Winfried Lechner, Nationale und Kapodistrische Universität Athen (1

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4. ÖSD Tagung,  , 05. Februar 2017
SPRACHE UND FORMALE LINGUISTIK
Winfried Lechner, Nationale und Kapodistrische Universität Athen
[email protected]
1. SPRACHE
(1)
Zehn Mythen über das menschliche Sprachsystem
a. Sprachen sind nicht logisch aufgebaut.
b. Die Sprachen der Welt unterscheiden sich voneinander völlig wahllos und beliebig.
c. Früher Zweitsprach(L2)erwerb behindert die Entwicklung der Erstsprache (L1).
d. Bilingualismus ist global die Ausnahme.
e. Sprache dient der Kommunikation und wird primär durch Kultur geprägt.
f. Sprachen werden, so wie Mathematik, das Schachspiel oder die Violine, erlernt.
g. Historische Sprachentwicklung ist das Resultat von Evolution.
h. Einige muttersprachliche Sprecher sind fähiger (kompetenter) als andere.
i. Sprache beeinflußt das Denken, oder bestimmt dieses sogar (Sapir-Whorf-Hypothese).
j. Gedanken können nur durch Sprache ausgedrückt werden.
(2)
Formale Linguistik (Generative Grammatik; Noam Chomsky)
a. Kompetenz: Sprecher einer Sprache besitzen die Fähigkeit, die syntaktisch wohlgeformten
Sätzen dieser Sprache von den ungrammatischen zu unterscheiden und zu interpretieren.
b. Generative Grammatik: Sprache als deterministisches, diskretes, rekursives, kombinatorisches System, das abstrakte mentale Repräsentationen generiert.
c. Aufgabe der Linguistik: Suche nach der empirisch richtigen Grammatik.
i. Definition der Algorithmen, die Form und Bedeutung verbinden
ii. Identifizierung universeller Eigenschaften (Typologie)
iii. Untersuchung von Erst/Zweitspracherwerb (Psycholinguistik)
iv. Wie ist Sprache phylogenetisch entstanden? (Biolinguistik)
(3)
Funktionale Linguistik (Konstruktionsgrammatik; Adele Goldberg)
a. Performanz: Sprache ist Summe des Sprachgebrauchs; keine Abstraktheit Noam Chomsky,
MIT (*1928)
b. Kommunikationssystem: Sprache wird durch Funktion geprägt.
c. i. Auflistung von Konstruktionen
ii. Erklärung von Analogien zwischen Sprache und anderen kognitiven Systemen.
(4)
Argumente für formale Analyse
a. Wissenschaftliche Methode: evidenzbasiert, präzise, verständlich, falsifizierbar
b. Zentrale Eigenschaften von Sprache sind Struktur und Abstraktheit.
c. Kommunikation ist weder zentral noch konstituierend für Sprache.
d. Poverty of Stimulus Argumente (“Absenz von Evidenz =/ Evidenz von Absenz”): das
Sprachvermögen ist angeboren und nicht durch Gebrauch/Funktion bestimmt.
e. Statistik (Zipfsches Gesetz): seltene Konstruktionen (parasitic gaps, ACD,...) sind ebenso
systematisch wie häufig auftretende (“Absenz von Evidenz =/ Absenz im System”).
f. Grammatik ist domänenspezifisch: in keiner Sprache werden Verben auf mit [b] beginnende
Ausdrücke, oder Objekte auf blaue Dinge bezeichnende Nomen, beschränkt.


(5)
Teilbereiche (Komponenten) des Sprachsystems
a. Syntax (Form): - Satzbau (Syntax im engeren, linguistischen Sinne)
- Morphologie (Wortbau): Erklär-bar-keit; *Erklär-keit-bar
- Phonologie (Lautsystem): i[n]aktiv, I[m]mobilie, i[l]legal, i[r]real
b. Semantik (Bedeutung)
[* markiert Ungrammatikalität]
c. Pragmatik (Verwendung: Du vs. Sie)
2. GESETZE DER SPRACHE - UND WIE MAN SIE BRICHT
Fundamentalsatz über menschliche Sprache
Menschliche Sprache wird durch zwei konstituierende Eigenschaften charakterisiert:
! Struktur: die Gesetze der Sprache referieren auf hierarchische Teil-Ganzes-Beziehungen
! Abstraktheit: Form und Bedeutung wird durch nicht-hörbare Elementen determiniert
Beispiel 1 (Struktur): Wortstellung innerhalb des Satzes wird durch Position des Satzes bestimmt.
(6)
(7)
Objektssätze erlauben Verb-End und Verb-Zweit-Stellung
a. Peter behauptete, dass Trump eigentlich ein Alien seiV-end.
b. Peter behauptete, Trump1 sei2 eigentlich ein Alien.
(V-end [“Verb-end”])
(V2 [“Verb-zweit”])
Subjektsätze erlauben kein V2
a. Dass Trump gewonnen hatV-end, erschreckte uns alle.
b. *Trump1 hat2 gewonnen erschreckte uns alle.
(V-end)
(*V2)
Beispiel 2 (Struktur): Bildung von Fragen und andere Bewegungen von Satzteilen
(8)
(Wir glaubten), dass sie es lesen3 können2 muss1.
(9)
a. Sie muss1 es lesen3 können2.
b. Muss1 sie es lesen3 können2 __?
(Bewege Verb1)
(10)
a. *Sie können2 es lesen3 __ muss1.
b. *Können2 sie es lesen3 __ muss1?
(Bewege Verb2)
(11)
a. *Sie lesen3 es __ können2 muss1.
b. *Lesen3 sie es __ können2 muss1?
(Bewege Verb3)
Frage: Wie erwerben Kinder ohne Instruktion das Wissen, dass nur Verb1 bewegt werden kann?
Antwort: Das (9) – (11) zugrunde liegende Prinzip ist angeboren (Relativierte Minimalität; Rizzi 1990):
(12)
Bewege immer das hierarchisch höchste Element ( jenes mit der kleinsten Zahl).
(13)
a.
b.
c.
d.
Uns scheint, dass es1 relativ einfach ist, die Frage2 zu beantworten.
Es1 scheint, __ relativ einfach zu sein die Frage2 zu beantworten.
*Die Frage2 scheint es1 relativ einfach __ zu beantworten zu sein.
Die Frage1 scheint relativ einfach __ zu beantworten zu sein.
(Bewege NP1)
(Bewege NP2)
(Bewege NP1)
Beispiel 3 (Struktur & Abstraktheit): Verteilung von Personal und Reflexivpronomen.
(14)
(15)
a. Clinton stimmte für sich.
b. *Clinton stimmte für sie.
(wenn sie = Clinton)
a. Clinton beteuerte, dass sie gewinnen werde.
b. *Clinton beteuerte, dass sich gewinnen werde.
(sie = Clinton)
Evidenz für Annahme dass Infinitivsätze verstecktes, nicht hörbares Subjekt (Trump in (17)) enthalten:
(16)
a. Trump versprach Clinton, sich eine neue Perücke zu kaufen.
b. Trump versprach Clinton auch, ihr einen neuen Hosenanzug zu kaufen.
c. *Trump versprach Clinton, ihm eine neue Perücke zu kaufen.
(sich = Trump)
(ihr = Clinton)
(ihm = Trump)
(17)
a. Trump versprach Clinton, Trump sich eine neue Perücke zu kaufen.
b. Trump versprach Clinton, Trump ihr einen neuen Hosenanzug zu kaufen.
c. *Trump versprach Clinton, Trump ihm eine neue Perücke zu kaufen.
(ihm = Trump)
[durchgestrichenes wird nicht ausgesprochen]
Beispiel 4 (Abstraktheit): Auch andere Subjekte im Deutschen können abstrakt, i.e. nicht hörbar, sein.
(18)
a. Bücke Dich! Bückt Euch!
b. Bücken Sie3pl sich3pl!
c. *Bücken sich! *Bücken uns!
d. Bücke Du Dich! Bückt Ihr Euch!
e. *Bücken Sie sich! Bücken wir uns!
 Das Sprachsystem arbeitet mit abstrakten Objekten (vgl. Universum: 95% schwarze Materie)
Résumé & Konsequenzen
! Sprache wird durch Struktur und Abstraktheit charakterisiert
! Zentrale Teile der Sprachfähigkeit sind angeboren.
! Diese Beobachtung (und (6) – (14)) sind nicht über Funktion zu erklären, sondern folgen aus
formalen Eigenschaften ( Sprache ist nicht für Kommunikation optimiert).
! Wissenschaft von Sprache befaßt sich nicht mit Kommunikation/Funktion von Sprache.
 ! Sprachunterricht sollte sich an Erkenntnissen der formalen Linguistik orientieren und nicht
an impressionistischen Beschreibungen von Sprachverhalten.
Analogie Linguistik - Naturwissenschaft (Chemie)
" Chemie befasst sich u.a. mit Wasser: geruchslos, durchsichtig, Formel H2O,...
" Funktion (Trinken, Waschen, Bewässern,...) liegt dagegen nicht im Bereich der Chemie.
" Unterricht: Wasser wird natürlich ‘formal’ erklärt, nicht anhand des Gebrauchs!
3. GRAMMATIK UND DEUTSCHUNTERRICHT: MEHR ZUR VERBSTELLUNG
(19)
a. Diesen Präsidenten mag niemand.
b. Wir glauben, dass diesen Präsidenten niemand mag.
(20)
Frage: Was ist die Beziehung zwischen V2 und V-end-Sätzen?
(21)
a. Hypothese Aschwach : Es gibt zwei von einander unabhängige Satzypen, V2 und V-end.
(V2)
(V-end)
b. Hypothese Astark: V2 Sätze sind grundlegend und V-end wird aus V2 abgeleitet.

c. Hypothese B: In V2 Sätzen bewegt sich das finite Verb von der letzten Stelle nach links.
Analyse mittels syntaktischer Baumstrukturen, die hierarchische Teil-Ganzes-Struktur offenlegen:
(22)
1 ( CP, ‘Vorfeldphrase’)
qp
V2-Bewegung und Vorfeldbesetzung
NP
2 ( C’)
6
ei
Diesen
V°
3 ( TP, ‘Satzphrase’)
Präsidenten
!
ei
mag
NP
4 ( T’)
6
3
niemand
VP
5 ( T°)
3

NP
V°
[durchgestrichenes
6
!
wird nicht ausgesprochen]
diesen Präsidenten mag
Evidenz I für (21)c (Partizipien): Hypothese Astark: Bewegung des Partizips nach rechts. Hypothese
Aschwach impliziert zufällige Beziehung zwischen V2 und V-end. Dies läßt typologisch Yoda-Formen (24)
erwarten (falsch).
(23)
a. Peter hat den Film gesehen.
b. *Peter hat gesehen den Film.
c.
d.
Maria ist mit ihm nach Wien geflogen.
*Maria ist geflogen mit ihm nach Wien.
(24)
a. *Peter gesehen den Film hat.
b.
*Maria geflogen mit ihm nach Wien ist.
Evidenz II (Partikelverben): Hypothese Astark: Bewegung der Partikel. Hypothese Aschwach: YodaFormen (26) sind typologisch nicht attestiert.
(25)
a. Peter rief Maria an.
b. *Peter anrief Maria.
c.
d.
Peter führte den Film vor.
*Peter vorführte den Film.
(26)
a. *Peter an Maria rief.
b.
*Peter vor den Film führte.
Evidenz III (V-end): Hypothese Astark: Bewegung des finiten Verbs und des Partizips/der Partikel:
b.
b.
Er sagte, dass sie nach Wien geflogen ist.
Sie sagte, dass Peter den Film vorführte.
(27)
(28)
a. Sie sagte, dass er ihn gesehen hat.
a. Sie sagte, dass Peter Maria anrief.
(29)
Hypothese Astark: Bewege Partizip oder Partikel (V2) oder Verb + Partizip/Partikel (V-end).
Evidenz IV (Typologie): V2-Signatur ist typologisch weitverbreitet.
(30)
(31)
Karitiana (Tupisprache; Brasilien)
Ohy
a-taka-'y-t
Erdäpfel passiv-dekl.-essen
taso
Mann/“Erdäpfel aß der Mann”
Vata (Krufamilie; Elfenbeinküste)
A
la
saka li/“Wir
haben Reis gegessen”
[Beispiele von David Pesetsky]
(32)
Kashmiri (Dardischisch, indoiranisch/indoeuropäisch; Hindokusch)
akh
insaan vuch me
tati
eine Person sah ich-Erg
da/“Eine Person sah ich da”
(33)
Konsequenz für L2-Unterricht: Gelenkter Zweitspracherwerb sollte mit periphrastischen V2Sätzen beginnen, um V2-Regel in den Daten optimal transparent zu machen (Lechner 2009).
4. BEMERKUNG ZUR SEMANTIK
Semantische Definitheit reguliert Grammatikalität u.a. in Existenzkonstruktionen:
(34)
a. Es gab neun gute Bilder im ersten Raum der Ausstellung.
(semantisch indefinite NP)
b. Im zweiten Raum gab es viele abstrakte Bilder/mehr Bilder als Skulpturen.
c. In der ganzen Ausstellung gab es kein monochromes Bild und nichts gestreiftes.
(35)
a. *Es gab die meisten/alle Bilder im ersten Raum.
(semantisch definite Subjekte)
(vgl. Die meisten/alle Bilder befanden sich im ersten Raum)
b. *Es gab jede/die Skulptur in einer Vitrine aus Schmalz und Fell.
(vgl. Jede/die Skulptur befand sich in einer Vitrine aus Schmalz und Filz.)
a. zwei/viele/keine Stunde später
b. *die meisten/alle/jede/die Stunde(n) später
(36)
(37)
Konsequenz für L2-Unterricht: Schüler benötigen Wissen um Grundlagen der Semantik.
Resume: “Without a theory, the facts are silent.”
(Friedrich A. Hayek, Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften 1974)
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