Dietmar von der Pfordten 29. Januar 2008 Vorlesung 14 Im Laufe

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Dietmar von der Pfordten
29. Januar 2008
Vorlesung 14
Im Laufe ihrer Geschichte hat die Menschheit gelernt, immer feinere und damit zweckmäßigere Werkzeuge zur Bearbeitung und Herstellung aller möglichen Gegenstände zu verfertigen. Vergleichbares gilt für die Werkzeuge unserer Erkenntnis, unsere Begriffe, Gedanken
und Theorien. Drei dieser Begriffe sollen als Ergebnisse dieses Differenzierungsprozesses im
folgenden näher analysiert werden: Moral (=Sitte), Ethik und Recht.
Der allen drei Begriffen zugrunde liegende Begriff ist derjenige einer Norm, d. h. der Wertung eines Handelns oder der Verpflichtung zu einem Handeln im weitesten Sinne einschließlich der Charakterformung, also der Normierung von Tugenden. Man kann das griechische
Wort „nómos“ als einen spezifischen Ausdruck dieses noch un- oder wenig differenzierten
Begriffs der Norm eines Handelns im weitesten Sinne auffassen. Der Begriff nómos konnte
sowohl den Brauch, das Herkommen, die Sitte als auch die alten Gesetze sowie die Willkürmaßnahmen der Obrigkeit und die neuen, von Menschen geschaffenen Gesetze der Polis meinen, wobei allerdings der Hauptakzent eher auf der Verpflichtung als der Bewertung lag.1
Bereits in der griechischen Antike beginnt dann aber der schon erwähnte Differenzierungsprozeß. Dieser Differenzierungsprozeß hat – und das ist besonders wichtig – zwei Dimensionen, die man als horizontale und vertikale Differenzierung bezeichnen kann. Die horizontale Differenzierung trennt verschiedene Formen primärer, unmittelbarer Wertung und
Verpflichtung des Handelns, also etwa Moral, Recht, Politik, Religion, Medizin, Konventionen und Auffassungen und Ratschläge des guten Lebens. Dagegen unterscheidet die vertikale
Differenzierung zwischen primären Normen und sekundären Bezugnahmen der Ethik auf diese primären Normen sowie im 20. Jahrhundert sogar tertiären Bezugnahmen der Metaethik
auf diese sekundären Bezugnahmen der Ethik, wobei diese sekundären und tertiären Bezugnahmen der Ethik und Metaethik auf Moral, Recht, Religion usw. wiederum deskriptiv oder
normativ sein können.
Metaethik
Ethik
Moral Recht Religion Politik Medizin Technik Konventionen gutes Leben ....
Mein Vortrag hat drei Teile: Zunächst werde ich als paradigmatisches Produkt des horizontalen Differenzierungsprozesses die Moral erläutern. Dann werde ich etwas über die Ethik als
Resultat des vertikalen Differenzierungsprozesses sagen. Schließlich will ich mich näher mit
dem Recht, das uns natürlich besonders interessiert, beschäftigen und einen Rechtsbegriff
vorschlagen.
1
Hesiod Theog. 66; Heraklit Fragm. DK 22 B 44; Herodot 7, 104; Pindar Pythia II, 86.
2
I. Der horizontale Differenzierungsprozeß:
a) Im Rahmen des horizontalen Differenzierungsprozesses treten primäre Handlungsnormen
der Moral, des Rechts, der Religion, der Politik, der Medizin, der Konvention, der Mode sowie Ratschläge des guten Lebens auseinander. Dieser Prozeß beginnt bereits bei den Philosophen der griechischen Antike. Aristoteles unterscheidet etwa in der Nikomachischen Ethik
zwischen eudaimonía, also Glück, gutes Leben, areté, also Tüchtigkeit, Tugendhaftigkeit,
héxis, also Haltung, Verhalten, Gewöhnung, ethos, also Gewohnheit, Sitte, Brauch,2 sowie
natürlichem Recht (dikaíon, tò mèn physikón) und gesetzlichem Recht (dikaíon, tò dè nomikón).3 In der lateinischen Antike entwickelt sich dann eine noch weitergehende begriffliche
Trennung zwischen beatitudo, also Glück, glückliches Leben, virtus, also Tugendhaftigkeit,
habitus, also Haltung, mos, also Moral, Sitte, Gewohnheit, Herkommen, ius, also Recht, und
religio, also religiöses Gefühl, Religiosität, Gottesfurcht, Frömmigkeit.4 Dabei kann ius zunächst auch noch überpositives Naturrecht meinen. Eine klare Abgrenzung zur Ethik tritt in
Form der vertikalen Differenzierung erst mit der Zurückdrängung des Naturrechts am Ende
des 18. Jahrhunderts ein.
Die Einengung des Moralbegriffs auf eine engere, notwendig auch strikt verpflichtende Moral
im Gegensatz zu Fragen des guten und glücklichen Lebens liegt der Sache nach zwar schon
Platons Beschreibung der Diskussionen des Sokrates im Hinblick auf die Spannung zwischen
einem gerechten und einem glücklichen Leben, etwa in seinem Dialog „Gorgias“ zu Grunde.5
Sie bleibt bei Platon aber noch unter dem gemeinsamen Dach der höchsten Idee des Guten.6
Erst von Kant wird sie mit der Abstreifung der Wolffschen Wohlfahrts- und Vollkommenheitslehre endgültig festgeschrieben. Während Christian Wolff 1720 ein Buch noch „Moral,
oder vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit“ nennt,7 verengt Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785, der
„Kritik der praktischen Vernunft“ von 1787 und der „Metaphysik der Sitten“ von 1797/98 den
Begriff der Moral (Sitte) auf genuin moralische Pflichten in unserem heutigen engeren, kategorischen Sinne im Gegensatz zu bloßen Neigungen sowie Empfehlungen und Zielen des
guten Lebens – wobei die sog. Postulatenlehre dann noch eine Brücke bildet.8
b) Wie läßt sich der Begriff der Moral als Ergebnis dieser historischen Entwicklung heute
präzise verstehen? Moral bzw. Sitte ist die tatsächliche, das heißt in Raum und Zeit und damit
einer konkret realisierten Gesellschaft bestehende Gesamtheit von sozialen Normen und Regeln einschließlich ihrer inneren Anerkennung. Diese sozialen Normen und Regeln sind dadurch gekennzeichnet, daß sie
2
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Glückseligkeit: 1095a 20, 1097a 34ff., 1099a 30, 1098a 19; Tüchtigkeit: 1102a 6ff., 1103a 10f.; Haltung: 1106a 13ff., 1106b 36; Gewohnheit: 1103a 17.
3
Ebd. 1134b 22f.
4
Vgl. zu einer Geschichte des Begriffs der Moral den Artikel „Moral“ von G. Jüssen im Historischen
Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1984, Bd. 6, Sp.
149ff.
5
Platon, Gorgias, 506c 5ff.
6
Platon, Hippias Major, 297a 1ff., 303e 11ff.; Politeia 505a 2ff.
7
Christian Wolff, Moral, oder vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, Halle 1720.
8
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1903/11, S. 414ff.
3
(1) unser Handeln und Entscheiden primär und unmittelbar lenken, und zwar,
(2) mit dem Ziel zwischen wenigstens potentiell widerstreitenden und konfligierenden Gesichtspunkten, Werten und Belangen zu vermitteln
(3) drittens auch und vor allem mit Hilfe des Mittels kategorisches, d. h. zustimmungsunabhängiger Verpflichtungen, nicht nur durch bloße Empfehlungen und Gewohnheiten wie die
Ratschläge des guten Lebens, sowie Konventionen und Moden,
(4) nicht nur aus äußeren Verpflichtungsquellen schöpfend und mit dem Schwerpunkt in äußeren Verpflichtungen und Durchsetzungsmitteln wie dem Recht, und
(5) nicht zur Anleitung einer religiös-kultischen Praxis wie die Religionen, die allerdings sehr
häufig komplexer sind und als umfassendes soziales Phänomen auch moralische Normen enthalten.
Die Normen der Moral erheben im Gegensatz zu anderen Typen von Normen und Regeln9
einen gewissen Allgemeinheitsanspruch, der wiederum mit der Vorrangforderung der Moral
gegenüber diesen anderen Typen von Normen zusammenhängt.
Tatsächlich bestehende Normen der Moral bzw. Sitte sind in vielen Gesellschaften z. B das
Tötungsverbot, das Folterverbot, das Verletzungsverbot, das Lügenverbot, das Verleumdungsverbot, das Hilfsgebot in Notlagen, das Fairneßgebot sowie die Tugenden und damit
positiven Bewertungen der Klugheit, Stärke, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit,
Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft usw.
II. Der vertikale Differenzierungsprozeß:
a) Dem Begriff der Ethik liegen zwei griechische Begriffe bzw. Worte zu Grunde, die sich
nur im Anlaut unterscheiden: „éthos“ (gr. mit kurzem Epsilon), das enger Gewohnheit, Sitte,
Brauch, Übung bedeutet, und „aethos“ (gr. mit langem Eta), das gewöhnlicher Aufenthaltsort,
Wohnsitz, Standort, Heimat, dann aber auch Gewohnheit, Brauch, Sitte und schließlich Charakter, Denkweise, Sinnesart und sittliche Beschaffenheit meint.10 Bei Aristoteles findet sich
soweit ersichtlich zum erstenmal der Ausdruck „ethische Theorie“, „ethikes theorías“.11 Er
spricht des weiteren von „ethischen Büchern“, „en tois ethikois“.12 Und in der „Magna Mora-
9
Normen sind im Gegensatz zu Regeln nicht nur allgemeine Regelungen, sondern richten sich auch in
singulären Situationen an einzelne Personen, sind also im Ziel begrifflich umfangreicher als Regeln.
Normen erfordern allerdings eine autoritative Normsetzung, sind also im Ursprung begrifflich weniger
umfangreich. Regeln können sich dagegen als bloße Regelhaftigkeiten auch aus Gewohnheiten ohne
autoritativen Willensakt entwickeln, sind also im Ursprung begrifflich umfangreicher. Die jeweiligen
Begriffsbedeutungen bilden demnach Schnittmengen. Als explizite Sprechakte sind Normen und Regeln mit Bewertungen nicht identisch, enthalten diese aber regelmäßig. Normen und Regeln umfassen
die normlogischen Kategorien der Gebote, Verbote sowie der Indifferenz (Erlaubnisse, Freistellungen).
10
Vgl. zu einer Geschichte des Begriffs der Ethik den Artikel „Ethik“ von Heinrich Romberg im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Basel 1972, Bd. 2, Sp. 759ff.
11
Aristoteles, Analytica Posterior, 89b 9.
12
Aristoteles, Politik, 1261a 31.
4
lia“, der dritten Schrift zur Ethik, die Aristoteles zugeschrieben wird, deren Autorschaft allerdings umstritten ist, taucht auch der Ausdruck „ethische Sachen“, „ethiké pragmateia“ auf.13
Aristoteles hat demnach bereits klar zwischen dem in der Realität, worum es ging, also in
moderner Bezeichnung, den tatsächlich bestehenden Normen, etwa religiösen oder politischen
Normen, und der theoretischen Reflexion bzw. Begründung und Kritik dieser tatsächlich bestehenden Normen, eben der Ethik, unterschieden. Aristoteles ist auch der erste, von dem wir
mehrere zu verschiedenen, klar abgegrenzten Disziplinen verfaßte Schriften haben. Dabei ist
im Titel „theoría“, „pragmateía“ oder „techne“ fortgelassen, so daß die entsprechenden adjektivischen Abkürzungen dann später zur Politik, zur Physik, zur Rhetorik und eben auch der
Ethik, nämlich zur „Nikomachischen Ethik“ und „Eudemischen Ethik“, werden konnten, und
zwar als Buchtitel wie Disziplinbezeichnungen. Ob die ursprünglichen griechischen Titel in
abgekürzter oder vollständiger Form jeweils von Aristoteles selbst stammen oder von späteren Schülern des Peripatos bzw. Herausgebern der Schriften des Aristoteles, wie Andronikos
von Rhodos, hinzugefügt wurden, ist ungewiß.
Bei Cicero findet sich dann zum erstenmal das lateinische Äquivalent des Wortes „Ethik“:
„philosophia de moribus“, das schließlich zu „philosophia moralis“ wurde.14
Der Begriff der Ethik bzw. Moralphilosophie stand damit für beinahe zweitausend Jahre für
eine reflektierende, in weitergehender Form dann auch wissenschaftlich-theoretische Beschäftigung mit der Moral und anderen primären Sozialnormen, der theoretischen, aber durchaus
praktisch relevanten Analyse, Kritik und Rechtfertigung tatsächlicher sozialer Normen. Hunderte von Kommentaren zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles wurden seitdem etwa als
„Ethiken“ tituliert.15
Der Neuaufbruch der Wissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert brachte es allerdings mit sich,
daß viele Autoren wie Hobbes, Locke, Descartes und Leibniz ihren moralphilosophischen
Überlegungen nicht mehr den Titel „Ethik“ gaben. Dies geschah vermutlich, um zu verdeutlichen, daß sie ganz anders vorgehen wollten als Aristoteles dies getan hatte. Nur Spinoza hat
noch eine „Ethica“ verfaßt. Diese enthält jedoch eine umfassende Philosophie der Welt einschließlich einer Metaphysik bzw. Ontologie. Kant nennt seine Bücher zur Moralphilosophie
dann auch nicht mehr „Ethik“, sondern „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, „Kritik der
praktischen Vernunft“ und „Metaphysik der Sitten“. Allerdings beginnt er die erstgenannte
Schrift mit folgenden Worten:16 „Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften ab: Die Physik, die Ethik, und die Logik. Diese Einteilung ist der Natur der Sache
vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu verbessern, als nur das Prinzip derselben hinzu zu tun, um sich auf solche Art teils ihrer Vollständigkeit zu versichern, teils die
notwendigen Unterabteilungen richtig bestimmen zu können.“ Auch Fichte spricht nicht von
einer „Ethik“ sondern einer „Sittenlehre“ und Hegel schreibt ein Buch mit dem Titel „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, das unter anderem die Moral zum Gegenstand hat. Aber
im 19. Jahrhundert beginnt in allen europäischen Ländern eine Renaissance des Disziplinentitels „Ethik“, die bis heute angehalten hat. Es war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich klar, daß
man die Ethik als Gegenstand traktieren konnte, ohne dies zwingend auf die Art und Weise
des Aristoteles zu tun. Die bekanntesten deutschsprachigen Ethiken des 20. Jahrhunderts sind
„Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ von Max Scheler und die „Ethik“ von Nikolai Hartmann, die bekanntesten englischsprachigen Ethiken die „Methods of
13
Aristoteles, Magna Moralia, 1181b 28.
Marcus Tullio Cicero, De Fato 1, 1, Stuttgart 1977, S. 130.
15
Vgl. nur Thomas v. Aquin, Sententia in Librum Ethicorum, Turin 1949.
16
Immanuel Kant (Fn.8), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 387.
14
5
Ethics“ von Henry Sidgwick und die „Principia Ethica“ von George Edward Moore, wobei
letztere eher eine Metaethik ist. Auch gegenwärtig erscheinen jedes Jahr dutzende von „Ethiken“ in allen Sprachen.17 Die Kernbedeutung des Begriffs „Ethik“ im Sinne einer reflektierenden bzw. dann noch enger wissenschaftlich-theoretischen Behandlung der Moral und anderer Sozialnormen ist also für Philosophen und Ethiker nicht zweifelhaft.
b) Zusammengefaßt gilt demnach: Die zentrale vertikale Unterscheidung ist diejenige zwischen verschiedenen tatsächlichen sozialen Normen und Regeln unseres allgemeinen Handelns wie Moral (Sitte), Recht, Religion, Konventionen, Moden und Ratschlägen des guten
Lebens sowie der Ethik selbst. Moral, Recht, Religion, Konventionen und andere derartige
Normen und Regeln sind zum einen notwendig in Raum und Zeit bestehende soziale Tatsachen, die in ihren sprachlichen Manifestationen empirisch wahrnehmbar sind. Sie leiten zum
anderen unser allgemeines Handeln unmittelbar und primär. Die Ethik bezieht sich dagegen
nicht unmittelbar und primär auf unser allgemeines Handeln, sondern nur sekundär, nämlich
über den Bezug auf diese unmittelbar, primär sowie allgemein handlungsleitenden Normen
und Regeln. Die Ethik besteht darüber hinaus auch nicht notwendig in Raum und Zeit. Sie ist
vielmehr ein gedankliches Konstrukt, ein Ideal das sich in verschiedenen tatsächlichen
sprachlichen Äußerungen konkretisieren kann, eine tatsächliche und damit bestimmte Konkretisierung aber nicht notwendig voraussetzt.
Der sekundäre Bezug der Ethik auf die tatsächlich bestehenden und primär handlungsleitenden Normen und Regeln kann deren Beschreibung und Erklärung umfassen, dient aber vor
allem der Kritik oder Rechtfertigung dieser Normen und Regeln.
Die Ethik ist nicht notwendig auf akademische bzw. wissenschaftliche Untersuchungen beschränkt, sondern kann auch in der alltäglichen Beschreibung, Erklärung, Kritik und Rechtfertigung derartiger Normen und Regeln bestehen, vorausgesetzt diese erreicht ein gewisses
Maß an Vernünftigkeit, das heißt Erklärungs- und Begründungsfähigkeit. Wissenschaftliche
Ethik bzw. Praktische Philosophie wäre dann diejenige Ethik, die bestimmten weitergehenden Standards von Vernünftigkeit bzw. Wissenschaftlichkeit wie Allgemeinheit, Differenziertheit, Begründetheit, Genauigkeit, Widerspruchsfreiheit, Kohärenz, Vollständigkeit, Originalität, Einfachheit und Wahrheit bzw. Objektivität genügt.
Die verschiedenen Arten der tatsächlichen und primären Normen und Regeln unseres Handelns, auf die sich die Ethik sekundär bezieht, erlauben es, Teile der Ethik zu unterscheiden:
Die Ethik der Moral dient der Kritik und Rechtfertigung der Moral, also des moralisch Guten
bzw. Richtigen. Als Ethik im engeren Sinn bzw. – sofern wissenschaftlichen Standards genügend – Moralphilosophie entfaltet sie die Theorie bzw. Philosophie der Moral. Sie ist aber nur
ein Teil der Ethik im weiteren Sinne als immanenter Erkenntnis des Guten bzw. Richtigen
schlechthin. Ein anderer großer Teil der Ethik ist die Theorie bzw. Philosophie des glücklichen Lebens, ein dritter eine Rechtsethik,18 ein vierter eine Ethik der Religion, ein fünfter
eine Ethik des guten Lebens, ein sechster eine Ethik der Politik, ein siebter eine Ethik der
Medizin usw.
In der neueren Ethikdiskussion hat sich schließlich wie bereits erwähnt noch eine tertiäre Bezugnahme auf die sekundären Normen der Ethik herausgebildet, die sog. Metaethik. Sie
nimmt in der aktuellen Philosophie einen immer breiteren Raum ein, wobei nicht ganz geklärt
ist, ob sie sich nur auf die Ethik oder auch auf die Moral bezieht. Ob ihr Status ein bloß deskriptiver oder auch ein normativer ist, ist ebenfalls offen.
17
18
Etwa Im Jahr 2003 eine „Analytische Einführung in die Ethik“ von Dieter Birnbacher.
Vgl. dazu Verf., Rechtsethik, München 2001.
6
Zum Schluß dieses zweiten Teils muß allerdings auf den Umstand hingewiesen werden, daß
sich die klare Trennung zwischen Moral und Ethik in neuerer Zeit wieder bedenklich zu verwischen scheint. Während man es bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts selbstverständlich
als uneingeschränkt erstrebenswert ansah, „moralisch“ bzw. „sittlich“ zu sein oder eine Moral
zu haben, ist der Begriff mittlerweile zumindest zum Teil in seiner Bewertung zwiespältig
geworden. Dies begann auf einer theoretischen Ebene bereits in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts mit Nietzsches Fundamentalkritik an der Moral in seinen Schriften „Jenseits von
Gut und Böse“ und „Zur Genealogie der Moral“. Nach Nietzsches Auffassung hat die jüdisch-christliche Moral den „Sklaven“ zum Sieg über die „Herren“ verholfen.19 Diese Abwertung der Moral ist spätestens mit der Kritik der Achtundsechziger-Bewegung an der restaurativen Moral der Adenauerära Gemeingut geworden. Mit Moral verbinden wir heute nicht
mehr nur Positives, sondern auch Moralisierung, Moralismus und „moralinsaures“ Verhalten.
Wir denken an Rigorismus und zerstörte Lebensfreude, an erhobene Zeigefinger, an strenge
Erzieherinnen mit hohen Hauben in weißgestärkten Schürzen, die vor dem pünktlichen Zubettgehen die Sauberkeit der Fingernägel ihrer Eleven kontrollieren.
Diese zunehmende Ambivalenz der Bewertung der Moral führt zu einer Veränderung der
Wortverwendung. Wo eigentlich die Moral gemeint ist, wird immer häufiger von „Ethik“
gesprochen. Verschiedentlich werden auch primäre Handlungsnormen der Moral als „Ethik“
bezeichnet, um dem Geruch des Moralisierens zu entgehen und etwas Glanz aus dem gehobenen Reflexionsstatus der Ethik auf das eigene Tun zu lenken. Beratungsgremien, wie klinische Ethikkomitees und Ethikkommissionen, die nur wenig reflektierende und gar keine wissenschaftlich-abstrakten Ziele haben und sich soweit ersichtlich eher mit moralischen und
rechtlichen Fragen beschäftigen, heißen wie sie heißen und nicht etwa „Moral- und Rechtskomitees oder -kommissionen“, wie es vermutlich zutreffender wäre. Ein wesentlicher Grund
für diesen Trend weg vom Ausdruck „Moral“ und hin zum Terminus „Ethik“ liegt in einem
generellen Zug unserer Zeit, eher Worte der Meta- und Reflexionsebene zu verwenden, um
unserem Tun den Anstrich des Reflektierten und Herausgehobenen zu geben. Das geschieht
etwa, wenn man von einer „Firmenphilosophie“ spricht – wohlwissend, daß die Produktionsund Marketingstrategien einer Firma nichts mit Philosophie in einer sinnvollen Bedeutung des
Wortes zu tun haben. Oder es geschieht, wenn man von „Technologie“, also dem „lógos“,
dem Reden von der Technik statt von der Technik selbst spricht.
III. Der Begriff des Rechts: Menschliches Handeln
Wie ist nun der Begriff des Rechts, der uns natürlich besonders interessiert, zu verstehen? Im
folgenden wird nur menschliches oder zumindest durch Menschen erkanntes, d. h. in einem
sehr weiten Sinne positives Recht als Recht erfaßt. Die religiöse und theologische Frage nach
einem göttlichen Recht bleibt also ausgeklammert. Ebenso ausgeklammert bleibt ein überpositives Naturrecht.
Menschliches Recht ist weniger eine natürliche, sondern vor allem eine soziale Tatsache.
Aber diese Bestimmung ist noch nicht sehr erhellend. Denn es gibt eine Vielzahl sozialer Tatsachen, z. B. die Öffentlichkeit, den Arbeitsmarkt, die Bevölkerungsentwicklung usw. Wie
läßt sich das Recht von diesen sozialen Tatsachen unterscheiden? Ein erster wesentlicher
Schritt ist einzusehen, daß menschliches Recht notwendig eine Form menschlichen Handelns
19
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Sämtliche Werke, Berlin 1980, Bd. 5, I, 7ff.,S.
266ff.
7
im weitesten Sinn (einschließlich seiner vorausgesehenen oder wenigstens voraussehbaren
Folgen) ist. Recht ist menschliches Handeln in zweierlei Weise: als ein allgemeines Phänomen und in allen seinen einzelnen Manifestationen. Entscheidet ein Richter, so handelt er.
Erläßt ein Beamter einen Verwaltungsakt, so ist dies eine menschliche Handlung. Verabschiedet ein Parlament ein Gesetz, so führt es eine kollektive menschliche Handlung aus.
Ist das Recht begrifflich notwendig menschliches Handeln, so erfordert sein Verständnis die
notwendigen Eigenschaften menschlichen Handelns zu berücksichtigen. Was sind die notwendigen Eigenschaften menschlichen Handelns? Menschliches Handeln umfaßt zumindest
zwei notwendige Eigenschaften:20 ein Ziel bzw. eine Intention und Mittel in einem sehr weiten Sinn, um dieses Ziel als Zweck zu erreichen. Dies gilt für alle Handlungen, auch wenn die
Mittelwahl stark verkürzt sein mag. Das Mittel kann – in einem sehr weiten Sinn – auch die
Ausführung der Handlung selbst sein, z. B. wenn jemand nur mit dem Ziel zu laufen läuft
oder nur mit dem Ziel zu schauen schaut.
Ein Beispiel für die Notwendigkeit eines Ziels jeder Handlung: Hebt jemand seinen Arm,
kann das ein Gruß sein, die Zustimmung zu einem Vertrag, eine gymnastische Übung, die
Bitte um die Erlaubnis zu sprechen oder andere Typen einer Handlung. Alle diese äußerlich
identischen Vorgänge des Armhebens lassen sich nur unterscheiden, indem man unterschiedliche Ziele bzw. Intentionen annimmt und feststellt, z. B. indem man den Handelnden nach
seinem Ziel fragt oder indem man die Situation der Handlungsausführung berücksichtigt: Auf
der Straße wird das Heben des Arms nicht selten ein Gruß sein, in einer Versteigerung die
Zustimmung zu einem Vertrag, in einer Sporthalle eine gymnastische Übung und auf einer
Konferenz die Bitte, einem das Wort zu erteilen. Für die Sprache als eine wichtige Form
menschlichen Handelns hat Grice gezeigt, daß das Verständnis einer Äußerung die Beschränkung auf die äußeren Vorgänge nicht erlaubt.21
Bevor ein Versuch vorgestellt wird, die spezifischen Ziele und Mittel des Rechts zu verstehen, soll ein möglicher Einwand gegen die These, das Recht sei vor allem als menschliches
Handeln im weitesten Sinn mit Zielen und Mitteln zu begreifen, untersucht werden. Nicht
selten wird vorgeschlagen, das Recht als Ordnung, System, Institution oder Organisation zu
charakterisieren.22 Dazu läßt sich sagen:
Erstens: „Ordnung“, bzw. als fremdwörtliches Äquivalent „System“, trifft, sofern es als sehr
abstrakte Bezeichnung multiple Elemente und Relationen meint, auf das Recht zu. Aber auch
die Winde und Wolken bilden in diesem Sinn multipler Elemente und Relationen eine „Ordnung“ bzw. ein „System“. Das konkretere Spezifikum menschlichen Rechts als menschliches
Handeln wird mit dieser Kennzeichnung gerade nicht erfaßt. Alle spezifischeren, insbesondere soziologischen Verständnisse von „System“, die das Recht als besonderen Teil der Gesellschaft kennzeichnen, sind zwar für ein soziologisches Verständnis des Rechts einsichtig, können aber nicht zu einer umfassenden rechts philosophischen Perspektive des Rechts führen.
Zweitens: „Menschliche Handlung“ ist in gewissem Grade ein natürlicher Begriff. Er findet
auch außerhalb von bestimmten Gesellschaften und wissenschaftlichen Theorien Anwendung.
20
Vgl. zur Notwendigkeit eines Ziels in jeder Handlung schon Aristoteles, Nikomachische Ethik
1094a1; John Searle, Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983, p. 107ff.
Nicht alle Handlungen haben ein einheitliches Ziel, aber besondere Arten von Handlungen wie das
Recht können durch ein einheitliches, aber aus naheliegenden Gründen ziemlich abstraktes Ziel näher
bestimmt werden.
21
Paul Grice, Meaning, in: Paul Grice (ed.), Studies in the Ways of Words, Cambridge 1989, S. 219.
22
Für den Begriff der Institutionen: Karl N. Llewellyn, Jurisprudence. Realism in Theory and Practice,
Chicago 1962, S. 233-242. Für den Begriff des Systems: Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft;
Günter Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt a. M. 1989.
8
Es ist ein Begriff des täglichen Lebens. Jeder versteht, was eine menschliche Handlung ist,
etwa im Unterschied zu einem bloßen Reflex oder einem reinen Geschehenlassen. Demgegenüber sind die Begriffe der Institution, der Organisation oder des Systems in einem über
„Ordnung“ hinausgehenden Sinn künstliche und theoretische, insbesondere soziologische
Begriffe. Es scheint sehr unbefriedigend, einen relativ abstrakten, aber doch eher tatsachenbezogenen Begriff wie den des Rechts mittels solch vager, künstlicher und mehr oder minder
bloß theoretischer Begriffen wie den Begriffen der Institution, der Organisation oder des Systems im engeren Sinn zu erklären, sofern man eine umfassende, philosophische Sicht auf das
Recht und nicht nur eine beschränkte soziologische auf das Verhältnis von Recht und Gesellschaft sucht.
Drittens: Soziologische Begriffe wie System im engeren Sinn und Institution versteht man
sehr oft – wenn auch vielleicht nicht immer – als Beschreibung sozialer Phänomene, die kein
Ergebnis zielgerichteten menschlichen Handelns sind. Definiert man daher das Recht als ein
System oder eine Institution, so läuft man – jedenfalls in einem möglichen und häufigen Verständnis dieser Begriffe – Gefahr, seinen entscheidenden Aspekt, die Dimension menschlichen Handelns und damit die notwendige Bedingung seines Ziels und seiner Mittel zu verfehlen. Aus einer soziologischen Perspektive mag das spezifische Ziel des Rechts uninteressant
sein. Eine solche soziologische Perspektive auf das Recht kann sich in ihrem Interesse vielleicht auf die kausalen Wirkungen und/oder die sozialen Funktionen des Rechts beschränken.
Und auch für die isolierende Beschreibung der abstrakten Regelungen des Rechts durch eine
Allgemeine oder Reine Rechtslehre mag das spezifische Ziel des Rechts nicht wesentlich
sein. Eine derart fokussierte Betrachtungsweise kann sich vielleicht mit der Beschreibung der
Mittel des Rechts, d. h. seiner Regeln, Normen und Prinzipien bescheiden. Aber einer philosophischen Untersuchung des Rechts ist ein solcher Reduktionismus der Perspektive nicht
möglich.
Aus der Tatsache, daß das Recht als ein Typ menschlichen Handelns im weitesten Sinn notwendig Ziele hat, folgt noch nicht, daß alle einzelnen Handlungen des Rechts notwendig ein
gleiches oder wenigstens ähnliches, spezifisches Ziel verfolgen, daß also ein in allen Rechtssetzungen gleiches oder wenigstens ähnliches, spezifisches Ziel als notwendiges Merkmal des
Rechtsbegriffs angesehen werden kann.23 Wie läßt sich dieser nächste wesentliche Schritt
begründen? Eine mögliche Antwort lautet: Begriffe sind als Instrumente der Welterkenntnis
nur nützlich, wenn sie unterscheidbar sind. Will man den Begriff einer besonderen Form
menschlichen Handelns, wie die Rechtserzeugung und das vorausgesehene oder zumindest
voraussehbare Ergebnis dieser Rechtserzeugung, also das Recht, vom allgemeinen Begriff
menschlichen Handelns unterscheiden, so benötigt man ein spezifisches Ziel. Es ist nicht
möglich, die Unterscheidung nur auf die Mittel zu stützen, denn dieselben Mittel können –
jedenfalls in allen uns bekannten Fällen – zur Erreichung unterschiedlicher Ziele eingesetzt
werden. Regeln und Normen werden etwa nicht nur im Recht als Mittel gebraucht, sondern
auch in der Moral, in der Religion, in der Politik, in der Technik, in der Medizin, in nichtmoralischen Konventionen usw.
Die Annahme eines gleichen, spezifischen Ziels der einzelnen Rechtssetzung impliziert nicht,
daß es sich um ein gemeinsames Ziel aller Rechtssetzer handelt, wie es etwa in einem Unternehmen oder einer Religionsgemeinschaft angenommen werden kann. Der einzelne Abgeord-
23
Man kann sich fragen, ob die Annahme eines derartigen gleichen oder wenigstens ähnlichen Ziels
aller Rechtssetzer durch die Position eines strikten Nominalismus ausgeschlossen wird. Wenn abstrakte Worte und menschliche Ziele zumindest prinzipiell möglich sind, scheint mir dies nicht notwendig
der Fall zu sein.
9
nete, der einzelne Richter und der einzelne Verwaltungsbeamte verfolgen mit ihrer Rechtserzeugung ein gleiches spezifisches Ziel, aber alle Abgeordneten, Richter und Verwaltungsbeamten tun dies nicht gemeinsam, denn ihnen fehlt das Wissen und Wollen einer derartigen
gemeinsamen Zielverfolgung.
IV. Ziele und Mittel des Rechts
In der Geschichte der Rechtsphilosophie hat sich die Auffassung von der Bedeutung der Ziele
und Mittel für das Recht dramatisch gewandelt. Um ein angemessenes Verständnis des Rechts
zu gewinnen, ist es hilfreich, sich diesen dramatischen Wandel zunächst vor Augen zu führen:
Vom Beginn des Philosophierens in der Antike bis zum späten Mittelalter wurde das Recht
über spezifische Ziele von anderen Phänomenen abgegrenzt. Für Platon und Aristoteles war
das Ziel von Recht und Politik das Gute, näher erläutert als Gerechtigkeit und, speziell bei
Aristoteles, als Glück (eudaimonia) und Gemeinwohl.24 Die Mittel spielten keine entscheidende Rolle. Auch Cicero betonte die Gerechtigkeit als das Ziel des Rechts.25 Thomas von
Aquin definierte das Recht als: eine Anordnung der Vernunft für das Gemeinwohl, erlassen
und öffentlich bekanntgegeben von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft innehat.26 Das
Ziel ist demnach das Gemeinwohl, die Mittel die Anordnung und die Bekanntgabe. Aber
Thomas erwähnt auch die Gerechtigkeit als Ziel des positiven Rechts.27
Im siebzehnten Jahrhundert begann die Betonung eines spezifischen Zieles des Rechts zu
verschwinden. Das Gute, die Gerechtigkeit, das Glück und das Gemeingut wurden nicht länger als hauptsächliches Ziel des Rechts und der Politik angesehen. Dagegen wurden die Mittel
immer wichtiger. Thomas Hobbes schlug ein bereits stark reduziertes, aber immerhin noch
spezifisches und einheitliches Ziel von Recht und Politik vor, die Selbsterhaltung.28 Allerdings stellt er bei der Bestimmung des Rechts bereits das Mittel des Befehls ins Zentrum.29
Locke nahm als spezifisches Ziel von Politik und Recht die Erhaltung des Eigentums an –
und zwar verstanden in einem weiten Sinn, der das Leben und die Freiheit sowie materielle
Güter einschließt.30 Die Utilitaristen gingen immer noch von einem spezifischen Ziel des
Rechts aus, allerdings in reduzierter Form: der Maximierung des Glücks, verstanden als kollektive Perfektionierung der individuellen, kontingenten Zustände von Lust und Leid.31 Kant
definierte das Recht mit Blick auf ein liberales und sehr eingeschränktes Ziel als den Inbegriff
der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen unter einem
allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.32 Für Hegel ist das Ziel
24
Platon, Politeia 327a1ff, 433aff.; Aristoteles, Nikomachische Ethik I 1, 1094a; V 1ff., 1129aff.;
Politik 1328a36.
25
Cicero, De Legibus, I, 29.
26
Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-I, qu. 90. In der Quaestio werden diese vier Elemente
nach und nach entwickelt. Die zusammenfassende Definition findet sich am Ende der Antwort zu Art.
4.
27
Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, qu. 57ff.
28
Thomas Hobbes, Leviathan, Cambridge 1991, Kap. 17, 1.
29
Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 26, 1.
30
John Locke, Second Treatise on Government, Cambridge 1991, § 3, 6, 7, 123, 124.
31
Jeremy Bentham, The Principles of Morals and Legislation, Buffalo 1988, Kap. 1, I, p. 1ff.
32
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphyische Anfangsgründe der Rechtslehre, § B, S. 230.
10
des Rechts die Freiheit, allerdings nicht im kantisch-liberalen Verständnis als äußere Handlungsfreiheit, sondern in einem objektivierend-moralischen und gemeinschaftlich Sinn.33
Im 19. und 20. Jahrhundert führten der Skeptizismus gegenüber notwendigen Zielen, der
Wertrelativismus und generell der allgemeine wissenschaftstheoretische Positivismus dazu,
spezifische Ziele des Rechts ganz aufzugeben und sein Verständnis praktisch ausschließlich
auf die Mittel zu stützen. In England charakterisiert John Austin das Recht als sanktionierte
Befehle.34 In Deutschland definiert Rudolf v. Jhering das Recht rein formal, nämlich als Inbegriff der in einem Staate geltenden Zwangsnormen.35 Norm und Zwang waren für ihn die entscheidenden Mittel des Rechts. Jhering nannte allerdings noch einen Zweck des Rechts, wenn
auch einen relativen und wenig spezifischen: die Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft.36
Hans Kelsen erwähnt dann überhaupt kein spezifisches Ziel des Rechts mehr. In seiner Theorie wird das Recht ausschließlich durch seine besonderen Mittel bestimmt: durch die Ausbildung eines hierarchischen und dynamischen Systems von Normen, die den jeweils untergeordneten Normen Geltung verleihen, mit einer Grundnorm als einheitlichem, letztem Geltungsgrund.37 Von anderen sozialen Normenordnungen wie der Moral wird das Recht nur
durch spezifische Mittel unterschieden: durch die notwendige Anwendung von Zwang, welcher die Befolgung sichert, und durch seine Eigenschaft ein dynamisches System zu sein, also
seine Geltungshierarchie nicht auf inhaltliche Übereinstimmung, sondern auf formale Ermächtigung zu stützen.38
H. L. A. Hart sieht den unterscheidenden Gesichtspunkt des modernen, entwickelten Rechts,
das „Herz eines Rechtssystems“, ebenfalls nur noch in Mitteln, und zwar in einem System aus
primären und sekundären Regeln.39 Er arbeitet drei Arten sekundärer Regeln heraus: Änderungsregeln, Entscheidungsregeln und Erkenntnisregeln (rules of recognition). Die Erkenntnisregel eines bestimmten Rechtssystems ist das notwendige Mittel, um die anderen Regeln
des Rechts zu identifizieren.40 Ein Ziel des Rechts wird bei ihm nur en passant als sehr unspezifisches Ziel, das viele andere menschliche Handlungen ebenfalls verfolgen, erwähnt: “I
think it quite vain to seek any more specific purpose which law as such serves beyond providing guides to human conduct and standards of criticisms of such conduct.”41
Joseph Raz verzichtet in seiner Definition des Rechts auf das Erfordernis des Zwei-EbenenRegelsystems und hält die „Autorität“ für den entscheidenden Faktor.42 Aber die „Autorität“
33
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und
Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M. 1970, Werke 7, § 40, S. 98: „Das Recht ist zuerst
das unmittelbare Dasein, welches sich die Freiheit auf unmittelbare Weise gibt.“, § 4, S. 46: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das
Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite
Natur, ist.“
34
John Austin, The Province of Jurisprudence Determined, S. 12, 21-37.
35
Rudolf v. Jhering, Der Zweck im Recht, 3. Aufl. Leipzig 1893, 1. Bd., S. 320.
36
Ebenda, S. 443. Auf S. 446 betont v. Jhering die Relativität des Zweckmäßigen. Auf S. 511 werden
dann beide Bestimmungen zusammengefaßt.
37
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 3ff, 196ff.
38
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 34ff.
39
H. L. A. Hart, The Concept of Law, S. 98.
40
H. L. A. Hart, The Concept of Law, S. 79ff.
41
42
H. L. A. Hart, The Concept of Law, S. 249.
Joseph Raz, Legal Positivism and the Sources of Law, in: Raz, The Authority of Law. Essays on
Law and Morality”, Oxford 1979, S. 43: “Put in a nutshell, it [law] is a system of guidance and adjudi-
11
ist auch nur ein Mittel wie Befehle, Normen, Sanktionen, Sekundärregeln etc. Niemand würde
die Autorität als letztes allgemeines Ziel des Rechts im Allgemeinen oder seiner besonderen
Manifestation im Besonderen akzeptieren.
Ronald Dworkin ist ohne Zweifel derjenige angelsächsische Rechtstheoretiker der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei dem Ziele des Rechts die stärkste Rolle spielen und der deshalb besonders wichtig ist. Seine berühmte Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien
ist zwar grundsätzlich nur eine solche der Mittel, denn es handelt sich nur um zwei unterschiedliche Typen von Regeln als Mittel, Alles-Oder-Nichts-Regeln und abwägbare Regeln.43
Über die Prinzipien finden jedoch notwendig moralische Ziele zumindest Eingang in das
Recht. Dworkin hat in seinen frühen Arbeiten allerdings kein einzelnes, spezifisches inhaltliches Ziel als notwendige Bedingung des Rechtsbegriffs vorgeschlagen. Später rückt er den
Wert der gleiche Berücksichtigung (equal concern) bzw. die Gleichheit (equality) ins Zentrum der Ethik, kennzeichnet diesen Wert aber nur als höchstes Ideal der Politik bzw. einer
legitimen Regierung.44 In seinem Werk „Law´s Empire“ führt er dann neben der Gerechtigkeit und Fairneß einen dritten spezifischen Wert bzw. eine dritte spezifische Überzeugung des
Gesetzgebers und der Rechtsanwender an, die Integrität im Sinne der Kohärenz des umfassendem Ganzen des Rechts einer Rechtsordnung.45 Allerdings behauptet er nicht, daß dieser
Wert bzw. diese Überzeugung der Integrität ein notwendiges Ziel allen Rechts und damit eine
notwendige Bedingung des Rechtsbegriffs ist. Es handelt sich vielmehr nur um ein ethisches
„Ideal“ der Kohärenz, das von politischen Gemeinschaften, Gesetzgebern und Rechtsanwendern akzeptiert werden soll.46 Im übrigen gilt: Würde man die Integrität nicht nur als ethisches
Ideal guten und gerechten Rechts, sondern als begriffliche Notwendigkeit des Phänomens
Rechts schlechthin ansehen, wäre diese Annahme zu stark. Man kann kaum behaupten, daß
alle Kulturen und Gesellschaften das Ziel der Integrität des Rechts als einer Kohärenz des
umfassenden Ganzen anstreben.
Einer der wenigen Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts, der ein spezifisches Ziel des
Rechts formuliert hat und der deshalb besondere Beachtung verdient, war Gustav Radbruch.47
Im Rückgang auf die vorneuzeitliche Tradition sah Radbruch wieder die Gerechtigkeit als
notwendiges Ziel bzw. „Idee“ des Rechts an.48 Gerechtigkeit in einem allgemeinen Sinne umfaßte für ihn drei Unterziele:49 Gerechtigkeit im Sinn formaler Gleichheit, Zweckmäßigkeit
und Rechtssicherheit. Diese Erklärung der allgemeinen Gerechtigkeit ist allerdings wenig
überzeugend, da die Rechtssicherheit ein relativ konkretes und zudem nur untergeordnetes
Zwischenziel bzw. im Vergleich zum Hauptziel der Gerechtigkeit wohl eher Mittel ist, wäh-
cation claiming supreme authority within a certain society and therefore, where efficacious, also enjoying such effective authority.”
43
Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, London 1977.
44
Ronald Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge 2000, S. 1.
45
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 166f., 176ff.
46
47
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 176, 189, 214f., 218.
Sein Schüler Arthur Kaufmann folgt ihm in der Annahme dieses Ziels. Vgl. Arthur Kaufmann,
Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997, Kap. 9ff., S. 135ff. Hermann Kantorowicz, ein Freund
Radbruchs, vertritt in wenig konsistenter Weise eine Definition mit einem Ziel und dann eine ohne ein
Ziel: Hermann Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen o. J., S. 29: “Das Recht ist eine Gesamtheit von Regeln, welche die Vermeidung oder die ordnungsgemäße Beilegung von Streitigkeiten
bezwecken”, S. 36: „Recht ist eine Gesamtheit von Regeln, welche äußeres Verhalten vorschreiben
und als gerichtsfähig angesehen werden.“
48
Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 34ff.
49
Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 54ff., 73ff.
12
rend die Zweckmäßigkeit sehr abstrakt und unspezifisch bleibt. Tatsächlich verweist die
Zweckmäßigkeit nur auf die soeben erwähnte notwendige Bedingung jedes menschlichen
Handelns, nicht nur des Rechts: ein Ziel zu verfolgen. Die Gerechtigkeit im Sinne formaler
Gleichheit – das erste Unterziel der Gerechtigkeit im umfassenden Sinn – und vielleicht sogar
die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn könnten ein solches Ziel sein. Nötig ist deshalb die
Identifikation spezifischerer Ziele. Radbruchs Erläuterung der Gerechtigkeit im allgemeinen
Sinn mit Hilfe der erwähnten drei Teile bleibt also unbefriedigend, weil sehr unterschiedliche
Elemente des Ziel-Mittel-Zusammenhangs ohne eindeutigen Bezug auf diesen Zusammenhang verbunden werden.
Welche Folgerung läßt sich aus diesen verschiedenen Versuchen, ein spezifisches Ziel des
Rechts zu finden oder auf ein solches Ziel zu verzichten, ziehen? Man wird nach einem Ziel
des Rechts suchen müssen, das zwei Anforderungen genügt: Es darf nicht zu abstrakt sein,
sonst bleibt es als ein notwendiges Ziel des Rechts im Vergleich zu anderen menschlichen
Handlungen unspezifisch, also ohne unterscheidende Kraft. Die von Hart erwähnte „Leitung
menschlichen Verhaltens“ trifft zwar zu, ist solchermaßen als Ziel aber viel zu abstrakt. Alles
Mögliche leitet menschliches Verhalten: Lebensalter, Straßen, Freundschaften, Wetterverhältnisse usw. Gleichzeitig darf das gesuchte Ziel jedoch auch nicht zu speziell sein. Es muß
allen Formen des Rechts eigen sein, also eine notwendige Bedingung des Rechtsbegriffs bilden. Das Gute, die Gerechtigkeit oder die Gleichheit in einem substantiellen Sinne können
deshalb kein Ziel jeden Rechts sein. Denn zum einen wurden und werden das Gute, die Gerechtigkeit und die Gleichheit sehr unterschiedlich verstanden. Und zum zweiten gehen wir
davon aus, daß nicht-gutes, also schlechtes bzw. nicht-gerechtes, also ungerechtes, bzw.
nicht-gleiches, also ungleiches Recht dennoch Recht ist.
Die Identifikation eines einheitlichen Ziels des Rechts ist aber notwendig. Man kann das
Recht nicht nur über seine Mittel definieren, denn alle vorgeschlagenen Typen von Mitteln
können auch Mittel nicht-rechtlicher Systeme sein. Dies ist für Befehle, Normen und Sanktionen evident. Aber es gilt auch für Harts Zweiebenensystem von Regeln: Man nehme an,
Madame X war eine zentrale Gestalt im bürgerlichen Paris des 19. Jahrhunderts. Die Regeln,
die in ihrem Salon galten, waren seinerzeit die Regeln für die Angehörigen der oberen Gesellschaftsschicht. In diesem Fall besteht ein Zwei-Ebenen-Regelsystem mit einer Erkenntnisregel: Die Regeln, die durch Madame X galten, wurden als die gültigen Regeln für die Pariser
Oberschicht jener Zeit akzeptiert. Dieses System ähnelt einem System aus primären und sekundären Regeln, wie es Hart als charakteristisch für das moderne Recht vorgeschlagen hat.
Aber wir würden das Regelsystem der Madame X nicht als Recht ansehen. Das Beispiel zeigt,
daß die Unterscheidung von primären und sekundären Regeln nicht hinreichend für das Recht
ist. Aber ist sie wenigstens notwendig? Man kann sich eine sehr einfache Stammesgesellschaft vorstellen, in der ohne jegliche systematische Verpflichtung gelegentlich Mitglieder
andere, vorher nicht bestimmte Mitglieder darum ersuchen, in einer Meinungsverschiedenheit
in richterähnlicher Art und Weise kategorisch-formal zu vermitteln. In anderen Fällen lösen
Mitglieder dieser Gesellschaft ihre Konflikte mit Hilfe einer kategorisch-formalen Übereinkunft. Man würde diese einfachen sozialen Tatsachen bzw. menschlichen Handlungen wohl
als Recht ansehen. Aber eine über den bloßen Begriff hinausgehende allgemein akzeptierte
Erkenntnisregel, welches dieser Phänomene als Recht zu betrachten ist und welches nicht,
besteht in derartigen Fällen nicht. Das bedeutet, daß die Unterscheidung zwischen primären
und sekundären Regeln für den Begriff des Rechts nicht einmal notwendig ist. Hart würde
vielleicht einwenden, daß das System der Madame X kein politisches bzw. staatliches ist.50
50
H. L. A. Hart, The Concept of Law, S. 239f.
13
Aber auch die Normen von Religionsgemeinschaften, privaten Vereinen und der Vergabe von
Internetdomänen werden als Recht angesehen, ohne politisch bzw. staatlich zu sein. Und das
Völkerrecht ist zwar politisch, nicht aber staatlich. Hart beschreibt also mit dem zweistufigen
Regelsystem nur eine weit verbreitete, aber kontingente Eigenschaft moderner, entwickelter
Rechtssysteme, nicht aber eine notwendige Eigenschaft des Rechts aller denkbaren Zeiten
und Kulturen. Er schlägt ein Verständnis des Rechts vor das – in seinen eigenen Worten –
auch ein solches einer „beschreibenden Soziologie“ sein könnte,51 ein Verständnis, das als
soziologische Beschreibung moderner, entwickelter Rechtssysteme hohen Wert hat, eine philosophische Perspektive auf das Recht aber nicht überflüssig werden läßt.
Was kann dann als notwendiges Ziel des Rechts angesehen werden? Die Beantwortung dieser
Frage stößt hinsichtlich eines möglichen göttlichen Rechts und Naturrechts als transzendenten
Phänomenen naturgemäß auf große Schwierigkeiten, weil wir die möglichen letzten Ziele
Gottes oder der Natur nicht einsehen können. Da es sich aber auch bei diesem Recht – sofern
es besteht – um Recht für die Menschen handelt, wird man vielleicht annehmen können, daß
seine Ziele und Mittel insofern den Zielen und Mitteln menschlichen Rechts wenigstens vergleichbar sind.
V. Das notwendige Ziel des Rechts: Vermittlung zwischen möglicherweise gegenläufigen,
konfligierenden Belangen
Das Recht hat – so die hier vertretene These – als notwendiges Ziel und daher als notwendiges Merkmal seines Begriffs das Ziel der Vermittlung zwischen möglicherweise gegenläufigen, konfligierenden Belangen.
Die Verfassung vermittelt etwa zwischen grundlegenden Lebensvorstellungen der Menschen,
die Gesetze zwischen unterschiedlichen allgemeinen Belangen, die Urteile der Richter zwischen den Interessen in einzelnen Konflikten, die Verwaltungsakte der Verwaltungsbeamten
zwischen dem konkreten Wollen einzelner Bürger und/oder den Interessen der Allgemeinheit.
Vier Elemente des begrifflich notwendigen Ziels des Rechts müssen nach der obigen Definition unterschieden werden: (1) wenigstens zwei mögliche Belange bzw. Interessen, die (2)
möglicherweise gegenläufig sind, und bei denen (3) die Möglichkeit eines Konflikts besteht,
sowie (4) ihre beabsichtigte tatsächliche Vermittlung.52 Jedes dieser Elemente ist erklärungsbedürftig:
(1) Mögliche Belange/Interessen: Die Ausdrücke „Belang“ und „Interesse“ werden hier synonym verwandt. Sie sind nicht egoistisch oder ökonomisch verkürzt zu verstehen. Ein wichtiger Belang ist etwa, die eigenen Kinder auf eine gute Schule zu schicken. Die Belange müssen für die Vermittlung durch das Recht nicht schon wirklich bestehen. Es genügt die bloße
Möglichkeit ihrer Entstehung, z.B. die Belange zukünftiger Generationen als Ausgangspunkt
51
H. L. A. Hart, The Concept of Law, S. 6.
Sucht man nach früheren Überlegungen, so läßt sich wohl am ehesten an einzelne Stellen bei Rudolf
v. Jhering und Philipp Heck denken. Nach Rudolf v. Jhering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872, S.
11ff. sollen die Antagonismen gesellschaftlicher Interessen zu bestimmten rechtlichen Regelungen
führen. Dieses Verständnis des Rechts ist aber noch ganz sozialdarwinistisch im Sinne der Beschreibung eines „Kampfes“ ausgestaltet und angesichts der oben erwähnten, andersartigen Versuche einer
Definition des Rechts bei Jhering auch keine wirkliche Begriffsbestimmung. In Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932, S. 4, heißt es dann relativ vage, der Gesetzgeber wolle die miteinander ringenden Lebensinteressen gegeneinander abgrenzen.
52
14
des Vermittlungsziels. Der Begriff Belang bzw. Interesse abstrahiert von konkreteren Eigenschaften der zu berücksichtigenden Entitäten. Vier solcher Eigenschaften immanenter Lebewesen kommen in Betracht: Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele derjenigen Entitäten, die Träger von Interessen sein können. Diese vier Eigenschaften bilden eine Art Kontinuum zwischen einer rein körperlichen und einer rein geistigen Bestimmung. Strebungen unseres Körpers wie das Immunsystem sind rein körperlich. Bedürfnisse wie diejenigen nach
Schlaf, Essen, Trinken, Wärme und Schutz sind körperlich, aber willentlich beeinflußbar.
Wünsche haben nicht selten einen körperlichen Ursprung, sind aber vor allem geistig und
können auch vollständig unterdrückt werden, wie z. B. der Wunsch, ein Buch zu lesen. Ziele
sind rein geistig, wie das Ziel, eine möglichst gute Theorie des Rechts zu entwickeln. Kollektive und fiktive Entitäten wie juristische Personen können mangels eines Körpers keine Strebungen, Bedürfnisse oder Wünsche entwickeln. Ihnen können nur Ziele zugeschrieben werden, die natürliche Repräsentanten formulieren.
Belange sind sowohl subjektiv wie objektiv. Im Hinblick auf diesen Gesichtspunkt besteht ein
weiteres Kontinuum, das besonders in der Bio- und Medizinethik praktisch wird: Man muß
zunächst den konkreten tatsächlichen Willen berücksichtigen. Ist das nicht möglich, hat man
den abstrakten tatsächlichen Willen in Betracht zu ziehen. Der dritte Schritt wäre die Berücksichtigung des vergangenen tatsächlichen Willens, z. B. bei einer bewußtlosen Person im Hinblick auf Rettungsmaßnahmen bzw. allgemein medizinische Behandlungen. Ist ein solcher
vergangener tatsächlicher Wille nicht vorhanden oder nicht zu erkennen, muß in einem vierten Schritt der mutmaßliche Wille dieser Person ermittelt werden und schließlich in einem
fünften und letzten Schritt der mutmaßliche Wille einer vergleichbaren Person.
Erforderlich für einen rechtlich vermittlungsbedürftigen Belang bzw. ein Interesse ist ein gewisses eigenständiges Gewicht. Dies ist wohl der Grund, warum wir Spielregeln trotz ihrer
nicht zu bestreitenden Vermittlungsleistung nicht als Recht ansehen. Das Spiel ist sich selbst
genug und hat keine notwendigen externen Zwecke. Die internen Zwecke sind nur spielbezogen, so daß auch die Wünsche und Ziele der Spieler rein spielbezogen sind und deshalb nicht
das eigenständige Gewicht rechtlich zu vermittelnder Belange erreichen. Wer ein Spiel ernst
nimmt, mißversteht den Spielcharakter. Deswegen spricht der Schiedsrichter eines Spiels kein
Recht, obwohl das Suffix „richter“ die Ähnlichkeit der Vermittlungstätigkeit zum wirklichen
Richter andeutet. Ein Schiedsgericht jenseits von Spielen kann dagegen sehr wohl Recht erzeugen.
(2) Mögliche Gegenläufigkeit: Die Belange müssen potentiell auf die eine oder andere Art
und Weise gegenläufig sein, das heißt sie dürfen nicht mit Sicherheit vollkommen übereinstimmen. Stimmen sie mit Sicherheit vollkommen überein, so besteht weder die Möglichkeit
noch der Grund einer Vermittlung durch das Recht. Wieder genügt die bloße Möglichkeit der
Gegenläufigkeit, etwa die mögliche Gegenläufigkeit von Belangen lebender Personen untereinander oder mit künftigen Generationen.
(3) Möglichkeit eines Konflikts: Selbst wenn zwei Belange gegenläufig sind, kann ein Konflikt zwischen diesen Belangen bzw. präziser: über diese Belange unmöglich sein, was sowohl die Möglichkeit als auch den Grund für eine Vermittlung zwischen diesen Belangen
durch das Recht ausschließt. Beispiel: Der Urlauber will Sonnenschein, der Bauer Regen.
Solange das Wetter nicht lokal beeinflußbar ist, kann es keinen Konflikt zwischen ihren gegenläufigen Belangen geben. Eine Vermittlung durch das Recht ist weder möglich noch notwendig.
(4) Vermittlung: Die Vermittlung darf im Gegensatz zu den ersten drei Erfordernissen nicht
nur möglicher Inhalt des Ziels sein. Sie muß vielmehr wirklich, d. h. tatsächlich angestrebt
werden, da das Recht selbst ja eine Form der Realität ist und nicht nur der Virtualität. Was
bedeutet „Vermittlung“? Das Recht muß eine überlegende, d. h. die gegenläufigen Belange
und ihre Träger zumindest berücksichtigende Entscheidung suchen. Das bedeutet: Die Vermittlung muß nicht das Ziel haben, gut, gerecht oder gleich in einem anspruchsvollen, perfek-
15
tionistischen Sinn zu sein oder dieses Ziel sogar zu erreichen. Notwendig ist aber die grundsätzliche Berücksichtigung der möglicherweise betroffenen Interessenträger mit ihren Belangen. Die Tötung, die Tötungsvereinbarung und der Tötungsbefehl stellen etwa – sofern sie
nicht Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens sind – keine grundsätzliche Berücksichtigung
der Betroffenen und ihrer Belange dar, weil bei derartigen Handlungen in keiner Weise die
aktuellen oder möglichen gegensätzlichen Belange der Betroffenen und des Tötenden vermittelt werden. Tötungen im Krieg sind deshalb kein Recht, können aber natürlich, etwa als Mittel der Verteidigung, völkerrechtlich erlaubt und ethisch gerechtfertigt sein. Ebenso kann die
vollständige Ausgrenzung und Entrechtung von ganzen Teilen der Bevölkerung ihnen gegenüber schon begrifflich kein Recht sein. Beim antiken Sklaven“recht“ kommt es etwa für seine
Qualifizierung darauf an, ob die Belange der Sklaven zumindest in minimaler Form berücksichtigt werden.
Die hier formulierte Anforderung an das Recht ist relativ abstrakt und schwach. Das Recht
muß nicht die Erfüllung aller oder auch nur zentraler Forderungen der Moral oder Ethik zum
notwendigen Ziel haben. Aber es hat ein einziges enges begrifflich relativ notwendiges Ziel,
ohne das ein Faktum nicht als Recht identifiziert werden kann. Sofern man will, kann man
dieses viel engere Ziel als „Gerechtigkeit“ in einem sehr schwachen Sinne bezeichnen, vorausgesetzt man verwischt den zentralen Unterschied zu viel stärkeren Begriffen der Gerechtigkeit als Notwendigkeit des Rechtsbegriffs und als ethischen Maßstab nicht.
Wie läßt sich feststellen, ob ein Handeln tatsächlich diesem Ziel der Vermittlung möglicher
gegenläufiger Belange dient? Das ist eine epistemisch-pragmatische Frage. Wesentliche
Quellen der Feststellung sind die empirisch erkennbaren Intentionen des Handelnden, sein
tatsächliches Verhalten, die pragmatische Einbettung seines Handelns, etwa die Bezugnahme
anderen Rechts auf dieses Handeln und nicht zuletzt die Annahme und Akzeptanz der Teilnehmer der Gesellschaft, in der das fragliche Handeln stattfindet.
Auch so scheinbar rein feststellende Normen, wie die Festlegung der Farben der Landesflagge
oder der Hauptstadt durch Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsakt vermitteln zwischen aktuellen oder wenigstens möglichen gegenläufigen, konfligierenden Belangen. Denn bevor
eine Landesflagge oder eine Hauptstadt rechtlich festgelegt wird, konkurrieren bzw. konkurrierten nicht selten einige Bürger, Adlige oder Gruppen mit ihren regionalen und politischen
Flaggen und viele Städte. Die Festlegung führt zur Schlichtung dieser Konkurrenz und verhindert Konflikte.
Das hier behauptete notwendige Ziel des Rechts ist weniger anspruchsvoll als die Radbruchsche Formel.53 Es verneint weder die Gültigkeit einer Rechtsnorm, wenn der Widerspruch zur
Gerechtigkeit „unerträglich“ ist (erster Teil), noch die Rechtsnatur selbst, wenn von den
Rechtssetzern Gerechtigkeit in einem stärkeren Sinn nicht einmal erstrebt wird (zweiter Teil).
Aber auch wenn die stärkeren Forderungen der Radbruchschen Formel aus einer rechtstheore-
53
Gustav Radbruch, Ungesetzliches Recht und übergesetzliches Unrecht, in: Ralf Dreier und Stanley
Paulson (Hg.), Rechtsphilosophie, S. 216: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch
dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz
als ‚unrichtiges Recht’ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu
ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo
Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei
der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges
Recht’, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“
16
tischen Perspektive nicht als notwendige Bedingungen des Rechtsbegriffs angesehen werden
können, spricht natürlich aus einer ethischen Perspektive vieles dafür, sie in das Gewohnheitsrecht oder das positive Verfassungsrecht einer Gesellschaft zu inkorporieren. Aus Gründen der Ethik muß das Recht inhaltlich sehr viel mehr erstreben – nämlich gutes und gerechtes Recht zu sein – als seine begriffliche Abgrenzung von anderen sozialen Phänomenen mit
Hilfe des schwachen Ziels der Vermittlung gegenläufiger Belange erfordert. Die ethischen
Anforderungen an das Recht müssen jedoch sorgfältig von der begrifflichen Bestimmung des
Phänomens Recht unterschieden werden.
VI. Die notwendigen Mittel des Rechts
Mit Hilfe des Ziels der Vermittlung möglicher gegenläufiger, konfligierender Belange läßt
sich das Recht von vielen anderen sozialen Handlungen bzw. Tatsachen abgrenzen. Aber
manche sozialen Tatsachen sind auch Handlungen im weitesten Sin und haben dasselbe oder
zumindest ein ähnliches begrifflich notwendiges Ziel. Dies gilt insbesondere für Moral, Politik, Religion und nichtmoralische Konventionen. Von diesen sozialen Handlungen mit einem
gleichen oder wenigstens ähnlichen Ziel kann das Recht nur mit Rekurs auf seine notwendigen Mittel unterschieden werden. Allerdings sind nicht alle notwendigen Mittel dazu tauglich.
Das Recht verwendet Mittel, die auch alle anderen sozialen Handlungen, die dem Ziel der
Vermittlung möglicher gegenläufiger, konfligierender Belange dienen, verwenden – schlicht
auf Grund der Tatsache, daß die angestrebte Vermittlung ihre Verwendung faktisch voraussetzt. Die beiden wesentlichen derartigen Mittel sind Denken und Sprache. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, wie zwischen gegenläufigen Belangen ohne Denken und Sprache
vermittelt werden soll. Von den Arten des Denkens und der Sprache nutzt das Recht alle
möglichen, also Beschreiben (Deskription), Bewerten (Evaluation) und Vorschreiben
(Präskription, Normierung).54 Insbesondere Normen sind ein notwendiges Mittel des Rechts,
weil die Vermittlung gegenläufiger Interessen ohne eine Verpflichtung der Interessenträger zu
bestimmtem Handeln nicht möglich ist. Das Recht ist also notwendig normativ.
Seine Normativität ist aber nicht spezifisch für das Recht, denn auch alle anderen sozialen
Handlungen, die der Vermittlung möglicher gegenläufiger, konfligierender Belange dienen,
sind notwendig normativ. Auch die Moral, die Politik, die Religion und nichtmoralische Konventionen müssen Normen zur Verwirklichung ihres Vermittlungsziels nutzen. Man muß also
nach weiteren, notwendigen Mitteln suchen, die spezifisch für das Recht sind. Die entscheidenden Kennzeichen im Vergleich zu anderen sozialen Handlungen sind gegenüber:
(1) Konventionen (z. B. Essenssitten): Recht enthält nicht nur freiwillige Regeln bzw. Normen, sondern zumindest auch kategorische Verpflichtungen, womit Verpflichtungen gemeint
sind, die keine konkret-praxisbezogene Zustimmung der Verpflichteten zur notwendigen Bedingung haben (was nicht bedeutet, daß alle Normen des Rechts kategorisch sind). Das Recht
wird somit – wie die Moral – von bloßen nichtmoralischen Konventionen durch seine partielle Kategorialität abgegrenzt.55 Auch gegenüber der bloßen Mediation unterscheidet sich der
Richterspruch durch seine Kategorialität.
54
Vgl. Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, Berlin 1993.
Man beachte aber, daß das Erfordernis der Kategorialität sorgfältig von Zwang unterschieden werden muß.
55
17
(2) Moral: Das Recht hat in allen seinen Ausprägungen ausschließlich externe Quellen und
Mittel (Erlassen, Vereinbaren, Richten, Anordnen, Wählen), aber keine rein interne Quelle
wie das menschliche Gewissen, das eine, wenn auch nicht die einzige Quelle der Moral ist.56
Von der Moral unterscheidet sich das Recht also durch die Externalität aller seiner einzelnen
Ausprägungen.
(3) Politik: Das Recht zeichnet sich in seinen Manifestationen durch eine gewisse Formalität
bei seiner Erzeugung, Verkündung und Anwendung aus, die einfachen politischen Handlungen, z. B. einer außenpolitischen Entscheidung, etwa einer Regel wie der Monroe- oder der
Breschnew-Doktrin, nicht eigen ist.57 Das unterscheidende Merkmal des Rechts im Vergleich
zur Politik aber auch zu anderen vergleichbaren sozialen Handlungen ist also seine Formalität
in allen seinen einzelnen Ausprägungen. Die Formalität führt zur Rechtssicherheit. Die Anforderung der Formalität gilt in seiner letzten Realisation auch für das Gewohnheitsrecht, das
seine Form im parlamentarischen, gerichtlichen oder administartiven Verfahren finden muß.
(4) Religion: Das Recht bezieht sich selbst als ein mögliches göttliches oder natürliches Recht
auf immanente Weltverhältnisse der Menschen und ihre Handlungen. Die Religion hat dagegen als Praxis des Glaubens auch einen Bezug auf ein transzendentes Ziel, etwa das Ziel einer
ewigen Seligkeit, einer Widergeburt oder zumindest einer ewigen Seelenruhe. Demzufolge ist
das unterscheidende Merkmal des Rechts gegenüber der Religion seine Immanenz in all seinem Handlungsbezug – zumindest sofern Religion und Recht in der Realität getrennt werden
und nicht mehr oder minder ungetrennt sind, wie beim jüdischen oder islamischen Recht.
VII. Recht und entwickeltes Recht
Ist die Definition des Rechts mittels Zielen und Mitteln hilfreich, um das Phänomen des
Rechts besser zu verstehen? Man kann damit folgende drei Arten einfachen Rechts unterscheiden, die bereits das Erfordernis des spezifischen Ziels und der spezifischen Mittel des
Rechts aufweisen: die formal-kategorische und vermittelnde Übereinkunft, die formalkategorische und vermittelnde Verpflichtung durch eine Gemeinschaft und die formalkategorische Vermittlung durch den Richter. Alle diese einfachen Formen des Rechts dienen
grundsätzlich dem Ziel der Vermittlung zwischen möglichen gegenläufigen, konfligierenden
Belangen.58 Sie erfüllen überdies alle – so kann man annehmen – in ihren Mitteln die Erfordernisse der Kategorialität, Externalität, Formalität und – sofern Recht und Religion getrennt
sind – Immanenz. Eine formal-kategorische Übereinkunft vermittelt beispielsweise zwischen
den möglichen gegenläufigen, konfligierenden Belangen der Parteien, die sie getroffen haben.
Sie enthält zumindest teilweise kategorische Verpflichtungen. Sie ist ausschließlich extern.
Sie hat eine Form, etwa beim Austausch übereinstimmender Willenserklärungen den Hand-
56
Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung, S.
219f., 225.
57
Vgl. zur Formalität des Rechts etwa: Robert Summers, Form and Function in a Legal System, Cambridge 2006. Summers´ Begriff der Formalität ist aber in vieler Hinsicht weiter als es notwendig ist,
um das Recht von der Politik zu unterscheiden.
58
Für die formale Verpflichtung ist dies zumindest für den Verpflichteten der Fall, weil der Verpflichtete es ablehnen kann zu gehorchen. Er wird nicht gezwungen. Für Drittbetroffene ist es jedoch nicht
immer zureffend.
18
schlag, die Schriftform, die Hinterlegung von Urkunden, die Zuziehung von Zeugen etc. Und
sie ist immanent, wenn Recht und Religion getrennt sind.
Diese drei einfachen Formen des Rechts, wie sie etwa heute noch überwiegend im Völkerrecht und im Recht indigener Gesellschaften beobachtet werden können, wurden im Laufe der
Menschheitsgeschichte in mehreren Schritten angereichert und komplexer strukturiert. Sie
formen so das moderne Recht. Die anreichernden Schritte werden hier skizziert, um den
Rechtsbegriff besser verstehen zu können, wobei die nähere Beschreibung und Erklärung dieses kontingenten Prozesses nicht mehr Aufgabe der Rechtsphilosophie, sondern der Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie ist.
(1) Formal-kategorische
Übereinkunft
Formal-kategorische Verpflichtung
durch eine Gemeinschaft
Formal-kategorische
Vermittlung durch den
Richter
Formal-kategorische Normierung
durch eine Gemeinschaft
Präjudizienrecht
(2)
Gewohnheitsrecht
(3)
Gesetzesrecht einer Gemeinschaft
(4)
Verfassungsrecht einer Gemeinschaft
Bereits auf der ersten und zweiten Stufe dieser Entwicklung fordern diese Rechtsformen die
Existenz einer Gemeinschaft in einem schwachen und umfassenden Sinn: eine Gemeinschaft
der Vertragsschließenden, eine Gemeinschaft der Parteien mit dem Richter oder eine sonstige
Gemeinschaft, die verpflichtet und deren Mitglied der Verpflichtete ist. Im übrigen werden
alle einfacheren Formen des Rechts auf Stufe drei und vier mehr oder weniger von den entwickelten, Vorrang beanspruchenden Formen des Rechts abhängig. Gesetz und Verfassung legitimieren und regeln also den Vertrag, die gemeinschaftliche Verpflichtung und die richterliche Vermittlung.
Jede der komplexeren Stufen nimmt regelmäßig für sich einen Vorrang der Erkenntnis und
Normierung gegenüber der vorherigen Stufe in Anspruch, also einen epistemischen und normativen Vorrang. Dies geschieht historisch verschieden radikal. Es kann soweit gehen, daß in
speziellen Rechtssystemen der einfacheren Rechtsform explizit oder implizit der Charakter
als selbständige Rechtsquelle abgesprochen wird.
Für den Übergang von der ersten Stufe des einzelnen Vertrags oder Richterspruchs zur zweiten Stufe der allgemeinen Regeln des Gewohnheitsrechts und des Richterrechts steht etwa
Friedrich Carl v. Savigny. Er definiert als Rechtsquellen ausdrücklich nur die „Entstehungsgründe des allgemeinen Rechts“, also Gewohnheitsrecht, Gesetzesrecht und Juristenrecht
19
bzw. wissenschaftliches Recht.59 Aber auch H. L. A. Hart hat eine allgemeine Normierung,
also Regeln gefordert.60
Für den Übergang von der zweiten Stufe zur dritten Stufe des Gesetzesrechts stehen alle Theoretiker, die von der Notwendigkeit, dem Vorrang oder gar der Ausschließlichkeit des
Gesetzesrechts ausgingen, angefangen von Montesquieu mit seiner Vorstellung, der Richter
solle nur der „Mund des Gesetzes“ sein,61 bis hin zum Gesetzespositivismus des ausgehenden
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Auch H. L. A. Harts Unterscheidung von primären
und sekundären Regeln drückt diesen Übergang aus.62
Der Übergang von der dritten zur vierten Stufe wird dann durch alle Theoretiker markiert, die
eine weitere Hierarchisierung im Wege einer Verfassung konstatieren oder sogar für notwendig halten, etwa Hans Kelsen.63
Aus philosophischer Perspektive sind alle diese weiteren Anforderungen keine begrifflich
notwendigen Merkmale des Rechts. Es handelt sich vielmehr um mögliche, wenn auch sehr
zweckmäßige Erscheinungen komplexerer Rechtsordnungen und damit natürlich um wichtige
Kennzeichen unseres heutigen, außerordentlich komplexen Rechts.64
59
Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Berlin 1840, S. 11.
H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. Oxford 1994, S. 21.
61
Charles de Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), XI. Buch, 6. Kapitel, Œuvres complètes 4, Paris 1877, p. 18.
62
H. L. A. Hart (Fn. 60), The Concept of Law, S. 79.
63
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960.
64
H. L. A. Hart (Fn. 60) hat die Vorteile des Übergangs von primären zu sekundären Regeln sehr eindringlich beschrieben, The Concept of Law, S. 91ff.
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