säkularismus des 20.
Jahrhunderts, so Nasr in einem wegweisenden Buch über den Aufstieg der „neuen muslimischen Mittelklasse“, habe in
der islamischen Welt seinen Glanz verloren – der verordnete Fundamentalismus
aber nicht minder: „Die muslimische Welt
ist dabei, sich auf etwas ganz anderes einzurichten: auf Pluralismus.“*
* Vali Nasr: „The Rise of Islamic Capitalism. Why the
New Muslim Middle Class Is the Key to Defeating Extremism“. Free Press, New York; 320 Seiten.
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Der Islam sei „nicht wegen der Extremisten, die in seinem Namen Gewalt verbreiten, zur Weltreligion geworden – sondern wegen seiner kulturellen Diversität“.
Und, so schreibt Nasr: „Es werden nicht
säkulare Diktatoren oder aufgeklärte
Geistliche sein, die den muslimischen Extremismus bezwingen, sondern Unternehmer und Geschäftsleute.“
Die Völker der islamischen Welt sind
jung (mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Nahen Osten ist jünger als 25
Jahre), und sie wollen teilhaben an einer
Moderne, die sie ebenso verunsichert wie
fasziniert.
Viele junge Muslime sind ihr Stigma
im Westen so leid wie den Terror der Qaida, der ihnen dieses Stigma eingetragen
hat. Sie marschieren nicht mit den Kohorten der organisierten Islamisten. Aber
sie gehen, als Männer, selbstverständlich
zum Gebet, als Frauen tragen viele von
ihnen das Kopftuch, selbst wenn sie dazu
in den Shopping-Malls von Dubai oder
an der Corniche von Beirut niemand
zwingt. Der Islam ist das Zentrum ihrer
Identität, er diktiert bis in die Twitterund Facebook-Einträge ihre Sprache.
Noch hat diese Bewegung keinen Namen, doch die Autoritäten, die alten Herren des Patriarchats, spüren ihre Kraft genau. Auf Websites wie „muftisays.com“
oder „fatwa-online.com“ gibt sie Antworten auf Fragen, die traditionelle Scheichs
ihnen schuldig bleiben.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten geht der Ökologe Abd al-Asis Al
Nuaimi gegen die Verschwendungssucht
seiner Landsleute vor und propagiert einen „grünen Dschihad“. In Dubai hat die
vollverschleierte Eheberaterin Widad
Lutah einen Beziehungsratgeber veröffentlicht, in dem sie das Vorurteil genereller Lustfeindlichkeit des Islam widerlegt: Oralsex sei – jedenfalls unter Verheirateten – nach den Quellen der Schrift
erlaubt. In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten islamischen Land der
Welt, predigt der Televangelist Abdullah
Gymnastiar seit Jahren über moralische
Betriebswirtschaft, ethisches Verhalten
am Arbeitsplatz und die Tugend der Höflichkeit. Er ist selbst erfolgreicher Unternehmer.
Als einen „Yuppie-Islam“, einen Abklatsch der reinen Lehre, diffamieren radikale und traditionelle Gelehrte das Phänomen. Ihre Sorge ist begründet, denn
die neue, selbstbewusste Glaubensbegeisterung trägt die Veränderung bis in die
Amtsstuben des erzkonservativen Königreichs Saudi-Arabien hinein. Im vorigen
Jahr entließ König Abdullah einen Obersten Richter, der dazu aufgerufen hatte,
Fernsehmacher umzubringen, die im Ramadan „unmoralische“ Serien ins Programm stellen. Wenig später feuerte er
ein Mitglied des einflussreichen Gelehrtenrates, das sich dagegen ausgesprochen
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hatte, junge Männer an einer neuen Universität bei Dschidda gemeinsam mit jungen Frauen auszubilden.
Die Scharia, die Frauen: Nirgendwo ist
der Graben zwischen dem fundamentalistischen Islam und seinen liberaleren
Spielarten so tief wie an diesen beiden
Fronten – und nirgendwo ist so deutlich
zu sehen, wie viel in den Jahren seit dem
11. September in Bewegung geraten ist.
Fassungslos nimmt der Rest der Welt
immer wieder barbarische Urteile muslimischer Richter zur Kenntnis: Im Sudan
ließen sie 1994 zwei zum Christentum
konvertierte Männer erst hinrichten und
dann kreuzigen, in Ägypten verurteilten
sie 1995 den angesehenen Koran-Forscher
Nasr Hamid Abu Said zur Zwangsscheidung von seiner Frau (das Paar entzog
sich der Vollstreckung durch Flucht in die
Niederlande); in Saudi-Arabien wurde
ein junger Mann zu 1000 Peitschenhieben
verurteilt, weil er im Fernsehen mit seinen erotischen Eroberungen geprahlt hatte; in Iran windet sich das Regime gerade,
das Steinigungsurteil für Sakine Mohammadi Aschtiani als ein „symbolisches“
Verdikt auszugeben, das gar nicht vollzogen werden soll.
Aber ist ein Rechtsbewusstsein, dem
solche Urteile entspringen, überhaupt
reformierbar? Wie soll ein moderner
Rechtsstaat auf dem Fundament einer heiligen Schrift gebaut werden, die fordert,
Es dauerte nur Minuten, bis die
ersten Leichen auf dem
Marmor des Moscheehofs lagen.
Dieben seien die Hände abzuhacken und
Ehebrecherinnen auszupeitschen oder zu
steinigen?
Gerade das Strafrecht aber, die wichtigste Domäne der Fundamentalisten,
gerate unter dem Einfluss der Globalisierung unter Druck, sagt der Erlanger Jurist, Islamwissenschaftler und führende
deutsche Scharia-Experte Mathias Rohe:
„Die Ideen sind mobil geworden. Nicht
nur die Gelehrten – jeder redet heute
mit.“ Der islamische Rechtsdiskurs
erlebe derzeit einen „Quantensprung“
wie seit dem 9. Jahrhundert nicht mehr,
eine nie dagewesene „Pluralisierung
der Argumente“.
Von modernen Denkern wie dem türkischen Theologen Yaşar Nuri Öztürk bis
zu islamistischen Haudegen wie dem Sudanesen Hassan al-Turabi und dem ägyptisch-katarischen Fernsehprediger Jussuf
al-Karadawi wächst das Unbehagen an
einer Koran-Auslegung, die sklavisch am
Buchstaben klebt. „Idschtihad“ ist das
Schlagwort, das von etablierten Autoritäten bis zu Islam-Bloggern viele Muslime
heute verbindet: die Fähigkeit zu selbständigem Urteilen und Forschen.
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Und unter den Urteilenden und Forschenden sind zum Verdruss der Traditionalisten immer mehr Frauen. Die Abiturergebnisse der Mädchen in Saudi-Arabien
sind so viel besser als die ihrer männlichen Altersgenossen, dass die traditionelle „Liste der besten 100“ seit einigen Jahren nicht mehr publiziert wird – es standen zuletzt nur eine Handvoll junger
Männer darauf. Zwei Drittel der Studierenden in Saudi-Arabien sind Frauen.
Das ist die eine Realität. Die andere
erfuhr Dr. Mohammed al-Sulfa, als er vor
einigen Jahren als Abgeordneter des
saudi-arabischen Konsultativrates einen
Gesetzentwurf einbrachte, der Frauen
endlich das Recht einräumen sollte, selbst
Auto zu fahren. „Mein Telefon klingelte
ununterbrochen“, sagt er.
Was eine Frau denn machen solle,
wenn ihr Auto liegenbliebe, fragte ihn
ein Anrufer. „Na, was schon“, fragte
Sulfa zurück. „Den Pannendienst anrufen.“ Darauf der Anrufer: „Findest du
denn, Frauen sollen eigene Mobiltelefone
besitzen?“
Noch ist nicht entschieden, wer die
Oberhand behält, der Reformer Sulfa
oder seine empörten Anrufer. Der Ausgang dieses Kulturkonflikts ist offen, in
Saudi-Arabien ebenso wie in der islamischen Welt insgesamt. Es wird ein unübersichtliches Gemenge, doch wenn es einen
Ort gibt, an dem alle Parteien aufeinanderstoßen, die religiösen, politischen,
kulturellen und wirtschaftlichen, dann ist
es Mekka, der Marktplatz der Muslime,
eine der unzugänglichsten und zugleich
offensten Städte der Welt.
Aus Mekka gingen – lange vor dem
11. September – die ersten Bilder um die
Welt, die vom zerstörerischen Potential
des Fundamentalismus kündeten: Am
Morgen des 20. November 1979, dem ersten Tag des 15. islamischen Jahrhunderts,
besetzte eine Gruppe schwerbewaffneter
Islamisten die Große Moschee. Ihr Anführer Dschuhaiman al-Utaibi, ausgebildet
von höchsten religiösen Würdenträgern
des Königreichs, entriss dem Vorbeter das
Mikrofon und teilte den Pilgern mit, dass
er ihnen nun den Mahdi präsentiere – den
prophezeiten Erlöser, der gekommen sei,
um die Welt vom Unrecht zu befreien.
Es dauerte nur Minuten, bis die ersten Schüsse fielen und die ersten Leichen
auf dem weißen Marmor des Moscheehofs lagen, es sollte zwei Wochen dauern
und Hunderte Menschenleben kosten, bis
die Kaaba befreit war – zur Schande ihrer Hüter: Die Saudis mussten Ausländer
um Hilfe bitten, französische Spezialagenten leiteten die Einsatzgruppen.
Erst nach 2001 dämmerte der Welt,
dass damals die Saat für den modernen
Dschihadismus und für den Todeskult
der Qaida gelegt worden war: die Forderung der Terroristen – heiliger Krieg dem
Westen und dem mit ihm im Bunde ste-
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Lagezentrum der Polizei in Mekka
VERONIQUE DE VIGUERIE / GETTY IMAGES
BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL
Der Dschihadismus ist nicht besiegt
henden Haus Saud – war exakt die Botschaft, die Osama Bin Laden bis heute
predigt.
Mekka selbst, die Stadt, in der die
arabischen Terroristen Dolmetscher gebraucht hatten, um den Pilgern aus aller
Welt ihre Befehle verständlich zu machen,
blieb davon unberührt, wandte sich wieder seinem Geschäft zu, die Pilger zu beherbergen und ihnen Andenken an ihre
Wallfahrt zu verkaufen.
Acht Millionen Gläubige kamen 1980,
etwa 12 Millionen waren es in diesem
Jahr, an die drei Millionen zum Hadsch
im November. Diese Zahlen, schätzt das
zuständige Ministerium, werden sich in
den nächsten zehn Jahren vervierfachen.
Die Zahl der Muslime steigt weiter, vor
allem aber steigt die Zahl derer, die in
der Lage sind, sich eine Pilgerfahrt zu
leisten. Nur ihnen legt der Koran diese
Pflicht auf, und Mekka empfängt sie alle:
Das im Westen scheinbar einheitliche Gesicht des Islam fällt hier in seine Teile
auseinander.
Es kommen Männer wie der Eisendreher Mohammed Chalifa, 63, aus Alexandria, der mit fünf anderen Ägyptern den
heiligen Berg Arafat hinaufstapft, nach
jeder dritten Stufe innehält, „mein Gott,
mein Gott“ keucht und oben sein Frühgebet spricht.
Es kommen Frauen wie Dr. Rashida
Carrim, 58, aus Durban in Südafrika, die
das Penthouse 2826 im Hilton gebucht
hat. Ihr Mann folgt ihr mit einem kleinen
schwarzen Rollkoffer: Da sind die Medikamente drin, welche die an Krebs Erkrankte für ihre Chemotherapie braucht.
„Ich habe keinen Zweifel“, sagt sie, „dass
mir diese vier Wochen helfen werden.“
Es kommen Ehepaare wie Bassam, 50,
und Marjam Ibrahim, 43, gebürtige Palästinenser, inzwischen Software-Entwickler in Houston, Texas. Er, barfuß
und im Pilgergewand, führt seine Frau
vom König-Fahd-Tor der Großen Moschee auf einen Laden zu, in dem kanisterweise Wasser aus der heiligen Samsam-Quelle verkauft wird.
Es kommen Männer wie der Fernsehprediger Jussuf al-Karadawi, der eine
Gelehrtenkonferenz im Königspalast von
Mekka zuruft: „Wir müssen uns gegen
das Eindringen fremden, feindlichen Gedankenguts wehren!“ Und es kommen
Männer wie der kenianisch-britische Muslim-Aktivist Fuad Nahdi, der auf der
gleichen Konferenz sagt: „Wir haben ein
Problem, das über unsere Religion weit
hinausgeht. Wenn ich in Saudi-Arabien
meinen Töchtern ein Eis kaufe, bestimme
ich, ob sie Erdbeere oder Vanille nehTaliban-Kämpfer in Afghanistan
Heiliger Krieg dem Westen
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GRASSANI / INVISION / LAIF (O.L.); MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF (O.R. + U.R.); ALI JAREKJI / REUTERS (U.L.)
Moderne Muslime in Kisch (Iran), Kairo, Mekka, Dubai: Der Islam diktiert bis in die Twitter- und Facebook-Einträge ihre Sprache
men. Wenn ich in Großbritannien bin,
frage ich sie vorher, was sie möchten.“
Es kommen Gemäßigte und Radikale,
Sunniten und Schiiten, Hanafiten, Ibaditen, Ismailiten, hippe junge Muslime aus
London und Frankfurt, kriegserfahrene
Scheichs aus Kaschmir und Somalia. Sie
beten, sie shoppen, sie streiten mit den
Mekkanern um astronomische Hotelrechnungen und mit Glaubensbrüdern, deren
Sprache sie nicht sprechen, wo genau
beim Gebet die Hände zu halten seien –
ob am Ohr, wie in Bosnien, oder an der
Schulter, wie am Golf.
Wenn es nach dem Emir von Mekka
geht, Prinz Chalid Bin Faisal Al Saud, 69,
dann wird seine Geburtsstadt der Welt in
den nächsten Jahren ein Lehrstück in Fortschrittlichkeit erteilen. Chalid ist der Sohn
des 1975 ermordeten Königs Faisal, der
selbst als Gouverneur in Mekka begann,
und Enkel des Staatsgründers Ibn Saud.
Ihm gehört die liberale Tageszeitung „Watan“, und er ist Generaldirektor der King
Faisal Foundation, einer der größten philanthropischen Stiftungen der Welt.
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Männer seines Geblüts zucken, wenn
jemand sagt, der Islam habe die Moderne
verpasst.
Vor drei Jahren ernannte ihn sein Onkel
König Abdullah zum Gouverneur der Westprovinz, nun zieht er ein Papier aus seiner
Schublade und sagt: „Das ist mein Plan.
Wir werden eine moderne Stadt bauen. Wir
fangen noch einmal ganz von vorn an.“
Sie sind ihr Stigma im Westen
so leid wie den Terror, dem
sie dieses Stigma verdanken.
Der Prinz gilt als Reformer. Er hielt
sich vor neun Jahren nicht mit der Frage
auf, ob 15 der 19 Attentäter des 11. September tatsächlich aus Saudi-Arabien
stammten oder nicht, stattdessen zog er
gegen die „abartigen Ideen“ der Fundamentalisten zu Felde, die sich in „unsere
Schulen, Fakultäten, Privathäuser und
überhaupt in die Gesellschaft eingeschlichen haben“.
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Er und sein Bruder, Außenminister
Saud Bin Faisal, sind treibende Kräfte des
Prozesses, den der König vor drei Jahren
mit einem Besuch beim Papst in Rom begann und der sich, nach Konferenzen in
Mekka und Madrid, zu einem „Dialog
der Zivilisationen“ entwickeln soll.
Von einem „Dialog der Religionen“ ist
vorläufig noch nicht die Rede, weil Saudi-Arabiens Ulama, die Rechtsgelehrten,
Hindus und Buddhisten für gottlos halten.
Und weil von einer Gleichberechtigung
der Religionen keine Rede sein kann, solange an jeder Einfahrt nach Mekka ein
Schild darauf hinweist, dass der Zutritt
zur heiligen Stadt nur Muslimen gestattet
ist. Noch immer ist es verboten, eine Bibel nach Saudi-Arabien zu bringen, noch
immer dürfen christliche Diplomaten
nicht einmal in ihren exterritorialen Botschaften einen Gottesdienst feiern, werden Missionare mit drakonischen Strafen
bedroht, noch immer ist der Bau einer
Kirche im Königreich völlig undenkbar.
Dennoch will der Prinz, wie der König,
Saudi-Arabiens Verhältnis zum Islam auf
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neue Grundlagen stellen. „Alles“, sagt
der Prinz, „beginnt und endet an der
Kaaba.“ Was er vorhat, ist eine komplette
Neugestaltung Mekkas, für die in den
kommenden zehn Jahren 100 Milliarden
Dollar veranschlagt sind.
Gleich von „ein paar hundert Milliarden“ in den nächsten 25 Jahren spricht
Osama al-Bar, der Bürgermeister von
Mekka. Er führt, in unmissverständlicher
Symbolik, die Kaaba und einen Bulldozer
im Wappen seiner Stadtgemeinde.
Bar sitzt ungern im Büro, er residiert
am liebsten unten vor der Großen Moschee, den Blick auf den nie abreißenden Strom der Pilger gerichtet. Alles, was
er zum Management seiner Stadt benötigt, hat er griffbereit vor sich: ein
Festnetztelefon, ein weißes Smartphone
und vier seiner Leutnants, die sich, von
links nach rechts vor ihm sitzend, um
Sicherheit, Energie, Gesundheit und Finanzen kümmern. Der Bürgermeister hat
an der Universität Nottingham Umwelttechnologie studiert, sein Englisch ist perfekt, doch mitunter ist nicht zu unterscheiden, ob er gerade „Mega“ oder
„Mekka“ sagt.
Drei „Mega-Projekte“ zählt er auf –
und er spricht nur von denen, die bereits
in Arbeit sind oder kurz vor dem Abschluss stehen. Da sind:
‣ die Westflanke des Wadi Mekka, das
sogenannte Dschabal-Omar-Projekt.
Hier sollen 39 Türme von 80 bis 200
Meter Höhe entstehen, dazu 9000 Parkplätze, 2400 Einkaufsläden, Hotels und
Luxusappartements. Wie ein Amphitheater an den Hang gebaut, wird sich
aus fast allen Wolkenkratzern der Blick
auf die Große Moschee eröffnen;
‣ die Nordflanke des Wadi, die Schamija-Stadt. Hier sind 100 Wohntürme für 250 000 Menschen geplant, davor eine Plaza für
65 000 Betende und ein Wolkenkratzer so groß wie der LaDefense-Würfel in Paris;
‣ und schließlich die Südseite
des Wadi, wo das Pilotprojekt des neuen Mekka kurz
vor seinem Abschluss steht,
die Turmkaskade Abraj alBait der König-Abd-al-AsisStiftung. Um für sie Platz zu
schaffen, wurden hier vor
neun Jahren ein Berg und
eine Festung aus der Osmanenzeit geschleift; es gab diplomatische Verstimmungen
mit der Türkei. „Selbst mein
Büro wird abgerissen“, sagt Bürgermeister Bar. „Na und? Wir werden ein neues bauen.“
Inzwischen ragt an dieser Stelle ein
riesiger Uhrturm empor, mit derzeit 550
Metern nur mehr zehn Etagen von seiner
endgültigen Höhe entfernt. Selbst die
sechs Wolkenkratzer, die ihn, je etwa 250
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Meter hoch, einrahmen, sehen von der
oberen Plattform aus wie Zwerge. Das
ganze Ensemble, 1,5 Millionen Quadratmeter groß, ist ein brachiales Bauwerk –
und Ausdruck des Selbstbewusstseins eines Ölstaats, an dem die Wirtschaftskrise
der vergangenen zwei Jahre wie ein lauer
Herbstwind vorübergegangen ist. Ganz
oben tickt seit diesem Sommer die von
einem schwäbischen Unternehmen gelieferte größte Turmuhr der Welt. „Wir wollen Greenwich Mean Time den Zeit-Standard von Mekka gegenüberstellen“, sagt
Mohammed al-Arkubi, der Direktor eines
der Hotels, die zum Komplex gehören.
Shopping Malls und Restaurants, Suiten
und Time-Share-Appartements mit KaabaBlick: Was bleibt, wenn das alles gebaut
ist, eigentlich von Mekka übrig? Ein „LasVegas-Strip ohne Glücksspiel“, wie ein
Architektur-Blogger kommentierte? Eine
Art Dubai mit metaphysischem Mehrwert?
Der Bürgermeister kennt diese Fragen,
er zeigt auf zwei alte Stadtansichten, die
in seinem Baucontainer hängen. „Pilger
haben Bedürfnisse, und diese Stadt war
immer auf der Höhe ihrer Zeit: Dieses
Foto hier ist von circa 1870. Wo auf der
Welt gab es damals sonst siebenstöckige
Gebäude?“
Mekkas Anfänge liegen im Dunkeln,
doch seit diese Stadt in Dokumenten er-
Verbreitung des Islam
Muslime in Prozent der Bevölkerung
90% und mehr
50% bis 90%
10% bis 50%
unter 10%
wähnt wird, war sie stets Pilger- und Handelsplatz zugleich. Leder, Goldstaub und
Gewürze aus dem Jemen und Indien werden in der Spätantike durch die Bresche
des Hedschas-Gebirges nach Syrien und
weiter nach Europa gebracht; Leinen,
Waffen und Getreide kommen zurück.
Als sich Anfang des siebten Jahrhunderts nach Meinung der meisten Wissenschaftler – eine Minderheit hält den Propheten für geschichtlich nicht nachweisbar – Mohammed in Mekka einen Namen
macht, liegen Byzanz und das persische
Sasanidenreich, die beiden Supermächte
ihrer Zeit, im Krieg; die antike Handelsroute über den Euphrat ist zu gefährlich.
Davon profitieren Südarabiens Karawanenstädte, vor allem Mekka, die wichtigste von ihnen: Schon lange vor dem Islam
treffen sich die Nomadenstämme der Region einmal im Jahr zu einer Handelsmesse, setzen ihre Kämpfe aus und regeln
ihre Streitigkeiten.
Sie umkreisen einen schwarzen Stein,
wahrscheinlich einen Meteoriten, der, zusammen mit ein paar hundert anderen
Kultgegenständen, in einem kleinen
Steintempel aufbewahrt wird, der Kaaba.
Um das Jahr 610 soll Mohammed seine
ersten göttlichen Eingebungen empfangen haben. Die Botschaft des Koran findet sofort Verbreitung – vor allem unter
den einfachen Leuten, den
Barfüßigen, nicht unter
den wohlhabenden
Kaufleuten von
Länder mit den meisten Muslimen
Muslime in Millionen
174
161
145
74
203
79
Türkei
74
Iran
78
Pakistan
Indien
Ägypten
Bangladesch
Indonesien
Nigeria
Weltbevölkerung 2009
ca. 6,8 Mrd.
davon
muslimisch
1,4 Mrd.
ca. 1,5
Quelle:
Pew Research Center’s Forum
on Religion & Public Life; Oktober 2009
davon
christlich
ca. 2,3 Mrd.
95
Mekka, deren Profitsucht und Vielgötterei der Prophet geißelt.
Im Jahr 622, dem Beginn der islamischen Zeitrechnung, zieht er mit seinen
Anhängern nach Medina. Von dort gelingt es dem Kaufmann, der nun zum
Feldherrn und Religionsstifter aufsteigt,
seine Geburtsstadt zurückzuerobern.
Der Religionsgründer etabliert eine
mächtige, in Teilen mit dem Alten Testament übereinstimmende Geschichte, die
bis heute die Riten der Pilgerfahrt bestimmt: Demnach hat Abraham, nachdem er Satan trotzte, die Kaaba gebaut –
an jener Stelle, an der seine Magd Hagar
für ihrer beider Sohn Ismail nach Wasser
suchte und jene Samsam-Quelle fand, die
noch heute Wasser spendet.
Mit der Ausbreitung des Islam steigen
die Pilgerzahlen, und die Geschichte der
Stadt Mekka – von den frühen Kalifen
über die Umajjaden und Abbasiden bis
zu den Osmanen – liest sich wie ein Wirtschaftskrimi, bei dem es vorwiegend um
die Verteilung der Einnahmen geht, die
der Besucherstrom mit sich bringt.
Die Herrscher der einander ablösenden
islamischen Reiche in Damaskus, Bagdad,
Kairo und Istanbul investieren zwar in
der heiligen Stadt, doch politisch spielt
Mekka keine Rolle – bis nach dem Ersten
Weltkrieg ein Beduinenfürst aus Zentralarabien die Wirren nutzt, um seinem entstehenden Reich auch den gebirgigen Küstenstreifen des Hedschas einzuverleiben:
Sultan Abd al-Asis Ibn Saud, der künftige
König von Saudi-Arabien.
Als er am 5. Dezember 1924 Mekka
im Pilgerkleid betritt, haben seine Soldaten in der Stadt eingesammelt und zerstört, was seine Vorgänger geduldet hatten, was unter dem neuen Regime nun
aber des Teufels ist: Gitarren, Trommeln,
Wasserpfeifen, Tabakvorräte. Abgerissen
werden das Geburtshaus des Propheten,
die Häuser seiner Frau Chadidscha und
seines Nachfolgers Abu Bakr.
Nach der Lehre des Wanderpredigers
Mohammed Bin Abd al-Wahhab, dessen
Nachfahren mit den Sauds im Bunde
stehen, ist es Götzendienst, historische
Denkmäler zu verehren, und Verkommenheit, zu musizieren oder zu rauchen. Da triumphiert eine beduinischstrenge Form der Religion, eine simple
Theologie, die ihr harsches Schwarzweiß,
ihre Sinnenfeindlichkeit und ihre Kargheit dem Leben in der arabischen Wüste
schuldet.
Die islamische Welt ist damals tief
beunruhigt, ihre heilige Stadt von fanatischen Beduinen überrannt zu sehen. Gut
20 Jahre später, als das Königreich SaudiArabien fest etabliert ist, in der Ostprovinz die ersten Ölquellen sprudeln und
die Schatullen des Hauses Saud allmählich überlaufen, merken die Ersten, dass
in Mekka bald noch mehr Geld zu verdienen sein wird.
96
Uhrturm von Mekka: „Selbst mein Büro wird abgerissen, na und? – wir werden ein neues
An der Seite des Königs taucht ein ehrgeiziger junger Mann auf, der aus dem
Jemen zugewandert ist, als Gelegenheitsarbeiter in Dschidda begann und es zu
einem erfolgreichen Bauunternehmer gebracht hat. Sein Name ist von nun an aufs
engste mit der Geschichte von Mekka
und Medina verknüpft – und 50 Jahre
später, als er schon lange tot ist, mit einer
Zeitenwende im Verhältnis der Muslime
zum Rest der Welt: Mohammed Bin
Awad Bin Laden.
„New York ist etwas Physisches, Lhasa ist etwas
Spirituelles. Mekka ist beides.“
Zwei Modelle, so groß, dass man auf
ihren Granitsockeln selbst kleine Moscheen errichten könnte, stehen im Atrium der „Saudi Binladin Group“ in
Dschidda – rechts die von Medina, links
die von Mekka. Der Konzern baut Straßen, Eisenbahnen, Wolkenkratzer, er baut
ganze Städte in Ägypten, Indien und
Kasachstan, doch diese beiden Gebetshäuser, das ist die Botschaft an den
Besucher, sind seine wichtigsten bleibenden Projekte. In dem Komplex haben
zehn der Brüder von Osama Bin Laden
ihre Büros.
d e r
s p i e g e l
5 1 / 2 0 1 0
Seit der Staatsgründer den Firmengründer 1949 mit dem Umbau der Innenstadt
von Medina betraute, waren stets mehr
als die Hälfte der Bin-Laden-Ingenieure
und -Arbeiter in den beiden heiligen Städten beschäftigt. Oft nahm der Alte seine
Söhne mit, um ihnen das Werk seiner Abrissbirnen, Bagger und Betonmaschinen
vorzuführen. Auch Osama war dabei und
hat später anerkennend über die Leistung
seines Vaters gesprochen. Mohammed
Bin Laden hatte eine Lizenz zum Gelddrucken aufgetan: Auch wenn der Ölpreis
tief stand – die Pilgerzahlen stiegen beständig.
In einer stillen, von Platanen überschatteten Straße ein paar Kilometer vom BinLaden-Hauptquartier entfernt, wohnt ein
Mann, der sich geschworen hat, den Bauherren von Mekka einen Strich durch ihre
kühnen Pläne zu machen. Sein Zorn ist
über die Jahre so gewachsen, dass er zu
einem Wortspiel greift, das an Blasphemie grenzt: Was die Binladin Group in
Mekka mache, sei „la din“, sagt er.
„La“ heißt auf Arabisch Nein, „din“
heißt Religion. Für Sami Angawi, 60, sind
die Bin Ladens gottlos.
Angawi ist in Mekka geboren, als
Spross einer wohlhabenden Familie von
Pilgerführern. Es gibt wenig in seinem
Alltag, von der Zuverlässigkeit seines
deutschen Geländewagens bis zum Talent
BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL
Titel
bauen“
seines Sohnes, eines Produkt-Designers,
zu dem ihm nicht ein passender KoranVers einfiele.
Er hat in Texas, London und in Stuttgart bei Frei Otto, dem deutschen Meister
der Leichtbau-Architektur, studiert. Als
er nach Saudi-Arabien zurückkam, gründete er ein Institut, das sich zum ersten
Mal wissenschaftlich mit dem Hadsch
befasste. Er vermaß die Pilgerströme, er
schrieb Verkehrsstudien und Notfallpläne, er dokumentierte auf Abertausenden Fotos die von Christen angelegten
Bewässerungssysteme, die marokkanischen Erker, die syrisch-byzantinischen
Säulen, die indonesisch feinziselierten
Holztüren der Stadt. Als die Terroristen
1979 die Große Moschee besetzten, war
er der Einzige, der sofort die Baupläne
bereit hatte, die dann zum Sturm der Anlage genutzt wurden. „New York“, argumentiert er, „ist etwas Physisches, Lhasa
ist etwas Spirituelles. Mekka ist beides.
Mekka ist das kollektive Gedächtnis der
Muslime.“
Doch gegen die Beton-Lobby der Baukonzerne haben Angawis Bedenken keinen Bestand. Oft fährt er monatelang
nicht nach Mekka hinauf, der Anblick deprimiert ihn. Dann wieder packt ihn die
Wut, und er entdeckt, wie Anfang der
neunziger Jahre, dass die Bagger gerade
dabei sind, das Haus zu zerstören, in dem
der Prophet gelebt haben soll, bevor ihm chenen Weltmacht, gegen die das Königdie Offenbarung zuteil wurde. Streit mit reich vor 25 Jahren seine jungen Wahhaden Bin Ladens folgte: Mit Osamas Bru- biten nach Afghanistan in den Krieg
der Salim, sagt Angawi, dem genialischen, schickte, soll jetzt die Gefahren verdeut1988 verunglückten Chef der Firma, habe lichen, die in dogmatischer Verknöcheman reden können, mit dessen Bruder rung liegen: „Wer könnte ernsthaft behaupten, dass das, was Stalin tat, auch
und Nachfolger Bakr nicht.
Am Ende kam ein Kompromiss heraus: das war, was Marx sich einst ausgedacht
Angawi durfte die Fundamente des Pro- hatte?“, fragt Madani.
Wer ist dann aber der Stalin des Wahpheten-Hauses archäologisch dokumentieren, dann wurde die Stätte mit Sand habismus? Osama Bin Laden? Die Betonzugeschüttet. Heute steht, keine 50 Meter Theologen in Riad?
„Das Schöne ist“, übergeht er die Frage,
entfernt, eine öffentliche Toilettenanlage
„dass der Mensch zuletzt doch klüger ist
an der Stelle.
„Das hier ist das Herz des Islam“, sagt als die Ideologen, im einen wie im andern
er und deutet auf ein Bauloch direkt ne- Fall.“ Der Widerstand gegen die Fundaben der Großen Moschee, an dem mit mentalisten werde siegen, der unbewegschwerem Gerät gearbeitet wird. „Wenn liche Block des Wahhabismus löse sich
die Israelis in Jerusalem einen Stein am auf, allein der Schock des 11. September
Tempelberg verrücken, geht ein Aufschrei 2001 habe keinen Stein auf dem anderen
durch die Welt des Islam. Zu Recht. Und gelassen.
Nichts aber, stimmt ihm der Anthropohier?“
Auch andere Herrscher hätten in Mek- loge Abdullah Bakader, 60, zu, sei für
ka gebaut, die Kalifen, die Abbasiden, den Islam gesünder als das kreative Chaos
die Osmanen. Doch niemand habe je alles der heiligen Stadt. Im Auftrag des Königs
ausgelöscht, was vorher war. „Was hier hat der Wissenschaftler begonnen, eine
passiert, ist eine Herzoperation mit einer Datenbank aller Autoren und aller Texte
Bohrmaschine. Wir beleidigen unsere aus der Geschichte Mekkas anzulegen –
eigene Geschichte. Wir sind am Ground ein „Who’s who?“ der heiligen Stadt und
ein Generationenprojekt, in dem, wenn
Zero unserer Identität.“
Noch, sagt er, seien die vielen Erschei- es denn erst einmal abgeschlossen ist, sich
nungsweisen seiner Religion nicht wieder die strengen Fatwas von heute so lesen
heimisch geworden in seiner Geburts- werden, wie sich heute die Texte der ersstadt. Es gab Zeiten, da haben Frauen in ten Wahhabiten lesen.
„Wir haben Gelehrte aus Samarkand
Mekka Theologie gelehrt. Es gab Zeiten,
da hatten die Hanafiten, die Schafiiten, gefunden, die im zehnten Jahrhundert
die Malikiten und die Hanbaliten – alle von den hübschen Mädchen vor der
vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam Kaaba schwärmten. Wir fanden Chroni– ihre eigenen Seminare hier, ganz vorn ken des mittelalterlichen Soziologen Ibn
an der Moschee, und ihre Meisterprediger Chaldun aus Tunis, der auf seinen Reisen
kamen für ein halbes Jahr zum Beten und hier war und gegen seine verbohrten
zum Streiten: „Vorbei“, sagt der Kritiker Zeitgenossen wetterte.“ Es gab Zeiten,
Angawi: „Der Wahhabismus ist in der Re- in denen sich die Konfessionen des Islam
ligion, was Bin Laden im Bauwesen ist: so spinnefeind waren, dass sie nicht
der Architekt, der Statiker, der Bauherr, einmal miteinander beteten. Und dann
gab es Zeiten, in denen eine Gruppe so
der Entscheider – alles in einem.“
Angawis Thesen kratzen an der Staats- dominierte, dass alle anderen das Weite
räson des Königreichs. Hohe Regierungs- suchen mussten.
Das Pendel in der heiligen Stadt
beamte lächeln gequält, wenn sein Name
fällt. Der ehemalige Pilger- und Kultur- schwang immer zwischen Einheit und
minister Ijad Madani setzt dagegen, es Vielfalt hin und her. Bakaders Vorfahren
müsse über Einheit und Vielfalt im Islam kamen, wie die Bin Ladens, aus dem Jediskutiert werden. Denn die verloren- men; die seines ehemaligen Studenten
gegangene Mannigfaltigkeit in seinem Kö- Dschamil Fallata, der die Worte des Pronigreich beschäftige auch den König und fessors gleich für die Datenbank festhält,
kommen aus Westafrika: „Wir beide hier
Wächter der beiden heiligen Stätten.
Der Wahhabismus, sagt Madani philo- sind Mekka“, sagt der Wissenschaftler.
Und beide sehen in dieser Stadt einen
sophisch, habe als eine Revolution begonnen – gegen den grassierenden Aberglau- Umschlagplatz, einen Durchlauferhitzer
ben, der Arabiens Hinterland vor 200 Jah- des Islam: Über Mekka sind Keramikmusren prägte. „Doch wie wir wissen, neigen ter aus Buchara nach Marrakesch gelangt,
revolutionäre Bewegungen dazu, über die nigerianische Gebetsketten nach Bosnien,
Jahre immer unerbittlicher zu werden indonesische Freiheitskämpfer aus den
und den Menschen in eine Gussform pres- Niederlanden nach Jakarta – und die Masen zu wollen. Auch unsere Revolution laria von Indien nach Russland.
ist immer dogmatischer geworden.“
„Die Puristen hatten nie wirklich eine
Überraschend ist die Analogie, die ihm Chance in Mekka“, sagt Bakader. „Nieeinfällt – der Kommunismus. Ausgerech- mand kann Mekka kontrollieren.“
net die Ideologie jener zusammengebroBernhard Zand
d e r
s p i e g e l
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