Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Philosophische Fakultät Frau Dr. Anna Chr. M. Zaunbauer-Womelsdorf Psychologisches Blockseminar: „Gedächtnis und Schule“ Sommersemester 2008 (03.07.2008-05.07.2008) Referat: Vergessen und falsche Erinnerungen Teil 1: Vergessen Inhaltsverzeichnis Seite 1. 2. Einleitung 1 1.1 1 Was ist Vergessen? Interferenztheorie 1 2.1 Der Fächerungseffek – Experimet von Anderson (1974) 1 2.2 Interferenz und Wissensgedächnis – Lewis und Anderson (1976) 2 2.3 Interferenz und Behaltensleistung 3 3. Spurenzerfallstheorie 4 4. Reproduzieren vs. Wiedererkennen 5 5. Vergessen und Emotionen 6 6. Vergessen von Prosatexten 6 1. Einleitung Das Phänomen des Vergessens ist jedem von uns geläufig und ist situationsbedingt mit unseren Reaktionen verbunden: Der nicht auffindbare Haustürschlüssel macht uns ärgerlich, der nicht einfallende Name eines Gesprächspartners bringt uns in Verlegenheit, eine unbeantwortete Frage mag Prüfungsangst auslösen usw. So sind diese drei Beispiele von einem unangenehmen Charakter. Aber es gibt auch Situationen, in denen das Vergessen mit einem Vorteil für uns verbunden ist, z.B. wenn wir einen unangenehmen Termin verschwitzen oder eine ausstehende Rechnung nicht bezahlen. Kurzum Vergessen korreliert nicht nur mit negativen Gefühlszuständen, sondern hat auch seine angenehmen Seiten. 1.1 Was ist Vergessen? Vergessen setzt voraus, dass ein Inhalt einmal bekannt war und zur Verfügung stand, d.h. vorher gelernt und damit im Langzeitgedächtnis festgehalten wurde. Hierbei wird der Unterschied zum „nicht wissen“ deutlich, da hierbei der zuvor beschriebene Prozess nicht stattgefunden hat. 2. Interferenztheorie 2.1 Der Fächerungseffekt – Experiment von Anderson (1974) Versuchsdurchführung: 1. Der Arzt ist in der Bank. (1,1) 2. Der Feuerwehrmann ist im Park. (1,2) 3. Der Anwalt ist in der Kirche. (2,1) 4. Der Anwalt ist im Park. (2,2) Die Versuchspersonen übten dieses Material, bis sie es beherrschten und reproduzieren konnten. Im Versuch wurden neue und bekannte Variationen der Aussagen dargelegt, wobei die Versuchspersonen entscheiden mussten, ob es sich um eine gelernte Aussage oder um eine Neukombination handelt. Ergebnisse: Die Reaktionszeit, die für die Beurteilung von Sätzen je nach Anzahl der mit einer Person bzw. einem Ort assoziierten Tatsache benötigt wurde, wurde ermittelt. Die Wiedererkennungszeiten steigen sowohl mit der Zahl der zu einer Person gelernten Tatsachen als auch mit der Zahl der zu einem Ort gelernten Tatsachen. Erklärung: Im Falle von Park und Anwalt führen jeweils zwei Verbindungen vom Konzept zu den beiden Präpositionen, in denen dieses Konzept gelernt wurde; von Arzt und Bank geht dagegen jeweils nur eine Verbindung aus. Netzwerkrepräsentation, Anderson, S. 147, Grafik. Dieser Versuch verweist auf eine begrenzte Kapazität beim Prozess der Aktivierungsausbreitung. Je mehr Verbindungen bestehen, desto weniger Aktivierung wird auf jede einzelne davon entfallen und desto langsamer wird der jeweilige Aktivierungsprozess ablaufen. Dieses Ansteigen der Reaktionszeit mit wachsender Zahl der mit einem Konzept assoziierten Tatsache heißt Fächerungseffekt. Ein allgemeiner Begriff für solche Phänomene ist die Bezeichnung Interferenz. Davon spricht man, wenn zusätzliche Informationen zu einem Konzept die Erinnerung an eine ganz bestimmte Information beeinträchtigen. 2.2 Interferenz und Wissensgedächnis – Lewis und Anderson (1976) Bei einer Untersuchung, sollte die Frage gelöst werden, ob sich der Fächerungseffekt auch bei Material nachweisen lässt, das die Versuchspersonen bereits vor dem Experiment kennen. Durchführung: Die Versuchspersonen lernten ein bis vier fiktive Aussagen über bekannte Persönlichkeiten aus Geschichte und öffentlichem Leben (Beispiel: Napoleon Bonapart kam aus Indien). Anschließend wurde die Wiedererkennungsleistung getestet: Hierbei wurden drei Arten von Sätze den Versuchspersonen dargeboten; die fiktiven Aussagen die zuvor gelernt worden waren, wahre Aussagen über eine bekannte Persönlichkeit (Beispiel: Napoleon Bonapart war Kaiser) und Aussagen über bekannte Persönlichkeiten, die sowohl im Experiment, als auch in Wirklichkeit falsch sind. Nun sollten die Versuchspersonen die Aussagen die in Wirklichkeit wahr und im Experiment wahr sind als diese identifizieren und die falsche Aussage als jene erkennen. Hierbei wurde dann die Reaktionszeit für die jeweiligen Aussagen getestet. Ergebnisse: Bemerkenswert ist, dass die Versuchspersonen (VP) auf historisch wahre Aussagen schneller reagierten als auf nur experimentell wahre Aussagen. Dieser Zeitvorteil lässt sich dadurch erklären, dass diese Tatsachen aufgrund ihrer besseren Bekanntheit im Gedächtnis erheblich stärker kodiert sind als die fiktiven aussagen. Das wichtigste Ergebnis ist, dass die VP umso länger für die Beurteilung einer bereits bekannten Tatsache brauchten, je mehr fiktive Aussagen sie zu dieser Persönlichkeit gelernt hatten. Demnach lassen sich auch Interferenzen mit bereits vor dem Experiment bekanntem Material erzeugen. 2.3 Interferenz und Behaltensleistung Bis jetzt habe ich euch vorgestellt in wie weit die Interferenz die Abrufgeschwindigkeit einer Tatsache verringern kann. Nun möchte ich vorstellen, was passiert, wenn diese Interferenzen stärker werden- entweder weil die Interferenz stärker ist, oder weil die zu reproduzierende Tatsachen sehr schwach kodiert sind. Es gibt dafür Belege, dass Personen unter diesen beiden Bedingungen sich nicht mehr an die Information erinnern: Gedächtnisausfall. Hierzu stelle ich euch folgendes Experiment vor: Typisches Interferenzexperiment, Paarassoziation am konkreten Beispiel. Durchführung: Es werden zwei Gruppen definiert: Die Experimentalgruppe (A-D) und die Kontrollgruppe (C-D). Die Experimentalgruppe lernt zwei Listen mit Paarassoziationen, die mit A-B beziehungsweise mit A-D bezeichnet werden. Hierbei sind die A-Stimuli in beiden Listen gleich. Beispiel: A-B: Katze - 43 und Haus – 61 A-D: Katze – 82 und Haus - 37 Die Kontrollgruppe lernt ebenfalls zuerst die A-B Liste, danach jedoch eine dritte, mit C-D bezeichnete Liste, die keine Stimuli mit der ersten Liste gemeinsam hat. Beispiel: A-B: Katze – 43 und Haus – 61 C-D: Knochen – 82 und Tasse – 37 Nach dem lernen der jeweiligen zwei Listen wird nach ca. 24h oder einer Woche bei beiden Gruppen das Gedächtnis für die erste Liste getestet; das ist in beiden Fällen die Liste A-B. Ergebnisse: Im Allgemeinen schneidet die A-D schlechter als die C-D Gruppe ab und zwar sowohl im Hinblick auf die Lernleistung bei der zweiten Liste als auch hinsichtlich der Behaltensleistung bei der ursprünglichen A-B Liste. Erklärung: Diese Ergebnisse sind zu erwarten, wenn man die Interferenz berücksichtigt. Im Gegensatz zur Kontrollgruppe interferiert bei der Experimentalgruppe eine zusätzliche Assoziation von Liste 2 mit dem Gedächtnis für Katze – 43. Dies führt zu erhöhten Reaktionszeiten der Experimentalgruppe, aber nicht zum völligen Gedächtnisausfall. Werden die VP jedoch während sie die Paarassoziationen noch lernen getestet, sind die Assoziationsstärken weit weniger ausgeprägt. Wenn die Paare so selten dargeboten werden, dass die Assoziationen nur gerade eben gelernt sind, kann die Interferenz mit den in der zweiten Liste gelernten Assoziationen zum Ausfall der Reproduktion führen. Somit stellt ein solcher Ausfall einen Extremfall langer Abrufzeiten dar. Es ist also nicht so, dass die vergessenen Informationen nicht mehr im Gedächtnis vorhanden wären, aber sie sind zu schwach, um angesichts der von anderen Assoziationen ausgehenden Interferenz, aktiviert zu werden. So gesehen entspricht Vergessen nicht einem Verschwinden von Informationen aus dem Gedächtnis, sondern eher dem Verlust der Fähigkeit, diese Informationen zu aktivieren. 3. Spurenzerfallstheorie Wie wir jetzt bereits festgestellt haben, ist die Interferenz eine wichtige Ursache des Vergessens. Offenbar vollzieht sich aber auch im Laufe der Zeit ein Gedächtniszerfall. Auch hierzu wurden Untersuchungen angestellt, eine davon ist die von Wickelgren (Wiedererkennungsexperiment 1975): Hierbei ließ er Menschen eine Abfolge von Wörtern lernen und untersuchte die Widererkennungsleistung nach unterschiedlichen Behaltensintervallen zwischen einer Minute und 14 Tage. Ergebnis siehe Tabelle. Nach vielen solcher Untersuchungen, auch von anderen Wissenschaftlern, ist aufgefallen, dass sich die Leistungen mit zunehmender Verzögerung systematisch verschlechtern, also dass wir kurz nach dem Erlernen eines Stoffes viel mehr vergessen als später. Diese Veränderungen sich jedoch negativ beschleunigt: Die Veränderung wird bei zunehmender Verzögerung immer geringer. Man nennt solche Kurven auch Vergessenskurven. Sie beschreiben ein vergessen in Abwesenheit jeder erkennbaren Interferenz. Ihr Verlauf lässt darauf schließen, dass es neben der Interferenz eine Spurenzerfallskomponente des Vergessens gibt. Kritik daran ist jedoch, dass sie keine psychologischen Faktoren als Ursache des Vergessens identifizieren, sondern lediglich behaupten, dass Vergessen im Laufe der Zeit spontan auftritt. Es wird vermutet, dass dem Verlauf ein neuronaler Mechanismus zugrunde liegt. Anscheinend sollen genau wie unsere Muskeln verkümmern auch die neuronale Verbindungen abschwächen, wenn wir sie nicht gebrauchen. Somit sind die Erinnerungen vielleicht durchaus noch im Gehirn kodiert, aber zu schwach, um abgerufen zu werden. Sind denn dadurch vergessene Gedächtnisinhalte verloren? Hierzu hat Penfield (1959) eine interessante Entdeckung gemacht: Bei einer neurochirurgischen Operation, wobei der Patient bei vollem Bewusstsein war, stimulierte er Teile des Gehirns der Patienten (schmerzfrei) mit elektrischen Reizen und bat sie zu berichten. Bei der Reizung der Schläfenlappen führte dies zur Wiedergabe von Erinnerungen, die den Patienten bei normaler Reproduktion nicht zugänglich waren. Jedoch konnte leider nicht beurteilt werden, ob die Erinnerungen der Patienten korrekt gewesen sind. Aber ein weiteres Experiment von Nelson (1971) brachte einen Beitrag dazu, dass vergessene Gedächtnisinhalte nicht verloren sind: Hierbei lernten Personen unterschiedliche Items und wurden nach 14 Tagen abgefragt. Einige konnten nicht alle abrufen. Diese sollten neue veränderte Items lernen, z.B. sollten sie zuvor 43-Hund lernen und anschließend verändert 43-Haus. Hierbei wurde festgestellt, dass einige Personen das zuerst gelernte bei der Abfragung wiedergegeben haben. Somit habe die Versuchspersonen eine gewisse Erinnerung an sie Paarassoziationen behalten, obwohl sie anfänglich nichts davon reproduzieren konnten. Diese behaltenen Informationen äußerten sich in einer Ersparnis bei erneutem Lernen. Die Untersuchung von Nelson und noch weitere lassen darauf vermuten, dass sich die Existenz scheinbar vergessener Gedächtnisinhalte nachweisen lässt, wenn wir nur ein hinreichend empfindliches Maß dafür finden. Weiter auffällig bei den Studien ist, dass die Vergessensrate bei sinnhaltigem Material deutlich geringer ist, als bei sinnlosem. Serialer Positionseffekt: Lernen Schüler oder überhaupt Personen eine Liste von Wörter oder z.B. Vokabeln, so haben Studien ergeben, dass die ersten und letzten Listenelemente am leichtesten, diejenigen im Mittelbereich am schwersten gelernt werden (vgl. Kurve). 4. Reproduzieren vs. Wieder erkennen Die Hypothese, dass unser Gedächtnis Informationen enthält, die wir nicht abrufen können, steht im Einklang damit, dass wir viele Dinge wieder erkennen können, auch wenn wir nicht in der Lage sind sie zu reproduzieren. Hierzu ein Beispiel: Ein Schüler benötigt bestimmte Anforderungen zur Beantwortung der beiden folgenden Fragen: 1. Wie hieß der amerikanische Präsident nach Wilson? 2. War Harding der nächste Präsident nach Wilson? Die erste Frage ist eine Reproduktionsfrage. Hierbei muss der Schüler durch einen Anhaltspunkt sein Gedächtnis absuchen können, nämlich den Namen Wilson. Die Frage verlangt, dass der Schüler über Wilson auf sein Gedächtnis zugreift und es nach Harding absucht. Dazu muss sich der Knoten Wilson aktivieren, so dass sich die Aktivierung zum Knoten Harding ausbreitet. Findet die Netzwerkverbindung zwischen 3 und 2 (vgl. Abb.) nicht statt, kann auch keine Reproduzierung erfolgen. Würde dem Schüler anstelle der Reproduktionsfrage die Wiedererkennungsfrage 2 gestellt, könnte er möglicherweise von Harding auf Wilson kommen, obwohl er nicht von Wilson zu Harding findet. Das heißt, er könnte 3 von 2 aus abrufen, selbst wenn er nicht in der Lage wäre 2 von 3 abzurufen. Eine Wiedererkennungsfrage ist also deshalb leichter zu beantworten, weil sie dem Schüler mehr Verbindungen bietet, mit denen er das Gedächtnis absuchen kann. 5. Vergessen und Emotionen Freud hat in seiner Psychoanalyse festgestellt, dass dem Vergessen als Abwehrmechanismus eine besondere Rolle zukommt. Hierbei handelt es sich um eine unbewusste Informationsunterdrückung, mit Hilfe derer das Individuum Angst vermeidet, die von uneingestandenen Triebansprüchen ausgehen soll. Vergessen wir damit zu einem Schutzmechanismus, mit dem die Person verboten erscheinende Triebansprüche, der klassischen Theorien zufolge insbesondere solcher sexueller Art, unterdrückt. Freud versucht mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie die unterdrückten Triebansprüche bewusst zu machen und so in das Bewusstsein zu integrieren, dass die Neurose aufgehoben wird. Vergessen bedeutet hier keinen generellen Informationsverlust, sondern nur die Unfähigkeit, ein (im Unbewussten) vorhandene Information abzurufen (evtl. Analyse Freud im Zug). Weitere Studien haben belegt, dass im Zustand eines höheren Wachheitsniveau, welches in Bezug auf Emotionen der Fall ist, gelernte Inhalte anfangs schlechter gelernt, mit zunehmenden Zeitverlauf aber wieder besser erinnert werden, während für das Lernen im Zustand weniger Wachheit (also bei neutralen Dingen) eine umgekehrte Relation gelten soll, d.h. anfangs gute, später schlechtere Reproduktion der gelernten Inhalte. 6. Vergessen von Prosatexten Wenn wir einen mehrere hundert Seiten langen Roman gelesen haben, können wir natürlich diesen Text nicht mehr Wort für Wort wiedergeben, sondern sind gezwungen, die Bedeutung und Struktur der gelesenen Inhalte zu erinnern. Bei der Wiedergabe gibt es drei Aspekte die zu berücksichtigen sind: korrekte Erinnerung (Reproduktion), Schlussfolgerungen aufgrund der Textbasis (Konstruktion) und Erfindung aufgrund der eigenen Wissensbasis (Rekonstruktion). Die Rekonstruktion ist umso stärker, je länger und unbekannter der Text ist, je mehr Zeit seit der Einprägung verstrichen ist und je weniger die Person aufgefordert wird, den Text genau wiederzugeben. Hier kommen wir dann auch schon zu Thema „falsche Erinnerungen“…