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Kritische Analysen und Kommentare zu Wirtschaft und Politik
Der Mindestlohn für Flüchtlinge und die Irrtümer der
traditionellen Arbeitsmarkttheorie – Teil 1
Heiner Flassbeck · Montag den 23. November 2015
In der SZ vom vergangenen Freitag findet man einen Kommentar von Nikolaus Piper,
der zeigt, wie man das politisch Korrekte sagt, um es gleich wieder durch seine
eigenen Vorurteile zu kassieren. Einerseits hält er es für „absurd, für Flüchtlinge den
Mindestlohn zu senken“, und er glaubt zu wissen, dass niemand das will, „auch nicht
in der deutschen Wirtschaft“. Dennoch sollte man sich „der Kosten des Mindestlohnes
bewusst sein“. Würde durch den Mindestlohn, so Piper, den Migranten „der Zugang
zum Arbeitsmarkt versperrt“, dann wäre „der Preis zu hoch“ für die Betroffenen und
die Gesellschaft. Gleichzeitig lädt die gleiche Zeitung den Arbeitgeber-Ökonomen
Michael Hüther ein, um auf ihrem „Wirtschaftsgipfel“ in Berlin zu sprechen und dieser
Vertreter der Wirtschaft findet selbstverständlich, dass der Mindestlohn „flexibel
gehandhabt“ werden müsse.
Wie sage ich das politisch Korrekte, ohne meine Vorurteile aufzugeben? Nikolaus
Piper und Michael Hüther folgen, wie könnte es in einem deutschen „Leitmedium“
und bei den deutschen Arbeitgebern anders sein, bei den vermuteten „Kosten des
Mindestlohnes“ der Vorstellung (der neoklassischen Theorie), es sei in einer
Volkswirtschaft ein bestimmtes Einkommen gegeben, das auf mehr Menschen verteilt
werden muss, wenn neue Arbeitskräfte hinzukommen. Das ist natürlich genau die
gleiche Idee, die hinter der Vorstellung steht, man könne die Arbeitslosigkeit mit
Leichtigkeit abbauen, wenn man nur die Löhne senke. Steigt die Arbeitslosigkeit in
einem Land oder bleibt die Arbeitslosigkeit über lange Zeit hoch, waren eben die
Löhne nicht flexibel genug und die Arbeitnehmer, die sich einer Senkung ihrer Löhne
verweigert haben, sind selbst Schuld an ihrer Misere.
Nach den Vorhersagen dieser Theorie hätte es in Griechenland, Portugal und Spanien
seit Beginn der Eurokrise einen sagenhaften Gewinn an Arbeitsplätzen geben müssen,
weil es in diesen Ländern ja (unter großem politischen Druck von Seiten der
Eurogruppe) „gelungen ist“, die Löhne drastisch zu senken. Beiliegend noch einmal
ein Bild für diese Länder (und Italien), das wir schon einige Male gezeigt haben. Der
Reallohn pro Stunde sinkt ab 2010 (in Griechenland beispielsweise um über 20
Prozent). Daraufhin steigt die Arbeitslosigkeit, die natürlich zuvor schon wegen der
großen Rezession nach der Finanzkrise erheblich gestiegen ist) auf ungeahnte Höhen.
Man sieht an dem Bild auch, dass die Nominallöhne sichtbar einknicken, aber weniger
stark reagieren (was vor allem an Italien liegt, wo die Löhne absolut nicht gesunken
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sind), als die Reallöhne.
Diesen klaren und einfachen Befund müsste man wenigstens zu erklären versuchen,
bevor man weiter mit der primitiven neoklassischen Vorstellung hantiert. Aber dazu
fühlt sich in Deutschland weder der Journalismus noch die sogenannte Wissenschaft
verpflichtet, weil es weder eine ausreichende Menge kritischer Journalisten noch
genug kritische Wissenschaftler gibt, die bei der ständigen Wiederholung der alten
Vorurteile auf die Barrikaden gehen könnten.
Die neoklassische Idee vom Arbeitsmarkt als einem normalen Markt ist falsch, weil sie
den negativen Nachfrageeffekt, der von einer Reallohnsenkung ausgeht, vollständig
ausblendet. Sie unterstellt, wie es dereinst J. A. Schumpeter gesagt hat, am
gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkt seien Angebot und Nachfrage unabhängig
voneinander. Das aber ist falsch, weil die Löhne nicht nur Kostenfaktor sind, sondern
die Arbeiter auch die Güter kaufen können müssen, die von ihnen selbst hergestellt
werden. Senkt man die Löhne, senkt man unmittelbar die Nachfrage der
Arbeitnehmer und damit unmittelbar die Kapazitätsauslastung der Unternehmen. Die
werden folglich trotz gesunkener Löhne nicht mehr Arbeitskräfte beschäftigen,
sondern Arbeitskräfte entlassen, da sie die geringere Produktion mit weniger
Arbeitskräften erstellen können. Jeder, der sich über diese unmittelbar
einleuchtenden Zusammenhänge hinwegsetzt, disqualifiziert sich für eine
gesamtwirtschaftlich relevante Aussage (eine ausführliche Analyse dazu hier).
Daraus ergibt sich, dass die ankommenden Flüchtlinge zunächst, wie jeder andere
Bewohner Deutschlands auch, vom Staat finanziert (alimentiert) werden müssen,
damit sie nicht unter unseren sozialen Mindeststandards fallen. Danach muss man sie
in den Arbeitsmarkt integrieren. Selbstverständlich brauchen Flüchtlinge dazu andere
Hilfen als deutsche Arbeitslose, aber in Sachen Lohn müssen sie behandelt werden
wie jeder anderen Arbeitslosen auch. Da es falsch ist, zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit insgesamt die Löhne zu senken, ist es auch falsch, sie für die
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Flüchtlinge zu senken. Das gilt für normale Löhne wie für den Mindestlohn.
Das andauernde Hin und Her beim Mindestlohn, das die Vertreter der herrschenden
Lehre aufführen, ist besonders eklatant angesichts ihrer Fehlleistungen bei der
Vorhersage der Wirkungen, die von der Einführung des Mindestlohnes zu Anfang
dieses Jahres ausgehen würden. Entgegen den Prognosen neoklassisch orientierter
Ökonomen und entsprechend den Prognosen weniger orthodoxer Ökonomen hat die
Einführung keine negativen Wirkungen am Arbeitsmarkt insgesamt gehabt. Die
zusätzlichen Aufwendungen der Unternehmen haben nämlich auch zu zusätzlicher
Nachfrage geführt, weil die Bezieher des Mindestlohnes ihr ganzes Einkommen
wieder ausgeben müssen. Die monatliche Entwicklung der deutschen Arbeitslosigkeit
in diesem Jahr zeigt auch nicht den Hauch eines statistischen Bruches. Und, wie ifoChef Hans-Werner Sinn es tut, zu sagen, die negativen Wirkungen des Mindestlohnes
seien von der boomenden deutschen Konjunktur überdeckt worden, ist geradezu
lächerlich. Die deutsche Konjunktur verzeichnet ebenfalls keinerlei
Tempoveränderung in den letzten drei Jahren.
Den Mindestlohn für die Flüchtlinge zu senken, würde nur dazu führen, dass sie
normale Arbeitnehmer zu verdrängen drohen, die dann ebenfalls bereit wären, ihre
Löhne zu senken. Dadurch würde die Gesamtnachfrage sinken und es entstünde neue
Arbeitslosigkeit. Mehr dazu in Teil 2.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Montag den 23. November 2015 um 03:00
in der Kategorie: Arbeitsmarkt und Verteilung, Europa, Ökonomische Theorie,
Wirtschaftspolitik.
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