Universität Bayreuth Institut für Neuere deutsche Literaturwissenschaft WS 2011/2012 PS Von der Verstörung zum Heldenplatz – Thomas Bernhard, Dramen und Prosa Leitung: Oliver Hepp, M.A. Das Prinzip der „Über-Marionette“ von E.G.Craig in Thomas Bernhards Theaterstück „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ Abgabedatum: 31.März 2012 Sophia Schmid (3.Fachsemester) Oswald-Merz-Str.18 95444 Bayreuth Tel.: 0921/16839040 E-Mail: [email protected] HF: Theater und Medien NF: Germanistik Inhaltsverzeichnis 1. Die Anwendung eines theaterpraktischen Prinzips auf einen Dramentext … 3 2. Das Prinzip der „Über-Marionette“ von Edward Gordon Craig ……………. 4 3. Die Manifestation von Craigs Ideal in Der Ignorant und der Wahnsinnige .. 5 3.1 Die Komposition des metatheatralen Raumes ………………………………….. 5 3.2 Die Ansichten des Doktors ………………………………................................ 6 3.2.1 Unberechenbarkeit als Grund für schauspielerische Untauglichkeit ………… 6 3.2.2 Naturwissenschaftliche Kunstperfektion ……………………………… 7 3.2.3 Abschaffung der Individualität des Menschen zugunsten der Funktion .. 9 3.2.4 Mensch als heteronome Kunstfigur …………………………………….. 11 3.3 Das Verhalten des Vaters ……………………………….................................. 12 3.3.1 Die Blindheit als Maske ……………………………………………………… 12 3.3.2 Wort- und Tatwiederholungen als Ausdruck der Künstlichkeit ……… 13 3.4 Die Kunstfigur der Königin ………………………………………………....... 14 3.4.1 Maske und Kostüm: Zeichen des Übergangs Mensch - Über-Marionette 14 3.4.2 Die Königin als Beispiel für die Unmöglichkeit von Craig’s Vision ….. 15 4. Ausblick: Möglichkeit einer Inszenierungsanalyse ………………………... 17 5. Literaturverzeichnis ……………………………………………………………. 18 2 1. Die Anwendung eines theaterpraktischen Prinzips auf einen Dramentext „Wie Sie wissen […] / handelt es sich / um ein Puppentheater / nicht Menschen agieren hier / Puppen / Hier bewegt sich alles / unnatürlich / was das Natürlichste / von der Welt ist“1. Die vorliegende Seminararbeit macht den Versuch, die Ansätze des Theaterreformers Edward Gordon Craig zu seiner „Über-Marionette“ im Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige von Thomas Bernhard aufzudecken und es anhand dieser zu analysieren. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, da Craig sein visionäres Prinzip zwar theoretischschriftlich niedergeschrieben hat, er dabei aber stets die praktische Reform des Schauspielers im 20.Jahrhundert im Blick hatte. So geht es in seinem Essay Der Schauspieler und die ÜberMarionette2 von 1908 vor allem um die Psyche und Eigenheiten des Schauspielers als reale Person und seine Untauglichkeit für das Theater. Diese Gedanken Craigs lassen sich deshalb schwer auf einen schriftlich fixierten Dramentext übertragen, dazu bräuchte es nähere Einblicke in die Theaterwelt von damals. Dennoch gibt es einige Anknüpfungspunkte zwischen Craigs Theorie und Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige: Der Text bietet an einigen Stellen eben jene Einblicke, besonders in den Aussagen des Doktors, in denen Craigs Prinzip der „Über-Marionette“ in weiten Teilen zum Tragen kommt. Auch in den Handlungen des Vaters und der Königin ist dies der Fall. Nach einer genaueren Erläuterung der „Über-Marionette“, greift die Arbeit jene übereinstimmenden Stellen heraus und analysiert sie im Hinblick auf Craigs Konzept. Es ist selbstverständlich, dass sie dabei nur in Ansätzen verfahren kann. Es ist weder möglich, Craigs gesamtes, vielschichtig-ästhetisches Prinzip in Bernhards Theaterstück zu finden, noch dies genauer zu erläutern. Eine kleine Ergänzung und auch einen Ausblick für eine mögliche Folgearbeit bietet sie im Schluss: Hier erfolgt eine kurze, die Grundsätze anschneidende Inszenierungsanalyse der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige. Damit wird auch der theaterpraktische Teil ein wenig abgedeckt. 1 Bernhard, Thomas: Der Ignorant und der Wahnsinnige. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1972, S. 55. Craig, Edward Gordon: Der schauspieler und die über-marionette. In: Ders.:Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt Verlag 1969, S.51-73. 2 3 2. Das Prinzip der „Über-Marionette“ von Edward Gordon Craig „Die menschliche natur ist ganz auf freiheit gerichtet; so erbringt der mensch mit seiner eigenen person den beweis, dass er als material für das theater untauglich ist.“ 3 Das ist Craigs Ausgangsthese. Seiner Ansicht nach ist die Kunst ein Konstrukt, das nur aus Materialien aufgebaut werden kann, über die man planend verfügen kann. Doch „da im heutigen theater der menschliche körper als material verwendet wird, trägt alles, was dort geboten wird, den charakter des zufälligen.“4Denn laut Craig ist der Mensch, nicht seinem Verstand, sondern seinen Gefühlen unterworfen, und deshalb nicht plan- oder kontrollierbar. Alles, von der Bewegung über den mimischen Ausdruck bis zum Klang der Stimme, ist emotionsgesteuert, der Verstand hat dagegen keine Chance, er wird zum Sklaven des Gefühls.5 Und da die Kunst keine Zufälle dulden darf und der Künstler seiner Eitelkeit und den persönlichen Stimmungen erhaben sein muss, ist Craigs radikale Lösung im Umkehrschluss: Schafft den schauspieler ab […]. Und nicht länger wird es auf der bühne lebendige wesen geben, die uns verwirren, indem sie kunst und realität vermischen, nicht länger wirkliche lebewesen, an denen die schwachheit und das zittern des fleisches sichtbar sind. Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen – wir nennen sie die über-marionette […].6 In diesem Zitat stecken zwei Kritikpunkte Craigs an den Schauspieler: Einerseits wirft er ihm vor, dass er die Kunst nicht von der Realität trennen kann, d.h. seine Persönlichkeit mit der der Figur vermischt. Und andererseits, dass er dadurch auf der Bühne schwach und angreifbar wird. Diesen beiden Problemen will Craig auf radikalste Weise ein Ende machen: Er fordert die Abschaffung des Schauspielers und die Ersetzung durch eine Kunstfigur - die „ÜberMarionette“. Hier zeigt sich jedoch gleich die Visionarität seines Prinzips: Es ist nicht möglich, den Schauspieler gänzlich von der Bühne zu verbannen und nur noch hölzerne, lebensgroße Marionetten auf die Bühne zu stellen. Craig ist sich dessen bewusst, aber er möchte den Darsteller diesem Ideal annähern, dabei sogar über die Vorstellung der einfachen Marionette hinausgehen. Er verwandelt den Schauspieler in eine Kunstfigur, macht den „Körper zur 3 Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S.52 (Orthographie nach Craig). ebd. 5 ebd., S.52/53. 6 Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S.66. 4 4 Maschine“ 7 , die gänzlich unter dem Einfluss des Regisseurs steht, aber dennoch einen gewissen eigenen Willen besitzt. Das Hauptmittel dafür ist die Maske. „Craig strebte die Auflösung der individuellen Mimik an, um Allgemeingültigkeit zu erreichen.“ 8 Er will den Schauspieler von seinem Egoismus befreien und gleichzeitig dem menschlichen Körper seine ‚Natürlichkeit‘ und Persönlichkeit nehmen, um die Darstellungsweise zu stilisieren.9 Die Reformation des Schauspielers soll sich auf die gesamte Inszenierung ausweiten: Einerseits möchte Craig, wie im obigen Zitat bereits erwähnt, die Subjektivität des einzelnen durch eine Allgemeingültigkeit ersetzen. Andererseits und hauptsächlich will er aber durch die Eliminierung des Risikopotentials eine Mechanisierung des Schauspielers und der Inszenierung erreichen. Beide sollen zu einer solchen technischen, naturwissenschaftlichen Perfektion gebracht werden, dass jede Inszenierung jederzeit, ohne Unterschied wiederholbar ist.10 3. Die Manifestation von Craigs Ideal in Der Ignorant und der Wahnsinnige Die Arbeit zeigt zunächst anhand der Raumkomposition auf, aus welchem Grund die theaterpraktische Ideen Craigs überhaupt ein Thema im Stück sind, dann erfolgt die Analyse getrennt nach den drei Hauptfiguren. 3.1 Die Komposition des metatheatralen Raumes Thomas Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige ist ein „backstage-Drama.“11 Bernhard schafft in seinem Stück einen dreistufigen, metatheatralen Raum, der die Realität mit der Fiktion verbindet: Erstens gibt es die reale Bühne, auf der Der Ignorant und der Wahnsinnige aufgeführt wird, zweitens gibt es die stückimmanente Bühne, die als Ort für die Inszenierung von Mozarts Zauberflöte dient inklusive des Zuschauerraums und drittens existiert noch die Garderobe, die backstage-Bühne, auf der sich das Hauptgeschehen abspielt und in die Figuren wie Frau Vargo nicht ein- sondern „auftreten.“12 Diese Wortwahl ist als „metatheatralische Durchbrechung der Szene zu sehen“13 und macht die komplexe Bühnenaufteilung bewusst. Die Verschachtelung der Räume schafft eine reflexive Ebene, in die Craigs Ideen von der 7 ebd., S.59. Ribi, Hana: Edward Gordon Craig – Figur und Abstraktion. Basel: Editions Theaterkultur Verlag 2000, S.80/81. 9 vgl. ebd. 10 Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S.59. 11 Thill, Anne: Der Ignorant und der Wahnsinnige. In: Dies.: Die Kunst, die Komik und das Erzählen im Werk Thomas Bernhards-Textinterpretationen und die Entwicklung des Gesamtwerks. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 131-149, hier S.131. 12 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S. 22. 13 Thill: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.132. 8 5 „Über-Marionette“ eingebunden werden können. Eigentlich sehen die Zuschauer in einer Aufführung von Bernhards Stück, Schauspieler, die auf einer realen Bühne hinter einer fiktionalen Bühne darüber sprechen, wie die Schauspieler auf eben jener Bühne sind und zu sein haben. „Somit reflektiert der Text seinen eigenen Status, das Stück entlarvt sich selbst als Kunstprodukt“ 14 und bietet damit den idealen Raum zur Reflexion über Craigs Schauspielerbegriff und –reform. Das Hauptthema in Der Ignorant und der Wahnsinnige Künstlichkeit vs. natürlicher Mensch wird von den Figuren überdacht, diskutiert und exemplifiziert. Das Stück stellt somit eine ideale Ausgangsbasis für den Leser dar, selbst Craigs Prinzip an diesen Figuren zu durchdenken und kritisch zu hinterfragen. 3.2 Die Ansichten des Doktors 3.2.1 Unberechenbarkeit des Menschen als Grund für schauspielerische Untauglichkeit Der Doktor aus Der Ignorant und der Wahnsinnige und Craig sind ziemlich einer Meinung was das Schauspielerideal angeht. Genau wie Craig kritisiert der Doktor an vielen Stellen im Stück die Unzuverlässig- und Unbeständigkeit des Menschen und sieht ihn deshalb als nicht für die Kunst geeignet an. Erkennbar wird dies beispielsweise in der Aussage des Doktors: „diese Leute beobachten fortwährend / und machen ihre Beobachtung zu einem krankhaften / Zustand / von dem sie sich nicht mehr trennen können / weil sie ihren Kopf nicht beherrschen“ 15 und seine Folge daraus ist, dass sie „dadurch (haben sie) naturgemäß / überhaupt kein Beurteilungsvermögen (haben) / Sie gehen einmal folgerichtig einmal nicht.“ 16 Als Grund sieht der Doktor, genau wie Craig, die persönliche emotionale Belastung („tatsächlich schleifen Sie ja Ihr ganzes Leben / die Geschichte hinter sich her“17) des Schauspielers. Im ersten Zitat kritisiert der Doktor die Abhängigkeit des Schauspielers von seiner Umgebung und vor allem von seinen künstlerischen Vorbildern. Dadurch kann er nicht eigenständig über seine gestalterischen Mittel verfügen, d.h. „den Kopf beherrschen“, sondern ist von der emotionalen Gebundenheit zu anderen Menschen in seiner Einschätzung von der eigenen Qualität gelenkt. Er wird unsicher in seinem Handeln. Auch versucht er seine Persönlichkeit, seine Vergangenheit und seine Erfahrungen mit in die Rolle zu bringen. Die unbeeinflussbaren Gefühle, die damit verbunden sind, machen ihn zu einer unsicheren und 14 Link, Kay: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard. Stuttgart: Verlag Hans-Dieter Heinz, Akademischer Verlag Stuttgart 2000, S.5. 15 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.23. 16 ebd., S.24. 17 ebd. 6 unbeständigen Person, die laut Craig in der Kunst nicht bestehen kann. Auch der Doktor sieht die Unzuverlässigkeit und das Misstrauen in die Professionalität des Schauspielers als das größte Problem an („das Bedenklichste ist / daß man sich auf nichts / verlassen kann“18). Der Doktor schließt sich bei seiner Betrachtung des inkonstanten Menschen selbst nicht aus: „Die Künstler existieren / glaube ich / in ständiger Angst / vor dem augenblicklichen Verlust / Ihrer Künstlerschaft / […] zweifellos hätte ich selbst / fortwährend diese Angst / und wäre denkbar ungeeignet / für die Ausübung einer Kunst“19. Wenn man diese Aussage des Doktors weiter denkt, kommt man zu der Ansicht Craigs: Ein natürlicher Mensch hat stets Verlustängste, denn es liegt in seiner unbeständigen und unerklärbaren Natur, Fähigkeiten zu verlernen oder wiederzuerlangen. Dies wird von der Psyche des Menschen gesteuert. Eine Puppe oder Marionette hingegen, kennt diese Ängste nicht. Sie wurde einmal konstruiert und funktioniert seitdem automatisch und immer in derselben Weise. Der Doktor fasst diese Ansicht am Ende in einer radikalen Aussage zusammen: „Das Theater / insbesondere die Oper / ist nichts / für einen natürlichen Menschen,“20 denn hier ist ein durch und durch künstlicher Mensch gefordert, der kein großes Risikopotential mehr besitzt. Denn dieses übt eine große Gefahr auf die Kunst aus: „Falsche Einsätze […] / Wie man eine Inszenierung / auf unerträgliche Weise / zerrütten kann / keine Exaktheit“21. Es zerstört die Perfektion der Kunst und diese ist nur dann Kunst, wenn sie makellos und absolut planbar ist. 3.2.2 Naturwissenschaftliche Kunstperfektion „Ihr (der Kunst) muss endlich eine mitleidlose methode zu eigen werden, auf dass sie eine perfektion erlange, wie sie die naturwissenschaften besitzen.“22 Auch der Doktor in Der Ignorant und der Wahnsinnige ist dieser Meinung. In seinen scheinbar endlosen Monologen nutzt er jede Gelegenheit, um einen Vergleich zwischen der Kunst, in diesem Fall der Musik, und der medizinischen Wissenschaft herauszustellen, und zu zeigen, dass die Medizin der Kunst an Perfektion überlegen ist. Obwohl er zu Beginn des Stücks in seinem ersten, verwirrenden Monolog im direkten Vergleich die Unbeständigkeit von beiden „Künsten“ aufzeigt 23 , vertritt er im Verlauf des Stücks doch die Ansicht der 18 ebd., S.65. ebd., S.74. 20 ebd., S.97 21 ebd., S.63. 22 Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S. 63. 23 vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.8. 19 7 Perfektion der Medizin: „die Wissenschaft / ist / ist sie einem bewusst / beruhigend / die Medizin / kennt den Angstbegriff / überhaupt nicht“24. Er stellt hierbei, wie Craig, vor allem den Ausübenden der Medizin, also sich als Doktor, in den Mittelpunkt, um diese proklamierte Perfektion zu erreichen. In seinen scheinbar endlosen Wortkaskaden, beschreibt er mit äußerster Präzision den Vorgang einer Leichenöffnung. Die Gefühllosigkeit und Fehlerlosigkeit, die er sowohl beim Erzählen als auch bei der tatsächlichen medizinischen Tätigkeit an den Tag legt, soll einerseits die Perfektion der Medizin und ihrer Ärzte aufzeigen, aber andererseits auch die absolute Verinnerlichung des Craig’schen Prinzip: Der Doktor selbst ist bereits eine gefühllose, mechanische Marionette, die der Medizin zur gewünschten Perfektion verhilft. Und ebenso wie er es in der Medizin geschafft hat, will er diese naturwissenschaftliche Kunstperfektion auch in der Musik erreichen. Er möchte die Wissenschaft mit der Kunst verknüpfen und sie darüber kontrollieren. Die Medizin sieht er dabei als geeignetste Wissenschaft an, denn „[…] wie Sie wissen sind die besten Musiker / aus alteingesessenen Ärztefamilien hervorgegangen“25. Hier radikalisiert Bernhard Craigs Prinzip: Während Craig die Kunst der Naturwissenschaft angleichen will, erscheint es in Der Ignorant und der Wahnsinnige so, als wolle der Doktor die Kunst gänzlich zu einer Wissenschaft machen, die so perfekt ist wie die Medizin. Dies schließt eine Kontrolle und Regulierung des Künstlers mit ein. Sein Wunsch, die Medizin als ein Kontrollinstrument für den Menschen zu benutzen, um ihn zu einer künstlichen, perfekten Marionette zu machen, zeigt sich ganz deutlich in seinen Ausführungen zur Leichenöffnung. Dieser Vorgang, der in Bernhards Stück beschrieben wird, kann als, wenn auch radikalisiertes, Sinnbild für Craigs Vorstellungen vom Verhältnis zwischen „Über-Marionette“ und Regisseur gesehen werden: Ein Wissenschaftler hat die vollkommene Macht über einen leblosen Körper und gestaltet ihn nach seinem Belieben um. Er macht aus ihm eine Marionette, über die er voll verfügen kann, die sich aber selbst nicht wehren kann. Überspitzt dargestellt kann man also den Körper eines Schauspielers, der als „Über-Marionette“ fungiert, als tot beschreiben.26 „Hinter dem Ziel, den menschlichen Körper auf diese Weise abzurichten, verbirgt sich letztlich der Wunsch, die Natur in äußerster Perfektion nachzuahmen, sie in der äußersten Künstlichkeit – selbst geschaffen – wieder zu erreichen und wenn möglich sogar zu 24 ebd., S. 74. ebd., S.32. 26 vgl. Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S. 59: „Vorausgesetzt sie könnten ihren körper […] in ein stück totes material, wie etwa ton, verwandeln.“ 25 8 übertreffen.“ 27 Natur- und Realitätsnachahmung jedoch lehnt Craig, wie viele seiner Zeitgenossen, strikt ab, er will die unzureichende Natur mit der perfekten Kunstfigur übertreffen. Diesen Wunsch hat auch der Doktor, wenn er sich über die Machtlosigkeit gegenüber den Unregelmäßigkeiten und Abnormitäten der Natur beklagt. 28 Und um diese zu zu regulieren, behilft er sich mit den Naturwissenschaften, besonders der Medizin: Sie erforscht die Fehler der Natur und versucht sie mit verschiedenen Mitteln „auszubessern“. Und wenn sie nicht mehr zu ändern sind, dann wird der Mensch abgeschafft und durch einen fehlerlosen Mechanismus ersetzt. Für den Doktor ist der größte Fehler des Menschen, dass er sterben kann. Dieser Makel muss durch die Künstlichkeit getilgt werden. In dieser Flucht in die Künstlichkeit ist „vor allem die wahnhafte Flucht vor dem Tod, der mit der Natur in Verbindung gebracht wird“29, zu sehen. In Der Ignorant und der Wahnsinnige sind sowohl das Opfer als auch der größte Verfechter von Craigs Prinzip von dieser Flucht besessen. Der Doktor benutzt die Königin als Versuchsobjekt, um in seiner nicht vollendeten Studie herauszufinden, ob die Flucht gelingen kann. Er ist der Meinung: „Man kann diesen unnatürlichen Zustand / den wir Existenz nennen / oder die menschliche Natur / hinausziehen / künstlich“30. Was er genau damit meint, ist unklar. Entweder „hinausziehen“ ist im Sinne von „austreiben“ oder von „hinauszögern“ zu verstehen. Beides würde bedeuten, dass er die Königin in eine Marionette verwandeln will, deren Lebenszeit er künstlich verlängern will, sodass sie nicht selbstständig über ihren Tod entscheiden kann. 3.2.3 Abschaffung der Individualität des Menschen zugunsten der Funktion Edward Gordon Craig ist der Meinung, dass ein Mensch erst dann zum Künstler wird, wenn er sich auf der Bühne von seiner Individualität, seinen subjektiven Gefühlen freimacht. Denn solange er das nicht tut, ist das „was der Schauspieler darbietet, (ist) also kein kunstwerk; es ist eine folge vom zufall gelenkter bekenntnisse“31. Für Craig gibt es nur eine Lösung, der Verstand muss wieder Herr über die Gefühle werden, denn „je weniger wir fühlen, desto sicherer beherrschen wir den ausdruck des gesichts und des körpers“ 32. Der Doktor übernimmt diese Vorstellung fast ungebrochen, wenn er über die Königin spricht. 27 Hartz, Bettina: „Das Märchen ist ganz musikalisch“ – Thomas Bernhards Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige. Köln: Teiresias Verlag 2001, S.14. 28 vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.25. 29 Link: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard, S.29. 30 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.85. 31 Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S. 53. 32 ebd., S.57. 9 An zwei Stellen im Stück spricht er ihr jegliche Menschlichkeit ab und reduziert sie lediglich auf ihre Stimme, den Körperteil, der sie zur Kunstfigur macht („wenn ich denke Ihre Tochter schläft geehrter Herr / denke ich doch nur auf das selbstverständlichste / die Stimme Ihrer Tochter schläft“; „daß es sich vor allem um eine Stimme / und zwar um eine ganz bestimmte Stimme / nicht aber um einen Menschen handelt“33). Doch auch er selbst zeigt sich als einen zum Funktionsträger reduzierten Menschen, der nach einem fast „industriellen Marionettimsus“ agiert 34 . Dieser ist markiert durch die Tatsache, dass er keinen Eigennamen, sondern lediglich die Funktionsbezeichnung „Doktor“ trägt. Im gesamten Stück verhält er sich dieser Rolle gemäß und erfüllt das Ideal der „ÜberMarionette“. Gefühllos und ohne jede emotionale Regung, spricht er von der Leichenöffnung und gibt in dieser Erläuterung zu, dass es sich bei der Medizin „um eine Wissenschaft / von den Organen / nicht um eine solche / von den Menschen“ 35 handelt. Damit spricht er der Medizin, also auch sich selbst, den emotionalen Charakter und den Menschen, die der Medizin unterworfen sind, die Individualität ab, denn die Organe, d.h. die Bauteile der Marionette, sind bei jedem Menschen ähnlich beschaffen und angeordnet. Das was uns voneinander unterscheidet, ist die Persönlichkeit, aber die wird ausgeschaltet und nicht respektiert. Während sich die Funktion der „Über-Marionette“ bei Craig aber vor allem auf die rhythmische Bewegung bezieht, die eine ungemeine Faszination auf ihn ausübt36, reduziert sich die Funktion der Doktor-Figur ganz in Bernhard‘scher Manier auf die Sprache. Der Doktor ist nie in einer medizinischen Handlung zu sehen, er redet nur darüber. Hier könnte auf einer anderen Ebene, der der realen Bühne, auch von einer gewissen Ausschaltung des Darstellers gesprochen werden, da sich die schauspielerische Tätigkeit lediglich aufs sprechen beschränkt. Doch die Sprache schafft es nicht, und will es auch gar nicht schaffen, Individualität zu erzeugen. Hier tut sich ein typisches Bernhard-Thema auf: die Sprachskepsis. „Die Sprache ist abgenutzt, die Begriffe sind bedeutungslos geworden, sind bloße Worthülsen, die mechanisch repetiert werden. Ihre Sprecher verkommen zu Imitatoren, deren Individualität sich verloren hat.“37 Damit kritisiert und erfüllt Bernhard zu gleichen Teilen das Craig’sche Prinzip. 33 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.15,21/22. Link: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard, S.65 (Fußnote 228) 35 ebd., S.37. 36 vgl. Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S.67. 37 Hartz: „Das Märchen ist ganz musikalisch“, S. 82. 34 10 3.2.4 Mensch als heteronome Kunstfigur Laut Craigs Prinzip ist der Darsteller als „Über-Marionette“ vom Regisseur konzipiert, konstruiert und gelenkt. 38 Er wird also durch den Regisseur fremdbestimmt, wobei das Verhältnis zwischen Marionette und Marionettenspieler dem zwischen Schauspieler und Regisseur ähnlich ist. Viel stärker als bei Craig ist bei Bernhard „die Fremdbestimmung und Fremdlenkung […] noch durch das Moment des Mechanischen und Seelenlosen verschärft.“39 Er überträgt die Vorstellung der leblosen und mechanischen Marionette direkt auf seine Figuren. Diese Übertragung und die damit verbundene Heteronomie des Menschen kommt wiederholt in den Äußerungen des Doktors zum Ausdruck. Er beschreibt wiederholt, auf verschiedenste Weise, den Automatencharakter der Königin: einmal als Maschine („zweifellos es ist / wie wenn eine Maschine abgestellt wird“), ein anderes Mal als ein zu besitzender Mechanismus („einen Mechanismus als Tochter / zu besitzen / oder eine Tochter als Mechanismus“) und schließlich erkennt er ihr noch jegliche Menschlichkeit ab („als hätten wir es / mit einem menschlichen Wesen zu tun“)40. Der Status der Königin als heteronomes Material zeigt sich am besten, als der Doktor von ihrem Gesanglehrer spricht, dessen alleiniges Werk die Stimme der Königin ist: „es kommt ja immer darauf an / daß ein Material zu dem richtigen Zeitpunkt / in die richtige Hand kommt / […] mit der richtigen Methode“ 41. Die Bezeichnung der Tochter bzw. der Stimme als „Material“ und diese Darstellung zeigt, dass es sich hier nicht um eine Gesangsausbildung, sondern um die Konstruktion der perfekten Kunstfigur handelt, die vollkommen dem Schaffen und Können eines einzelnen Menschen unterstellt ist. Sie steht bei ihrer „Konstruktion“ und auch später immer in der „völlige(n) Abhängigkeit von bestimmenden Größen verschiedener Provenienz“ 42 , wie eine Marionette die von ihrem Konstrukteur und Spieler bestimmt wird. Der natürliche Mensch wird also im Laufe seiner Künstlerkarriere zur Kunstfigur und verändert dabei spürbar sein Wesen weg vom natürlichen.43 Er wird zum Geschöpf. „Sollen wir nicht hoffnungsvoll dem tag entgegenschauen, der uns die kunstfigur, das symbolische 38 Craig, Edward Gordon: Über den regisseur. In: Ders.:Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt Verlag 1969, S.22-27, hier: S.26. 39 Link: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard, S.65. 40 Alle Zitate aus: Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.28/53. 41 ebd., S.12. 42 Drux, Rudolf: Marionette Mensch – Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von E.T.A. Hoffmann bis Georg Büchner. München: Wilhelm Fink Verlag 1986, S. 189. 43 vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.36. 11 geschöpf durch die geschicklichkeit des künstlers wiederbringt […]“ 44 . Der Begriff „Geschöpf“ ist hierbei enorm wichtig, denn in ihm verbergen sich sowohl der Konstruktionsprozess als auch die Fremdbestimmung durch das implementierte Substantiv „Schöpfer“ und das Präfix „-ge“. Auch der Doktor wiederholt dieses Wort mehrmals45 und er betont dabei immer wieder den Verlust der Menschlichkeit, der sich am Menschen vollzieht, wenn er zur Kunstfigur wird: „ein vollkommen künstlerisches Geschöpf / ein solcher zu einem vollkommen künstlerischen / Geschöpf gewordener Mensch / der ja kein Mensch mehr ist“.46 Nach Craigs Wunsch sollen alle Schauspieler auf der gleichen Ebene stehen, keiner soll sich ausschließen oder höher stellen. Mit seinen „Über-Marionetten“, Figuren die keine Persönlichkeit mehr besitzen, die sie voneinander unterscheiden könnten, hat er dieses Ziel erreicht. 3.3 Das Verhalten des Vaters 3.3.1 Die Blindheit als Maske Um seine „Über-Marionette“ durchzusetzen und die Individualität eines Schauspielers zu verstecken, setzt Craig ihnen Masken „anstelle des menschlichen gesichtes“ 47 auf. Er will damit das Typische der dramatischen Person, nicht aber das subjektiv-individuelle des Schauspielers visualisieren.48 Das typische Merkmal an der Figur des Vaters ist seine Blindheit. Diese wird im Stück zu seiner persönlichen Maske, symbolisiert durch die Armbinden. Sie stellen, wie auch eine Maske keinen echten Gefühlsausdruck zeigt, keine echte Eigenschaft des Vaters dar. Denn durch die Tatsache, dass er die Binden auf- und wieder abnehmen kann 49 , zeigt er ihre Oberflächlichkeit und Temporarität an. Er wird erst blind, wenn er die Binden aufzieht, so wie ein Darsteller auch erst zu der Figur wird, wenn er ihre Maske aufsetzt. Bei Craig gehört dieser offensichtliche Maskenwechsel zum Prinzip der „Über-Marionette“, macht den Darsteller sogar erst dazu: „Eine gut trainierte Neutralfigur wird zur Theaterfigur erst durch die Maske, geht durch die Möglichkeit des Maskenwechsels über die Marionette hinaus.“50 Sie übertrifft die bloße Marionette also mit ihrer menschlichen Eigenständigkeit, um diesen Ausdruckswechsel zu bewirken. Durch das Wechseln der Binden beim Vater, 44 Craig: Der schauspieler und die über-marionette, S.67. vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.17/18. 46 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.17. 47 Craig, Edward Gordon: Über den schauspieler. In: Ders.:Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt Verlag 1969, S.19-21, hier: S.21. 48 Ribi: Edward Gordon Craig – Figur und Abstraktion, S.75. 49 vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S. 10/13/22. 50 Kotte, Andeas: Theaterwissenschaft: Eine Einführung. Stuttgart: UTB 2005, S.249. 45 12 nimmt dieser allerdings einen Identitätswechsel vor, was die Funktion der Maske bei Craig übersteigt. Die Tatsache, dass Craig durch diese Möglichkeit des Maskenwechsels eine Lockerung seines Prinzips den Darsteller zu unterdrücken vorsieht, zeigt, dass die „Über-Marionette“ in Bernhards Stück in diesem Fall nur in ihren Ansätzen übernommen wurde. Denn der Vater und auch die Königin können ihre Masken zwar wechseln, aber ob sie damit wirklich auch eine andere Identität bzw. ihre Menschlichkeit wieder gewonnen haben, bleibt unklar. 3.3.2 Wort- und Tatwiederholungen als Ausdruck der Künstlichkeit Die Wiederholung ist ein äußerst markantes Element in Bernhards Stück, das in vielen Variationen immer wieder vorkommt. Die Arbeit beschränkt sich hierbei auf die Wort- und Tatwiederholungen des Vaters. Während der Doktor seinen Text in undurchsichtigen Wortkaskaden herunterbetet, wiederholt der Vater immer wieder einzelne, unwichtig erscheinende Satzenden oder Wörter 51 . Er übernimmt damit wortwörtlich seine Sprache und somit werden die Ausführungen des Doktors teilweise zum Rollentext des Vaters. An dieser Stelle kommt wiederrum das Thema der Fremdbestimmtheit auf: Der Vater erscheint in einer absoluten Abhängigkeit seiner Quelle bzw. seinem Vorredner gegenüber, denn er hat kaum individuellen Text, sondern wiederholt nur die Handlungen des Doktors. Das macht ihn zur fremdbestimmten, nicht selbst denkenden und sprechenden Marionette. Und damit wird Bernhard seiner metatheatralen Ebene einer Bühne hinter der Bühne gerecht, denn es zeigt sich, dass „ein Mensch – gleich einem Schauspieler [… ] nicht spontan (re)agieren und sprechen kann. Jeder rezitiert lediglich einen vorgegebenen Text“ 52 . Die Personen auf der Bühne sind also wie Darsteller, die wiederrum in ihren abgestumpften Wiederholungen zu Marionetten ihrer eigenen Sprache werden und „alles immer wieder sagen / immer wieder / das gleiche“53. Ebenso verhält es sich mit den Taten, die immer wieder automatenhaft wiederholt werden: der der „Vater trinkt aus der Flasche“54. „In monomanischen Umkreisungen der begrenzenden Zustände unterzieht Bernhard (sich und) seine Protagonisten monotonen Ritualen, sinnlos wiederholten Verrichtungen und mechanischen Wortkaskaden.“55 Und in dieser fällt der Vater 51 vgl. z.B. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.9. Link: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard, S.65. 53 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.54. 54 vgl. z.B. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.14/16 55 Drux: Marionette Mensch, S. 191. 52 13 nie aus der Rolle. Er präsentiert sich als „Über-Marionette“, denn seine individuelle Persönlichkeit und Empfindungen stehen zurück hinter seinem Rollen- und Theatralitätsbewusstsein. Und um das zu ertragen, ist er zwanghaft automatisch und verfolgt mechanische, angewöhnte Strukturen. Hauptsächlich damit bei jeder Aufführung bzw. jedem Zusammenkommen der drei Hauptfiguren die Perfektion nach Craigs Ideal gewahrt werden und sie immer wieder ohne Unterschied wiederholt werden kann. 3.4 Die Kunstfigur der Königin 3.4.1 Maske und Kostüm: Zeichen des Übergangs von Mensch zu Über-Marionette Maske und Kostüm dienen bei Craig dazu den Darsteller in die „Über-Marionette“ zu verwandeln. Die Theaterfigur der Königin muss auch noch in eine solche verwandelt werden, dazu zieht sie ihr Kostüm an und wird geschminkt.56 Beim Schminkvorgang zeigt sich, dass sie Craigs Prinzip der „Über-Marionette“ schon so sehr verinnerlicht hat, dass sie, nach einem kurzen Aufbegehren, jegliches menschliches Aussehen ablehnt: „mehr Rot auf die Wangen mehr Rot / andererseits / nein / machen Sie die Wangen weiß / ganz weiß / machen Sie sie weiß weiß“57. Statt roten, natürlichen Wangen, will sie ein weißes Gesicht, das ihre individuellen Züge gänzlich verdeckt und sie damit zu einer künstlichen Puppe macht. Diesen Willen verdeutlicht sie auch später in der Szene noch einmal („viel Weiß / das Gesicht / muss ein vollkommen künstliches Gesicht sein“58) und ihre Puppenhaftigkeit wird daraufhin vom Doktor in einer Aussage, die als allgemeingültig für Bernhards Kunst- und Weltverständnis gesehen werden kann 59 , bestätigt: „Wie Sie wissen […] / handelt es sich / um ein Puppentheater / nicht Menschen agieren hier / Puppen “60. Der Mensch wird also durch eine Puppe ersetzt und diese Puppe generiert sich aus ihrer Maske und ihrem Kostüm, genauso wie der Mensch auch sein Leben durch die Haut und den Körper erhält. Die Königin ist sich dessen bewusst. Ihr als „Über-Marionette“ müssen das Kostüm aus Kleid und Krone und ihre Maske so angepasst werden, sodass sie sie als ihre Haut bzw. ihren Körper wahrnimmt. Denn dieser soll ein vollkommen künstlicher sein („mein Körper / ein künstlicher / alles künstlich“61). Der natürliche Mensch wird hier also durch das Kostümieren und Schminken mit dem Künstlichen verwoben und so wird die vom Doktor gewünschte 56 vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.41. ebd., S.45/46. 58 ebd., S.55. 59 vgl. Drux: Marionette Mensch, S.191. 60 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.55. 61 ebd. 57 14 „natürliche Künstlichkeit“ 62 erzeugt. Dieser Vorgang zeigt sich, wenn Frau Vargo der Königin das Kleid unter dem Arm wieder zunäht und der Doktor sagt, sie hätte es „angenäht“ 63 . Das Kleid wird ihr als zweite Haut an den Körper angenäht. Und auch die Haare müssen vor dem Auftritt unter der Krone festgesteckt werden, denn sonst hat die Königin das Gefühl, „dass ich meine Haare verliere“ 64 . Ebenso muss es mit der Krone geschehen.65 Alle künstlichen, unnatürlichen Attribute müssen an ihr befestigt werden, damit kein Risiko eines Verlustes besteht. Alle Unvorhergesehenheiten und Pannen müssen durch die Perfektion der Maske getilgt werden. Denn wenn die Künstlichkeit und Rollengebundenheit der „Über-Marionette“ Königin durch einen Riss oder eine verlorene Krone zerstört wird, zerstört sie sich selbst und stirbt. Denn sie ist kein eigenständiges Individuum mehr, sie ist nur noch diese Rolle aus der Zauberflöte. Dies zeigt die Tatsache, dass auch sie keinen Eigen- sondern nur ihren Rollennamen trägt und wenn sie den verliert, dann ist sie gar nichts mehr. Sie fürchtet sich deshalb vor jeder Kleinigkeit „die die Fiktion der Königin der Nacht als eine Rolle entlarven könnte und Tod der Illusion bedeuten würde […]“66. Sie hat Angst, dass die Maske ihr nicht die Perfektion bieten kann, die sie braucht, um die Künstlichkeit aufrecht zu erhalten. „Aus der Hoffnung, hinter der Maske Schutz und Ruhe zu finden, wird gesteigerte Unruhe“67. Der Maske und der damit verbundenen Künstlichkeit kommt in Der Ignorant und der Wahnsinnige also die Funktion des Mittels gegen die Todesangst zu. Die Königin klammert sich daran, weil sie weiß, sobald die Künstlichkeit zerbricht, zerbricht sie auch. Mit dieser äußerst wichtigen Funktionszuweisung, geht Bernhard hier erneut über das Craig’sche Prinzip hinaus, denn dieser sieht eine Möglichkeit der Trennung zwischen Schauspieler und Maske vor, ohne dabei gleich den Tod des Darstellers zu riskieren. Doch obwohl die Folgen im Stück anders ausgearbeitet werden, hat Bernhard doch in Grundzügen auf Craigs Prinzip zurückgegriffen. 3.4.2 Die Königin als Beispiel für die Unmöglichkeit von Craig’s Vision Während Craig den Zustand der „Über-Marionette“ als temporär annimmt, erscheint die Königin als eine Figur, die Craigs Prinzip dermaßen verinnerlicht hat, dass sie darin gefangen 62 ebd. ebd., S.60. 64 ebd., S.50. 65 ebd., S.61. 66 Link: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard, S.30. 67 ebd., S.81. 63 15 ist – ob sie nun auf der Bühne steht oder nicht. „Es gibt für die Königin nichts mehr, das nicht Teil der Oper wäre; ihre privaten Handlungen unterliegen denselben Mechanismen wie ihre Bühnenauftritte […].“68 Sie kann die Maske der Königin nicht ablegen und sich damit aus dem Marionettendasein lösen, sie bleibt immer diese Rolle. Damit hat sie sich, wie sie selbst sagt, auf dem Höhepunkt ihrer Kunst zum Opfer ihrer eigenen Disziplin gemacht 69. Auch der Doktor beschreibt sie als in ihrem Pflichtbewusstsein gefangen („sie würde sich niemals gestatten / zu spät zu kommen / immer später ja / aber niemals zu spät“ 70), wobei hier schon ein gewisser Reiz des Ausbruchs aus dieser Pflicht anklingt. Sie würde gerne ausbrechen aus ihrer Rolle und der damit verbundenen automatenhaften Wiederholung. Zum Ende des Stücks versucht sie dann einen Ausweg zu finden: Sie sagt ihre gebuchten Auftritte ab71 und stürzt sich in die Vorstellung von einem Skandal auf offener Bühne: „oder mitten in der Vorstellung […] aufhören zu singen […] / dastehen / und nichts tun“ 72. Hier würde sie dann eine solche Person sein, die der Doktor und Craig aus dem Theater vertreiben wollen: Eine individuelle Figur, deren Gefühle über ihrem Verstand stehen und die dadurch die Inszenierung ruiniert. Sie wehrt sich hier also gegen Craigs Ideal. Im Umkehrschluss bedeutet die Absagen und der Skandal aber für sie, „dass sie ihre Existenz als Künstlerin und damit sich selbst aufzulösen beginnt“73. Doch diese Tatsache nimmt sie in Kauf. Sie legt die Künstlichkeit, die ihr immer als Flucht vor dem Tod gedient hat, ab und sieht nun den Tod selbst als einzige Fluchtmöglichkeit. Der Doktor stellt daraufhin treffen fest: „Während es zum erstenmal / die Lüge ist / ist es auf einmal / möglicherweise / eine Todeskrankheit.“74 Die Todeskrankheit, die sie zunächst nur als Ausrede benutzt hat, bietet nun tatsächlich den Ausbruch aus ihrer künstlerischen Abhängigkeit, „da sie ihr den einzig möglichen Weg in die Freiheit zu eröffnen scheint“ 75 . Und so kommt es dann auch: Der Schluss des Stücks kann so interpretiert werden, dass die, durch den Husten angekündigte, totale Erschöpfung über sie hereinbricht und sie noch im Restaurant auf dem Tisch stirbt. Die Königin zeigt damit in einer dramatisch überspitzten Darstellung, wohin Craigs Prinzip führen kann, wenn der Darsteller es zu ernst nimmt. Sie demonstriert aber auf der anderen 68 Hartz: „Das Märchen ist ganz musikalisch“, S.21. vgl. Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.81. 70 ebd., S.26. 71 vgl. ebd., S.75/76. 72 ebd., S.78. 73 Hartz: „Das Märchen ist ganz musikalisch“, S.111/112. 74 Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige, S.77. 75 Hartz: „Das Märchen ist ganz musikalisch“, S.111. 69 16 Seite auch die Unmöglichkeit bzw. Visionarität des Konzeptes. Es ist unmöglich, die Individualität und Persönlichkeit eines Menschen völlig zu unterdrücken und ihn mehr Rolle als Darsteller sein zu lassen. Es wird immer eine Panne, eine Unvorhersehbarkeit oder ein Durchschimmern von eigenen Gefühlen auf der Bühne geben. Und diese Unregelmäßigkeiten und der „Live-Charakter“ des Theaters machen ja auch dessen Faszination aus. 4. Ausblick: Eine mögliche Inszenierungsanalyse Eine Möglichkeit die vorliegende Arbeit weiterzuführen bzw. zu vertiefen wäre, das Prinzip der „Über-Marionette“, das in der Ignorant und der Wahnsinnige in seinen Grundzügen zu finden ist, an einem konkreten Inszenierungsbeispiel zu verifizieren. Dafür würde sich beispielsweise die Uraufführung von Bernhards Stück 1972 bei den Salzburger Festspielen anbieten. Man könnte in dieser Arbeit die hier erarbeiteten Punkte – wie die naturwissenschaftliche Kunstperfektion, das Zurücknehmen der darstellerischen Handlungen gegenüber der Sprache, die monotonen Wiederholungen der Handlungen, die Künstlichkeit der Figuren und die Bedeutung des Kostüms und der Maske für „Über-Marionette“ – herausnehmen und sie mit der Inszenierung von Claus Peymann vergleichen76. Dabei wird zunächst der Tisch mit Gerätschaften auffallen, der zwischen Doktor und Vater steht. Er verweist auf die Medizin sowie auf den Status der Königin als Versuchsobjekt. Auch die reduzierte, bewegungstechnische Darstellung, vor allem bei Vater und Königin, verdient hier Beachtung, sowie die sich immer, wiederholenden Gänge des Doktors und seine Gestik, die lediglich den Text unterstützt. An der Figur der Königin sticht die Künstlichkeit der Figuren hervor, wobei auch Peymann den Fokus auf die Maske und das Kostüm gelegt hat. Doch hier lassen sich trotzdem gewissen Unterschiede erkennen, so z.B. hat sich die Königin in der zweiten Szene bereits wieder von ihrer Maske getrennt. Das würde dann wiederrum Craigs Vorstellung von der Trennung zwischen Maske und Spieler entsprechen, dem Eindruck der Gefangenheit der Königin in ihrer Rolle aber widersprechen. Diese Unterschiede und Feinheiten, sowohl zur vorliegenden Arbeit als auch zu Craigs Konzept, gälte es hier herauszuarbeiten. 76 vgl. Aufzeichnung der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige auf youtube. URL: http://www.youtube.com/watch?v=3hDPIK4djw4 und Folgeteile mit entsprechenden Links (Abrufdatum: 17.03.2012). 17 5. Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas: Der Ignorant und der Wahnsinnige. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1972. Craig, Edward Gordon: Der schauspieler und die über-marionette. In: Ders.:Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt Verlag 1969, S.51-73. Craig, Edward Gordon: Über den regisseur. In: Ders.:Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt Verlag 1969, S.22-27. Craig, Edward Gordon: Über den schauspieler. In: Ders.:Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt Verlag 1969, S.19-21. Drux, Rudolf: Marionette Mensch – Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von E.T.A. Hoffmann bis Georg Büchner. München: Wilhelm Fink Verlag 1986. Hartz, Bettina: „Das Märchen ist ganz musikalisch“ – Thomas Bernhards Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige. Köln: Teiresias Verlag 2001. Kotte, Andeas: Theaterwissenschaft: Eine Einführung. Stuttgart: UTB 2005. Link, Kay: Die Welt als Theater – Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard. Stuttgart: Verlag Hans-Dieter Heinz, Akademischer Verlag Stuttgart 2000. Ribi, Hana: Edward Gordon Craig – Figur und Abstraktion. Basel: Editions Theaterkultur Verlag 2000. Thill, Anne: Der Ignorant und der Wahnsinnige. In: Dies.: Die Kunst, die Komik und das Erzählen im Werk Thomas Bernhards-Textinterpretationen und die Entwicklung des Gesamtwerks. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 131-149. Quelle: Aufzeichnung der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige auf youtube. URL: http://www.youtube.com/watch?v=3hDPIK4djw4 und Folgeteile mit entsprechenden Links (Abrufdatum: 17.03.2012). 18 Die/Der Unterzeichnende versichert, dass sie/er die vorliegende schriftliche Hausarbeit (Seminararbeit) selbstständig verfasst und keine anderen als die von ihr/ihm angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen (einschließlich des World Wide Web und anderer elektronischer Text- und Datensammlungen) kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigegebene Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen. Bayreuth, den 31.03.2012 gez. Sophia Schmid ------------------------------------------------------------------------(Unterschrift der Verfasserin/des Verfassers der Hausarbeit) 19