1. Eilbeker Symposium zur seelischen Gesundheit am 1.4.2011 Aktuelle Behandlung von somatoformen und funktionellen Störungen Peter Henningsen Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Übersicht Behandlung beginnt mit Diagnostik Ätiologische Modelle prägen die therapeutischen Ansätze Therapie ist mehr als Psychotherapie Fazit Körperbeschwerden Alltägliche (selbst limitierende) Körperbeschwerden Zusammenhang mit eher körperlichen Faktoren (Muskel-)Kater, Rückenschmerz nach vielem Bücken, Schmerzen bei der Periode etc. Zusammenhang mit eher psychischen Faktoren Kopf- u./o. Magenschmerz bei Ärger, Durchfall bei Angst unklarer Zusammenhang Anhaltende Körperbeschwerden, die klar auf eine organische Ursache zurückgehen Magenschmerz bei Magengeschwür, Lähmung bei Schlaganfall, Herzbeschwerden bei Rhythmusstörung etc. Körperbeschwerden Anhaltende, durch Organpathologie nicht ausreichend erklärbare, beeinträchtigende Körperbeschwerden, die “ähnlich körperlich begründeten” sind Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation (Rücken, Kopf, Bauch/ Unterleib, Extremitäten) Funktionsstörungen (Schwindel, Herz, Verdauung, Gefühlsstörungen, Bewegungsstörungen etc.) Erschöpfung/ Müdigkeit Körperbeschwerden, die nicht (so stark) erlebt wie berichtet und vorgeführt werden Simulation/ Aggravation Warum sind Patienten mit somatoformen/ funktionellen Störungen “Heart sink patients”? Liegt meist nicht an der Art ihrer Beschwerden, sondern an anhaltend organischer Ursachenüberzeugung unrealistischer Behandlungserwartung trotz Chronifizierung dysfunktionalem Krankheitsverhalten © The New Yorker Warum sind Patienten mit somatoformen/ funktionellen Störungen “Heart sink patients”? Liegt meist nicht an der Art ihrer Beschwerden, sondern an anhaltend organischer Ursachenüberzeugung unrealistischer Behandlungserwartung trotz Chronifizierung dysfunktionalem Krankheitsverhalten Unsicherheit der Ärzte über angemessenen Umgang – Wie gehe ich mit Patienten um, die “nichts haben”? Welchen Namen gebe ich dem Kind? Klassifikation: der aktuelle Vorschlag der DSM V work group http://www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/SomatoformDisorders.aspx Complex Somatic Symptom Disorder (CSSD) Breiter Oberbegriff! Umfasst frühere Diagnosen - Somatisierungsstörung - Undifferenzierte Somatisierungsstörung - Hypochondrie - Schmerzstörung Klassifikation: der aktuelle Vorschlag der DSM V work group http://www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/SomatoformDisorders.aspx CSSD-Kriterien A Multiple somatic symptoms that are distressing, or one severe symptom B Misattributions, excessive concern or preoccupation with symptoms and illness: At least two of the following are required to meet this criterion: (1) High level of health-related anxiety. (2) Disproportionate and persistent concerns about the medical seriousness of one's symptoms. (3) Excessive time and energy devoted to these symptoms or health concerns.* C Chronicity: Although any one symptom may not be continuously present, the state of being symptomatic is chronic and persistent (at least 6 months). * Criteria B is still under active discussion Mögliche praktische Konsequenzen von CSSD Erleichterung hinsichtlich des schwierigen Entscheidens, ob organisch ausreichend erklärt Stärkung des psychotherapeutischen Aspekts der Diagnostik wie erlebt der Pat seine Beschwerden, welche Emotionen, Gedanken Verhalten gehen damit einher Förderung der gemeinsamen Perspektive auf somatoforme und somatopsychische Störungen z.B. Fokus auf Bewältigung Organische Erkrankung Periphere Stimuli Modell der Symptomentstehung Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung Katastrophisieren Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden (Kruse, modifiziert nach Henningsen, Zipfel, Herzog. Lancet 2007) Organische Erkrankung Periphere Stimuli Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Modell der Symptomentstehung Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung, Katastrophisieren Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Inanspruchnahme medizinischer Hilfen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden Wahrnehmung als schwere Erkrankung Angst /Depression Selbstwertkrise Schonungsverhalten Aufrechterhaltende interpersonelle oder somatische Faktoren Funktionelle Einschränkungen Sozialmedizinische Folgen (Kruse, modifiziert nach Henningsen et al. Lancet 2007) Organische Erkrankung Periphere Stimuli Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung, Katastrophisieren Symptomkontrolle: Entspannungstechniken Körperpsychotherapie Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Inanspruchnahme medizinischer Hilfen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden Wahrnehmung als schwere Erkrankung Angst /Depression Selbstwertkrise Schonungsverhalten Aufrechterhaltende interpersonelle oder somatische Faktoren Funktionelle Einschränkungen Sozialmedizinische Folgen (Kruse, modifiziert nach Henningsen et al. Lancet 2007) Organische Erkrankung Periphere Stimuli Stress Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Biofeedback Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung, Katastrophisieren Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Inanspruchnahme medizinischer Hilfen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden Wahrnehmung als schwere Erkrankung Angst /Depression Selbstwertkrise Schonungsverhalten Aufrechterhaltende interpersonelle oder somatische Faktoren Funktionelle Einschränkungen Sozialmedizinische Folgen (Kruse, modifiziert nach Henningsen et al. Lancet 2007) Organische Erkrankung Periphere Stimuli Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Kognitive Umbewertung Reframing Psychosomatisches Krankheitsverständnis Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung, Katastrophisieren Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Inanspruchnahme medizinischer Hilfen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden Wahrnehmung als schwere Erkrankung Angst /Depression Selbstwertkrise Schonungsverhalten Aufrechterhaltende interpersonelle oder somatische Faktoren Funktionelle Einschränkungen Sozialmedizinische Folgen (Kruse, modifiziert nach Henningsen et al. Lancet 2007) Organische Erkrankung Periphere Stimuli Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung, Katastrophisieren Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Inanspruchnahme medizinischer Hilfen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden Wahrnehmung als schwere Erkrankung Angst /Depression Selbstwertkrise Schonungsverhalten Aufrechterhaltende interpersonelle oder somatische Faktoren Funktionelle Einschränkungen Sozialmedizinische Folgen Aktivierung (Kruse, modifiziert nach Henningsen et al. Lancet 2007) Organische Erkrankung Periphere Stimuli Maladaptive frühe oder aktuelle Beziehungen Traumatisierungen Persönlichkeitsfaktoren Wahrnehmung körperlicher Beschwerden Psychodynamisch interpersonelle Psychotherapie Angst /Depression Interpretation als körperliche Erkrankung, Katastrophisieren Körperbild Krankheits-Repräsentationen und Kulturelle Überzeugungen Inanspruchnahme medizinischer Hilfen Wahrnehmung chron. körperlicher Beschwerden Wahrnehmung als schwere Erkrankung Angst /Depression Selbstwertkrise Schonungsverhalten Aufrechterhaltende interpersonelle oder somatische Faktoren Funktionelle Einschränkungen Sozialmedizinische Folgen (Kruse, modifiziert nach Henningsen et al. Lancet 2007) Aktuelle Leitlinienentwicklung AWMF-Leitlinie „Patienten mit organisch nicht hinreichend erklärbaren, funktionellen oder somatoformen Körperbeschwerden“ Federführung Psychosomatische Medizin (Nachfolge/ Erweiterung der Leitlinien Somatoforme Störungen 2002) Beteiligung u.a. Psychiatrie, klinische/ medizin. Psychologie, Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Neurologie, Orthopädie, Urologie, HNO, Pädiatrie, Frauenheilkunde, Arbeitsmedizin, Zahnmedizin etc. Fertigstellung 2011 Leitlinie der Klinischen Psychologie: “Psychotherapie somatoformer Störungen” Beteiligung Psychosomatische Medizin Fertigstellung 2011 Aufgaben/ Möglichkeiten des Haus-/ Facharztes im Umgang mit Patienten mit somatoformen/ funktionellen Störungen Diagnostik und Therapieeinleitung an Möglichkeit somatoformer/ funktioneller Störung denken! diagnostischer Umgang als Beginn der Therapie Sekundärprävention - somatoforme Störungen sind (auch) Beziehungsstörungen im Gesundheitswesen! Aktivieren statt Schonen Iatrogene Fixierung auf schwere organische Störung vermeiden Dysfunktionales Krankheitsverhalten dämpfen Diagnostischer Umgang als Beginn der Therapie Arzt-Patient-Beziehung ist bei somatoformen Störungen besonders am Anfang schwerer stabil zu gestalten als bei anderen Störungen das liegt nicht nur am Patienten, der sich oft nicht ernstgenommen, als “eingebildeter Kranker” hingestellt fühlt Eigene (negative) Gefühlsreaktionen beim entstehenden Verdacht auf eine somatoforme Störung beachten “Musterirritation”, Unsicherheit (diagnostisch und therapeutisch) Entscheidungsdruck (“entweder – oder”) Getäuscht-Fühlen, Entlarven-Wollen “Sowohl-als-auch”- Haltung ist sinnvoll Ernstnehmen der Beschwerden Frühzeitiges Interesse für psychosoziale Aspekte Angemessenes Zutrauen zur eigenen therapeutischen Kompetenz Stepped care in der psychosomatischen Behandlung funktioneller Störungen Enge Konsil- und Liaisonbeziehung zu niedergelassenen Haus- und Fachärzten und zu somatischen Abteilungen Schweregradgestuftes Behandlungsangebot Stufe 1 - akut Versicherung - Legitimierung - Begleitung - Aktivierung Stufe 2 - anhaltend Ambulante symptomorientierte Psycho-/Pharmakotherapie Stufe 3 - chronifiziert Multimodale tagesklinische/ stationäre Behandlung unter Einbeziehung von Komorbidität, Persönlichkeitsfaktoren, Soziallage Ambulante Psychotherapie im Intervall Psychotherapie somatoformer Störungen (schulenübergreifend in der Initialphase) Hohe Ansprüche relativieren, Bewältigung statt Heilung Aktiv Informationen geben über somatoforme Zusammenhänge Entgegennehmen der Symptomklage, Begleiten Initialer Verzicht auf Deutung von Zusammenhängen Tangentiale Gesprächsführung Einbeziehung des Körpers Motivation zur Psychotherapie nicht als Bringschuld des Patienten, sondern als Ziel der Anfangsphase PISO - Psychosomatische Kurz-Intervention bei Patienten mit multisomatoformen Störungen Ziele bessere körperbezogene Lebensqualität Erweiterung des Erklärungsmodells (inkl. Motivation, Krankheitsverhalten etc.) 3 Phasen/ Säulen Aufbau therapeutischer Beziehung, Legitimierung, Symptombewältigung (inkl. zweistufiges Tagebuch, Entspannung) Erste Schritte zur Affektklarifizierung und Aufarbeitung der Beziehungserfahrungen (benennen, differenzieren etc.) Beendigung/ Transfer (inkl. persönlicher Brief) Bezug zur psychodynamischen Konzeptbildung primär eher struktur- als konfliktbezogen Arbeitsgruppe PISO: Somatoforme Störungen - Psychodynamisch-Interpersonelle Therapie (PISO). In Beutel M, Doering S, Leichsenring F: Praxis der psychodynamischen Therapie. Hogrefe Verlag (im Druck) PISO – die Studie a) Significant improvement in both conditions between t1 and t3 (effect sizes d=0.61, p=.00 and d=0.32, p=.02 respectively) b) Significantly higher extent of improvement in PIT compared to EMC (differential effect size d=0.37, p=.00) Sattel H, …Henningsen P. Brief psychodynamic-interpersonal psychotherapy for patients with multisomatoform disorder: a randomized controlled trial. In revision Europäische Entwicklungen White Paper der EACLPP Bewußtsein für großes gesundheitliches und gesundheitsökonomisches Problem schärfen Entwicklung besserer Versorgung unterstützen Cambridge University Press, erscheint 2011 Fazit Die Kategorie “somatoforme Störungen” wird ersetzt durch eine deutlich veränderte Nachfolge-Kategorie war nicht selbstverständlich! Auswirkungen noch nicht absehbar… Ätiologiemodelle sind bio-psycho-sozial, diagnostisch-therapeutische Haltung entsprechend: “Sowohl-als-Auch statt Entweder-Oder” Verschränkung der Versorgungsebenen und stepped care Psychosomatische Behandlung ist “Störungsorientierte Psychotherapie plus” Europaweite Versuche, das Problem stärker ins Bewußtsein zu heben, sind wichtig Thank you!