Textauszug 1: In der Falle der Nachfragepolitik von Prof. H. Siebert, ehemaliger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, Kiel, und ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats Wenn die Politik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stimulieren will, so lautet die entscheidende Frage, wie die zusätzliche Expansion der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage finanziert wird. Die Zunahme der Exporte, also der Nachfrage aus dem Ausland, ist uns höchst willkommen, denn diese Nachfrage wird im Ausland finanziert. Aber die Ausdehnung der anderen Komponenten der Gesamtnachfrage muss im Inland finanziert werden. Will man die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch eine Zunahme des Staatsverbrauchs erhöhen, so wird die wirtschaftliche Aktivität des Privatsektors beeinträchtigt, wenn die zusätzliche Nachfrage des Staates durch Steuern finanziert wird. Wird sie durch Kredite finanziert, so werden zukünftige Generationen belastete. Eine hohe Zinslast schränkt den Manövrierspielraum der Politik ein. Den privaten Verbrauch auszudehnen, indem die Löhne erhöht werden, hat ebenfalls seine Grenzen. Zwei Fälle können unterschieden werden. Fall a): Wenn die Löhne stärker angehoben werden als die Produktivitätssteigerung, nimmt die Arbeitslosigkeit weiter zu. Das höhere Jobrisiko macht die Haushalte in ihrem Konsumverhalten vorsichtiger und wird deshalb den privaten Verbrauch reduzieren. Wegen der höheren Löhne werden Investitionen für Unternehmen weniger attraktiv, so dass auch diese Komponente der Gesamtnachfrage sinkt. Schließlich lässt die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nach, so dass auch die Exporte zurückgehen. Es ist zu erwarten, dass die Gesamtnachfrage sinkt. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit an. Fall b): Wenn die Löhne im Ausmaß des Produktivitätswachstums auch in einer Situation mit hoher Arbeitslosigkeit ... erhöht werden, .... nimmt [man] hin, dass keine neuen Arbeitsplätze zustande kommen. Man begibt sich der Möglichkeit, in einer Situation hoher Arbeitslosigkeit das Arbeitsplatzrisiko für die privaten Haushalte zu reduzieren. Man verzichtet auf eine positive Auswirkung auf den privaten Verbrauch. Die Investitionen werden nicht stimuliert und die Exporte werden nicht wettbewerbsfähiger. Folglich verzichtet ein solcher Ansatz im Ergebnis auf einen Nachfragestimulus für den privaten Verbrauch, für die Investitionsnachfrage und für die Nachfrage des Auslands. Bei der Lohnpolitik wird deutlich, dass die Nachfragepolitiker mit ihrer Forderung, die Löhne zu erhöhen, in ihre eigene Falle getappt sind. Sie erschweren sich das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und belasten beispielsweise die staatlichen Kassen für die Lohnanhebungen im Öffentlichen Dienst. Die Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage hat also in vielen Fällen hohe Opportunitätskosten. Kurzfristig mag man ein Strohfeuer entfachen, langfristig bleibt die Asche der Folgekosten für die Volkswirtschaft zurück. Selbst wenn man einmal die Folgekosten der Finanzierung zusätzlicher Nachfrage vernachlässigt, so braucht man, ganz abgesehen von Absickerverlusten durch zusätzliche Importe, schon eine kräftige Zunahme der Nachfrage und der Produktion, damit sich bei der Beschäftigung etwas bewegt. Denn die Beschäftigungsschwelle liegt in Westdeutschland bei einer Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von etwa 2 %, und erst eine zusätzliche Nachfrage, die darüber hinausgeht, wirkt sich in mehr Beschäftigung aus. Leider ist zusätzliche Nachfrage bei uns nicht beschäftigungsintensiv. Die Beschäftigungsintensität liegt bei etwa 0,5%, so dass eine Wachstumsrate von einem Prozentpunkt über 2% eine Zunahme der Beschäftigung um etwa 150 000 Personen bringt. Auf der Angebotsseite einer Volkswirtschaft entscheidet sich ... die Zunahme des Wohlstandes eines Landes. Hier liegen die Quellen des wirtschaftlichen Wachstums, nämlich in den Investitionen in den Kapitalstock einer Volkswirtschaft, in den Investitionen in das Humankapital durch Qualifizierung der Menschen und in den Innovationen durch neue Produkte und neue Produktionsverfahren. Im Gegensatz zu einer solchen langfristig orientierten Strategie repräsentiert die Philosophie der Nachfrageseite einen Kurzfrist-Ansatz, bei dem langfristige Aspekte vernachlässigt zu werden drohen. Zielkonflikte zwischen einer Stimulierung der Nachfrageseite einerseits und den negativen Auswirkungen auf der Angebotsseite anderseits dürfen nicht verdrängt werden. ... Wenn die Steuererleichterung am unteren Ende durch eine faktisch hohe Einkommenssteuer der Leistungsträger finanziert wird, so fördert man nicht die Leistungsbereitschaft derjenigen Personen, die man braucht, damit Arbeitsplätze bereitgestellt werden. Der Standortwettbewerb ... in der Weltwirtschaft erfordert strukturelle Reformen auf den Arbeitsmärkten und der sozialen Sicherungssysteme. Die Arbeitsmärkte müssen flexibler gestaltet werden. Die Lohnfindung sollte dezentralisiert werden, so dass die Lohnerhöhungen automatisch in Einklang mit dem Produktivitätsfortschritt gebracht werden. Die sozialen Sicherungssysteme sollten die Frage angehen, was kleine Risiken für die Einzelnen sind, für die sie selbst aus ihrer eigenen Leistungsbereitschaft Vorsorge treffen können und wo eine Absicherung durch die Regierung und durch die Gesellschaft nicht erforderlich ist, ... Handelsblatt vom 08.03.99, S. 43