1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Musikstunde mit Jürgen Liebing „Das Meer erglänzte weit hinaus“ Von Seefahrern, Stürmen und Sirenen (5) Sendung: Freitag, 24. April 2009, 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Martin Roth Manuskript ____________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Einen Mitschnitt dieser Sendung können Sie bestellen unter der Telefonnummer 07221 / 929-6030 ____________________________________________________________________ 2 SWR 2, Freitag, den 24.04.2009, 9.05 – 10.00 Uhr Musikstunde mit Jürgen Liebing „Das Meer erglänzte weit hinaus“ Von Seefahrern, Stürmen und Sirenen Folge 5 MODERATION „Sieh, die See selbst/ und auf ihrer endlosen, sich hebenden und senkenden Brust die Schiffe;/ sieh ihre weißen Segel, die sich im Winde blähen,/ sie sind wie weiße Flecken auf dem Grün und Blau,/ sieh, wie die Dampfer kommen und gehen, hinein in den Hafen und wieder heraus,/ sieh die langen Rauchfahnen, dunkel und ineinander verwoben./ Sieh, die See selbst/ und auf ihrer endlosen, sich hebenden und senkenden Brust die Schiffe.“ So beginnt Ralph Vaughan Williams gewaltige „Sea Symphony“ – nach Versen von Walt Whitman. 1) *CD Track 1, bis 3‘25 Ralph Vaughan Williams „A Sea Symphony“ „A Song for all Seas, all Ships“ 3‘25 BBC Symphony Chorus and Orchestra Ltg. Andrew Davis TELDEC 945502 LC 06019 MODERATION Die Verse des amerikanischen Dichters Walt Whitman, der 1892 gestorben war, erregten in England am Beginn des 20. Jahrhunderts ein besonderes Interesse, wohl wegen seiner Unkonventionalität, seiner freien Rhythmen, aber auch seiner freien Gedanken. Nicht nur die Literaten waren fasziniert, sondern auch die Komponisten. Ralph Vaughan Williams war nur einer von vielen, die sich der Verse von Walt Whitman bedienten, darunter Charles Stanford und Charles Wood, zwei Lehrer von Vaughan Williams, und Frederick Delius, der 1906 sein Chorwerk „Seadrift“ komponierte. Vaughan Williams wollte sein großes Werk 3 für Sopran, Bariton, Chor und Orchester, das 1910 uraufgeführt wurde, ursprünglich „The Ocean“ nennen. Dann aber gab er ihm den Titel „A Sea Symphony“, und so wurde es die erste Symphonie von Vaughan Williams. Als er dieses über einstündige Werk komponierte, kannte er noch nicht Mahlers 8. Symphonie, die sogenannte „Symphonie der Tausend“. Chorsymphonien waren zwar seit Ludwig van Beethoven immer wieder komponiert worden, so von Felix Mendelssohn Bartholdy, Hector Berlioz und Franz Liszt, aber die Regel waren sie noch nicht. Vaughan Williams hielt sich an die klassische Viersätzigkeit. „Ein Lied für alle Meere, alle Schiffe“ ist der erste überschrieben. Der zweite Satz „Am Strand des Nachts, allein“ entspricht dem langsamen Satz, der dritte, „Die Wellen“, ist ein Scherzo, und das Finale ist überschrieben mit „Die Entdecker“. „Nun fort, o Seele! Holt den Anker ein! Kappt die Trossen – dreht bei – setzt alle Segel! Segle dahin, steuere nur in die tiefen Gewässer, sorglos, erforschend, o Seele, wünsche ich dich und dich mit mir, denn wir ziehen fort, in Gegenden in die sich kein Seemann jemals wagte, wir werden das Schiff aufs Spiel setzen, uns selbst und alles.“ So wird kurz vor Schluß gesungen. Daß Engländer von diesen Versen zu einer Zeit fasziniert waren, da Großbritannien sich noch als Weltmacht, als Herrscherin der Meere sah, verwundert nicht. Aber auch hier geht es nicht um eine bloße Reise über die Meere. Dem pathetischen Schluß folgt noch ein elegischer Nachklang: „O meine tapfere Seele! O segle weiter fort! O verwegene Freude, und doch sicher! Sind dies nicht alle Gottes Meere? O segle, segle weiter fort.“ Die Musik ist die ideale Kunst, um die ewige Bewegung des Meeres, sein Rauschen und Wogen, seine Geheimnisse und Mythen auszudrücken. Beide, 4 Musik und Meer, kennen keine feste Erscheinungsform, keinen Stillstand, sind beständig in Bewegung. Musik entsteht überhaupt erst durch die Bewegung, erst dann wird sie Klang. So hat das Auf und Ab des Meeres die Komponisten seit jeher inspiriert, oft zu großen Werken, als wollten sie mit der unendlichen Weite des Meeres in Konkurrenz treten. Aber es geht auch klein und bescheiden und trotzdem nicht weniger effektvoll. 2) CD Track 9 Georg Philipp Telemann Ouvertüre „Wassermusik“ Gigue: Ebbe und Fluth 1‘14 New London Consort Ltg. Philip Pickett DECCA 4556212 LC 00171 MODERATION Der große Meister der Wassermusik ist Felix Mendelssohn Bartholdy, nicht nur mit seiner Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“, die in dieser Woche schon erklungen ist, sondern auch mit seiner Ouvertüre „Die Hebriden“, bei der aber nicht die Fingalshöhle, wie sie im Untertitel heißt, im Mittelpunkt steht, sondern das Meer, wie gleich zu hören sein wird. Mendelssohn war mit dem Freund Karl Klingemann 1829 nach Schottland gereist und Ziel war auch die kleine Insel Staffa. Mendelssohn war seekrank geworden, so daß es leider keine Zeichnung von ihm gibt, er, der nicht nur ein exzellenter Tonmaler war, sondern auch mit Zeichenstift und Pinsel seine Eindrücke festzuhalten vermochte. Klingemann berichtet: „Staffa, mit seinen närrischen Basaltpfeilern und Höhlen, steht in allen Bilderbüchern; wir wurden in Böten ausgesetzt und kletterten am zischenden Meere auf den Pfeilerstümpfen zur sattsam berühmten Fingalshöhle. Ein grünes Wellengetose schlug allerdings nie in eine seltsamere Höhle – mit seinen vielen 5 Pfeilern dem Innern einer ungeheuren Orgel zu vergleichen, schwarz, schallend und ganz zwecklos für sich allein daliegend – das weite graue Meer darin und davor.“ Der Beginn der „Hebriden“-Ouvertüre war Mendelssohn aber schon ein paar Tage zuvor, als sie an Bord des Dampfers „Ben Lomond“ nach Tobermory fuhren, durch den Kopf gegangen, und er notierte ihn in einem Brief nach Berlin: „Um Euch zu verdeutlichen, wie seltsam mir auf den Hebriden zumute geworden ist, fiel mir eben folgendes bei.“ 3) CD Track 7 Felix Mendelssohn Bartholdy „Die Hebriden“, op. 26 10‘25 London Symphony Orchestra Ltg. Claudio Abbado DG 4231042 LC 00173 MODERATION Es ist ein beständiges Auf und Ab in dieser Musik, ein Thema, das immer wieder variiert wird und stets wieder auftaucht wie eine Flaschenpost auf dem Meer. Übrigens, noch eine dritte von Mendelssohns Ouvertüren spielt mit dem Meer, die Ouvertüre „Zum Märchen von der schönen Melusine“, die durch ein Wellenmotiv charakterisiert wird, kontrastiert durch ein männlich ritterliches Seitenthema. Das wohl berühmteste symphonische Gedicht, das dem Meer gewidmet ist, stammt von Claude Debussy. Nach der Uraufführung schrieb Pierre Lalo, Sohn des Komponisten Edouard Lalo: „zum ersten Male habe ich beim Anhören eines malerischen Werks von Debussy den Eindruck gehabt, keineswegs der Natur selbst, sondern einer Reproduktion der Natur gegenüberzustehen, einer wunderbar verfeinerten, kunstvollen und geschickten Reproduktion, aber doch nur einer Reproduktion. Ich höre das Meer nicht, ich sehe und rieche es nicht.“ 6 Aber das war auch nicht die Absicht des Komponisten, der die Idee zu diesem Werk übrigens nicht am Meer, sondern in Burgund gefunden hatte. In einem Brief schrieb er: „Sie werden einwenden, daß der Ozean nicht gerade die burgundischen Hügel umspült! Und das könne wohl Atelierlandschaften gleichen, aber ich habe unzählige Erinnerungen; meiner Ansicht nach ist das mehr wert als eine Wirklichkeit, deren Zauber die Phantasie gewöhnlich zu stark belastet.“ Debussy wollte keineswegs das Meer schildern, es nicht abbilden. Vielmehr ist die Musik auf höchst komplexe und komplizierte Weise strukturiert wie das Meer. Klang und Rhythmus sind in permanenter Bewegung. Es ist also keine musikalische Postkarte zu hören. 4) CD Track 2 Claude Debussy „La Mer“ Jeux de vagues 7‘16 New Philharmonia Orchestra Lt. Pierre Boulez CBS 42546 LC 00149 MODERATION Ähnlich und doch ganz anders funktioniert das folgende Werk von Alfred Schnittke. Ähnlich, weil es auch hier nicht darum geht, das Meer zu imitieren, ganz anders, weil die Musiksprache Schnittkes sich von der Debussys unter anderem dadurch unterscheidet, daß sie die klassische Tonalität hinter sich gelassen hat. „Man kann stundenlang am Meer sitzen und die magische Wirkung der Wellen erleben, doch nie erschließt sich uns ihre Struktur. Wo beginnt die Welle? Wo ist der Höhepunkt? Wo beginnt eine neue? Ist es eine Welle oder ein Zusammenwirken von mehreren in verschiedenen Stadien? Alle diese Fragen sind unbeantwortet und werden es ewig bleiben.“ 7 Das schrieb Alfred Schnittke zu seiner Komposition „Passacaglia für großes Orchester“, entstanden 1979. Das Staunen über dieses unergründliche Naturgesetz war der Ausgangspunkt, der Impuls für dieses Werk, das nach einer Art Wellenprinzip strukturiert ist. Siebenmal schwellen die Wogen an, überschneiden und überlagern sich. Wenn die eine Welle ihren Höhepunkt erreicht hat, setzt bereits eine neue ein. Das ist jeweils der Moment, da alle Instrumente zugleich erklingen. 5) CD Track 3, ab 7’20 bis 10‘10 Alfred Schnittke Passacaglia für großes Orchester 2‘50 Malmö Symphonieorchester Ltg. Leif Segerstam BIS 437 LC 03240 MODERATION Natürlich wird dieser Ausschnitt aus der Mitte des knapp zwanzigminütigen Werks Schnittkes Komposition „Passacaglia“ nicht gerecht, aber zumindest das Prinzip dürfte hörbar geworden sein. Auch das folgende Werk kann nur anklingen, aber ich möchte es Ihnen nicht vorenthalten, weil hier die Metapher der Reise noch einmal aufgenommen wird. „The Seafarer“ ist ein angelsächsisches Gedicht aus dem 10. Jahrhundert, überliefert im Exeter-Book, auch bekannt als Codes Exoniensis. Es umfaßt 131 Blätter, und es ist die umfangreichste Sammlung altenglischer Dichtung. Leofric, der erste Bischof von Exeter, schenkte es der Bibliothek der Kathedrale, wo es noch heute aufbewahrt wird. In dem Gedicht „The Seafarer“ erzählt ein alter Seemann von seiner Lebensreise, die am Ende im „himmlischen Hafen“ zur Ruhe kommt. Die englische Komponistin Sally Beamish hat dieses Gedicht zuerst zu einem kurzen Stück für Solovioline inspiriert, dann hat sie es für Sprecher und Klaviertrio vertont, und zum Schluß entstand auch noch ein großes 8 Konzert für Viola und Orchester, das sie Tabea Zimmermann gewidmet hat. Im letzten Satz wird das Material der ersten beiden noch einmal aufgegriffen. „Der erste Satz läßt an Wellen, Meeresvögel, sowie an Konflikte und Erkundungen denken“, so die Komponistin Sally Beamish. 6) CD Track 1, ab 3‘45 Sally Beamish Violakonzert Nr. 2 „The Seafarer“ 1.Satz: Andante irrequito 3‘56 Tabea Zimmermann, Viola Schwedische Kammerorchester, Örebro Ltg. Ola Rudner BIS 1241 LC 03240 MODERATION Allmählich geht unsere Reise über die Meere dieser Welt zu Ende. Natürlich ist es so gut wie unmöglich, die unendlichen Weiten und Tiefen des Meeres in fünf Stunden zu erkunden, zumal die Musik so unendlich ist wie das Meer. Gern wäre ich noch mit der „HMS Pinafore“ – „Ihrer Majestät Schiff ‚Schlabberlatz‘“ – von Gilbert und Sullivan zu den „Perlenfischern“ des Georges Bizet gefahren, hätte mit Edouard Lalo den König der untergangenen Stadt „Ys“ besucht, dem Läuten der versunkenen Kathedrale des Claude Debussy gelauscht. Auch wäre ich gern Sindbad, dem Seefahrer, begegnet in Rimsky-Korsakows „Scheherazade“ und mit ihm über unbekannte Meere von Henry Kimball Haldey oder Paul Gilson gesegelt. Und allein die Musik zu Shakespeares „Sturm“ würde Stunde füllen können. Eine kurze musikalische Reise wollen wir aber doch noch unternehmen – mit Jean Sibelius. Der war 1914 in die USA eingeladen und mit einem neuen Werk beauftragt worden. Auch wenn das Stück kein detailliertes Programm hat, so ist es doch programmatisch, denn Sibelius reiste per Schiff – damals die einzige Möglichkeit, über den großen Teich zu gelangen. Eigentlich hatte er es „Rondo 9 der Wellen“ nennen wollen. Nach der Seereise überarbeitet er es noch einmal, denn die Reise war nicht ohne Folgen geblieben. „Auf der Überfahrt habe ich mehr über den Ozean gelernt, als durch das Betrachten des Meers von den Uferklippen in Helsinki.“ „Die großartigste Meeresschilderung, die die Musik kennt“, schwärmte ein amerikanischer Kritiker. Okeanos ist der Weltstrom, der die Erde umfließt, und er zeugte die Okeaniden, die Götter und Göttinnen des Wassers. Sie mögen uns wohlgesonnen bleiben bei allen zukünftigen Reisen über die Meere dieser Welt. 7) CD Track 1, ab 3’35 Jean Sibelius „Die Okeaniden“, op. 73 6‘00 Bournemouth Symphony Orchestra Ltg. Paavo Berglund EMI 5744912 LC 06646 MODERATION 8) *CD Track 4, ab 23‘50 Ralph Vaughan Williams „A Sea Symphony“ „The Explorers“ Amanda Roocroft, Thomas Hampson BBC Symphony Chorus and Orchestra Ltg. Andrew Davis TELDEC 945502 LC 06019 4‘18