Zeitschrift für Epileptologie - Arbeitsgruppe Pädiatrische

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Zeitschrift für
Epileptologie
Organ der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie e.V.
Mitteilungsblatt der Stiftung Michael · Mitteilungsblatt der AG Epilepsiechirurgie
Elektronischer Sonderdruck für
S. Spiczak
Ein Service von Springer Medizin
Z Epileptol 2011 · 24:108–113 · DOI 10.1007/s10309-011-0169-7
© Springer-Verlag 2011
zur nichtkommerziellen Nutzung auf der
privaten Homepage und Institutssite des Autors
S. von Spiczak · A. Caliebe · H. Muhle · I. Helbig · U. Stephani
Genetische Ursachen epileptischer
Enzephalopathien
www.zepi.springer.de
Leitthema
Z Epileptol 2011 · 24:108–113
DOI 10.1007/s10309-011-0169-7
Eingegangen: 21. Februar 2011
Angenommen: 03. März 2011
Online publiziert: 30. März 2011
© Springer-Verlag 2011
S. von Spiczak1 · A. Caliebe2 · H. Muhle1 · I. Helbig1 · U. Stephani1
1 Klinik für Neuropädiatrie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein,
Campus Kiel, und Christian Albrechts Universität Kiel, Kiel
2 Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein,
Campus Kiel, und Christian Albrechts Universität Kiel, Kiel
Genetische Ursachen
epileptischer
Enzephalopathien
Epileptische Enzephalopathien sind
durch einen frühen Beginn in den
ersten Lebensjahren und einen therapieschwierigen Verlauf sowie multiple Komorbiditäten gekennzeichnet. Die einzelnen Syndrome sind
seltene Erkrankungen; in ihrer Gesamtheit, in der Bedeutung für die
betroffenen Patienten und letztlich
in den Auswirkungen auf das Sozialund Gesundheitssystem sind sie jedoch durchaus schwerwiegend. Neben symptomatischen Formen nach
prä- und perinatalen Komplikationen sowie strukturellen Hirnfehlbildungen stellen genetisch bedingte
Erkrankungen eine dritte bedeutende ätiologische Entität dar.
Die Bedeutung genetischer Grundlagen für seltene sowie schwer verlaufende Epilepsien und epileptische Enzephalopathien wird zunehmend erkannt. Dabei reicht das Spektrum von familiären
monogenen Formen über autosomal-rezessiv oder X-chromosomal vererbte Erkrankungen bis zu sporadischen Fällen
mit dominant wirkenden De-novo-Mutationen. Für viele dieser Erkrankungen
wird schließlich das Vorliegen einer komplexen Vererbung mit zusätzlichen modifizierenden Veränderungen und Einflüssen von Umweltfaktoren angenommen.
In den letzten Jahren konnten zahlreiche genetische Ursachen epileptischer Enzephalopathien aufklärt und
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verantwortliche Gene identifiziert werden. Weiterhin haben klinische Untersuchungen das phänotypische Spektrum
bekannter genetisch bedingter Epilepsieformen erheblich erweitert. Die Aufklärung genetischer Ursachen bedeutet eine
ätiologische Klärung, ermöglicht die humangenetische Beratung betroffener Familien und eröffnet in einigen Fällen
spezifische Behandlungsmöglichkeiten.
Daher sind diese Erkenntnisse nicht nur
für den Wissenschaftler, sondern auch
für den klinisch tätigen Epileptologen
von Bedeutung und sollen im Folgenden
dargestellt werden. Die Beschreibung erfolgt chronologisch nach dem Altersbeginn der assoziierten Epilepsiesyndrome. Erweiterungen des phänotypischen
Spektrums sind der Beschreibung des typischen Krankheitsbilds nachgestellt. Im
Hinblick auf metabolische Erkrankungen sind nur Krankheitsbilder beschrieben, bei denen die Epilepsie als führendes Symptom in Form einer früh beginnenden epileptischen Enzephalopathie
auftritt.
In dieser Übersicht werden Krankheitsbilder und assoziierte Gene mit aktueller diagnostischer Bedeutung dargestellt. Diese und weitere Gene, die nur in
Einzelfällen beschrieben wurden und deren ätiologische Bedeutung größtenteils
noch unklar ist, sind in .  Abb. 1 und
. Tab. 1 aufgeführt.
Vitamin-B6-abhängige
Epilepsien: ALDH7A1 und PNPO
Vitamin-B6-abhängige Epilepsien beginnen in der Regel in den ersten Lebensstunden bis -tagen und sind durch therapieresistente epileptische Anfälle, schwere EEG-Veränderungen bis hin zu „Burstsuppression“-Mustern und Hypsarrhythmie und eine globale Retardierung gekennzeichnet [34]. Man unterscheidet
Pyridoxin- von Pyrodoxal-5-Phosphatabhängigen Epilepsieformen.
Pyridoxin-abhängige Epilepsien zeigen einen Defekt im Lysinstoffwechsel,
der indirekt durch Inaktivierung von Vit­
amin B6 zu einem erhöhten Bedarf führt.
Die Gabe von Vitamin B6 resultiert in
einem raschen Sistieren der Anfälle und
einer Normalisierung der EEG-Veränderungen innerhalb von Minuten bis wenigen Stunden. Ursächlich sind homozygote bzw. „compound“-heterozygote Mutationen im ALDH7A1-Gen, das
für das Enzym Antiquitin codiert [27].
Als Folge des Stoffwechseldefekts sind αAminoadipinsemialdehyd (α-AASA) im
Urin sowie Pipecolinsäure in Serum und
Liquor erhöht. Neuere Untersuchungen
beschreiben ein deutlich erweitertes phänotypisches Spektrum mit späterem Beginn, zusätzlichen Symptomen und verzögertem oder unvollständigem Ansprechen auf die Therapie [3, 26]. Verlässliche Werte zur Sensitivität und Spezifität von α-AASA und Pipecolinsäure lie-
Ohtahara-Syndrom:
ARX und STXBP1
Das auch als frühinfantile epileptische Enzephalopathie bezeichnete Ohtahara-Syndrom beschreibt ein im Neugeborenenoder frühen Säuglingsalter beginnendes
Epilepsiesyndrom, das durch das Burstsuppression-EEG-Muster gekennzeichnet
ist. Es treten v. a. tonische Spasmen auf,
die Anfälle sind therapieresistent, und die
Gesamtprognose ist aufgrund einer meist
schweren globalen Entwicklungsstörung
und einer hohen Sterblichkeit ungünstig.
Bei etwa drei Viertel der Patienten geht
das Ohtahara-Syndrom in ein West-Syndrom über [33]. Neben unterschiedlichen
symptomatischen und genetischen Ursachen wurden zuletzt zwei kausale Veränderungen näher charakterisiert: heterobzw. hemizygote Mutationen und Deletio­
nen im ARX-Gen („early infantile epileptic encephalopathy type I“, EIEE1, OMIM
b
Säugling
Doose-Syndrom
Kleinkind
IGE
Rolando-Epilepsie
"Early-onset absence epilepsy"
Lennox-Gastaut-Syndrom
Dravet-Syndrom
West-Syndrom
BFNS, BFIS
Ohtahara-Syndrom
"Early infantile epileptic encephalopathy"
Häufigkeit der Epilepsiesyndrome
a
Häufigkeit der Epilepsiesyndrome
gen bislang nicht vor, sodass das vollständige klinische Spektrum der ALDH7A1assoziierten Epilepsien vermutlich weiterhin nicht bekannt ist. So werden z. B.
auch bei Patienten mit folinsäureabhängigen Epilepsien Mutationen in ALDH7A1
beschrieben [14].
Aufgrund der phänotypischen Breite der ALDH7A1-assoziierten Epilepsien
scheint eine klinische Diagnose häufig
schwierig. Hier kann der Einsatz genetischer Diagnostik helfen, in unklaren Fällen eine ätiologische Klärung und damit
spezifische Therapieoptionen zu ermöglichen.
Pyridoxinabhängige Epilepsien mit
Mutationen in ALDH7A1 unterscheiden
sich von Pyrodoxal-5-Phosphat-abhängigen Epilepsieformen mit Mutationen
im PNPO-Gen. PNPO codiert die Pyridox(am)ine-5’-Phosphatoxidase, die die
Umwandlung von Pyridoxin in die aktive Form Pyridoxal-5-Phosphat katalysiert.
Die durch Veränderungen im PNPO-Gen
bedingte Epilepsie ist entsprechend nur
durch Gabe von Pyridoxal-5-Phosphat
behandelbar [28]. Es sind bislang nur wenige Einzelfälle beschrieben, sodass das
phänotypische Spektrum weitgehend unbekannt ist. Weitere Studien müssen zeigen, bei welchen Patienten eine genetische
Diagnostik sinnvoll ist.
Kindergarten- und Schulkind
Alter
Weitere Epilepsien mit frühem Beginn und genetischen
Ursachen:
Epilepsien bei kortikalen Fehlbildungen
Epilepsien bei metabolischen Erkrankungen
Epilepsien bei chromosomalen Veränderungen
Epilepsien bei syndromalen Erkrankungen
SCN2A
KCNQ2 CDKL5
KCNQ3
MEF2C
PNPO
ALDH7A1
PLCB1
SCN1A
STXBP1
PCDH19
ARX
SLC25A22
Säugling
Mikrodeletionen
SLC2A1
Kleinkind
Kindergarten- und Schulkind
Alter
Abb. 1 8 Zeitliches Auftreten und relative Häufigkeit (nicht maßstabsgetreu) wichtiger Epilepsie­
syndrome des Kinder- und Jugendalters (a) und bekannte genetische Ursachen (b). Die fett
­gedruckten Gene werden im Text näher dargestellt. BFNS „benign familial neonatal seizures“ ­(benigne
­familiäre Neugeborenenepilepsie), BFIS „benign familial infantile seizures“ (benigne familiäre
Säuglings­epilepsie), IGE „idiopathic generalized epilepsy“
#308350) und im STXBP1-Gen (EIEE4,
OMIM #612164; [20, 35]).
Veränderungen im ARX-Gen führen
zu unterschiedlichen Phänotypen wie
Ohtahara-Syndrom, West-Syndrom, Xchromosomal vererbter Lissenzephalie
mit Störung der Geschlechtsentwicklung
u. a. [40]. Dabei können gleiche Mutatio­
nen inter-, aber auch intrafamiliär unterschiedliche Krankheitsbilder hervorrufen. Entsprechend des X-chromosomalen
Erbgangs finden sich die typischen Symptome im männlichen Geschlecht, es sind
jedoch auch milder betroffene weibliche
Merkmalsträger beschrieben.
STXBP1 codiert für syntaxinbindendes
Protein 1, das auf präsynaptischer Seite
glutamaterger und GABAerger Synapsen
(GABA: γ-Aminobuttersäure) an der Ve-
sikelfreisetzung in den synaptischen Spalt
beteiligt ist. Kürzlich wurde eine deutliche
Erweiterung der mit STXBP1-Mutationen
assoziierten Krankheitsbilder beschrieben
[9]: Mutationen konnten auch bei Patien­
ten mit einer früh beginnenden, schwer
verlaufenden epileptischen Enzephalopathie mit variablen Anfallstypen, unspezifischen EEG-Auffälligkeiten, schwerer Entwicklungsverzögerung und Bewegungsstörungen identifiziert werden. Ein Teil
der Patienten zeigte im Verlauf ein therapieresistentes West-Syndrom, andere Patienten hingegen wurden bei allerdings
bleibender Retardierung und Bewegungsstörung schnell und anhaltend anfallsfrei.
Weiterhin sind auch Patienten mit isoliertem West-Syndrom und Mutationen im
STXBP1-Gen beschrieben.
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Leitthema
Tab. 1 Genetische Ursachen epileptischer Enzephalopathien
Gen
Lokalisation
ALDH7A1 5q31
PNPO
17q21.32
Protein
SLC2A1
Antiquitin
Pyridox(am)ine-5-PhosphatOxidase
1p35–p31.3 Glucosetransporter 1 (GLUT1)
MECP2
Xq28
FOXG1
ARX
14q13
Xp22.13
CDKL5
Xp22
SLC25A22 11p15.5
„Methyl-CpG-binding
­protein 2“
„Forkhead box G1“
„Aristaless-related homeobox“
„Cyclin-dependent kinaselike 5“
„Solute carrier family 25“
STXBP1
9q34.1
„Syntaxin-binding protein 1“
SPTAN1
9q33-q34
Spektrin
Literatur
Vitamin-B6-abhängige Epilepsie
Pyridoxal-5-Phosphat-abhängige Epilepsie
[26, 27]
[28]
Glut1-Defizienz-Syndrom, EOAE, paroxysmale aktivitätsinduzierte
­Dyskinesie und Epilepsie
Rett-Syndrom
[6, 31, 38, 41, 42]
Kongenitales Rett-Syndrom
EIEE1: Ohtahara-Syndrom, West-Syndrom, mentale Retardierung,
X-chromosomal vererbte Lissenzephalie mit Störung der Geschlechts­
entwicklung u. a. (v. a. Jungen betroffen)
EIEE2: frühes, schwer verlaufendes West-Syndrom, atypisches Rett-Syndrom
(v. a. Mädchen betroffen)
EIEE3: refraktäre Epilepsie, v. a. myoklonische Anfälle, Beginn in ersten ­Lebensmonaten, früher Tod oder vegetativer Status, EEG: „burst
­suppression“
EIEE4: Ohtahara-Syndrom, frühinfantile epileptische Enzephalopathie
mit variablen EEG- und Anfallsmustern
EIEE5: epileptische Enzephalopathie mit Hypsarrhythmie und schwerer
­Retardierung, Tetraspastik, MRT: Hypomyelinisierung und globale Atrophie
EIEE6: Dravet-Syndrom
[2]
[20]
Spannungsabhängiger Na­
triumkanal, α1-Untereinheit
KCNQ2
20q13.3
Spannungsabhängiger Kalium- EIEE7: neonatal beginnende epileptische Enzephalopathie mit therapierekanal
fraktärer Epilepsie, Burst-suppression-Muster im EEG, schwere Retardierung,
muskuläre Hypotonie und Dystonie, auch als schwere Verlaufsform bei BFNS
ARHGEF9 Xq22.1
ρ-Guanin-NukleotidEIEE8: Hyperekplexia und frühinfantile epileptische Epilepsie
Austausch­faktor-9
PCDH19 Xq22
Protocadherin 19
EIEE9: Epilepsie mit mentaler Retardierung bei Mädchen, atypisches
­Dravet-Syndrom
PNKP
19q13.4
Polynukleotid-Kinase-3’-­
EIEE10: epileptische Enzephalopathie mit progredienter Mikrozephalie und
Phosphatase
globaler Retardierung
SCN2A
2q23–q24.3 Spannungsabhängiger Na­
EIEE11: epileptische Enzephalopathie, West-Syndrom, selten: Dravet-­
triumkanal, α2-Untereinheit
Syndrom (Mutationen auch bei BFNIS)
PLCB1
20p12
Phospholipase Cβ1
EIEE12: therapierefraktäre Epilepsie mit tonischen Anfällen, Übergang in
West-Syndrom, Regression und Entwicklungsstopp, Tetraspastik
SCN1A
2q24
Krankheitsbild
[1, 44]
[13, 18]
[29, 30]
[9, 35]
[36]
[5, 11]
[4, 7]
[23]
[8, 10, 24, 37]
[39]
[15, 19, 22, 32]
[21]
Aufgeführt sind alle genetischen Formen epileptischer Enzephalopathien entsprechend der Datenbank Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM, EIEE1–EIEE12)
sowie die zusätzlich im Text beschriebenen Krankheitsbilder und Gene. BFNIS „benign familial neonatal-infantile seizures“ (benigne familiäre neonatal-infantile Epilepsie),
BFNS „benign familial neonatal seizures“ (benigne familiäre Neugeborenenepilepsie), EIEE „early infantile epileptic encephalopathy“, EOAE „early-onset absence epilepsy“
(frühkindliche Absence-Epilepsie).
West-Syndrom und
atypisches Rett-Syndrom:
CDKL5 und FOXG1
Veränderungen des CDKL5-Gens, codierend für eine Serin-/Threoninkinase, wurden erstmals 2003 als Ursache
für ein schwer verlaufendes West-Syndrom mit ausgeprägter globaler Retardierung bei Mädchen beschrieben (auch
EIEE2, OMIM #300672; [18]). X-Inaktivierung des normalen Allels führt bei
Vorhandensein einer heterozygoten Mutation zu einem funktionellen Verlust des
Gens. Männliche Anlageträger weisen ein
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schwerstes Krankheitsbild auf oder versterben pränatal [12].
Nachfolgend wurden Mutationen in
CDKL5 auch bei Patientinnen mit atypischem Rett-Syndrom (Hanefeld-Variante) mit frühem Epilepsiebeginn und Auftreten eines West-Syndroms beschrieben
[13]. Als verantwortliches Gen der kongenitalen Variante des Rett-Syndroms konnte 2008 FOXG1, ein Transkriptionsrepressor mit hirnspezifischer Expression, identifiziert werden [2].
Aufgrund des breiten phänotypischen
Spektrums sollte eine genetische Diagnostik bei Patientinnen mit früh begin-
nender epileptischer Enzephalopathie das
CDKL5-Gen einschließen. Bei Patientinnen mit einem Rett-ähnlichen Phänotyp
wäre nach Ausschluss von Veränderungen
in MECP2, dem für das „klassische“ RettSyndrom mehrheitlich verantwortlichen
Gen, eine Stufendiagnostik mit Untersuchung von 1. CDKL5 und 2. FOXG1 zu
empfehlen.
GLUT1-DefizienzSyndrom: SLC2A1
Das klassische GLUT1-Defizienz-Syndrom (OMIIM #606777) bezeichnet ein
Zusammenfassung · Abstract
1991 von de Vivo beschriebenes Krankheitsbild mit im Säuglingsalter beginnender, therapieresistenter Epilepsie und
epileptischer Enzephalopathie, schwerer
Entwicklungsstörung, erworbener Mikrozephalie sowie einer komplexen Bewegungsstörung mit muskulärer Hypotonie oder Spastik, Ataxie und Dystonie
[6]. Verantwortlich sind Mutationen des
­SLC2A1-Gens, die in der Regel als dominante De-novo-, selten auch als autosomal-rezessive Ereignisse auftreten [38].
Das Gen codiert für den Glucosetransporter der Blut-Hirn-Schranke, GLUT1.
Da das Protein die einzige Möglichkeit
des Glucosetransports über die Blut-HirnSchranke darstellt, resultiert eine Hypoglykorrhachie bei normaler Blutglucosekonzentration (Liquorglucose-Blutglucose-Ratio <0,4). Laktat kann als alternative
Energiequelle genutzt werden und ist daher bei einigen Patienten im Liquor ebenfalls vermindert messbar. Therapeutisch
können durch eine ketogene Diät der Glucosestoffwechselweg umgangen und Ketone als alternative Energiequelle angeboten werden.
In den letzten Jahren wurde in verschiedenen Studien das phänotypische
Spektrum der Erkrankung deutlich erweitert. Zunächst beschrieben verschiedene Arbeitsgruppen Mutation in SLC2A1
in Familien mit paroxysmaler aktivitätsinduzierter Dyskinesie und Epilepsie [41,
43]; es folgten Beschreibungen bei frühkindlicher Absence-Epilepsie („early-onset absence epilepsy“, EOAE, Beginn der
Absence-Epilepsie vor dem 4. Geburtstag; [42]) und Familien mit Absencen sowie variablem Anfallsbeginn [31]. Mullen
et al. [31] berichten über zwei Familien
mit mehreren betroffenen Familienmitgliedern; dabei reichte das Spektrum der
Phänotypen von einer idiopathischen generalisierten Epilepsie mit Absencen und
Beginn in der Kindheit oder Adoleszenz
über die myoklonisch-astatische Epilepsie
und die juvenile myoklonische Epilepsie
bis hin zu fokalen Epilepsien. Ein Teil der
Patienten wies zusätzlich oder ausschließlich eine – oft diskrete – Bewegungsstörung auf.
Veränderungen im SLC2A1-Gen werden bei etwa 10% aller Patienten mit EOAE gefunden; für den erweiterten Phänotyp mit Absencen sind bislang keine Häu-
figkeiten bekannt. Anzumerken ist, dass
bei diesen Patienten die Glucosewerte im
Liquor häufig bei dann auch niedrignormaler Liquorglucose-Blutglucose-Ratio
im unteren Normbereich lagen.
Weitere Untersuchungen müssen das
phänotypische Spektrum der Erkrankung
und die Häufigkeit von SLC2A1-Mutationen bei Patienten mit häufigen generalisierten Epilepsien klären. Zu erwägen ist
eine genetische Diagnostik bei Patienten
mit therapieschwieriger idiopathischer
(genetischer) generalisierter Epilepsie, da
mit der ketogenen Diät eine spezifische
Therapie zur Verfügung steht [31]. Dabei ist vermutlich der genetischen Dia­
gnostik vor Stoffwechseluntersuchungen
der Vorzug zu geben. Bei Durchführung
einer Stoffwechseldiagnostik ist zu beachten, dass die Liquorpunktion (LP) nüchtern und die Blutzuckermessung vor der
LP erfolgen sollten.
Dravet-Syndrom: SCN1A
Beschrieben 1978 von Charlotte Dravet,
war das Dravet-Syndrom (auch „­severe
myoclonic epilepsy of infancy“, SMEI,
OMIM #607208) eines der ersten epileptischen Krankheitsbilder, für das ein
ursächlicher Gendefekt gefunden werden konnte. Je nach klinischen Kriterien weisen >70% der Patienten mit Dravet-Syndrom Veränderungen im SCN1AGen auf [5]. In der Mehrzahl sind dies
De-novo-Mutationen, es sind allerdings
auch familiäre Fälle bei Mosaikstatus
eines Elternteils beschrieben. Charakterisiert ist das Dravet-Syndrom durch
einen frühen Beginn, meist mit Fieberkrämpfen noch vor dem 6. Lebensmonat
und nachfolgend dem Auftreten unterschiedlicher Anfallstypen, insbesondere
febrilen und afebrilen generalisierten tonisch-klonischen Anfällen, wechselseitig hemiklonischen Anfällen, myoklonischen Anfällen, Absencen, komplex-fokalen Anfällen und Umdämmerungsstatus. Oft bleibt eine starke Temperaturempfindlichkeit auch nach dem 6. Lebensjahr, d. h. leichte Temperaturerhöhungen führen zu epileptischen Anfällen. Es kommt gehäuft zu prolongierten
Anfällen und epileptischen Status. Mit
Beginn der Epilepsie tritt eine Entwicklungsverzögerung im Sinne einer epilep-
Z Epileptol 2011 · 24:108–113
DOI 10.1007/s10309-011-0169-7
© Springer-Verlag 2011
S. von Spiczak · A. Caliebe · H. Muhle ·  
I. Helbig · U. Stephani
Genetische Ursachen
epileptischer Enzephalopathien
Zusammenfassung
Genetisch bedingte Erkrankungen stellen
eine wichtige Ursache schwerer frühkindlicher Epilepsiesyndrome und epileptischer
Enzephalopathien dar. In den letzten Jahren wurden zahlreiche verantwortliche Gene identifiziert. Das phänotypische Spektrum
bekannter genetisch bedingter Epilepsieformen wurde erheblich erweitert. Die Aufklärung genetischer Ursachen bedeutet die
ätiologische Klärung, ermöglicht die genetische Beratung betroffener Familien und eröffnet in einigen Fällen spezifische Behandlungsmöglichkeiten. Im Rahmen dieses Beitrags werden Krankheitsbilder, genetische
Grundlagen und spezifische Therapieoptionen beschrieben sowie Einschätzungen der
diagnostischen Bedeutung der einzelnen Gene gegeben.
Schlüsselwörter
Epileptische Enzephalopathie ·
West-Syndrom · Dravet-Syndrom ·
Vitamin B6 · Glucosetransporterprotein, Typ 1
Genetic etiologies of epileptic
encephalopathies
Abstract
Genetically determined disorders comprise
an important etiological entity for severe infantile epilepsies and epileptic encephalopathies. In the past decade, several causative
genes have been identified. In addition, clinical genetic studies have revealed a broadened phenotypic spectrum for various disease-related genes. Identification of the underlying genetic causes will allow for an etiological diagnosis and genetic counseling of affected families. In addition, specific therapeutic options exist for several disorders. In this review, the clinical picture, genetic causes, and relevant therapeutic options are described. Furthermore, the diagnostic relevance of genetic testing with regard to particular genes and disease entities
is evaluated.
Keywords
Epileptic encephalopathy · West syndrome ·
Dravet syndrome · Vitamin B6 · Glucose
transporter type 1
Zeitschrift für Epileptologie 2 · 2011 | 111
Leitthema
Infobox 1: EuroEPINOMICS – Genetics of
Rare Epilepsy Syndromes
Im Rahmen des EuroEPINOMICS-Programms der European Science Foundation
stellt das Projekt „Genetics of Rare Epilepsy
Syndromes“ die Genetik seltener Epilepsiesyndrome und epileptischer Epilepsien in
den wissenschaftlichen Fokus. Innerhalb
dieses Forschungsnetzwerks werden ab
Sommer 2011 verschiedene europäische
Arbeitsgruppen gemeinsam an der Aufklärung der genetischen Ursachen von
seltenen, meist schwer verlaufenden Epilepsien arbeiten. Hierfür stehen durch die
verschiedenen Partner alle Methoden der
modernen Genetik, einschließlich genomweiter Analysen, zur Verfügung. Eine zentrale Datenbank zur Phänotypisierung soll
die Identifizierung neuer Krankheitsentitäten und Genotyp-Phänotyp-Korrelationen
ermöglichen.
Die Arbeitsgruppe Pädiatrische Epilepsiegenetik der Klinik für Neuropädiatrie in Kiel
ist an diesem Projekt beteiligt und steht als
Ansprechpartner zur Verfügung.
tischen Enzephalopathie auf [11]. Während das Krankheitsbild in der pädiatrischen Epileptologie mittlerweile gut bekannt ist, kann die Diagnosestellung bei
Erwachsenen schwierig sein [16].
Die genetische Diagnostik sollte möglichst frühzeitig bei Auftreten der genannten Symptom- und Befundkonstellationen erfolgen, da dies weitere dia­
gnostische Maßnahmen verhindert, eine
humangenetische Beratung ermöglicht
und durch die Vermeidung provozierender Medikamente (v. a. Lamotrigin, Carbamazepin/Oxcarbazepin und Phenytoin als „Natriumkanalblocker“) sowie den
Einsatz spezifisch zugelassener Medikamente (Stiripentol) therapeutische Konsequenzen folgen [25].
Epilepsie mit mentaler
Retardierung bei
Mädchen: PCDH19
Die Epilepsie mit mentaler Retardierung
bei Mädchen wurde erstmals 1971 in
einer großen Familie beschrieben („epilepsy with mental retardation limited
to females“, EFMR, OMIM #3000888;
[17]). Im Jahr 2008 folgten eine weiterführende Charakterisierung des Krankheitsbilds und die Identifikation des zugrunde liegenden Gens [10, 37]. Weibli-
112 | Zeitschrift für Epileptologie 2 · 2011
che Familienmitglieder zeigen eine im
frühen Kleinkindalter (6 bis 36 Monate) beginnende Epilepsie, die sich häufig
zunächst mit Fieberkrämpfen manifestiert. Im Verlauf folgen unterschiedliche
generalisierte und fokale Anfallsformen;
ebenso finden sich generalisierte und fokale EEG-Veränderungen. Meist kommt
es in der Adoleszenz zu einem Sistieren
der Epilepsie. Daneben besteht eine Entwicklungsverzögerung unterschiedlichen Ausmaßes, von Lernschwierigkeiten bis hin zur geistigen Behinderung
reichend. Bei einem Teil der Patientinnen und einigen männlichen Anlageträgern treten psychiatrische Auffälligkeiten auf. Mithilfe von Kopplungsanalysen wurde EFMR als ein X-chromosomal vererbtes Krankheitsbild identifiziert. In der Folge gelang die Identifikation von PCDH19 als verantwortlichem
Gen [10]. Das codierte Protein Protocadherin 19 ist ein Zelladhäsionsprotein, das für Zellkontakte von Neuronen
verantwortlich ist. Eine mögliche Erklärung für den ungewöhnlichen X-chromosomalen Erbgang mit männlichen
Anlageträgern und weiblichen Betroffenen ist die zelluläre Interferenz: Ein Mosaik mit PCDH19-positiven und -negativen Zellen, bedingt durch die zufällige X-Inaktivierung bei der Frau, scheint
für die Zelladhäsion problematischer
zu sein als ein einheitliches Muster ausschließlich PCDH19-negativer Zellen bei
männlichen Mutationsträgern [8].
Nachfolgend konnten mehrere Arbeiten eine deutliche Ausweitung des phänotypischen Spektrums belegen. Sporadisch auftretende Mutationen und seltene Deletionen führen bei betroffenen
Patientinnen zu einem Dravet-ähnlichen
Phänotyp. Im Vergleich zum Dravet-Syndrom bestehen ein späterer Beginn der
Epilepsie, weniger epileptischen Status
und Anfallsfreiheit bei einem Großteil
der Patienten im Verlauf [8]. Des Weiteren sind Patientinnen mit Fieberkrämpfen und einer fokalen Epilepsie unter den
Merkmalsträgerinnen beschrieben [24].
Die genetische Untersuchung von
PCDH19 ist sinnvoll bei Patientinnen mit
einem Dravet-ähnlichen Phänotyp ohne
SCN1A-Mutation, evtl. auch bei Mädchen mit anderen Epilepsieformen und
mentaler Retardierung.
Chromosomale Veränderungen
Neben den genannten monogenen Erkrankungen sind in den letzten Jahren
zunehmend chromosomale Veränderungen wie Translokationen und Mikrodeletionen als Ursache für schwere Epilepsien des Kindesalters identifiziert worden. Diese können bekannte Gene einschließen oder unabhängig auftreten.
Gerade bei komplexen Krankheitsbildern mit zusätzlichen Symptomen sollte daher eine entsprechende Diagnostik
mithilfe der Chromosomenanalyse und
der „array comparative genomic hybridization“ (Array-CGH) erfolgen.
Fazit für die Praxis
FSchwere, früh beginnende Epilepsien und epileptische Enzephalopathien sind oft genetisch bedingt.
Zahlreiche ursächliche Gene konnten in den letzten Jahren identifiziert
werden.
FDie Identifikation einer genetischen
Ursache ermöglicht eine humangenetische Beratung und verhindert
weitere invasive Diagnostik. Für einige Krankheitsbilder resultieren auch
therapeutische Konsequenzen.
FViele Erkrankungen sind durch eine
genetische Heterogenität gekennzeichnet.
FNeben „klassischen“, gut charakterisierten Krankheitsbildern wurde
für mehrere Gene zuletzt ein erweitertes klinisches Spektrum beschrieben. Diese phänotypische Heterogenität kann die klinische Diagnose erschweren.
FAuch chromosomale Veränderungen
sind beschrieben und können mithilfe der Chromosomenanalyse und der
Array-CGH diagnostiziert werden.
FInsbesondere bei behandelbaren Erkrankungen sollte frühzeitig eine genetische Diagnostik erfolgen.
Korrespondenzadresse
Dr. S. von Spiczak
Klinik für Neuropädiatrie, Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein, Campus Kiel, und
Christian Albrechts Universität Kiel
Arnold-Heller-Str. 3 Haus 9, 24105 Kiel
[email protected]
Interessenkonflikt. Die Autoren geben an, dass
­keine Interessenkonflikte bestehen.
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Zeitschrift für Epileptologie 2 · 2011 | 113
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