Titel Der Marktplatz der Muslime Mekka, die heilige Stadt des Islam, ist eine der unzugänglichsten und zugleich offensten Metropolen der Welt. Ausgerechnet in Saudi-Arabien, der Heimstatt des Dschihadismus, trifft der Islam auf die Globalisierung. Es ist ein Ringen um die Zukunft der Weltreligion. m Mitternacht machen sich die ersten Gläubigen auf den Weg. Das Morgengebet in Mekka beginnt um 5.30 Uhr früh, schon Stunden vorher ist die Autobahn von der Hafenstadt Dschidda hinauf in die Berge des Hedschas dicht. Männer, die meisten in das Pilgergewand aus zwei nahtlosen weißen Tüchern gehüllt, Frauen in schwarzen Abajas, mit schlafenden Kindern im Arm, die Scharen aus der ganzen Welt U 88 des Islam, Araber, Afrikaner, Asiaten, be- bahn gespanntes, zehn Meter hohes Portrachten einander müde aus den Fenstern tal und eine kleine maurische Säule die amerikanischer Limousinen und Reise- Grenze zum heiligen Bezirk. Die Pilger busse. Keiner hupt, keiner drängt. Es ist richten sich in ihren Sitzen auf: „Hier bin eine stille, andächtige Karawane auf ich, Gott“, beginnen sie ihre Gebete, ihrem Weg durch eine vom Halbmond „hier bin ich zu Deinem Befehl.“ Brücken wechseln mit Unterführungen beschienene Wüstenlandschaft. Jahraus, jahrein zieht sie hinauf, nie reißt der Pil- ab, Rampen mit Tunnels und eilig hinbetonierten Autowerkstätten. Dann endet gerstrom ab. Eine letzte Senke, eine letzte Anhöhe für die meisten die Fahrt in einem unternoch, dann markieren ein über die Auto- irdischen Busbahnhof im Zentrum. Die d e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 Pilger sind am Ziel: Mekka, die heilige Stadt des Islam. Es fühlt sich an wie die Hölle. Die eben noch andächtig Betenden sind plötzlich eingetaucht in ein Inferno aus rotem Neonlicht, aus Lärm und Staub, aus Hitze und Dieselgestank. Acht JetFans, Ventilationsmaschinen, so groß wie Flugzeugmotoren, dröhnen an der Decke; Reisebusse drücken Autos zur Seite, Autos die Fußgänger. Polizisten mit Atem- MOHAMMED SALEM / REUTERS Große Moschee mit Kaaba, Shopping- und Hotelkomplex in Mekka masken und Ohrenschützern brüllen Kommandos. Dazwischen, mit weit aufgerissenen Augen nach den Ausgängen suchend, Männer, Frauen, Kinder, Humpelnde, Hustende, Alte in Rollstühlen. Auf den Treppen ins Freie löst sich allmählich der Ruf des Muezzins aus dem Lärm. 5.30 Uhr. Unwillkürlich bleiben die oben Angekommenen einen Augenblick lang stehen. Zur Rechten: ein 24-stöckiger Marmor- und Glasquader, das Intercontid e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 nental-Hotel Dar al-Tawhid, wörtlich: „Haus des Monotheismus“. Daneben: das Makkah Hilton&Towers, kürzlich renoviert in arabisiertem Art déco mit hölzernen Erkern bis in die 28. Etage hinauf. Ganz oben eine Uhr mit dem Schriftzug des Schweizer Uhrenherstellers Omega, unten der Eingang zu einer ShoppingMall, die Schilder von Fast-Food-Restaurants: Kentucky Fried Chicken, Hardee’s, House of Donuts. Zur Linken, wie ein Gebirge alle anderen Wolkenkratzer dominierend, die sieben Türme des Abraj-al-Bait-Komplexes, sechs davon fertig, bis zu 48 Etagen hoch, einer noch im Bau: Auch dies ist ein Uhrturm, der dem Big Ben in London nachgebildet ist, allerdings mehr als sechsmal so hoch, mit einem Ziffernblatt, das 43 Meter misst. Es wird, nach seiner Fertigstellung diesen Winter, mit 601 Metern das zweithöchste Gebäude der Welt sein. „Wo ist die Kaaba?“, fragt, verwirrt und vom Flutlicht geblendet, ein türkischer Pilger. Die Kaaba, der von schwarzen Tüchern umhüllte Kubus, den der Patriarch Abraham, Stammvater der Muslime wie der Israeliten, errichtet haben soll, das Heiligtum, um das der Prophet Mohammed Krieg führte, der Ort, zu dem sich seit 14 Jahrhunderten die Muslime beim Gebet hinwenden – die Kaaba ist das Letzte, das die Pilger zwischen den Baustellen, Hochhäusern und Einkaufslandschaften des modernen Mekka zu Gesicht bekommen. Doch die Kaaba ist jener Ort, ohne den kein Pilger käme. Sie muss er sehen, siebenmal umrunden und möglichst auch berühren, wenn er einem der fünf Grundgebote seines Glaubens folgen will – genau dafür kommt er, zur Umra und zum Hadsch, zur kleinen und zur großen Pilgerfahrt. In Mekka al-Mukarrama, der gebenedeiten Stadt des Islam, zählen Gebete hunderttausendfach. Mekka ist nicht, wie die Stadt Jerusalem, ein politisches Symbol, um dessen Herrschaft Juden, Christen und Muslime seit Jahrhunderten ringen. Es ist nicht, wie Rom, Regierungssitz und Verwaltungshauptstadt einer Weltreligion. Mekka ist weniger und mehr zugleich: Mittelpunkt des islamischen Universums und Kern des individuellen Glaubens. Es ist kein Thron, kein Kirchenfürst, von dem diese Weihe ausgeht. Sie geht vom Ort selbst aus, von den ewigen Koordinaten der Kaaba, um die Tag und Nacht die Pilger kreisen. Und nun soll Mekka, so haben die Hüter der heiligen Stätten beschlossen, noch einmal neu entstehen, zum Ruhme Gottes glänzen und alles in den Schatten stellen, was die Moderne auf anderen Kontinenten hervorgebracht hat. Vor einem Menschenalter noch war das Wadi, in dessen Talgrund die Kaaba steht, bei jedem Regenguss meterhoch überflutet. Heute 89 Titel ist dieser Talgrund das teuerste Stück Bauland der Welt, ein Quadratmeter hier kostet doppelt so viel wie vor dem Casino von Monte Carlo. „Mekka“, zitierte das Wirtschaftsmagazin „Arabian Business“ einen Investmentbanker, „ist so ziemlich die krisensicherste Anlage, die sich heute finden lässt. Mekka hat immer Saison.“ Doch damit steht die heilige Stadt auch für die Suche des Islam nach dem rechten Weg zwischen Glaubensstrenge und Weltlichkeit. Für die Herrscher Saudi-Arabiens ist diese Stadt ein widerspenstiger Ort, zugleich Kronjuwel und Pfahl im Fleische des Wahhabismus, einer der striktesten und unerbittlichsten Auslegungen des Islam. Denn das Königreich muss auch allen anderen Richtungen dieser Religion Gastgeber sein, den gemäßigten, aber auch jenen, die eine noch dunklere Gottesfurcht verbreiten wollen. Mekka ist das Amalgam all dieser Unvereinbarkeiten. Hier treffen Islam und Globalisierung aufeinander, Einheit und Vielfalt, Scholastik und Logistik, Glaube und Geldgier. Hier wird sich erweisen, ob diese Religion und die Kultur, die sie hervorgebracht hat, sich wieder einklinkt in die Weltgeschichte: ob sie ihre flachen Hierarchien, ihr entspanntes Verhältnis zum Handel und zum Geldverdienen, ihr profundes Desinteresse an Herkunft und Klasse zum Fortschritt der Muslime nutzen kann. Oder ob ihre Anfälligkeit für Extremismus, ihr ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt und ihr antiquiertes Frauenbild sie weiter Fremdling bleiben lassen in der Moderne. Das ganze Leben frommer Muslime ist nach Mekka ausgerichtet. In welcher Richtung die Stadt des Propheten liegt, ist das Erste, was ein Gläubiger herauszufinden versucht, wenn er an einem unbekannten Ort ankommt. Wenn er als Kind zu beten lernt, zeigen ihm die Imame in der Moschee die Kibla, die Gebetsnische, hinter der, und sei es in 20 000 Kilometer Entfernung, Mekka liegt. Und wenn sie den Verstorbenen zu Grabe tragen, dann wird sein Kopf in Richtung Mekka liegen. Das Ziel der Pilger ist, aller profanen Ablenkung, allem Kommerz zum Trotz, ein Ort der Reinheit und der Reinigung. Der „Ihram“, der Weihezustand, in den der Pilger sich vor den Toren der Stadt versetzt, verbietet ihm zu fluchen, sich einzucremen, sich zu rasieren, sich die Nägel zu schneiden oder zu onanieren. Er darf nicht jagen, keine Waffen tragen, keinen lebenden Halm abbrechen, er darf buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun. Dieses strikte Verbot, sich an der Schöpfung zu vergehen, diese Botschaft des Friedens klingt merkwürdig leise in dieser dröhnend kriegerischen Zeit. Denn Mekka ist das Zentrum einer Weltreligion, die mit sich ringt. Neun Jahre nach der Katastrophe des 11. September 2001 wirkt dieser 90 Pilger vor der Kaaba während des Hadsch 2008: „Wir müssen uns gegen das Eindringen fremden, Akt des Terrors so unverändert nach wie men: die Burka, das Minarett, die Moschee die Exzesse, die ihm folgten, von Bali bis – vom New Yorker Ground Zero bis in die Beslan, von Mumbai bis Madrid, von Lon- hintersten Täler der Schweiz verbreiten don bis Stockholm, das bei einem Bom- die sichtbaren Zeichen des Islam ein anbenanschlag am vorvergangenen Samstag haltendes Gefühl der Bedrohung. Vor einer „Islamisierung Amerikas“ warnen in den nur knapp einer Katastrophe entging. Es ist ein Ringen um die Frage, wer USA die Gegner eines islamischen Zenden Islam dominiert: die breite Mehrheit trums an der Südspitze von Manhattan, der Gläubigen oder die Fanatiker, deren eine schleichende Unterwanderung, ein „Eurabia“, in dem binnen Generationen mehr Muslime als Christen leben werden, „Hier bin ich, Gott“, sagen Populisten in Europa voraus. beten sie, „hier bin ich zu Wie viel auch immer die eigenen ÄngsDeinem Befehl.“ te des Westens vor ökonomischem Machtverlust und demografischem Niedergang zu diesem Unbehagen beitragen mögen Ideologie genau hier, im Königreich – eines ist nicht zu leugnen: Der DschihaSaudi-Arabien, ihren Anfang nahm und dismus ist nicht besiegt. Die Qaida ist die seit einem Jahrzehnt fast jeden Monat gefährlichste Terrorbewegung der Gegenweltweit Dutzende Menschenleben for- wart, und sie prägt seit einem Jahrzehnt dert – die meisten von ihnen muslimische das Bild einer Religion, die als aggressiv, Menschenleben. als rückschrittlich und gefährlich wahrgeKein Schurkenstaat, kein feindliches Im- nommen wird. perium löst im Westen solche Ängste aus Aber stimmt dieses Bild noch? Bewie der Islam, kein Feindbild kann es heute schreibt es die Gesamtheit eines Kulturmit den Symbolen dieser Religion aufneh- raums, der von den Archipelen Indoned e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 MOHAMMAD KHEIRKHAH / UPI / LAIF feindlichen Gedankenguts wehren!“ siens bis zum Atlantik, von den afrikanischen Steppen bis in den Kaukasus reicht – und den die Globalisierung in den vergangenen Jahren gewiss noch viel stärker verändert hat als den vergleichsweise statisch gebliebenen Westen? Eine neue Generation von Gläubigen hat seit den Anschlägen von New York und Washington ihr Selbst- und ihr Weltbild geformt. Sie sind fromm und modern, konservativ und kritisch, sie sind so ungleich wie die Pilger, die im Busbahnhof von Mekka aus den Autos steigen. Der Islam verbindet sie, und für die meisten von ihnen ist es ein anderer Islam als der, vor dem sich der Westen fürchtet. Vor allem aber: Es ist nicht nur ein einziger Islam. Es sind deren viele. Auf 1,57 Milliarden Menschen, stellt eine Studie des Pew Research Center in Washington fest, ist die Zahl der Muslime im vergangenen Jahr gestiegen. Das ist etwa ein Viertel der Weltbevölkerung. Nur jeder fünfte von ihnen stammt aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Nur jeder fünfte spricht Arabisch. Die vier größ- ten muslimischen Gemeinden der Welt sind die von Indonesien, Pakistan, Indien und Bangladesch. In Russland allein leben mehr Muslime als in Libyen und Jordanien zusammengenommen, in China mehr als in Syrien – und in Deutschland mehr als im Libanon. In Mekka ist diese Vielfalt zu besichtigen. Sie drückt sich aus in Hautfarben, in Gesichtern, in Kulturen und Lebensstilen. Es ist eine Vielfalt, so der iranischamerikanische Politologe Vali Nasr, die von unten kommt und nach oben strebt. Der verordnete Säkularismus des 20. Jahrhunderts, so Nasr in einem wegweisenden Buch über den Aufstieg der „neuen muslimischen Mittelklasse“, habe in der islamischen Welt seinen Glanz verloren – der verordnete Fundamentalismus aber nicht minder: „Die muslimische Welt ist dabei, sich auf etwas ganz anderes einzurichten: auf Pluralismus.“* * Vali Nasr: „The Rise of Islamic Capitalism. Why the New Muslim Middle Class Is the Key to Defeating Extremism“. Free Press, New York; 320 Seiten. d e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 Der Islam sei „nicht wegen der Extremisten, die in seinem Namen Gewalt verbreiten, zur Weltreligion geworden – sondern wegen seiner kulturellen Diversität“. Und, so schreibt Nasr: „Es werden nicht säkulare Diktatoren oder aufgeklärte Geistliche sein, die den muslimischen Extremismus bezwingen, sondern Unternehmer und Geschäftsleute.“ Die Völker der islamischen Welt sind jung (mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Nahen Osten ist jünger als 25 Jahre), und sie wollen teilhaben an einer Moderne, die sie ebenso verunsichert wie fasziniert. Viele junge Muslime sind ihr Stigma im Westen so leid wie den Terror der Qaida, der ihnen dieses Stigma eingetragen hat. Sie marschieren nicht mit den Kohorten der organisierten Islamisten. Aber sie gehen, als Männer, selbstverständlich zum Gebet, als Frauen tragen viele von ihnen das Kopftuch, selbst wenn sie dazu in den Shopping-Malls von Dubai oder an der Corniche von Beirut niemand zwingt. Der Islam ist das Zentrum ihrer Identität, er diktiert bis in die Twitterund Facebook-Einträge ihre Sprache. Noch hat diese Bewegung keinen Namen, doch die Autoritäten, die alten Herren des Patriarchats, spüren ihre Kraft genau. Auf Websites wie „muftisays.com“ oder „fatwa-online.com“ gibt sie Antworten auf Fragen, die traditionelle Scheichs ihnen schuldig bleiben. In den Vereinigten Arabischen Emiraten geht der Ökologe Abd al-Asis Al Nuaimi gegen die Verschwendungssucht seiner Landsleute vor und propagiert einen „grünen Dschihad“. In Dubai hat die vollverschleierte Eheberaterin Widad Lutah einen Beziehungsratgeber veröffentlicht, in dem sie das Vorurteil genereller Lustfeindlichkeit des Islam widerlegt: Oralsex sei – jedenfalls unter Verheirateten – nach den Quellen der Schrift erlaubt. In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten islamischen Land der Welt, predigt der Televangelist Abdullah Gymnastiar seit Jahren über moralische Betriebswirtschaft, ethisches Verhalten am Arbeitsplatz und die Tugend der Höflichkeit. Er ist selbst erfolgreicher Unternehmer. Als einen „Yuppie-Islam“, einen Abklatsch der reinen Lehre, diffamieren radikale und traditionelle Gelehrte das Phänomen. Ihre Sorge ist begründet, denn die neue, selbstbewusste Glaubensbegeisterung trägt die Veränderung bis in die Amtsstuben des erzkonservativen Königreichs Saudi-Arabien hinein. Im vorigen Jahr entließ König Abdullah einen Obersten Richter, der dazu aufgerufen hatte, Fernsehmacher umzubringen, die im Ramadan „unmoralische“ Serien ins Programm stellen. Wenig später feuerte er ein Mitglied des einflussreichen Gelehrtenrates, das sich dagegen ausgesprochen 91 Titel hatte, junge Männer an einer neuen Universität bei Dschidda gemeinsam mit jungen Frauen auszubilden. Die Scharia, die Frauen: Nirgendwo ist der Graben zwischen dem fundamentalistischen Islam und seinen liberaleren Spielarten so tief wie an diesen beiden Fronten – und nirgendwo ist so deutlich zu sehen, wie viel in den Jahren seit dem 11. September in Bewegung geraten ist. Fassungslos nimmt der Rest der Welt immer wieder barbarische Urteile muslimischer Richter zur Kenntnis: Im Sudan ließen sie 1994 zwei zum Christentum konvertierte Männer erst hinrichten und dann kreuzigen, in Ägypten verurteilten sie 1995 den angesehenen Koran-Forscher Nasr Hamid Abu Said zur Zwangsscheidung von seiner Frau (das Paar entzog sich der Vollstreckung durch Flucht in die Niederlande); in Saudi-Arabien wurde ein junger Mann zu 1000 Peitschenhieben verurteilt, weil er im Fernsehen mit seinen erotischen Eroberungen geprahlt hatte; in Iran windet sich das Regime gerade, das Steinigungsurteil für Sakine Mohammadi Aschtiani als ein „symbolisches“ Verdikt auszugeben, das gar nicht vollzogen werden soll. Aber ist ein Rechtsbewusstsein, dem solche Urteile entspringen, überhaupt reformierbar? Wie soll ein moderner Rechtsstaat auf dem Fundament einer heiligen Schrift gebaut werden, die fordert, Es dauerte nur Minuten, bis die ersten Leichen auf dem Marmor des Moscheehofs lagen. Dieben seien die Hände abzuhacken und Ehebrecherinnen auszupeitschen oder zu steinigen? Gerade das Strafrecht aber, die wichtigste Domäne der Fundamentalisten, gerate unter dem Einfluss der Globalisierung unter Druck, sagt der Erlanger Jurist, Islamwissenschaftler und führende deutsche Scharia-Experte Mathias Rohe: „Die Ideen sind mobil geworden. Nicht nur die Gelehrten – jeder redet heute mit.“ Der islamische Rechtsdiskurs erlebe derzeit einen „Quantensprung“ wie seit dem 9. Jahrhundert nicht mehr, eine nie dagewesene „Pluralisierung der Argumente“. Von modernen Denkern wie dem türkischen Theologen Yaşar Nuri Öztürk bis zu islamistischen Haudegen wie dem Sudanesen Hassan al-Turabi und dem ägyptisch-katarischen Fernsehprediger Jussuf al-Karadawi wächst das Unbehagen an einer Koran-Auslegung, die sklavisch am Buchstaben klebt. „Idschtihad“ ist das Schlagwort, das von etablierten Autoritäten bis zu Islam-Bloggern viele Muslime heute verbindet: die Fähigkeit zu selbständigem Urteilen und Forschen. 92 d e r Und unter den Urteilenden und Forschenden sind zum Verdruss der Traditionalisten immer mehr Frauen. Die Abiturergebnisse der Mädchen in Saudi-Arabien sind so viel besser als die ihrer männlichen Altersgenossen, dass die traditionelle „Liste der besten 100“ seit einigen Jahren nicht mehr publiziert wird – es standen zuletzt nur eine Handvoll junger Männer darauf. Zwei Drittel der Studierenden in Saudi-Arabien sind Frauen. Das ist die eine Realität. Die andere erfuhr Dr. Mohammed al-Sulfa, als er vor einigen Jahren als Abgeordneter des saudi-arabischen Konsultativrates einen Gesetzentwurf einbrachte, der Frauen endlich das Recht einräumen sollte, selbst Auto zu fahren. „Mein Telefon klingelte ununterbrochen“, sagt er. Was eine Frau denn machen solle, wenn ihr Auto liegenbliebe, fragte ihn ein Anrufer. „Na, was schon“, fragte Sulfa zurück. „Den Pannendienst anrufen.“ Darauf der Anrufer: „Findest du denn, Frauen sollen eigene Mobiltelefone besitzen?“ Noch ist nicht entschieden, wer die Oberhand behält, der Reformer Sulfa oder seine empörten Anrufer. Der Ausgang dieses Kulturkonflikts ist offen, in Saudi-Arabien ebenso wie in der islamischen Welt insgesamt. Es wird ein unübersichtliches Gemenge, doch wenn es einen Ort gibt, an dem alle Parteien aufeinanderstoßen, die religiösen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen, dann ist es Mekka, der Marktplatz der Muslime, eine der unzugänglichsten und zugleich offensten Städte der Welt. Aus Mekka gingen – lange vor dem 11. September – die ersten Bilder um die Welt, die vom zerstörerischen Potential des Fundamentalismus kündeten: Am Morgen des 20. November 1979, dem ersten Tag des 15. islamischen Jahrhunderts, besetzte eine Gruppe schwerbewaffneter Islamisten die Große Moschee. Ihr Anführer Dschuhaiman al-Utaibi, ausgebildet von höchsten religiösen Würdenträgern des Königreichs, entriss dem Vorbeter das Mikrofon und teilte den Pilgern mit, dass er ihnen nun den Mahdi präsentiere – den prophezeiten Erlöser, der gekommen sei, um die Welt vom Unrecht zu befreien. Es dauerte nur Minuten, bis die ersten Schüsse fielen und die ersten Leichen auf dem weißen Marmor des Moscheehofs lagen, es sollte zwei Wochen dauern und Hunderte Menschenleben kosten, bis die Kaaba befreit war – zur Schande ihrer Hüter: Die Saudis mussten Ausländer um Hilfe bitten, französische Spezialagenten leiteten die Einsatzgruppen. Erst nach 2001 dämmerte der Welt, dass damals die Saat für den modernen Dschihadismus und für den Todeskult der Qaida gelegt worden war: die Forderung der Terroristen – heiliger Krieg dem Westen und dem mit ihm im Bunde ste- s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 Lagezentrum der Polizei in Mekka VERONIQUE DE VIGUERIE / GETTY IMAGES BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL Der Dschihadismus ist nicht besiegt henden Haus Saud – war exakt die Botschaft, die Osama Bin Laden bis heute predigt. Mekka selbst, die Stadt, in der die arabischen Terroristen Dolmetscher gebraucht hatten, um den Pilgern aus aller Welt ihre Befehle verständlich zu machen, blieb davon unberührt, wandte sich wieder seinem Geschäft zu, die Pilger zu beherbergen und ihnen Andenken an ihre Wallfahrt zu verkaufen. Acht Millionen Gläubige kamen 1980, etwa 12 Millionen waren es in diesem Jahr, an die drei Millionen zum Hadsch im November. Diese Zahlen, schätzt das zuständige Ministerium, werden sich in den nächsten zehn Jahren vervierfachen. Die Zahl der Muslime steigt weiter, vor allem aber steigt die Zahl derer, die in der Lage sind, sich eine Pilgerfahrt zu leisten. Nur ihnen legt der Koran diese Pflicht auf, und Mekka empfängt sie alle: Das im Westen scheinbar einheitliche Gesicht des Islam fällt hier in seine Teile auseinander. Es kommen Männer wie der Eisendreher Mohammed Chalifa, 63, aus Alexandria, der mit fünf anderen Ägyptern den heiligen Berg Arafat hinaufstapft, nach jeder dritten Stufe innehält, „mein Gott, mein Gott“ keucht und oben sein Frühgebet spricht. Es kommen Frauen wie Dr. Rashida Carrim, 58, aus Durban in Südafrika, die das Penthouse 2826 im Hilton gebucht hat. Ihr Mann folgt ihr mit einem kleinen schwarzen Rollkoffer: Da sind die Medikamente drin, welche die an Krebs Erkrankte für ihre Chemotherapie braucht. „Ich habe keinen Zweifel“, sagt sie, „dass mir diese vier Wochen helfen werden.“ Es kommen Ehepaare wie Bassam, 50, und Marjam Ibrahim, 43, gebürtige Palästinenser, inzwischen Software-Entwickler in Houston, Texas. Er, barfuß und im Pilgergewand, führt seine Frau vom König-Fahd-Tor der Großen Moschee auf einen Laden zu, in dem kanisterweise Wasser aus der heiligen Samsam-Quelle verkauft wird. Es kommen Männer wie der Fernsehprediger Jussuf al-Karadawi, der eine Gelehrtenkonferenz im Königspalast von Mekka zuruft: „Wir müssen uns gegen das Eindringen fremden, feindlichen Gedankenguts wehren!“ Und es kommen Männer wie der kenianisch-britische Muslim-Aktivist Fuad Nahdi, der auf der gleichen Konferenz sagt: „Wir haben ein Problem, das über unsere Religion weit hinausgeht. Wenn ich in Saudi-Arabien meinen Töchtern ein Eis kaufe, bestimme ich, ob sie Erdbeere oder Vanille nehTaliban-Kämpfer in Afghanistan Heiliger Krieg dem Westen 93 GRASSANI / INVISION / LAIF (O.L.); MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF (O.R. + U.R.); ALI JAREKJI / REUTERS (U.L.) Moderne Muslime in Kisch (Iran), Kairo, Mekka, Dubai: Der Islam diktiert bis in die Twitter- und Facebook-Einträge ihre Sprache men. Wenn ich in Großbritannien bin, frage ich sie vorher, was sie möchten.“ Es kommen Gemäßigte und Radikale, Sunniten und Schiiten, Hanafiten, Ibaditen, Ismailiten, hippe junge Muslime aus London und Frankfurt, kriegserfahrene Scheichs aus Kaschmir und Somalia. Sie beten, sie shoppen, sie streiten mit den Mekkanern um astronomische Hotelrechnungen und mit Glaubensbrüdern, deren Sprache sie nicht sprechen, wo genau beim Gebet die Hände zu halten seien – ob am Ohr, wie in Bosnien, oder an der Schulter, wie am Golf. Wenn es nach dem Emir von Mekka geht, Prinz Chalid Bin Faisal Al Saud, 69, dann wird seine Geburtsstadt der Welt in den nächsten Jahren ein Lehrstück in Fortschrittlichkeit erteilen. Chalid ist der Sohn des 1975 ermordeten Königs Faisal, der selbst als Gouverneur in Mekka begann, und Enkel des Staatsgründers Ibn Saud. Ihm gehört die liberale Tageszeitung „Watan“, und er ist Generaldirektor der King Faisal Foundation, einer der größten philanthropischen Stiftungen der Welt. 94 Männer seines Geblüts zucken, wenn jemand sagt, der Islam habe die Moderne verpasst. Vor drei Jahren ernannte ihn sein Onkel König Abdullah zum Gouverneur der Westprovinz, nun zieht er ein Papier aus seiner Schublade und sagt: „Das ist mein Plan. Wir werden eine moderne Stadt bauen. Wir fangen noch einmal ganz von vorn an.“ Sie sind ihr Stigma im Westen so leid wie den Terror, dem sie dieses Stigma verdanken. Der Prinz gilt als Reformer. Er hielt sich vor neun Jahren nicht mit der Frage auf, ob 15 der 19 Attentäter des 11. September tatsächlich aus Saudi-Arabien stammten oder nicht, stattdessen zog er gegen die „abartigen Ideen“ der Fundamentalisten zu Felde, die sich in „unsere Schulen, Fakultäten, Privathäuser und überhaupt in die Gesellschaft eingeschlichen haben“. d e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 Er und sein Bruder, Außenminister Saud Bin Faisal, sind treibende Kräfte des Prozesses, den der König vor drei Jahren mit einem Besuch beim Papst in Rom begann und der sich, nach Konferenzen in Mekka und Madrid, zu einem „Dialog der Zivilisationen“ entwickeln soll. Von einem „Dialog der Religionen“ ist vorläufig noch nicht die Rede, weil Saudi-Arabiens Ulama, die Rechtsgelehrten, Hindus und Buddhisten für gottlos halten. Und weil von einer Gleichberechtigung der Religionen keine Rede sein kann, solange an jeder Einfahrt nach Mekka ein Schild darauf hinweist, dass der Zutritt zur heiligen Stadt nur Muslimen gestattet ist. Noch immer ist es verboten, eine Bibel nach Saudi-Arabien zu bringen, noch immer dürfen christliche Diplomaten nicht einmal in ihren exterritorialen Botschaften einen Gottesdienst feiern, werden Missionare mit drakonischen Strafen bedroht, noch immer ist der Bau einer Kirche im Königreich völlig undenkbar. Dennoch will der Prinz, wie der König, Saudi-Arabiens Verhältnis zum Islam auf Titel neue Grundlagen stellen. „Alles“, sagt der Prinz, „beginnt und endet an der Kaaba.“ Was er vorhat, ist eine komplette Neugestaltung Mekkas, für die in den kommenden zehn Jahren 100 Milliarden Dollar veranschlagt sind. Gleich von „ein paar hundert Milliarden“ in den nächsten 25 Jahren spricht Osama al-Bar, der Bürgermeister von Mekka. Er führt, in unmissverständlicher Symbolik, die Kaaba und einen Bulldozer im Wappen seiner Stadtgemeinde. Bar sitzt ungern im Büro, er residiert am liebsten unten vor der Großen Moschee, den Blick auf den nie abreißenden Strom der Pilger gerichtet. Alles, was er zum Management seiner Stadt benötigt, hat er griffbereit vor sich: ein Festnetztelefon, ein weißes Smartphone und vier seiner Leutnants, die sich, von links nach rechts vor ihm sitzend, um Sicherheit, Energie, Gesundheit und Finanzen kümmern. Der Bürgermeister hat an der Universität Nottingham Umwelttechnologie studiert, sein Englisch ist perfekt, doch mitunter ist nicht zu unterscheiden, ob er gerade „Mega“ oder „Mekka“ sagt. Drei „Mega-Projekte“ zählt er auf – und er spricht nur von denen, die bereits in Arbeit sind oder kurz vor dem Abschluss stehen. Da sind: ‣ die Westflanke des Wadi Mekka, das sogenannte Dschabal-Omar-Projekt. Hier sollen 39 Türme von 80 bis 200 Meter Höhe entstehen, dazu 9000 Parkplätze, 2400 Einkaufsläden, Hotels und Luxusappartements. Wie ein Amphitheater an den Hang gebaut, wird sich aus fast allen Wolkenkratzern der Blick auf die Große Moschee eröffnen; ‣ die Nordflanke des Wadi, die Schamija-Stadt. Hier sind 100 Wohntürme für 250 000 Menschen geplant, davor eine Plaza für 65 000 Betende und ein Wolkenkratzer so groß wie der LaDefense-Würfel in Paris; ‣ und schließlich die Südseite des Wadi, wo das Pilotprojekt des neuen Mekka kurz vor seinem Abschluss steht, die Turmkaskade Abraj alBait der König-Abd-al-AsisStiftung. Um für sie Platz zu schaffen, wurden hier vor neun Jahren ein Berg und eine Festung aus der Osmanenzeit geschleift; es gab diplomatische Verstimmungen mit der Türkei. „Selbst mein Büro wird abgerissen“, sagt Bürgermeister Bar. „Na und? Wir werden ein neues bauen.“ Inzwischen ragt an dieser Stelle ein riesiger Uhrturm empor, mit derzeit 550 Metern nur mehr zehn Etagen von seiner endgültigen Höhe entfernt. Selbst die sechs Wolkenkratzer, die ihn, je etwa 250 d e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 Meter hoch, einrahmen, sehen von der oberen Plattform aus wie Zwerge. Das ganze Ensemble, 1,5 Millionen Quadratmeter groß, ist ein brachiales Bauwerk – und Ausdruck des Selbstbewusstseins eines Ölstaats, an dem die Wirtschaftskrise der vergangenen zwei Jahre wie ein lauer Herbstwind vorübergegangen ist. Ganz oben tickt seit diesem Sommer die von einem schwäbischen Unternehmen gelieferte größte Turmuhr der Welt. „Wir wollen Greenwich Mean Time den Zeit-Standard von Mekka gegenüberstellen“, sagt Mohammed al-Arkubi, der Direktor eines der Hotels, die zum Komplex gehören. Shopping Malls und Restaurants, Suiten und Time-Share-Appartements mit KaabaBlick: Was bleibt, wenn das alles gebaut ist, eigentlich von Mekka übrig? Ein „LasVegas-Strip ohne Glücksspiel“, wie ein Architektur-Blogger kommentierte? Eine Art Dubai mit metaphysischem Mehrwert? Der Bürgermeister kennt diese Fragen, er zeigt auf zwei alte Stadtansichten, die in seinem Baucontainer hängen. „Pilger haben Bedürfnisse, und diese Stadt war immer auf der Höhe ihrer Zeit: Dieses Foto hier ist von circa 1870. Wo auf der Welt gab es damals sonst siebenstöckige Gebäude?“ Mekkas Anfänge liegen im Dunkeln, doch seit diese Stadt in Dokumenten er- Verbreitung des Islam Muslime in Prozent der Bevölkerung 90% und mehr 50% bis 90% 10% bis 50% unter 10% wähnt wird, war sie stets Pilger- und Handelsplatz zugleich. Leder, Goldstaub und Gewürze aus dem Jemen und Indien werden in der Spätantike durch die Bresche des Hedschas-Gebirges nach Syrien und weiter nach Europa gebracht; Leinen, Waffen und Getreide kommen zurück. Als sich Anfang des siebten Jahrhunderts nach Meinung der meisten Wissenschaftler – eine Minderheit hält den Propheten für geschichtlich nicht nachweisbar – Mohammed in Mekka einen Namen macht, liegen Byzanz und das persische Sasanidenreich, die beiden Supermächte ihrer Zeit, im Krieg; die antike Handelsroute über den Euphrat ist zu gefährlich. Davon profitieren Südarabiens Karawanenstädte, vor allem Mekka, die wichtigste von ihnen: Schon lange vor dem Islam treffen sich die Nomadenstämme der Region einmal im Jahr zu einer Handelsmesse, setzen ihre Kämpfe aus und regeln ihre Streitigkeiten. Sie umkreisen einen schwarzen Stein, wahrscheinlich einen Meteoriten, der, zusammen mit ein paar hundert anderen Kultgegenständen, in einem kleinen Steintempel aufbewahrt wird, der Kaaba. Um das Jahr 610 soll Mohammed seine ersten göttlichen Eingebungen empfangen haben. Die Botschaft des Koran findet sofort Verbreitung – vor allem unter den einfachen Leuten, den Barfüßigen, nicht unter den wohlhabenden Kaufleuten von Länder mit den meisten Muslimen Muslime in Millionen 174 161 145 74 203 79 Türkei 74 Iran 78 Pakistan Indien Ägypten Bangladesch Indonesien Nigeria Weltbevölkerung 2009 ca. 6,8 Mrd. davon muslimisch 1,4 Mrd. ca. 1,5 Quelle: Pew Research Center’s Forum on Religion & Public Life; Oktober 2009 davon christlich ca. 2,3 Mrd. 95 Mekka, deren Profitsucht und Vielgötterei der Prophet geißelt. Im Jahr 622, dem Beginn der islamischen Zeitrechnung, zieht er mit seinen Anhängern nach Medina. Von dort gelingt es dem Kaufmann, der nun zum Feldherrn und Religionsstifter aufsteigt, seine Geburtsstadt zurückzuerobern. Der Religionsgründer etabliert eine mächtige, in Teilen mit dem Alten Testament übereinstimmende Geschichte, die bis heute die Riten der Pilgerfahrt bestimmt: Demnach hat Abraham, nachdem er Satan trotzte, die Kaaba gebaut – an jener Stelle, an der seine Magd Hagar für ihrer beider Sohn Ismail nach Wasser suchte und jene Samsam-Quelle fand, die noch heute Wasser spendet. Mit der Ausbreitung des Islam steigen die Pilgerzahlen, und die Geschichte der Stadt Mekka – von den frühen Kalifen über die Umajjaden und Abbasiden bis zu den Osmanen – liest sich wie ein Wirtschaftskrimi, bei dem es vorwiegend um die Verteilung der Einnahmen geht, die der Besucherstrom mit sich bringt. Die Herrscher der einander ablösenden islamischen Reiche in Damaskus, Bagdad, Kairo und Istanbul investieren zwar in der heiligen Stadt, doch politisch spielt Mekka keine Rolle – bis nach dem Ersten Weltkrieg ein Beduinenfürst aus Zentralarabien die Wirren nutzt, um seinem entstehenden Reich auch den gebirgigen Küstenstreifen des Hedschas einzuverleiben: Sultan Abd al-Asis Ibn Saud, der künftige König von Saudi-Arabien. Als er am 5. Dezember 1924 Mekka im Pilgerkleid betritt, haben seine Soldaten in der Stadt eingesammelt und zerstört, was seine Vorgänger geduldet hatten, was unter dem neuen Regime nun aber des Teufels ist: Gitarren, Trommeln, Wasserpfeifen, Tabakvorräte. Abgerissen werden das Geburtshaus des Propheten, die Häuser seiner Frau Chadidscha und seines Nachfolgers Abu Bakr. Nach der Lehre des Wanderpredigers Mohammed Bin Abd al-Wahhab, dessen Nachfahren mit den Sauds im Bunde stehen, ist es Götzendienst, historische Denkmäler zu verehren, und Verkommenheit, zu musizieren oder zu rauchen. Da triumphiert eine beduinischstrenge Form der Religion, eine simple Theologie, die ihr harsches Schwarzweiß, ihre Sinnenfeindlichkeit und ihre Kargheit dem Leben in der arabischen Wüste schuldet. Die islamische Welt ist damals tief beunruhigt, ihre heilige Stadt von fanatischen Beduinen überrannt zu sehen. Gut 20 Jahre später, als das Königreich SaudiArabien fest etabliert ist, in der Ostprovinz die ersten Ölquellen sprudeln und die Schatullen des Hauses Saud allmählich überlaufen, merken die Ersten, dass in Mekka bald noch mehr Geld zu verdienen sein wird. 96 Uhrturm von Mekka: „Selbst mein Büro wird abgerissen, na und? – wir werden ein neues An der Seite des Königs taucht ein ehrgeiziger junger Mann auf, der aus dem Jemen zugewandert ist, als Gelegenheitsarbeiter in Dschidda begann und es zu einem erfolgreichen Bauunternehmer gebracht hat. Sein Name ist von nun an aufs engste mit der Geschichte von Mekka und Medina verknüpft – und 50 Jahre später, als er schon lange tot ist, mit einer Zeitenwende im Verhältnis der Muslime zum Rest der Welt: Mohammed Bin Awad Bin Laden. „New York ist etwas Physisches, Lhasa ist etwas Spirituelles. Mekka ist beides.“ Zwei Modelle, so groß, dass man auf ihren Granitsockeln selbst kleine Moscheen errichten könnte, stehen im Atrium der „Saudi Binladin Group“ in Dschidda – rechts die von Medina, links die von Mekka. Der Konzern baut Straßen, Eisenbahnen, Wolkenkratzer, er baut ganze Städte in Ägypten, Indien und Kasachstan, doch diese beiden Gebetshäuser, das ist die Botschaft an den Besucher, sind seine wichtigsten bleibenden Projekte. In dem Komplex haben zehn der Brüder von Osama Bin Laden ihre Büros. d e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 Seit der Staatsgründer den Firmengründer 1949 mit dem Umbau der Innenstadt von Medina betraute, waren stets mehr als die Hälfte der Bin-Laden-Ingenieure und -Arbeiter in den beiden heiligen Städten beschäftigt. Oft nahm der Alte seine Söhne mit, um ihnen das Werk seiner Abrissbirnen, Bagger und Betonmaschinen vorzuführen. Auch Osama war dabei und hat später anerkennend über die Leistung seines Vaters gesprochen. Mohammed Bin Laden hatte eine Lizenz zum Gelddrucken aufgetan: Auch wenn der Ölpreis tief stand – die Pilgerzahlen stiegen beständig. In einer stillen, von Platanen überschatteten Straße ein paar Kilometer vom BinLaden-Hauptquartier entfernt, wohnt ein Mann, der sich geschworen hat, den Bauherren von Mekka einen Strich durch ihre kühnen Pläne zu machen. Sein Zorn ist über die Jahre so gewachsen, dass er zu einem Wortspiel greift, das an Blasphemie grenzt: Was die Binladin Group in Mekka mache, sei „la din“, sagt er. „La“ heißt auf Arabisch Nein, „din“ heißt Religion. Für Sami Angawi, 60, sind die Bin Ladens gottlos. Angawi ist in Mekka geboren, als Spross einer wohlhabenden Familie von Pilgerführern. Es gibt wenig in seinem Alltag, von der Zuverlässigkeit seines deutschen Geländewagens bis zum Talent BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL Titel bauen“ seines Sohnes, eines Produkt-Designers, zu dem ihm nicht ein passender KoranVers einfiele. Er hat in Texas, London und in Stuttgart bei Frei Otto, dem deutschen Meister der Leichtbau-Architektur, studiert. Als er nach Saudi-Arabien zurückkam, gründete er ein Institut, das sich zum ersten Mal wissenschaftlich mit dem Hadsch befasste. Er vermaß die Pilgerströme, er schrieb Verkehrsstudien und Notfallpläne, er dokumentierte auf Abertausenden Fotos die von Christen angelegten Bewässerungssysteme, die marokkanischen Erker, die syrisch-byzantinischen Säulen, die indonesisch feinziselierten Holztüren der Stadt. Als die Terroristen 1979 die Große Moschee besetzten, war er der Einzige, der sofort die Baupläne bereit hatte, die dann zum Sturm der Anlage genutzt wurden. „New York“, argumentiert er, „ist etwas Physisches, Lhasa ist etwas Spirituelles. Mekka ist beides. Mekka ist das kollektive Gedächtnis der Muslime.“ Doch gegen die Beton-Lobby der Baukonzerne haben Angawis Bedenken keinen Bestand. Oft fährt er monatelang nicht nach Mekka hinauf, der Anblick deprimiert ihn. Dann wieder packt ihn die Wut, und er entdeckt, wie Anfang der neunziger Jahre, dass die Bagger gerade dabei sind, das Haus zu zerstören, in dem der Prophet gelebt haben soll, bevor ihm chenen Weltmacht, gegen die das Königdie Offenbarung zuteil wurde. Streit mit reich vor 25 Jahren seine jungen Wahhaden Bin Ladens folgte: Mit Osamas Bru- biten nach Afghanistan in den Krieg der Salim, sagt Angawi, dem genialischen, schickte, soll jetzt die Gefahren verdeut1988 verunglückten Chef der Firma, habe lichen, die in dogmatischer Verknöcheman reden können, mit dessen Bruder rung liegen: „Wer könnte ernsthaft behaupten, dass das, was Stalin tat, auch und Nachfolger Bakr nicht. Am Ende kam ein Kompromiss heraus: das war, was Marx sich einst ausgedacht Angawi durfte die Fundamente des Pro- hatte?“, fragt Madani. Wer ist dann aber der Stalin des Wahpheten-Hauses archäologisch dokumentieren, dann wurde die Stätte mit Sand habismus? Osama Bin Laden? Die Betonzugeschüttet. Heute steht, keine 50 Meter Theologen in Riad? „Das Schöne ist“, übergeht er die Frage, entfernt, eine öffentliche Toilettenanlage „dass der Mensch zuletzt doch klüger ist an der Stelle. „Das hier ist das Herz des Islam“, sagt als die Ideologen, im einen wie im andern er und deutet auf ein Bauloch direkt ne- Fall.“ Der Widerstand gegen die Fundaben der Großen Moschee, an dem mit mentalisten werde siegen, der unbewegschwerem Gerät gearbeitet wird. „Wenn liche Block des Wahhabismus löse sich die Israelis in Jerusalem einen Stein am auf, allein der Schock des 11. September Tempelberg verrücken, geht ein Aufschrei 2001 habe keinen Stein auf dem anderen durch die Welt des Islam. Zu Recht. Und gelassen. Nichts aber, stimmt ihm der Anthropohier?“ Auch andere Herrscher hätten in Mek- loge Abdullah Bakader, 60, zu, sei für ka gebaut, die Kalifen, die Abbasiden, den Islam gesünder als das kreative Chaos die Osmanen. Doch niemand habe je alles der heiligen Stadt. Im Auftrag des Königs ausgelöscht, was vorher war. „Was hier hat der Wissenschaftler begonnen, eine passiert, ist eine Herzoperation mit einer Datenbank aller Autoren und aller Texte Bohrmaschine. Wir beleidigen unsere aus der Geschichte Mekkas anzulegen – eigene Geschichte. Wir sind am Ground ein „Who’s who?“ der heiligen Stadt und ein Generationenprojekt, in dem, wenn Zero unserer Identität.“ Noch, sagt er, seien die vielen Erschei- es denn erst einmal abgeschlossen ist, sich nungsweisen seiner Religion nicht wieder die strengen Fatwas von heute so lesen heimisch geworden in seiner Geburts- werden, wie sich heute die Texte der ersstadt. Es gab Zeiten, da haben Frauen in ten Wahhabiten lesen. „Wir haben Gelehrte aus Samarkand Mekka Theologie gelehrt. Es gab Zeiten, da hatten die Hanafiten, die Schafiiten, gefunden, die im zehnten Jahrhundert die Malikiten und die Hanbaliten – alle von den hübschen Mädchen vor der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam Kaaba schwärmten. Wir fanden Chroni– ihre eigenen Seminare hier, ganz vorn ken des mittelalterlichen Soziologen Ibn an der Moschee, und ihre Meisterprediger Chaldun aus Tunis, der auf seinen Reisen kamen für ein halbes Jahr zum Beten und hier war und gegen seine verbohrten zum Streiten: „Vorbei“, sagt der Kritiker Zeitgenossen wetterte.“ Es gab Zeiten, Angawi: „Der Wahhabismus ist in der Re- in denen sich die Konfessionen des Islam ligion, was Bin Laden im Bauwesen ist: so spinnefeind waren, dass sie nicht der Architekt, der Statiker, der Bauherr, einmal miteinander beteten. Und dann gab es Zeiten, in denen eine Gruppe so der Entscheider – alles in einem.“ Angawis Thesen kratzen an der Staats- dominierte, dass alle anderen das Weite räson des Königreichs. Hohe Regierungs- suchen mussten. Das Pendel in der heiligen Stadt beamte lächeln gequält, wenn sein Name fällt. Der ehemalige Pilger- und Kultur- schwang immer zwischen Einheit und minister Ijad Madani setzt dagegen, es Vielfalt hin und her. Bakaders Vorfahren müsse über Einheit und Vielfalt im Islam kamen, wie die Bin Ladens, aus dem Jediskutiert werden. Denn die verloren- men; die seines ehemaligen Studenten gegangene Mannigfaltigkeit in seinem Kö- Dschamil Fallata, der die Worte des Pronigreich beschäftige auch den König und fessors gleich für die Datenbank festhält, kommen aus Westafrika: „Wir beide hier Wächter der beiden heiligen Stätten. Der Wahhabismus, sagt Madani philo- sind Mekka“, sagt der Wissenschaftler. Und beide sehen in dieser Stadt einen sophisch, habe als eine Revolution begonnen – gegen den grassierenden Aberglau- Umschlagplatz, einen Durchlauferhitzer ben, der Arabiens Hinterland vor 200 Jah- des Islam: Über Mekka sind Keramikmusren prägte. „Doch wie wir wissen, neigen ter aus Buchara nach Marrakesch gelangt, revolutionäre Bewegungen dazu, über die nigerianische Gebetsketten nach Bosnien, Jahre immer unerbittlicher zu werden indonesische Freiheitskämpfer aus den und den Menschen in eine Gussform pres- Niederlanden nach Jakarta – und die Masen zu wollen. Auch unsere Revolution laria von Indien nach Russland. ist immer dogmatischer geworden.“ „Die Puristen hatten nie wirklich eine Überraschend ist die Analogie, die ihm Chance in Mekka“, sagt Bakader. „Nieeinfällt – der Kommunismus. Ausgerech- mand kann Mekka kontrollieren.“ net die Ideologie jener zusammengebroBernhard Zand d e r s p i e g e l 5 1 / 2 0 1 0 97