4 Thema aktuell Reizdarmsyndrom Wenn der Darm rebelliert me zu lindern. Von Dr. Nicole Schaenzler L ust auf einen Spaziergang? – Geht nur, wenn auf dem Weg Toiletten erreichbar sind … Das wichtige Meeting ist morgen? – Da heißt es dann wohl wieder: Bauchkrämpfe ignorieren und Zähne zusammenbeißen … Die Einladung zum Abendessen annehmen? – Lieber nicht, womöglich fängt der Darm wieder an zu rebellieren … Bei Menschen mit Reizdarm ist die Verdauung ein bestimmender Faktor ihres privaten und beruflichen Alltags. Allein in Deutschland sind etwa sieben Millionen Menschen von einem Reizdarmsyndrom betroffen: Sie leiden unter krampfartigen Bauchschmerzen, Völlegefühl, Blähungen, Druckgefühlen im Bauch, Verstopfung, Durchfall bzw. hartem (kotsteinartigem) oder weichem Stuhl (häufig mit Schleimauflagerungen). Oft stehen bestimmte Symptome im Vordergrund; dann ist z. B. von einem »verstopfungsdominierten« oder von einem »durchfalldominierten« Reizdarmtyp die Rede. Zudem reagieren viele Reizdarmpatienten auf Kohlenhydrate mit einer Unverträglichkeit; am häufigsten sind eine Milchzucker- und eine Fruktoseunverträglichkeit. Reizdarm – eine Ausschlussdiagnose Obwohl das Krankheitsbild so häufig ist, erleben viele zunächst eine Odyssee von Arzt zu Arzt, bevor sie die Diagnose »Reizdarm« erhalten. Diese wird in der Regel durch den Ausschluss von anderen Darmerkrankungen mit ähnlicher Symptomatik gestellt, denn eine UnTopfit 4 / 2014 Foto: fotolia.de (Halfpoint) Aus medizinischer Sicht ist das Reizdarmsyndrom harmlos – für die Betroffenen ist mit der Erkrankung jedoch eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität verbunden. Bislang kann ein Reizdarm nicht geheilt werden. Eine individuell abgestimmte Behandlungsstrategie kann jedoch helfen, die Sympto- tersuchung, die ein Reizdarmsyndrom sicher nachweist, gibt es bislang nicht. Dabei kann der Befund sogar erst einmal für Erleichterung sorgen, denn die Symptome können so gravierend sein, dass der Arzt bei der Differenzialdiagnose zunächst auch an eine schwere Darmentzündung denken muss. Bei einem Reizdarmsyndrom lässt sich jedoch keine organische Ursache feststellen; deshalb wird die Erkrankung den funktionellen Störungen zugeordnet. In etwa 25 Prozent der Fälle tritt die Erkrankung im ­Anschluss an eine Darm­infektion auf. Für den Reizdarm ist ein chronischer Verlauf typisch: Zwar kann es immer wieder Phasen von weitgehender Beschwerdefreiheit geben, doch muss der Betroffene stets mit akuten Attacken rechnen, die Tage bis Wochen anhalten können – und dies oft für den Rest seines Lebens. Die Lebenserwartung bleibt jedoch unbeeinträchtigt. Ebenso ist die Sorge, durch die Erkrankung ein erhöhtes Darmkrebsrisiko zu tragen, unbegründet. Ursachenforschung auf Hochtouren Lange Zeit wurde das Reizdarmsyndrom für rein psychosomatisch gehalten – nicht nur, weil sich kein organischer Auslöser feststellen lässt, sondern auch, weil psychische Faktoren wie Stress, Ängste, Überforderung oder depressive Verstimmungen die Beschwerden tatsächlich auslösen bzw. verstärken können. Gleichwohl konzentriert sich der Blick bei der Ursachenforschung inzwischen vor allem auf einige auffällige physiologische Aspekte. Dabei legen die aktuellen Ergebnisse nahe, dass der Reizdarm vermutlich doch organische Ursachen hat. So steht mittlerweile fest, dass Menschen mit Reizdarm unter einer erhöhten Reizempfindlichkeit im Verdauungstrakt (viszerale Hypersensitivität) leiden: Schon normale Verdauungsvorgänge werden als schmerzhaft wahrgenommen; so kann z. B. bereits ein Glas Wasser ein unangenehmes Druckgefühl hervorrufen. Ebenso lässt sich bei Reizdarmpatienten eine veränderte Darmbeweglichkeit (Motilität) beobachten. Wissenschaftler vermuten, dass eine Störung der Signalfunktion des Botenstoffs Serotonin im Nervensystem des Darms für die Auffälligkeiten verantwortlich ist – ein Ungleichgewicht im Serotoninsystem wird auch mit depressiven Erkrankungen in Zusammenhang gebracht. Sind hyperaktive Mastzellen ursächlich verantwortlich? Möglicherweise sind auch niedriggradige Ent­ zündungsvorgänge an der Entstehung eines Reizdarmsyndroms beteiligt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie von Forschern der Universität Bonn, bei der die Rolle der Mastzellen untersucht wurde. Diese Immunzel- Thema aktuell len kommen in einer großen Anzahl auch im Darm vor und sind wesentlich an der Körperabwehr von Krankheitserregern beteiligt; dabei setzen sie u.a. zahlreiche Entzündungsbotenstoffe (z. B. Histamin) frei. Krankhaft veränderte Mastzellen werden jedoch auch ohne Feind von außen aktiv und können dann eine Vielzahl von unterschiedlichen Beschwerden auslösen – von Schlafstörungen, Missempfindungen oder Hitzewallungen bis hin zu asth- Da ein Reizdarmsyndrom ­familiär gehäuft auftritt, gibt es wohl auch eine erbliche Veranlagung. matischen Beschwerden und Darmsymptomen. Nun stellten die Wissenschaftler fest, dass Menschen mit einer schweren Reizdarmsymptomatik fast immer auch unter den typischen Symp­ tomen einer krankhaften Mastzellenüberaktivität leiden – und leiteten daraus ab, dass beide Krankheitsbilder miteinander zusammenhängen. Dies könnte die Grundlage für einen neuen Ansatz in der Reizdarmtherapie sein: Indem die Freisetzung der Botenstoffe durch die überaktiven Mastzellen medikamentös verhindert wird, bessern sich auch die Reizdarmsymptome. Ob dem tatsächlich so ist, wird gerade in weiteren Untersuchungen geprüft. Probiotika zur Verbesserung der Darmflora Unbestritten ist, dass das Reizdarmsyndrom mit einer Störung der Darmflora (Mikrobiota) einhergeht. Erst kürzlich wurde nachgewiesen, dass Patienten mit Reizdarm einen anderen Bakterienbesatz im Stuhl haben als Gesunde. Ob die veränderte Darmflora Ursache oder Wirkung ist, wird allerdings kontrovers diskutiert. Immerhin scheinen viele Reizdarmpatienten von einer Therapie mit Probiotika zu profitieren. Hierbei kommen überwiegend lebende Mikro­organismen zum Einsatz, die auch zur natürlichen Darmflora gehören. Hauptvertreter sind Milchsäurebakterien (wie Bifidobacterium- und Lactobacillus-Stämme); ebenso wirken Hefen sowie Bakterien des Stamms Escherichia coli Nissle oder (abgetötete) Enterococcusfaecalis-Bakterien probiotisch. Den positiven Studienergebnissen haben auch die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) sowie die Deutsche Gesellschaft für Neurogastroentero­ logie und Motilität (DGNM) Rechnung getragen und empfehlen in ihrer aktuellen Leitlinie zum Reizdarmsyndrom erstmals die Gabe von Probiotika als eine evidenzbasierte Therapieoption. Probiotika gibt es nicht nur als standardisierte Arzneimittelzubereitungen, sondern sie können dem Körper auch mit der normalen Ernährung zugeführt werden. Die Bakterien sind z. B. in Naturjoghurt, Kefir, Dickmilch, Sauerkraut, Roter Bete oder milchsauren Gärgetränken aus biologischen Vollkorngetreiden enthalten. Die eine Therapie gibt es nicht! Solange die Ursache nicht vollständig geklärt ist, wird es auch keine Standardtherapie geben. Deshalb zielt die Reizdarmbehandlung in erster Linie auf eine Linderung der Symptome. Dabei bietet es sich an, die Therapieangebote der Schulmedizin mit denen der Komplementärmedizin zu verbinden: Neben den Anwendungen der Pflanzenheilkunde lässt sich der Krankheitsverlauf oft auch mit einem individuell abgestimmten multimodalen Behandlungskonzept, das z. B. auch Homöopathie, Ordnungstherapie und/oder Akupunktur umfasst, günstig beeinflussen. Wichtig ist jedoch, dass man sich an einen erfahrenen Therapeuten wendet, 5 der idealerweise auch andere Maßnahmen mit einbezieht, allen voran eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten (z. B. Verzicht auf individuell unverträgliche Speisen bzw. Nahrungsbestandteile) oder das Erlernen von Entspannungsverfahren (etwa Autogenes Training, Yoga, Muskelrelaxation nach Jacobson). Manche Reizdarmpatienten profitieren auch von einer (begleitenden) Psychotherapie. Auf jeden Fall sollte die Therapie individuell abgestimmt werden. Denn was dem einen gut tut, führt beim anderen vielleicht zu einer Verschlimmerung der Beschwerden. Deshalb sind bei der Suche nach der geeigneten Behandlungsstrategie nicht nur eine gute ärztliche Betreuung, sondern auch Selbstbeobachtung, Geduld und Eigeninitiative gefragt. Dabei geht es vor allem darum, zu lernen, wie auslösende Faktoren – allen voran Nahrungsmittel, (stressbelastende) Lebenssituationen, (stressfördernde) Verhaltensweisen – künftig gemieden bzw. mit einer Änderung der Lebensführung »entschärft« werden können. Um diese zu ermitteln, können auch regelmäßige Notizen in einem Tagebuch hilfreich sein. Fachklinik für Innere Medizin, Naturheilverfahren und Homöopathie Gemeinsam gegen Reizdarmbeschwerden Das Krankenhaus für Naturheilweisen (KfN) in München nutzt seit mehr als 100 Jahren die aktuelle schulmedizinische Therapie als Behandlungsbasis und ergänzt sie durch Homöopathie und Naturheilverfahren. Wir zeigen Ihnen mit einem individuell auf Sie abgestimmten, multimodalen Behandlungskonzept, wie Sie Ihren Reizdarmbeschwerden aktiv begegnen können. Die komplementäre Behandlung wirkt hierbei therapieunterstützend und trägt über eine zusätzliche Aktivierung der Selbstheilungskräfte zu einer nachhaltigen Beschwerdelinderung bei. Wir behandeln Patienten aller Kassen. Unsere Therapieangebote beim Reizdarmsyndrom: • Leitlinienbasierte medikamentöse Therapie • Ernährungstherapie • Naturheilkundliche Pflegeanwendungen • Ordnungstherapie • Phytotherapie • Homöopathie Weitere Informationen unter www.krankenhaus-naturheilweisen.de Krankenhaus für Naturheilweisen Seybothstr. 65 · 81545 München · Telefon 089 62505 - 0 · Telefax 089 62505 - 430 www.krankenhaus-naturheilweisen.de Topfit 4 / 2014 6 Thema aktuell Überblick: Bewährte Maßnahmen bei Reizdarmsymptomen ▶ Akute Bauchschmerzen ▶ Durchfall Anticholinerika (z. B. B ­ utylscopolamin) oder Muskelrelaxanzien (z. B. ­Mebeverin) sind besonders wirksam bei akuten krampfartigen Bauchschmerzen. Ebenso haben sich standardisierte Pfefferminzölpräparate (z. B. Medacalm®, Divalol® Galletropfen) oder pflanzliche Kombinationsmittel (z. B. Iberogast®) bewährt. Niedrig dosierte (trizyklische) Antidepressiva kommen zum Einsatz, wenn mit den genannten Mitteln keine deutliche Besserung erzielt werden konnte. Schleimbildner wie Flohsamenschalen können leichtere Durchfälle mildern, bei stärkerem Durchfall sind Gerbstoffe bzw. Tannine (z. B. Tannacomp®) oder Loperamid (z. B. Imodium®) meist effektiver. Wichtig ist, mit Elek­ trolytlösungen den Verlust an Wasser und Mineralien auszugleichen. Gemieden werden sollten stuhlfördernde Substanzen (z. B. Leinsamen oder Weizenkleie) sowie Zuckerersatzstoffe (z. B. Sorbitol). ▶ Blähungen Bei Blähungen gilt es, auf blähungsfördernde Nahrungsmittel (z. B. Hülsenfrüchte, Zwiebeln, Knoblauch, Kohlgemüse, Kirschen, Aprikosen, Beeren, größere Rohkostmengen), aber auch auf zu fette sowie auf kohlensäurehaltige Getränke möglichst zu verzichten oder der blähenden Wirkung entgegen zu wirken, wie z. B. Gerichte mit Kümmel zuzubereiten. Lindernd wirkt Wärme (z. B. ein warmer Heublumensack oder eine Wärmflasche). Als Medikamente werden Arzneistoffe wie Dimeticon (z. B. sab simplex® Kautabletten) bzw. Simeticon (z. B. Lefax® Kautabletten) empfohlen. Ebenso wirken pflanzliche Extrakte als Monopräparat oder als Teezubereitung etwa aus Kümmel, Fenchel, Anis, Melisse oder Pfefferminze entblähend. Auch die Homöopathie bietet für diese Symptome Lösungen an. Dazu sollten Sie sich aber von einem fachkundigen Arzt beraten lassen. Topfit 4 / 2014 Flohsamenschalen wirken regulierend auf den Darm und können deshalb sowohl bei Verstopfung als auch bei Durchfall sinnvoll sein. Bei bakte­riell verursachten Darmstörungen sind sie a­ llerdings wirkungslos. ▶ Verstopfung Eine ballaststoffreiche Kost, eine tägliche Trinkmenge von mindestens zwei Litern sowie regelmäßige körperliche Aktivität gehören zu den Basisempfehlungen bei dominierender Verstopfung. Zudem regen Quellstoffe wie Weizenkleie, Leinsamen, Flohsamenschalen oder indischer Flohsamen (Plantago ovata) die Verdauung an und machen den Stuhl gleitfähiger. Sie entfalten ihre Wirkung jedoch nur, wenn sie mit viel Flüssigkeit (ein Teil Quellstoff auf zehn Teile Wasser) eingenommen werden. Und: Nicht jeder Reizdarmpatient verträgt Quellstoffe, das gilt auch für die ebenfalls oft empfohlene Lactulose. In diesem Fall können Abführmittel wie Macrogol (z. B. Macrogol ratiopharm®), Bisacodyl (z. B. Dulcolax®) oder Natriumpicosulfat (z. B. Laxoberal®) eine Alternative sein. Zur Behandlung eines verstopfungsdominierten Reizdarms wird seit Kurzem auch der Wirkstoff Linaclotid (Constella®) eingesetzt. Dieser erhöht nicht nur die Stuhlfrequenz, sondern lindert auch die begleitenden Bauchschmerzen. Wegen Differenzen mit dem Kassenverband um den Erstattungsbetrag hat der Hersteller das Mittel jedoch inzwischen schon wieder vom deutschen Markt genommen, sodass die Apotheken es jetzt importieren müssen. Von einer Therapie mit Probiotika (z. B. Colibiogen®, Hylak®, Mutaflor®, Symbioflor®) profitieren sowohl Patienten mit Verstopfungs- als auch mit Durchfall-Reizdarm. Die klassische Homöopathie empfiehlt eine individuell abgestimmte Konstitutionstherapie. Dies kann bedeuten, dass zwei Menschen mit ähnlichen Reizdarmsymptomen aufgrund ihrer unterschiedlichen Konstitution verschiedene Mittel erhalten. Die Behandlung kann mit anderen komplementärmedizinischen Methoden und Selbsthilfemaßnahmen kombiniert werden. FODMAP-Diät – hilfreich für Reizdarmpatienten Bislang gibt es keine einheitlichen Ernährungsempfehlungen für Reizdarmpatienten. Wissenschaftler haben an der Universität Melbourne nun eine Spezialdiät für Reizdarmpatienten entwickelt: die FODMAP-Diät (fermentierbare Oligo-, Di- und Mono­ saccharide- sowie Polyole-reduzierte Diät). Bei dieser Diät sind kurzkettige Kohlenhydratverbindungen wie Fruktose, Fruktane, Laktose, Galaktose oder auch die Zuckeraustauschstoffe Xylit, Sorbit und Maltit stark reduziert. Hierfür muss der Betroffene allerdings auf einiges verzichten, so z. B. neben Knoblauch, Zwiebeln und Kohl auch auf Pilze, Brokkoli und Rote Bete oder auf beliebte Obstsorten wie Äpfel, Birnen, Kirschen und Weintrauben. Viele Reizdarmpatienten, die sich nach den Prinzipien der FODMAP-Diät ernähren, nehmen die Einschränkungen jedoch gern in Kauf: Sie fühlen sich deutlich besser, manche berichten sogar von einer weitgehenden Beschwerdefreiheit. Die Umsetzung der kohlenhydratarmen Kost sollte allerdings mit einem Ernährungs­berater erarbeitet werden. Fotos: fotolia.de (Rita Maaßen, Christian Jung), Ein Teelöffel Leinsamen im Müsli oder als Leinsamenschrot (aus dem Reformhaus oder mit der Kaffeemühle selbst zubereitet) in einer Tasse Milch gelöst, ist ein wirkungsvolles natürliches Abführmittel bei verstopfungsdominiertem Reizdarm.