2 Hörstörungen und ihre Bedeutung für die Sprachentwicklung

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2 Hörstörungen und ihre Bedeutung
für die Sprachentwicklung
Die Kenntnis der dargestellten audiometrischen Untersuchungen bildet
eine wichtige Voraussetzung für die logopädische Therapie hörgeschädigter Kinder. Bevor der eigentliche Therapieansatz ausführlich beschrieben
wird, bedarf es einiger Erläuterungen zur aktuellen Versorgungspraxis mit
Hörgeräten und Cochlear-Implant. Eine theoretische Einführung in den
Zusammenhang von Hörstörungen und Sprache bietet die weitere Grundlage zum Verständnis des Therapiekonzeptes.
Auf welchem Hintergrund die speziellen Probleme hörgeschädigter Kinder zu
beurteilen sind, zeigt zunächst ein Überblick über die Gehörentwicklung
beim gesunden Kind. Dabei wird auf die verursachenden Faktoren für Hörstörungen nur kurz eingegangen. Im Einzelfall kann die Ursache oft nicht definitiv geklärt werden. Dennoch sollten zumindest die möglichen Faktoren
bekannt sein.
Größere Relevanz für die konkrete logopädische Arbeit hat die Liste der
Indikationen für eine Hörgeräte- oder Cochlear-Implant-Versorgung und der
Zusammenhang zwischen Hörstörungen und Sprachentwicklung. Hier wird
dann auch auf die Besonderheiten in der Entwicklung hörgeschädigter Kinder eingegangen.
2.1 Gehörentwicklung als Grundlage der Sprachentwicklung
Die Zeittafel der Gehörentwicklung verdeutlicht in anschaulicher Weise,
wieviel bei intaktem Gehör von Kleinkindern in den jeweiligen Entwicklungsphasen gehört werden kann (vgl. auch Wirth 1994, S. 204 ff). Die Entwicklung des Gehörs und die darauf aufbauende Hörbahnreifung ermöglichen erst die Lautsprachentwicklung.
Bereits der Säugling reagiert auf Sprache, imitiert sie und experimentiert mit
ihr. Etwa ab dem 6. Lebensmonat beginnt er, ein Verständnis für die Bedeutung der Sprache aufzubauen.
Anders betrachtet, veranschaulicht Übersicht 2.1 aber auch, welche Höreindrücke dem Kind schon im frühen Säuglingsalter und vorher entgangen
sein können, wenn Störungen diese Entwicklung beeinträchtigen.
2.1 Gehörentwicklung als Grundlage der Sprachentwicklung
Übersicht 2.1. Gehörentwicklung und frühe Sprachentwicklung
beim gesunden Kind
6. SchwangerschaftsDas Hörorgan ist angelegt.
woche
22. SchwangerschaftsVorgeburtliches Hören: Erste Reaktionen des Föwoche
tus (veränderte Herzfrequenz, Bewegung) auf
akustische Reize.
Geburtsphase
Das Neugeborene reagiert auf überschwellige
akustische Reize (z. B. mit Innehalten in der Bewegung, veränderter Atmung, Schreckreaktionen
auf laute Geräusche).
1. Lebensmonat
Das Kind zeigt auditive Aufmerksamkeit und beruhigt sich bei kontinuierlichen, leiseren Geräuschen aus unmittelbarer Nähe.
Ab 6. Lebenswoche
Beginn der ersten Lallperiode mit undifferenzierter Lautproduktion.
3.–6. Lebensmonat
Kopfdrehen in Richtung der Schallquelle, die Augen suchen die Schallquelle. Das Kind zeigt unterschiedliche Reaktionen auf verschiedene Geräusche. Die Stimmen der Eltern werden erkannt.
Stimmen und Musik beruhigen. Die Suche nach
der Schallquelle wird vervollkommnet.
6.–9. Lebensmonat
Zweite Lallperiode. Nachahmen von Geräuschen.
Angleichung des Lautsystems an die Muttersprache durch Selbst- und Fremdnachahmung. Parallel beginnt die Entwicklung des Sprachverständnisses mit dem Verstehen typischer Intonationsmuster.
9. Lebensmonat
Das Kind versteht bekannte Wörter und einfache
Aufforderungen im situativen Kontext und zeigt
erste eigene intentionale Sprachäußerungen.
10. Lebensmonat
Das Kind dreht bei Benennen den Kopf zum Gegenstand.
11.–15. Lebensmonat
Einfache Verbote und Gebote werden befolgt. Das
Kind baut einen triangulären Blickkontakt auf
und spricht einzelne Wörter. Es nähert sich kontinuierlich dem akustischen und semantischen
Kodex der Muttersprache an.
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2 Hörstörungen und ihre Bedeutung für die Sprachentwicklung
2.2 Ursachen für Hörstörungen
Nach der Darstellung der physiologischen Hör-Sprach-Entwicklung wird
in diesem Kapitel auf die verschiedenen Ursachen eingegangen, die einer
Hörschädigung zugrunde liegen können. Wird eine bestehende Hörstörung nicht erkannt, entgehen dem Kind wesentliche Höreindrücke. Außerdem kann es zu folgenschweren Fehldiagnosen und entsprechend inadäquaten Behandlungen kommen. Solche Fehler, wie auch die späte Erfassung hörgeschädigter Kinder könnten mit einer universellen Frühdiagnostik vermieden werden.
Im Laufe der zuvor beschriebenen Entwicklung des Gehörs kann es zu verschiedenen Störungen kommen. Als verursachende Faktoren kommen eine
Reihe von Erkrankungen und Syndromen in Frage.
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In der Praxis kann die genaue Ursache jedoch nur selten nachgewiesen werden. Eltern und Behandler müssen sich dann mit Vermutungen zufrieden
geben.
Grundsätzlich teilt man in hereditäre (genetische) und erworbene Ursachen ein.
Genetische Hörstörungen
Genetische Hörstörungen treten entweder isoliert oder im Rahmen einer erblichen Grunderkrankung bzw. eines Syndroms auf. Bei den verschiedenen relevanten Syndromen kann die Hörstörung in Verbindung mit Ohrmißbildungen
(am äußeren Ohr, Mittel- oder Innenohr), mit Haut- oder Augenerkrankungen,
mit neurologischen Krankheiten, mit Skelettanomalien und zusammen mit
Nieren- oder Stoffwechselerkrankungen auftreten. Auf eine genauere Beschreibung der einzelnen Syndrome wird hier verzichtet (vgl. auch Fachliteratur, z. B.
Becker et al. 1986, S. 152–154; Biesalski u. Frank 1994; Leiber 1990; Hartmann
u. Seifert 1998, S. 580 ff; Wirth 1994, S. 216 ff). Die wohl bekanntesten Syndrome im Zusammenhang mit Hörstörungen sind das Waardenburg-Syndrom, das Usher-Syndrom, das Franceschetti-Syndrom, das Pierre-Robin-Syndrom, das Alport-Syndrom, das Goldenhar-Syndrom, das Pendred-Syndrom
sowie verschiedene Chromosomenanomalien, z. B. das cri-du-chat-Syndrom.
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Bei Verdacht auf hereditäre Verursachung der Hörstörung sollte den Eltern
trotz der geringen Aussicht auf eindeutige Abklärung eine humangenetische
Untersuchung und Beratung angeboten werden, auch im Hinblick auf die
weitere Familienplanung. Dies gilt sowohl bei familiärer Häufung der
Schwerhörigkeit als auch bei Hinweisen auf ein Syndrom. Weiterhin ist hier
unbedingt eine Hörprüfung bei den Geschwisterkindern und möglichst auch
den Eltern zu empfehlen.
Erworbene Hörstörungen
Erworbene Hörstörungen
Die erworbenen, exogenen Hörschädigungen werden nach ihrem vermutlichen Eintrittszeitpunkt in prä-, peri- und postnatale Schädigungen unterteilt.
Pränatale Hörschädigung
Die Ursachen dieser Schädigung sind in Übersicht 2.2 zusammengestellt.
Übersicht 2.2. Ursache: Pränatale Schädigung
H Infektionen der Mutter:
j Toxoplasmose (parasitär), virale Infekte wie Röteln, Herpes, Mumps,
Poliomyelitis, Influenza, bakterielle Infekte wie Lues, Listeriose.
H Sauerstoffmangel mit Embryopathie.
H Toxische Schäden insbesondere durch:
j potentiell ototoxische Medikamente wie bestimmte Antibiotika (insbesondere Aminoglykoside), Salicylate, Zytostatika, Chinin.
j Alkohol und Drogen (selten).
H Weitere Ursachen (selten):
j Diabetes mellitus der Mutter, Mangelernährung, Röntgenstrahlung.
Perinatale Hörschädigung
Übersicht 2.3 zeigt mögliche Komplikationen während der Geburt, die zu einer Beeinträchtigung des Hörvermögens führen können.
Übersicht 2.3. Ursache: Perinatale Schädigung
H Asphyxie, Hypoxie.
H Frühgeburtlichkeit.
H Hyperbilirubinämie (Kernikterus aufgrund von Rhesusinkompatibilität).
Postnatale Hörschädigung
In der kindlichen Entwicklung können folgende Faktoren das Hörorgan schädigen (Übersicht 2.4).
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Übersicht 2.4. Ursache: Postnatale Schädigung
H Infektionskrankheiten wie Meningitis, Enzephalitis, Mumps, Masern,
speziell: Otitis media.
H Toxische Schäden durch ototoxische Medikamente.
H Traumata.
H Mittelohrtumoren.
H Cholesteatom (überwiegend erworben).
Idiopathische Ursache
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In vielen Fällen bleibt die genaue Ursache der Hörschädigung auch nach
eingehender Anamnese und gründlicher ärztlicher Diagnostik unbekannt.
Für die betroffenen Eltern ist diese Unklarheit oft belastend.
Es scheint leichter, sich mit etwas abzufinden, wenn man weiß, wie es dazu
kam. Bleibt die Ursache ungeklärt, suchen viele Eltern bei sich selbst nach
den Gründen bzw. nach der „Schuld“. Häufig fühlen sie sich verantwortlich
für die Behinderung ihres Kindes und vermuten, sie hätten irgendetwas versäumt oder falsch gemacht, was zu der Hörschädigung geführt habe. Eine direkte Verantwortung der Eltern für die Hörbehinderung ist aber, wie die Aufzählung der Ursachen deutlich zeigt, sehr unwahrscheinlich. Eine Teilaufgabe
der Aufklärungs- und Beratungsarbeit ist es daher auch, den Eltern bei der
Bewältigung dieser zumeist unbegründeten Schuldgefühle und Selbstvorwürfe zu helfen (vgl. dazu auch Kap. 4.1, Abschnitt „Unterstützung der Betroffenen in der Anfangsphase“ und Kap. 8.1, „Bereich I: Elternberatung“).
ZUSAMMENFASSUNG
H Die Ursache einer Hörschädigung läßt sich häufig nicht klären.
H Es gibt genetische und erworbene Hörstörungen.
H Bezüglich des Zeitpunktes der Schädigung unterscheidet man prä-, peri- und postnatale Ursachen.
H In der Regel liegt die Verantwortung für die Entstehung der Hörbehinderung nicht bei den Eltern.
Risikofaktoren
Die in Frage kommenden Ursachen für kindliche Hörschädigungen wurden
beschrieben. Darüber hinaus sollte bei vermeintlich normalhörenden Kindern mit bestimmten Risikofaktoren in der Anamnese oder mit Auffälligkeiten im Befund immer auch die Möglichkeit einer bisher nicht diagnostizierten Hörstörung in Betracht gezogen werden. Dies gilt insbesondere, wenn einer der folgenden Befunde bekannt ist oder Hinweise darauf vorliegen:
Fehldiagnosen bei nicht erkannter Hörstörung
H
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H
H
H
H
H
H
Familiäre Häufung von Hörstörungen,
Komplikationen während der Schwangerschaft,
Komplikationen während der Geburt,
Frühgeburtlichkeit,
Vorerkrankungen wie Meningitis oder Enzephalitis,
Mißbildungen, v. a. im Kopfbereich wie Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten,
Schädel-Hirn-Trauma,
neurologische Auffälligkeiten,
Nierenerkrankungen,
Schilddrüsenerkrankungen,
Netzhauterkrankungen,
Stoffwechselkrankheiten,
zurückliegende schwere, lebensbedrohliche Erkrankungen mit hoher
Wahrscheinlichkeit der Medikation ototoxischer Präparate.
ZUSAMMENFASSUNG
H Als Risikofaktoren kommen vor allem bestimmte Syndrome, Frühgeburtlichkeit, familiäre Häufung sowie bestimmte Medikationen in Frage.
H Beim Vorliegen von Risikofaktoren in der Anamnese sollte unbedingt
ein Hörtest erfolgen.
Fehldiagnosen bei nicht erkannter Hörstörung
Es kommt leider immer wieder vor, daß hörgeschädigte Kinder einem Arzt
oder Therapeuten beispielsweise mit den Befunden „Verhaltensauffälligkeit“
oder „Sprachstörung“ vorgestellt werden, ohne daß die audiogene Ursache
bemerkt wurde. In einzelnen Fällen wurden Kinder nur aufgrund ihrer
Schwerhörigkeit bereits als geistig behindert eingestuft und entsprechend
eingeschult (vgl. hierzu Behrendt u. Pascher 1998, S. 34 ff). Die Ursache der
Störung wurde einfach nicht näher untersucht. Wird die Hörstörung in solchen Fällen erkannt und das Kind rechtzeitig mit Hörgeräten versorgt und
gefördert, können die Verhaltensauffälligkeiten abgebaut werden. Denn häufig resultierte der Verhaltensbefund aus der ständigen Frustration, sich nicht
mitteilen zu können und von anderen nicht verstanden zu werden. Darüber
hinaus können aber auch geistig behinderte Kinder zusätzlich schwerhörig
sein. Bei ihnen wird eine vorhandene Hörstörung leicht übersehen.
Die folgenden Störungen können ebenso unabhängig vom Hörstatus auftreten und ergeben eigene Krankheitsbilder (Übersicht 2.5). Die Diagnosen
können in einzelnen Fällen allerdings durch das Übersehen einer vorhandenen Hörschädigung zustande gekommen sein.
!
Bei entsprechenden anamnestischen oder diagnostischen Hinweisen sollte
unbedingt eine Hörprüfung zum Ausschluß einer zugrundeliegenden
Schwerhörigkeit erfolgen.
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