Vorlesung Moralische Regeln Prof. Wolf Herbst 2011 Moral ohne Regeln Situationsethik Die sog. Situationsethik geht davon aus, dass wir in jeder Situation neu entscheiden müssen. Moralische Entscheidungen lassen sich nicht für alle möglichen Situationen konservieren. Moralische Entscheidungen müssen spontan sein, aus dem „Herzen“, aus dem „Bauch“, aus dem Organ des Gefühls. „Was gut ist, sagt dem Menschen unmittelbar und allein sein Herz.“ (Fr. H. Jacobi, Werke Band V, S. 115) „Gerecht, tugendhaft, edel, vortrefflich sei, was der gerechte, tugendhafte, edle, vortreffliche Mensch, seinem Charakter gemäss, ausübe, verrichte und hervorbringe; einen anderen Grund hätten diese Begriffe nicht; das edlere Gemüt erzeuge sie aus sich und erkenne kein höheres Gesetz als seinen besseren Trieb, seinen reineren und höheren Geschmack.“ (Fr. H. Jacobi, Werke Band V, S. 379, vgl. S. 418.) „Durch das Genie gibt die Natur der Kunst die Regel, sowohl der Kunst des Guten als des Schönen. Beide sind freie Künste und schmiegen sich nicht unter Zunftgesetze.“ (Jacobi, Werke Band V, S. 78) „Wie das Kunstgenie durch den Eindruck seiner Werke der Kunst Muster und Gesetze geben, so das sittliche Genie der Freiheit.“ (Jacobi, Werke Band V, S. 379, vgl. S. 417) „So wird das sittliche Verhalten zur Virtuosität.“ (Jacobi, Werke Band V, S. 141. Diese Formulierungen stammen aus Jacobis Roman „Woldemar“, zweite Auflage 1794 und spiegeln nicht dessen eigene definitive Meinungen wider. Diese sind repräsentativ für die Epoche des „Sturm und Drang“ und die Genieästhetik.) Die Situationsethik wertet das Individuum auf; sie ist eine ausgesprochene Individualethik, die das Individuum gegenüber den Ansprüchen des Kollektivs verteidigt. Das Individuum wird im modernen Sinne der Subjektivität als Ausgangspunkt und Mittelpunkt der Bewertungen betrachtet, aber es wird nicht als isoliert oder „weltlos“, sondern als 1 Individuum mit einem Leib und in jeweils konkreten und wechselnden Situationen verstanden. Eine Moral ohne Prinzipien oder ohne Regeln steht im Gegensatz zu einer Prinzipienethik, wie sie z.B. Kant oder der Utilitarismus vertritt. Man spricht auch von ethischem Partikularismus. Es gibt mehrere Varianten der Situationsethik. Ich unterscheide hier vor allem zwei Varianten: Ethischer Agapismus (vom griechischen Wort αγαπη̄ für ‚Liebe‘): Ethische Entscheidungen müssen nicht nach einem Gesetz, nicht nach dem „Buchstaben“, sondern nach dem „Geist“, d.h. dem Geist der Liebe gefällt werden. Eine solche Auffassung wird gelegentlich mit einem Ausspruch von Augustinus in Zusammenhang gebracht, der schreibt: „Liebe, und tue, was du willst“. (Augustinus vertritt selber keinen Agapismus.) Neuere Auffassungen besagen, man solle einfach aus dem besseren Gefühl oder einem kultivierten Geschmack handeln. Diese Auffassung vereinigt die Spontaneität moralischer Entscheidungen mit der Idee einer Verfeinerung und Bildung der Gefühle und des Geschmacks. Ein anspruchsvoller Agapismus verlangt: „Was du auch tust, tue es aus dem Enthusiasmus der Liebe.“ Ein bescheidener Agapismus dagegen verlangt: „Was du auch tust, tue es nie herzlos, höre auf die Stimme deines Herzens.“ Ethik der Authentizität: Die Parole dieser Ethik lautet: Sei aufrichtig, und tue, was du willst. Auch diese Auffassung findet eine passende Formulierung in Jacobis Roman „Woldemar“. „Die erhabenste aller Tugenden, welche zugleich die allgemeinste Anwendung verträgt, die übrigen alle schützt, vermehrt, gebiert, ist wohl durchgängige Wahrhaftigkeit. Was für ein göttlicher Mensch müsste der nicht werden, der sich entschlossen, immer wahr zu sein.“ (Jacobi, Werke Band V, S. 194) „Mehr und immer mehr Einfalt und Wahrheit! [Wahrheit hier natürlich wie auch oben das 2 ‚wahr‘ als Wahrhaftigkeit zu nehmen. Zusatz von O.Fr. Bollnow], war demnach sein unaufhörlicher Zuruf“ (Jacobi Werke Band V, S. 129) Eine Ethik der Authentizität findet sich auch bei Autoren aus dem Umkreis der Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre) und des philosophischen Nonkonformismus (R. W. Emerson, H. Thoreau). Obwohl sie keine Moralphilosophie entwickelt haben, geben sie doch die Anregung zur Distanz gegenüber dem „man“, dem „Gerede“, der Neugier und der „Verfallenheit an die Welt“. Sie stehen wie Rousseau den Imperativen der Zivilisation, des städtischen Lebens und der Technik skeptisch gegenüber. Sie fordern, bei allen wichtigen Entscheidungen des Lebens „echt“ oder „eigentlich“ zu entscheiden. Vorzüge der Situationsethik Die Vorzüge der Situationsethik bestehen vor allem in der Vermeidung aller Nachteile oder Exzesse einer Regelmoral. Dazu gehören folgende Nachteile: 1) Die Regelmoral macht die Moral zu einer äusserlichen Praxis. Die Regelmoral operiert mit unstatthaften Vergleichen, zum Beispiel mit dem Vergleich moralischer Regeln und Spielregen. Damit gleicht sie die Moral an eine Art von Sport oder eine Art von Spiel an und verkennt damit den besonderen Ernst der Ethik. Regel verhalten sich wie Mittel zu einem Zweck, sie sind selber nicht Selbstzweck. Die Moral ist jedoch eine Praxis, welche ihr Ziel und ihren Zweck in sich selber trägt. Eine Regelmoral lenkt ab von diesem Charakter der Ethik als einer internen Praxis und veräusserlicht sie zu einem blossen Mittel oder Instrument für aussermoralische Ziele. 2) Ein weiterer Fehler der Prinzipienmoral besteht im moralischen Legalismus, d.h. in einer Angleichung der Moral ans Recht. Moral wird in Analogie zum Recht als Gesetzgebung, das moralische Gewissen als Gerichtshof, das moralische Urteile als Richterentscheid und der moralische Charakter als Treue zu Regeln und Prinzipien konzipiert. Die von Kant, Bentham und anderen Moralphilosophen stark strapazierte Analogie von Recht und Moral führt zur Hegemonie des Begriffs der Pflicht als eines Befehls und zu einer Verzerrung und Verkennung der einer Individualmoral sui 3 generis. Norman als unparteiische Prinzipien und Regeln mögen unentbehrlich sein im Recht, aber sind sie es auch in der Moral? 3) Eine Regelmoral bleibt der Vergangenheit verhaftet und ist nicht offen für das Neue. Sie verabsolutiert das Prinzip des Traditionalismus. Die Situationsethik befreit sich von der Abhängigkeit von der Vergangenheit. 4) Eine Regel‐ oder Gesetzesmoral ist unflexibel, schematisch und repetitiv wie alle Gewohnheit und Routine; sie führt zur „Vergreisung“ und Erstarrung des Lebens. Die Situationsethik dagegen entspricht dem Aufbruch der Jugendbewegungen und der Anspannung eines wachsamen und innovationsfreudigen Geistes. 5) Eine Regelmoral ist immer unvollständig und unzulässig reduktionistisch; sie ist der Komplexität moralischer Situationen nicht gewachsen. Statt mit realen und konkreten Situationen rechnet sie nur mit einigen wenigen Typen von Situationen. Die Situationsethik dagegen entspricht der Diagnose, dass moralische Beschreibungen nie vollständig sind und dass es immer unerwartete und unvorhersehbare ethisch relevante Situationsmerkmale geben kann. Die moralisch relevanten Eigenschaften lassen sich nicht in einigen Prinzipien oder Regeln für alle künftigen Situationen antizipierend ausformulieren. Anders gesagt: „ […] im echten Leben ist kein Bewahren möglich. Es ist seinem Wesen nach Anspannung und als Anspannung so konstituiert, dass es nie auf das Was der Ergebnisse, sondern immer allein auf das Wie der Tätigkeit selbst ankommt.“ (Bollnow 1966/1933, S. 42f. Bollnow bringt damit nicht seine eigene Meinung zum Ausdruck.) Die Situationsethik basiert auf dem Anspruch eines unmittelbaren Gefühls oder „Wissens“. Diese Unmittelbarkeit schliesst aber nicht eine Vermittlung durch eine Erziehung und Selbsterziehung aus. („Kultur der Gefühle“) 4 Kritische Einwände gegen die Situationsethik Es gibt einige Standard‐Einwände gegen eine Situationsethik, sofern sie ausschliesslich an Gefühl oder vermeintlich unmittelbarem Wissen orientiert ist: 1) Sie ist normativ unterbestimmt, d.h. sie führt nicht zu ethisch gut begründeten und praktisch‐orientierenden Urteilen. Sie bleibt „paränethisch“, d.h. dem Kontext der Ermunterung und Ermahnung verhaftet. 2) Sie ist „unstetig“, so wie Stimmungen und manche Gefühle unstetig sind. 3) Sie ist einseitig, indem sie die Vielfalt anderer normativer Faktoren ausblendet; damit vermittelt sie ein Bild einer Moral, in der tiefere Konflikte zwischen moralischen Prinzipien nicht vorkommen und alle Konflikte im Nebel der „Liebe“ oder der „Echtheit“ auflösbar sind. 4) Sie ist rücksichtslos gegenüber den Mitmenschen. 5) Sie ist narzisstisch und führt immer zurück auf den Selbstgenuss des Individuums. Ob diese Einwände (alle oder einige) zutreffen, hängt ab von der konkreten Ausgestaltung einer Situationsethik. Diese kann – ähnlich wie der Handlungsutilitarismus – einige provisorische Regeln akzeptieren, um menschliche Entscheidungen besser zu strukturieren und zu koordinieren. Sie kann überdies auch als Ergänzung einer Moral der Regeln konzipiert werden, welche sich mit den Voraussetzungen für die Anwendung von Regeln beschäftigt, nämlich mit der moralischen Wahrnehmung bzw. der moralischen Urteilskraft. Die römisch‐ katholische Kirche hat 1983 die Situationsethik verworfen. 5 Literatur Bollnow, O. F. (1966/1933): Die Lebensphilosophie F.H. Jacobis, Stuttgart: Kohlhammer. Dancy, Jonathan (2004) : Ethics Without Principles, Oxford : UP. Emerson, R. W. (1983/1841): Essays. Erste Reihe, Zürich : Diogenes. Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit, diverse Neuauflagen. Jacobi, Friedrich Heinrich (1988): Werke in sechs Bänden, Nachdruck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Vgl. auch die Kritische Neuausgabe in 11 Bänden bei Meiner. McNaughton, David (2003/1988): Moralisches Sehen. Eine Einführung in die Ethik, Frankfurt a.M.: Hänsel‐Hohenhausen [Originaltitel: Moral Vision]. Sartre, Jean‐Paul (1943): L’être et le néant, diverse Neuauflagen. Thoreau, Henry (1973/1863): Leben ohne Prinzipien, in: ders.: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays, Zürich: Diogenes. 6