Ethische Aspekte der Erwachsenenpsychiatrie: Konzepte und Erfahrungen aus Basel Abteilung Klinische Ethik Leitung Prof. Dr. Stella Reiter-Theil, Dipl.-Psych. http://klinische-ethik.unispital-basel.ch Email: [email protected] Foto: Juri Weiss Gliederung • Grundlagen: – Medizin- und Gesundheitsethik / Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie • Thema „Fehler“ • Formen der ethischen Unterstützung – Beispiele aus der Ethikkonsultation • Diskussion Grundbegriffe: Moral, Sitte, Ethos • Betrifft das Verhalten gegenüber • Mitmenschen • der Natur • sich selbst • Das Gewohnte und Bewährte, das Selbstverständliche und allseits Erwartete • Ein grundlegender Rahmen für das Verhalten • Wesentlich und grundlegend für das Menschsein selbst Lexikon der Ethik, Otfried Höffe (Hrsg), 2002 3 ... von der Moral zur Ethik • Geltung der Moral hat Grenzen • Unsicherheiten, Widersprüche und Konflikte • Bezug auf Autoritäten kann nicht alle Probleme lösen • Allgemeine ethische Orientierung notwendig • muss auf methodischem Weg gesucht werden • Zielsetzung • zu erkennen, was gutes und gerechtes Handeln ist, das ethisch gut begründet werden kann >Medizin- und Gesundheitsethik 4 Ethische Prinzipien • • • • Respekt vor der Autonomie / Respect for autonomy / Voluntas aegroti Vermeidung von Schaden / Nonmaleficence / Nil nocere Hilfeleistung / Beneficence / Salus aegroti Gerechtigkeit / Fairness Beauchamp & Childress 1994 ff Ethische Prinzipien • Respect • Responsibility • Integrity • Competence „Tugendethik“ Lindsay, Koene, Ovreide, Lang (2008) Ethics for European Psychologists Perspektiven • • • • • • Patient / Patientin Therapeut/in, andere Fachleute Team / Kooperation der Berufsgruppen Eltern, Familie / Angehörige des Patienten Institutioneller Kontext Gesundheitswesen - Medizin als Teil der Gesellschaft - Kostenträger • … Generationen? Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie • Teil der Medizin- und Gesundheitsethik? • Etwas Eigenständiges? • Beides trifft zu: • Grundlagen sind allgemein; • Inhalte und Arbeitsformen können / sollen den spezifischen Bedürfnissen, Herausforderungen und auch Stärken eines Gebietes angepasst werden. Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie Unterschiede und Gemeinsamkeiten? – Patienten? – Behandlungsformen? – Professionelle Qualifikationen? – Persönliche Merkmale der Berufsgruppen? – Institutionen? – …? Fehler in der Psychiatrie i.w.S. • … wie sieht es dort aus? Erste Assoziationen: – Medikationsfehler (unleserliche Rezepte) – Fragwürdige Zwangsmassnahmen – Probleme in der Kooperation mit gesetzlichen Betreuern oder Angehörigen – Unbefriedigende Betreuung in Spannungsfeldern wie: Demenz / Palliativmedizin, bei multi-morbiden Patienten … und Fehler in der Pflege • … wie sieht es dort aus? Elaborierte Konzepte: Anderson et al (2010) Am Nurse Today 5,3:23-28 Frühe Pionierarbeiten: z.B. Marianne Arndt, 1994 Fehler in der Pflege – The „Big Seven“ Schadensfälle Fehler (Versagen bzgl.) Sturzereignisse 1. Infektionen 2. Medikationsfehler 3. Dokumentationsfehler 4. 5. Verletzungen durch Instrumente 6. 7. Kooperation mit and. Gesundheitsberufen Klärung interdiszipl. Anweisungen Unterstützung anfragen und anbieten Evidenz-basierte LL nützen Patienten / Familien informieren Überstunden begrenzen Adäquate (Pflege-) Personalversorgung für Patientensicherheit Essentials einer Fehlerkultur in der Medizin … • Respekt / Achtung – vor demjenigen, welcher durch einen Fehler Nachteile erleidet und vor seinen Bedürfnissen • Ehrlichkeit • Hilfe und Schadensausgleich • Lernprozesse und Verbesserungen individuell und institutionell Behandlungsfehler in der Psychotherapie. Fehlerdefinition aus der Praxis und Erfahrungsberichte zum Umgang mit Therapiefehlern PhD-Dissertation: Irina Medau, Basel Ausgangslage und Zielsetzung • Bisher kaum Grundlagenforschung zum Thema – Keine etablierte Definition von Fehlern für die Psychotherapie Qualitative Interviewstudie (Leitfaden) Mit 30 praktizierenden PsychotherapeutInnen verschiedener Schulen (PT) Klassifikation Medau, Jox, Reiter-Theil (2014) Ethik Med 26 (1): 3-18 Klassifikation – Kommentar • Technische Fehler: Unsicherheit, diese eindeutig zu klassifizieren – Frage nach Standards. • Einschätzungsfehler: mehr subjektive Einflüsse – „klinisches Urteil“ / „moralische Urteilskraft“); Bsp. v.a. Verkennen von Suizidalität. • Normative Fehler: anders wg. „moralischer Verwerflichkeit“; – moral. Normen in PT oft nur implizit; Orientierungsbedarf; Bsp. V.a. Mängel in der Aufklärung. – Unsitte des Schönredens / Externalisierens von Schuld. • Systemische Fehler: häufig angegeben, – Bsp. Arbeitsbedingungen; Ohnmachtsgefühl. Medau, Jox, Dittmann, Reiter-Theil (2012) Psychiat Prax 39: 326-331 Medau, Jox, Dittmann, Reiter-Theil (2012) Psychiat Prax 39: 326-331 Medau, Jox, Dittmann, Reiter-Theil (2012) Psychiat Prax 39: 326-331 Was heisst „ethische Unterstützung “? Ethik-Support, Ethikkonsultation Weiterbildung … Ethikberatung – etwa ein Hinweis auf Fehler? Nein: • eher ein Hinweis auf besondere Sorgfalt, Verantwortung … Formen ethischer Unterstützung Intern oder extern; bezahlt oder unbezahlt z.B. RL betr. Zwangsmassnahmen; Gewalt; Beihilfe zum Suizid Reiter-Theil 2008 Ther Umschau 65: 359-365 Zur Orientierung • Gleichberechtigung der Teilnehmenden in der Diskussion • Keine “Delegation” der Entscheidung “an die Ethik“ • Entscheidung und Verantwortung bleiben – bei den Behandelnden und – den entscheidungsfähigen Patienten (bzw. Eltern / Stellvertretern des Patienten) Anlässe von Ethikkonsultation 1. Unsicherheit eth. Beurteilung 2. Ethischer Konflikt zwischen Verpflichtungen 3. Dissens im Team 4. Haltung oder Kooperation von Pat. / Angehörigen (Reiter-Theil 2000; 2005) Referenz Reiter-Theil et al. Psychiatr Prax 2014: 41(07): 355-363 Basler Leitfaden zur ethischen Fallbearbeitung insbes. für die klinische Ethik-Konsultation 1. Vorbereitung • Klärung des Rahmens und des Vorgehens • Bericht aus dem klinischen Team • Gelegenheit für Rückfragen 2. Falldiskussion • • • • • Formulierung eines Ethik-Fokus Blickfeld erweitern Ethische Analyse Unterschiedliche Meinungen ? Voraussetzungen für Konsens ? 3. Ethische Analyse der Optionen (Entscheiden, Handeln) • Ethische Prinzipien, Werte, Normen • Systematischer Perspektivenwechsel • Rechte und Pflichten der Beteiligten 4. Fokussierte Ergebnisse, evtl. Empfehlungen • Kurze schriftliche Dokumentation: Entscheidung und ethische Begründung • Weiteres Vorgehen • Ausführliche schriftliche Dokumentation für die Akte 5. Feedback wenn möglich © Reiter-Theil S (2005) Schweiz. Ärztezeitung; 86: Nr. 6, S. 346-351 Ethische Fallbesprechung – Vorgehen Basler Leitfaden nach Reiter-Theil 1. Problematik erfassen Eigene intuitive Reaktion wahrnehmen / ggf. aussprechen 2. Ethik-Fokus bilden 3. Optionen aufstellen – pro und contra durch ethische Analyse ermitteln: Prinzipien und Perspektiven durchgehen Rechte und Pflichten in Rangordnung bringen 4. Konsensbildung versuchen Ergebnis protokollieren Reiter-Theil 2005, Schweiz Ärztezeitung, Reiter-Theil, 2008, Ther Umschau Beispiele aus der EK • Wieweit darf / soll man Lebensziele / Therapieziele an Patienten herantragen? • Ist es richtig, sich in einem sozialen Härtefall (etwa Kündigung des Arbeitsplatzes) aktiv für den Patienten Partei einzusetzen? • Was tut man, wenn stellvertretende Angehörige eigene Ziele statt denen des Patienten verfolgen? Brennpunkt • Entscheidungen am Lebensende – auch in der Psychotherapie / Psychiatrie? – Ein Tabuthema oder ein Muss? • Reizwort „Futility“ (Sinn-/Nutzlosigkeit“)? >Ein Faktum Zentrale Fragen • Gibt es in der Psychotherapie / Psychiatrie so etwas wie ein Endstadium der Erkrankung? • Sind palliative Behandlungsziele denn zu rechtfertigen? • Wo endet die Verantwortung und Fürsorgepflicht des Behandelnden? • Sollen wir sagen: „in dubio pro Autonomie des Patienten“ – auch bei Zweifeln an der Urteilsfähigkeit? Beispiele aus der EK bei der • Behandlung von lebensbedrohlicher Anorexia Nervosa: • Wahrnehmung: Therapie ist nutzlos (subjektiv / objektiv?); widersprüchliche Patientenwünsche; fragliche Entscheidungsfähigkeit. « quod me nutrit me destruit. » « was mich nährt, zerstört mich. » Meyer, Di Gallo, Reiter-Theil: Ethics Consultation in Life-Threatening Anorexia Nervosa. A Challenge to Established Therapeutic Concepts, but still Helpful? Parallel Sessions 4, D, ICCEC, 21.5.2015 ; Publ. in Vorber. Noch ein “hot topic” – und ein normativer Fehler? Publikationen – Ethische Beratung Aufsätze: • Reiter-Theil S (2005) Klinische Ethikkonsultation – eine methodische Orientierung zur ethischen Beratung am Krankenbett. Schweizerische Ärztezeitung 86, 6: 436-351 • Reiter-Theil S (2008) Ethikberatung in der Klinik: ein integratives Modell für die Praxis und ihre Reflexion. Therapeutische Umschau 65: 359-365 • Reiter-Theil S, Schürmann J, Schmeck K (2014) Klinische Ethik in der Psychiatrie: State of the Art. Psychiat Praxis 41(07): 355-363 Sammelband: • Stutzki R, Ohnsorge K, Reiter-Theil S (Hrsg) (2011) Ethikkonsultation heute – vom Modell zur Praxis. LIT Verlag, Münster Themenhefte: • Medicine, Health Care and Philosophy: Reiter-Theil, Agich (eds) (2008) 11, 1 • Cambridge Quarterly of Health Care Ethics: Agich, Reiter-Theil (eds) (2009) 18(4) • Psychiatrische Praxis: Reiter-Theil, Dittmann (Hrsg.) (2014) 41(7) • Clinical Ethics: Molewijk, Reiter-Theil (eds) (2015/in press) Publikationen – Psychotherapiefehler • Medau I, Jox R, Dittmann V, Reiter-Theil S (2012) Eine Pilotstudie zum Umgang mit Fehlern in der Psychotherapie – Therapeuten berichten aus der Praxis. Psychiat Prax 39: 326-331 • Medau I, Jox R, Reiter-Theil S (2013) Error management in psychotherapy in the light of ethical principles. An interview study. BMC Medical Ethics 14(1): 50 • Medau I, Jox R, Reiter-Theil S (2012) Behandlungsfehler in der Psychotherapie: ein empirischer Beitrag zum Fehlerbegriff und seinen ethischen Aspekten. Ethik Med. 26 (1): 3-18 • Reiter-Theil S, Medau I (2009) Ethische Fragen im Kontext der Verhaltenstherapie. Band 1. In: Margraf J, Schneider S (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. 3. Auflage, Springer, Heidelberg, S. 249-259 • Hollwich S, Reiter-Theil S (2014) Umgang mit Emotionen nach Behandlungsfehlern. Hess. Ärzteblatt 6: 325-328 • Hollwich S, Franke I, Riecher-Rössler A, Reiter-Theil S (2015) Therapist-client sex in psychotherapy: attitudes of professionals and students towards ethical arguments. Swiss Medical Weekly; 145: w14099 Referenzen – Fehler (allg.) • Behnsen E, Bell K, Best D et al. (2000) Management-Handbuch für die psychotherapeutische Praxis - MHP. Decker, Heidelberg. • Bosk, C. (1979). Forgive and Remember: Managing Medical Failure. Chicago University Press. • Emmelkamp P (1988) Misserfolge in der Verhaltenstherapie. In: Kleiber, D, Kuhr, A. Handlungsfehler und Misserfolge in der Psychotherapie. Beitraege zur psychosozialen Praxis. Tuebingen: Deutsche Gesellschaft fuer Verhaltenstherapie, Tuebinger Reihe, Nr. 8, 34-44. • Engelhardt K. (2003). Patientenzentrierte Medizin und Ethik. Deutsche Medizinische Wochenschrift, 2003; 128: 1969-71. • Hoffmann So, Rudolf G, Strauss B (2008) Unerwünschte und schädliche Wirkungen von Psychotherapie. Eine Übersicht mit dem Entwurf eines eigenen Modells. Psychotherapeut. 53(1) 2008, 4-16. • Kottler, J. A., & Blau, D. S. (1991). Wenn Therapeuten irren. Versagen als Chance. The imperfect therapist - Learning from failure in therapeutic practice. Köln: Edition Humanistische Therapie. • Robbennolt, J. K. (2009). Apologies and medical error. Clin Orthop Relat Res, 467(2), 376-382. • Sponsel R (1997) Potentielle Kunst-/Fehler aus der Sicht der Allgemeinen und Integrativen Psychologischen Psychotherapie. Materialien zur Qualitätssicherung mit einer Literaturübersicht. Report Psychologie. 22(8) 1997, 602-604 Weiterführende Präsentationen: Links • • • • Reiter-Theil S, Meyer D, di Gallo A Ethics Consultation in Life-Threatening Anorexia Nervosa – a Challenge to Established Therapeutic Concepts, but still Helpful? Abstract. International Conference on Clinical Ethics Consultation (ICCEC), 20.-22.5.2015, New York, USA. http://www.upkbs.ch/patienten/ethik/klinische-ethik/praesentationen/Documents/ReiterTheil%20et%20al,%20Ethics%20Consultation%20in%20LifeThreatening%20Anorexia%20Nervosa.%20Abstract%202015.pdf Isenrich R, Heimann R, Kahmen C, di Gallo A, Reiter-Theil S (2014) Supporting Ethical Quality through Participation in Child Psychiatry – a Comparative Case Study. Poster. European Psychiatric Association (EPA), 1.‐4.3.2014, Munich, Germany. http://www.upkbs.ch/patienten/ethik/klinischeethik/praesentationen/Documents/Isenrich%20et%20al.%20Supporing%20Ethical%20Quality%20t hrough%20Participation%20in%20Child%20Psychiatry.%20Poster%202014.pdf Reiter-Theil S, Graf M (2014) Ethics Consultation (EC) in Forensic Psychiatry (FP): a case study on “chemical castration”. Abstract. International Conference on Clinical Ethics Consultation (ICCEC), 24.-26.4.2014, Paris, France. http://www.upkbs.ch/patienten/ethik/klinischeethik/praesentationen/Documents/ReiterTheil,%20Graf,%20Ethics%20Consultation%20in%20Forensic%20Psychiatry.%20Abstract%20201 4.pdf Schürmann J, Jürgens P, Reiter-Theil S (2014) Making a Case for Patient Involvement in Clinical Ethics Consultation. Abstract. International Conference on Clinical Ethics Consultation (ICCEC), 24.-26.4.2014, Paris, France. http://www.upkbs.ch/patienten/ethik/klinischeethik/praesentationen/Documents/Schürmann%20et%20al.%20Make%20a%20Case%20for%20Pa tient%20Involvement.%20Abstract%202014.pdf