Enno Freye Opioide in der Medizin 8. aktualisierte Auflage Enno Freye Opioide in der Medizin 8. aktualisierte Auflage Mit 313 Abbildungen Professor Dr. med. Enno Freye Deichstraûe 3a 41468 Neuss-Uedesheim ISBN-13 978-3-540-88796-6 8. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-46570-6 7. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uÈber <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschtzt. Die dadurch begrndeten Rechte, insbesondere die der bersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. 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Derartige Angaben muÈssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit uÈberpruÈft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Copy-Editing: Michaela Mallwitz, Tairnbach Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Hagedorn Kommunikation, Viernheim SPIN: 12466658 Gedruckt auf saÈurefreiem Papier 2122 ± 5 4 3 2 1 0 V Vorwort zur 8. Auflage Vorwort zur 8. Auflage Auch wenn relevante Neuerungen im Bereich der Schmerztherapie und im Einsatz der Opioide nicht zu verzeichnen sind, so war eine Aktualisierung aus mehreren GruÈnden notwendig. Es war einerseits die gesamte 7. Auflage innerhalb kurzer Zeit vergriffen, sodass die Nachfrage nicht befriedigt werden konnte. Andererseits mussten einige Ønderungen aufgenommen werden, was eine Aktualisierung notwendig machte. So steht eine Weiterentwicklung, das Tapentadol, als zentralwirksames Analgetikum der naÈchsten Generation mit Opioidrezeptorinteraktion und selektiver NA-Wiederaufnahmehemmung zur Therapie starker Schmerzen zur VerfuÈgung. Vergleichbar mit anderen starken, zentralwirksamen Analgetika wie Oxycodon weist es ein verbessertes VertraÈglichkeitsprofil hinsichtlich Ûbelkeit, Erbrechen und Verstopfung auf. Tapentadol wurde als schnell freisetzende Formulierung fuÈr schwere akute Schmerzen und als retardierte Formulierung fuÈr schwere chronische Schmerzen entwickelt. Neuere Applikationsformen der Opioide zur Behandlung von Durchbruchschmerzen und im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie stehen zur VerfuÈgung. Des Weiteren macht das transdermale elektrophoretische Fentanylsystem eine Phase der Erneuerung durch, sodass es aktuell nicht mehr verfuÈgbar ist. Es besteht jedoch berechtigte Hoffnung, dass dieses System den Anwendern im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie bald wieder zur VerfuÈgung steht. Hervorzuheben sind die neuen nasalen Applikationsformen auf Opioidbasis, die helfen koÈnnen, die eigentlich immer noch stiefmuÈtterlich behandelte postoperative Schmerztherapie weiter zu optimieren; dies zumal die Nasenschleimhaut eine groûe ResorptionsoberflaÈche unter Umgehung des Firstpass-Effektes der Leber darstellt und daruÈber hinaus eine einfache Handhabung die MoÈglichkeit der individuellen Titration eroÈffnet. Daneben haÈlt der Siegeszug von Buprenorphin im Rahmen der Substitutionstherapie AbhaÈngiger, aber auch im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen an, weil von diesem PraÈparat, aufgrund seiner besonderen Rezeptorinteraktion, sowohl eine gegenuÈber Morphin geringere Nebenwirkungsrate als auch eine verminderte Toleranzentwicklung bei Langzeitapplikation ausgehen. DuÈsseldorf, im Herbst 2009 Prof. Dr. med. Enno Freye VI Hinweis fuÈr den Leser Hinweis fuÈr den Leser Die Literatur ist kapitelweise geordnet (Anhang C) und wird im Text mit Zahlen in eckigen Klammern zitiert. GegenuÈber der Literatur der 5. Aufl. erscheinen die seinerzeit in der 6. und aller folgenden Auflagen neu hinzugekommenen Literaturstellen im Text mit Autoren und Jahreszahl. VII Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . Supraspinale Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung . . . . . . . . . . . . . Rationale zur Opioidtherapie bei Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie . . . . Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten . . Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antitussive Wirkung der Opioide . . . . . . . Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial der Opioide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide und Nausea ± Emesis . . . . . . . . . . Opioide und Muskelstarre (RigiditaÈt) . . . . Opioide und gastrointestinale Hemmung (Obstipation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postoperativer Einsatz von Opioiden . . . . Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen von Opioiden bei chronischen Schmerzen . . . Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz . . Interaktionen der Opioide mit anderen Pharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede . . . . . Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz der Opioide bei alten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analgesie mit Opioiden bei Unfallverletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide in der Intensivmedizin . . . . . . . . . Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . 9 . 13 . 23 . 29 . 33 . 39 . 45 29 Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme . . . . . 30 Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Endogene Opioide (Endorphine, Enkephaline) sowie Exorphine (exogene Opioidpeptide) und b-Caseomorphine . . 32 Opioide und das Immunsystem . . . . . . . . 33 Der opiatabhaÈngige Patient . . . . . . . . . . . 34 Opioidnachweis durch Bedsidetests oder Sticks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Opiatentzug in Narkose . . . . . . . . . . . . . . 36 Morphin ± gleichwertiger Ersatz fuÈr andere hochwirksame Opioide der Stufe III? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 »Poor metabolizers« und »Ultra-rapid metabolizers« im Rahmen einer Opioidtherapie ± klinische Bedeutung . . . 55 . 79 . 81 . 87 . 91 . 125 . 169 . 193 . 229 . 237 . 243 . 255 . 271 . 281 . 285 . 295 . 307 . . 337 . . 345 . . 357 . . 363 . . 397 . . 411 . . 419 . . 431 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 A BetaÈubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 B Alphabetische Reihenfolge der in Deutschland gebraÈuchlichsten Agonisten und Antagonisten sowie einiger Opioide im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 C Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 D Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 . 95 . 99 . 105 . . 319 1 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems 1.1 Auswirkungen akuter Schmerzen auf den Organismus ± 1 1.2 Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen ± 3 Der Schmerz ist eine unangenehme und emotional stark gefaÈrbte sensorische Empfindung, die mit einer realen oder potenziell gefaÈhrlichen GewebszerstoÈrung einhergeht. Er ist dabei jedoch ein integrierter Teil unseres Lebens, der uns vor moÈglicherweise gefaÈhrlichen thermischen, mechanischen oder chemischen Noxen schuÈtzt, indem er unsere Aufmerksamkeit auf den Insult richtet, damit eine weitere SchaÈdigung der IntegritaÈt des Organismus vermieden wird. Dabei ist Schmerz, akut oder chronisch, der Hauptgrund dafuÈr, dass Patienten einen Arzt aufsuchen, dessen wichtige Aufgabe es ist, eine Chronifizierung zu verhindern, damit der Schmerz nicht uÈber den Zeitpunkt einer zellulaÈren LaÈsion hinaus aktiv wird und zu einer Erkrankung »sui generis« wird. Der Mechanismus der Schmerzentstehung ist recht komplex, denn das Schmerzempfinden wird vom jeweiligen emotionalen Zustand des Patienten, dem Erkrankungsstadium, den individuellen Schmerzerfahrungen, den soziokulterellen Unterschieden und von dem jeweiligen hormonellen Status beeinflusst, sodass eine sofortige klinisch exakte Diagnose nicht immer moÈglich ist. WaÈhrend 1/3 der WeltbevoÈlkerung unter akuten, wiederkehrenden oder chronischen Schmerzen leidet und das jeweilige nationale Gesundheits- und Sozialsystem durch Krankenhausaufenthalte, Arbeitsausfall und ErwerbsunfaÈhigkeit extrem belastet wird, kann nur 50 % der Patienten, die wegen unertraÈglicher Schmerzen den Arzt aufsuchen, ausreichend geholfen werden. 1.1 Auswirkungen akuter Schmerzen auf den Organismus Der Schmerz als Warnsymptom, das die Aufmerksamkeit des Individuums auf die verletzte Stelle richtet, damit eine weitere SchaÈdigung vermieden wird und schuÈtzende Maûnahmen ergriffen werden, kann ein derartiges Ausmaû annehmen, dass die als Schutzmaûnahmen gedachten koÈrperlichen Reaktionen uÈberhand nehmen und das Individuum zusaÈtzlich belasten. So fuÈhren Schmerz und Angst uÈber eine AktivitaÈtssteigerung des adrenergen Systems zu einer AusschuÈttung von Adrenalin und Noradrenalin. Gleichzeitig werden uÈber die Achse Kortex-Hypothalamus-Adenohypophyse-ACTH die Gluko- und Mineralokortikoide aus der Nebenniere ausgeschuÈttet. Vom Hypophysenhinterlappen werden unter der den Schmerz begleitenden Stressreaktion die Hormone ADH (antidiuretisches Hormon) und STH (somatotropes Hormon) freigesetzt. Alle diese Abwehrreaktionen fuÈhren im kardiovaskulaÈren System zu folgenden VeraÈnderungen: 4 Hypertonie, 4 Tachykardie, 4 Vasokonstriktion (peripher und im Splanchnikusgebiet), 4 vermehrte Herzarbeit, 4 gesteigerte kardiale Erregbarkeit, 2 1 Kapitel 1 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems 4 Zunahme des myokardialen O2-Bedarfs (MVO2). Zu diesen durch die Hormone der Nebenniere ausgeloÈsten Herz-Kreislauf-Wirkungen treten humorale VeraÈnderungen hinzu: 4 Vermehrung des Blutvolumens, 4 Zunahme der BlutviskositaÈt, 4 HyperglykaÈmie (Glukokortikoid- und Adrenalinwirkung), 4 MilchsaÈureuÈberschuss (HyperlaktataÈmie), 4 Anstieg der freien FettsaÈuren im Blut (Noradrenalinwirkung), 4 verminderte Na-Auscheidung und 4 vermehrter K-Verlust (Aldosteronwirkung). Neben diesen hormonellen VeraÈnderungen, die dem akuten Schmerz dicht folgen, sind es besonders die in der postoperativen Phase auftretenden Schmerzen, die schaÈdliche Folgen haben, weil sie FunktionsstoÈrungen von Organen und Organsystemen bewirken: 4 Immunosuppression, die auf einer Freisetzung von Glukokortikoiden uÈber einen langen Zeitraum basiert und in eine erhoÈhte AnfaÈlligkeit fuÈr bakterielle und virale Erkrankungen muÈndet (. Abb. 1-1). 4 Gesteigerte VulnerabilitaÈt des myokardialen Erregungs- und Leitungssystems bis hin zum Ventrikelflimmern. 4 Pulmonale Dysfunktionen sind eine der hauptsaÈchlichen postoperativen Komplikationen, insbesondere nach thorakalen und intraabdominellen Eingriffen [1, 2]. Hierbei kommt es neben einer unzureichenden Ventilation und einer daraus resultierenden Ventilations-Perfusions-StoÈrung mit Hypoxie auch zu einem ungenuÈgenden Abhusten, wodurch Atelektasen auftreten und sich eine Pneumonie aufpfropfen kann. 4 Zirkulatorische und metabolische Dysfunktionen fuÈhren zu einem erhoÈhten Herzschlag- . Abb. 1-1. Ineinandergreifen von ungenuÈgender Analgesie und die FolgezustaÈnde im Immunsystem 1.2 Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen volumen, Blutdruck und Metabolismus sowie zu einem gesteigerten O2-Verbrauch. 4 Gastrointestinale und urologische Komplikationen entstehen durch reflektorische MotilitaÈtshemmung, sodass sich Ûbelkeit und Emesis bis hin zum Ileus entwickeln, waÈhrend eine durch Schmerzen ausgeloÈste reflektorische HypomotilitaÈt der harnableitenden Wege und der Blase zu Harnretention fuÈhrt. 4 Reflektorische Vasokonstriktionen fuÈhren nach Eingriffen im Bereich der groûen Gelenke zu InaktivitaÈtsatrophie und Gelenkversteifung [3]. 4 Thrombosen entstehen nach operativen Eingriffen an den unteren ExtremitaÈten bei ungenuÈgender postoperativer Analgesie [4]. Erschwerend hinzu kommen die hormonell induzierte BlutviskositaÈtszunahme und eine gesteigerte Fibrinolyse sowie Thrombozytenaggregation [3]. 4 Chronifizierung von Schmerzen aufgrund elektrophysiologischer und morphologischer VeraÈnderungen im nozizeptiven System, die das eigentliche Schmerzereignis uÈberdauern (Katz 1992). Letztere sind spaÈter sehr schwer mit dem eigentlichen Entstehungsmechanismus in Verbindung zu bringen (Wall 1988), und das Schmerzgeschehen, welches die gesamte Aufmerksamkeit des Individuums beansprucht, verselbststaÈndigt sich und muÈndet schlieûlich, trotz Behebung des ausloÈsenden Faktors, in ein chronisches Schmerzverhalten. Der chronifizierte Schmerz schlieûlich 3 hat seinen eigentlichen Sinn als Schadensmelder verloren, er begleitet den Patienten uÈber Jahre und Jahrzehnte [5±7]. Der Schmerz hat als Krankheit sui generis zu gelten und muss entsprechend behandelt werden. 1.2 Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen Weil der Schmerz in vielen FaÈllen nicht verhindert werden kann, ist es eine der vordringlichsten Aufgaben der Medizin, sich des Schmerzes in seinen vielfaÈltigsten Erscheinungsformen sowie der moÈglichen Therapiekonzepte anzunehmen. FuÈr die Behandlung von Schmerzen stehen Analgetika zur VerfuÈgung, wobei insbesondere »zentrale« Analgetika ± die Opioide ± eine Gruppe darstellen (. Abb. 1-2), die im therapeutischen Schmerzkonzept nicht nur eine »zentrale« Stellung einnimmt, sondern auch die wirkungsvollsten Pharmaka in der Therapie des Schmerzes sind. Dieser Hinweis erscheint umso dringlicher, als die Verschreibung von Analgetika, insbesondere die von Opioiden, aufgrund gesetzlicher Bestimmungen in den vergangenen Jahren nicht unbedingt erleichtert, sondern erschwert wurde [8]. Deutschland nimmt, im Vergleich zum umliegenden Ausland in Westeueropa, aufgrund der AufklaÈrung uÈber den chronifizierten Schmerz und seine Therapie mittlerweile zwar eine Mittelstellung ein, was die Verschreibung des BetaÈubungsmittels Morphin betrifft ein. Im internationalen Vergleich . Abb. 1-2. Ûbersicht der zur Schmerzbehandlung eingesetzten Analgetika 1 4 , , 04 03 20 , 20 02 , , 01 20 20 , 00 20 19 99 , , 98 19 , 97 19 96 , , 95 19 19 , 94 19 , 93 19 92 19 91 , 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 19 Moprhin in kg pro Mio. Einwohner 1 Kapitel 1 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems Jahre . Abb. 1-3. Zunehmender Morphineinsatz in Deutschland im Zeitraum 1991±2004. (Quelle: International Narcotics Control Board) landet Deutschland jedoch immer noch auf einem der hinteren PlaÈtze, was ursaÈchlich nicht nur an der BetaÈubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) liegt (. Abb. 1-3 und . 1-4). Immerhin hat diese Verordnung in den vergangenen Jahren dazu gefuÈhrt dass: 4 eine Verfestigung von Vorurteilen eintrat, 4 eine Stigmatisierung der Patienten, die Opioide erhielten, die Folge war, 4 Schmerzpatienten den DrogenabhaÈngigen gleichgesetzt wurden, 4 immer noch ein enormer Aufwand noÈtig ist, was das AusfuÈllen, Aufbewahren und Anfordern (»die 3 As«) der Rezepte betrifft. Dies sind alles GruÈnde, die eine ausreichende Schmerztherapie eher verhindern, statt sie zu foÈrdern. Andererseits besteht bei niedergelassenen Allgemein- und auch FachaÈrzten immer noch Unkenntnis daruÈber, wie mit der Gruppe der Opioide ausreichend therapiert werden kann. Als ErklaÈrung wird v. a. die oft zitierte AbhaÈngigkeitsentwicklung als Vorwand fuÈr eine mangelnde Versorgung mit Schmerzmitteln herangezogen, die darin gipfelt, dass der erwartete Nutzen gegenuÈber dem Risiko einer Suchtentwicklung in Frage gestellt wird [9]. Die Gefahr der AbhaÈngigkeit besteht bei einer Opioiodtherapie nicht, wenn einfache Richtlinien wie feste Einnahmezeiten eingehalten werden, d. h. wenn vorbeugend nach der Uhr ± bevor der Schmerz durchbricht ± die retardierte Form des Opioids verabreicht wird, die eine konstante Konzentration im Plasma garantiert, und wenn der Patient dahingehend aufgeklaÈrt wird, dass ohne groûe Nebenwirkungen oder gar BewusstseinseinschraÈnkungen auch uÈber jahrelange BehandlungszeitraÈume hinweg keine Sucht ausgeloÈst wird. Dem Patienten ist auch zu erklaÈren, dass seinem individuellen Schmerzniveau angepasste, entsprechend stark wirkende Opioide eingesetzt werden koÈnnen. Dieser AufklaÈrungsbedarf besteht nach wie vor, weil bei einer repraÈsentativen Umfrage der EMNID immer noch zahlreiche Vorurteile und Mythen gegenuÈber starken Schmerzmitteln vorherrschen, die eine angemessene Behandlung verhindern. So halten etwa 13 % der Befragten chronische Schmerzen fuÈr eine Alterserscheinung, die man ertragen muÈsse, 3 % glauben sogar, Dauerschmerzen seien Einbildung und psychisch bedingt, und nur 30 % schaÈtzen chronische Schmerzen als eine eigenstaÈndige Erkrankung ein, die behandelt werden muss. Die Mehrzahl der Befragten (60 %) ist jedoch der Meinung, bei chronischen Schmerzen muÈsse man die Grunderkrankung behandeln, und fast 1/3 glaubt faÈlschlicherweise, dass Opioide Drogen sind, die die Sinne betaÈuben und suÈchtig machen. Es sind jedoch 59 % der BuÈrger davon uÈberzeugt, dass Opioide bei Patienten mit starken Schmerzen ein- 5 1.2 Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen Polen Tschechien Griechenland Italien Spanien Belgien Frankreich Deutschland Österreich Schweiz USA Norwegen Canada Großbritannien 0 12 0 11 0 10 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Dänemark Morphin in kg pro Mio. Einwohner . Abb. 1-4. Morphinverbrauch in kg/Mio. Einwohner in Westeuropa aus dem Jahr 2004. (Quelle: International Narcotics Control Board) gesetzt werden sollten, obgleich hiervon 34 % solche Substanzen nur fuÈr Krebspatienten im Endstadium anwenden wuÈrden. Weil 70 % der Tumorpatienten im fortgeschrittenen Stadium Schmerzen als Hauptsymptom angeben, koÈnnten hiervon 90 % schmerzfrei oder schmerzaÈrmer sein, wenn sie adaÈquat behandelt wuÈrden. In Deutschland leiden die Tumorpatienten mitunter an schweren Schmerzen, weil ihnen die noÈtigen Schmerzmittel versagt werden. Hingegen sind in England, wo die Opioide auf normalen Rezepten verschrieben werden, 90 % der Tumorpatienten schmerzfrei. Nach Zimmermann [10] geht bei Ørzten, Pflegern und Patienten das »Schreckgespenst von Sucht und LebensverkuÈrzung durch Opioide« um. Aus diesem Grund werden von den schaÈtzungsweise 100.000 Krebspatienten mit Schmerzsymptomatik in Deutschland weniger als 10 % ausreichend mit Opioiden versorgt. Von den Mythen uÈber Opioide kursieren die unterschiedlichsten Varianten, die der Arzt bei der Beratung des Patienten auszuraÈumen hat: Mythos 1: Opioide deprimieren die Atmung und sind deshalb zu gefaÈhrlich, um sicher eingesetzt zu werden. Fakt ist, dass die Atmedepression zwar eine gefaÈhrliche Nebenwirkung darstellt, diese jedoch klinisch bei Patienten nicht auftritt, wenn die Opioiddosis der SchmerzintensitaÈt entsprechend verordnet, eingenommen und nach der Wirkung titriert wird. Mythos 2: Opioide fuÈhren zur Sucht (zur psychischen AbhaÈngigkeit) und stellen ein Problem bei der Therapie des Patinten mit einem Opioid dar. Fakt ist, dass eine echte Suchtentwicklung, bei entsprechender Indikation und bei Einnahme sog. retardierter Formen des Opioids, ein sehr seltenes Ereignis ist und uÈberbewertet wird. Mythos 3: Unter Opioideinnahme kommt es sehr schnell zur Toleranzentwicklung, sodass die Dosis stetig erhoÈht werden muss. Fakt ist, dass eine Toleranzentwicklung nur langsam einsetzt, in den meisten FaÈllen nicht zu verzeichen und ein hoÈherer Bedarf zum groÈûten Teil auf ein Fortschreiten der Grunderkrankung zuruÈckzufuÈhren ist. Mythos 4: Opioide fuÈhren zu einer unkontrollierbaren Obstipation. 1 6 1 Kapitel 1 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems Fakt ist, dass die Obstipation zwar ein universelles Problem jeglicher Opioidtherapie darstellt, diese jedoch beherrschbar ist. Die opioidbedingte Obstipation darf kein Grund sein, dem Patienten ein Opioid vorzuenthalten. Mythos 5: Der groÈûte Teil der Patienten unter einer Opioidtherapie benoÈtigt prophylaktisch ein Antiemetikum. Fakt ist, dass Nausea und Emesis gewoÈhnlich nur voruÈbergehende Nebenwirkungen darstellen, die innerhalb der ersten Tage einer Therapie sistieren. Mythos 6: Eine starke Sedierung und VerwirrtheitszustaÈnde sind wiederholt auftretende Nebenwirkungen. Fakt ist, dass bei korrekter Verabreichung der Opioide bei mittleren und starken Schmerzen in den seltensten FaÈllen Sedierung und VerwirrtheitszutaÈnde zu verzeichnen sind. Mythos 7: Nur kurzwirkende Opioide von 3±6 h Wirkungsdauer stellen das ideale Analgetikum zur Beherrschung mittlerer und starker Schmerzen dar. Fakt ist, dass kurzwirkende Opioide eher zur Toleranzentwicklung fuÈhren, der Patient die notwendige wiederholte Einnahme vergisst und deshalb Schmerzen durchbrechen. Mit der kontrollierten Freisetzung eines Opioids uÈber 12 oder 24 h bestehen solche Nebenwirkungen nicht. Mythos 8: Die kontrolliert freisetzende Form eines Opioids ist nur fuÈr den Tumorpatienten angebracht. Fakt ist, dass die kontrolliert freisetzende Form eines Opioids bei allen Formen mittlerer und schwerer Schmerzen angebracht ist, sodass hiervon auch Patienten mit starken Schmerzen, wie sie bei der Osteoarthritis, der rheumatoiden Arthritis oder bei neuropathischen Schmerzen bestehen, profitieren koÈnnen. Mythos 9: Dosisanpassung und praÈzise Titration nach Wirkung sind bei der kontrolliert freisetzenden Form der Opioide sehr schwierig. Fakt ist, dass bei opioidnaiven Patienten mit der niedrigsten Dosis begonnen und innerhalb von 1±2 Tagen schnell bis zur effektiven Dosis in festen . Abb. 1-5. Schematische Darstellung der peripheren Nozizeptoren und die Wirkungsweise antipyretischer Analgetika (AA ArachidonsaÈure, PG Prostaglandine) 1.2 Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen ZeitabstaÈnden hochtitriert werden kann, wobei eine DosiserhoÈhung um 25±50 % sich an der vorangegangenen Dosis orientiert. So genannten Durchbruchschmerzen ist mit einer schnell freisetzenden Galenik zu begegnen. Mythos 10: Schwere Schmerzen bei einer Krebserkrankung koÈnnen nur mit der parenteralen Verbreichung eines Opioids erfolgreich bekaÈmpft werden. Fakt ist, dass die orale Einnahme eines Opioids nach Angaben der WHO, unabhaÈngig von der Schwere der Erkrankung, allen anderen Applikationsformen vorzuziehen ist. Sollte eine orale Aufnahme nicht moÈglich sein, wird die rektale oder transdermale Applikationsform gewaÈhlt. Mythos 11: Die Konzentration eines Opioids im Plasma korreliert eng mit dem analgetischen Niveau. Fakt ist, dass eine exakte Korrelation zwischen der Konzentration im Plasma und der Analgesie nicht besteht. Je besser verstanden wird, wie und auf welchem Wege Schmerzen entstehen und wie Schmerzen optimal zu behandeln sind, desto eher laÈsst sich auch ein wirkungsvoller therapeutischer Ansatzpunkt finden. So dient die HaÈlfte aller Haut- 7 nervenfasern der Schmerzleitung, wobei die Reizaufnehmer (periphere Nozizeptoren) thermisch (WaÈrme oder KaÈlte), mechanisch (Stoû, Druck) oder chemisch (SaÈuren, Laugen) aktiviert werden koÈnnen. Dies wird beispielsweise bei einem der haÈufigsten Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates, dem Rezeptorschmerz mit seiner Warnfunktion, am besten verstaÈndlich: Infolge von Noxen wie Quetschung, Zerrung, EntzuÈndung sowie thermischer oder elektrischer SchaÈdigung treten am Ort der Verletzung sog. algetische Substanzen auf, die die peripheren Nozizeptoren (freie Nervenendigungen) erregen (. Abb. 1-5). Die Nozizeptoren werden direkt durch Traumata (z. B. Stich, Schlag) oder indirekt durch verschiedene Kinine wie z. B. Bradykinin, Kallidin und T-Kinin oder Prostaglandin E (koÈrpereigene Stoffe, die durch EntzuÈndung oder SchaÈdigung von Gewebe vermehrt freigesetzt werden) erregt. Durch Hemmung des Enzyms Cyclooxygenase (COX), das die Synthese von Prostaglandin aus ArachidonsaÈure steuert, ist eine periphere analgetische Wirkung zu erreichen. Es ist aber auch hinreichend nachgewiesen worden, dass diese Analgetika auûerdem eine zentrale Wirkung ausuÈben [11]. 1 2 Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes 2.1 Unterschiedliche SchmerzqualitaÈten ± 10 Bei der ZerstoÈrung, EntzuÈndung oder SchaÈdigung von Zellen werden sog. algetische Stoffe ausgeschuÈttet wie freie Radikale (NO), Prostanoide (Prostaglandin D, E, F, I, Leukotriene), Thromboxan, Purine (Adenosin, Adenosintriphosphat), Serotonin, Tachikinine (Substanz P, Neurokinin A, B), Histamin, Kinine (Bradykinin, Kallidin und T-Kinin) sowie Kationen (H- und K-Ionen) (. Abb. 2-1). Alle diese Substanzen werden als »Suppe von EntzuÈndungsmediatoren« bezeichnet, die alle zusammen mehr oder weniger nicht nur die EntzuÈndung weiter unterhalten, sondern auch zur AusloÈsung von Schmerzen fuÈhren. Prostaglandin E2 (PGE2) nimmt hierbei eine SchluÈsselstellung ein, denn dieser Stoff muss vor einer Erregung vorhanden sein, weil er die peripheren Schmerzrezeptoren fuÈr weitere Neurotransmitter, die dann erst am Nozizeptor des afferenten Neurons eine Schmerzempfindung ausloÈsen, sensibilisiert. Zu den Substanzen, die dann . Abb. 2-1. Unspezifische Blockade durch nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und/oder Glukokortikoide auf die bei einer EntzuÈndung aktivierte Synthese der Prostanoide 10 2 Kapitel 2 Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes ein Schmerzempfinden auszuloÈsen imstande sind, zaÈhlen u. a.: 4 Histamin, 4 Acetylcholin, 4 Serotonin, 4 die Kinine wie Bradykinin, Kallidin und T-Kinin. Histamin loÈst erst in relativ hohen Konzentrationen eine Schmerzempfindung aus, waÈhrend Acetylcholin bereits in niedrigen Konzentrationen die Schmerzrezeptoren fuÈr andere Mediatoren sensibilisiert. In Verbindung mit anderen Mediatoren, insbesondere PGE2, das allein unwirksam ist, werden Schmerzen ausgeloÈst. Auch Serotonin nimmt in der Gruppe der schmerzerzeugenden Mediatoren eine zentrale Stellung ein. Lokale, an den Nozizeptoren nachzuweisende Bradykinin-B1- und -B2-Rezeptoren sind maûgeblich an einem lokalen EntzuÈndungsschmerz und an einer spaÈter sich entwickelnden neuropathischen Hyperalgesie beteiligt. Der B1-Rezeptor liegt normalerweise im gesunden Gewebe nicht vor, und erst nach einer Gewebeverletzung oder uÈber entzuÈndungsbedingte Cytokine, insbesondere den Tumornekrosefaktor a (TNF-a) und Interleukin 1b (IL-1b), kommt es zu seiner Exprimierung. Der B2-Bradykininrezeptor kann dagegen an den peripheren Nozizeptoren und sowohl in den peripheren als auch zentralen Ganglien nachgewiesen werden. Er ist besonders an der chronifizierten Phase von EntzuÈndungsschmerzen und bei der Schmerzreaktion beteiligt. Im Anschluss an die B2-Rezeptoraktivierung kommt es uÈber eine intrazellulaÈre Aktivierung des Enzyms Proteinkinase C (PKC) zur AktivitaÈtzunahme der Cyclooxygenase 2 (COX-2) und zur Produktion sowie zur Freisetzung von Prostaglandin E2 (PGE2). Da die Prostanoide sowohl bei der GewebeschaÈdigung als auch bei einer EntzuÈndung vermehrt gebildet werden, wobei besondere dem Prostaglandin E2 eine zentrale Rolle bei der Schmerzvermittlung zuteil wird, sind sie auch maûgeblich am Dauerschmerz beteiligt. Sie erregen jedoch die Nozizeptoren nicht direkt, sondern sensibilisieren sie, wodurch andere Mediatoren verstaÈrkt einwirken. Andererseits werden bei einer PGE2-Aktivierung auch vermehrt Na-KanaÈle gebildet, die nach Depolarisierung eine zentrale Rolle bei der Generierung und der Weiterleitung von nozizeptiven Afferenzen spielen. WaÈhrend LokalanaÈsthetika wie Lidocain und Procain solche vermehrt aktivierten Na-KanaÈle blockieren koÈnnen, stellt die Hemmung der Prostaglandinsynthese durch Cyclooxygenasehemmer (COX-1/2- Hemmer) ein wichtiges analgetisches Wirkprinzip dar, das insbesondere bei peripher bedingten SchmerzzustaÈnden einen zentrale Stellung einnimmt. Die bei der Prostglandinsynthese notwendigen Isoenzyme, das COX-1 und das COX-2, katalysieren die Prostaglandinsynthese. Sie stellen deshalb den Hauptangriffspunkt der nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAID) dar. COX-1 ist ein konstitutives Enzym, was bedeutet, dass es fuÈr die physiolgischen Funktionen notwendig ist, waÈhrend das Enzym COX-2 ein induziertes Enzym darstellt, welches durch EntzuÈndungen uÈberexprimiert wird. Viele der bekannten NSAID wie z. B. Aspirin oder Diclofenac inhibieren nichtselektiv sowohl COX-1 als auch COX-2, waÈhrend die SelektivitaÈt anderer NSAID recht unterschiedlich ist. Dagegen stellen PraÈparate wie Refecoxib (Vioxx), Celecoxib (Celebrex) und die Prodrug Parecoxib (Dynastat), die intermediaÈr zu dem aktiven Valdecoxib umgewandelt wird, Substanzen mit sehr hoher COX-2-SelektivitaÈt dar. Dies ist insofern von Bedeutung, als aufgrund der SelektivitaÈt das konstitutiv taÈtige COX-1 nicht inhibiert wird, sodass die sonst bekannten Nebenwirkungen wie Magen-Darm-Ulzerationen, Blutbildungs- und NierenfunktionsstoÈrungen, insbesondere bei langfristiger Einnahme, nicht zu erwarten sind. Die fuÈr Prostaglandine und andere Mediatoren empfindlichen Endorgane, die Nozizeptoren, sind keine besonders ausgebildeten Rezeptororgane, sondern einfache Nervenendigungen, sodass auch durch Druck auf die sensible Nervenfaser eine Erregung ausgeloÈst wird. Bei chronischer Irritation nehmen die Nervenendigungen jedoch die Eigenschaft von Rezeptoren an, die intrazellulaÈr uÈber das zyklische Aminomonophosphat (cAMP) maûgeblich an einer peripheren Sensitivierung und einer in diesem Areal entstehenden Hyperalgesie beteiligt sind. 2.1 Unterschiedliche SchmerzqualitaÈten Bereits in der Peripherie, also am Beginn der Schmerzbahn, koÈnnen hemmende, aber auch stimulierende RuÈckkopplungsreize entstehen. So werden Schmerzrezeptoren im Muskelgewebe besonders dann erregt, wenn Serotonin und Prostaglandin vorhanden sind. Bradykinin selber foÈrdert hierbei die Prostaglandinsynthese. Dies erklaÈrt die erniedrigte Schmerzschwelle in EntzuÈndungsgebieten. Die sich daran anschlieûende Schmerzafferenz kann in unterschiedliche qualitative Merkmale untergliedert werden: 11 2.1 Unterschiedliche SchmerzqualitaÈten 1. OberflaÈchenerstschmerz. Er ist stechend, hell, kurz und kann gut lokalisiert werden. 2. OberflaÈchenzweitschmerz. Er ist zeitlich etwas verzoÈgert, dauert laÈnger an, ist dumpf und kann schlecht lokalisiert werden. 3. Eingeweide- oder Viszeralschmerz. Er ist dumpf bis kolikartig, kann schlecht lokalisiert werden und ist von vegetativen Sensationen begleitet. 4. Tiefenschmerz in subkutanen Regionen wie Muskeln, Gelenken und Knochen. Er ist dumpf und strahlt in die Umgebung aus. Diese verschiedenen SchmerzqualitaÈten werden uÈber 2 Fasertypen zum RuÈckenmark geleitet: 4 die Ad-Fasern, die relativ schnell (15±20 m/s) den OberflaÈchenschmerzreiz leiten, und 4 die C-Fasern, die die uÈbrigen SchmerzqualitaÈten leiten und durch eine langsame Leitung (1 m/s) charakterisiert sind (. Abb. 2-2). Die Umschaltung der peripheren, sensiblen Afferenzen (Ad-und C-Fasern) des 1. Neurons auf das 2. Neuron (Tractus spinothalamicus und Tractus spinoreticuaris) erfolgt im Hinterhorn des RuÈckenmarks, der Substantia gelatinosa. Hier enden die schnellen Ad-Fasern in den Laminae II, III und IV, waÈhrend die langsameren C-Fasern in den Laminae I und II enden [12]. Transmitter an den Synapsen dieser Dendriten ist das Neuropeptid Substanz P. Substanz P ist ein Undekapeptid und besteht aus 11 AminosaÈurensequenzen, das bei Reizung auch retrograd zu den freien peripheren Nervenenden wandert, an denen es freigesetzt wird und zu einer RoÈtung der Haut fuÈhrt. Diese absteigende Fasern (5HT, NA) –––– Interneurone . Abb. 2-2. Segmentale Ûbertragung der Schmerzafferenz uÈber C- und Ad-Fasern im Hinterhorn des RuÈckenmarks, wo eine Schmerzmodulation durch deszendierende Fasern und Interneuronen mit endogenen Peptiden (Enkephalinen) stattfindet 5HT Serotonin; NA Noradrenalin 2 12 2 Kapitel 2 Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes Transmission vom 1. auf das 2. Neuron stellt ein Regulations-, Modulations- und Entscheidungszentrum dar. Denn die aus den verschiedenen Segmenten einlaufenden ReizintensitaÈten werden hier gesammelt, integriert und modelliert. ZusaÈtzlich erfolgt uÈber die von hoÈheren Hirnarealen deszendierenden Bahnen (Tractus corticospinalis, Tractus reticulospinalis), die als ÛbertraÈgersubstanz Serotonin oder Noradrenallin verwenden (serotoninerge Bahnen) und uÈber lokale endorphinerge Neuronen (Endorphine, Enkephaline) einwirken, eine Hemmung der einschieûenden Afferenzen; die Schmerzschwelle wird erhoÈht (. Abb. 2-2). Die Enkephaline hemmen hierbei die Freisetzung von Substanz P sowie die anderer exzitatorischer Transmitter (z. B. Glutamat, »calcitonin-gene-related pepetide«; CGRP) und damit die ErregungsuÈbertragung. Hierin ist auch der Wirkmechanismus eines analgetischen Effekts spinal oder peridural applizierter Opioide begruÈndet, die an den gleichen Rezeptoren angreifen. Der Tractus spinoreticularis, der an beiden Seiten des RuÈckenmarks uÈber die Formatio reticularis bis zu den intralaminaÈren Kernen des rechten und linken Thalamus projeziert, uÈbernimmt die Aufgabe einer Weckreaktion auf einen Schmerz (»arousal«) sowie die Verarbeitung der Schmerzen durch Verbindungen zum anterioren Kortex, zum Gyrus cynguli und Strukturen des limbischen Systems (Nucleus amygdalea und Hypothalamus). WaÈhrend vom limbischen System emotionale Reaktionen wie Angst und autonome Reaktionen auf den Schmerz ausgeloÈst werden, werden vom anterioren Kortex Erfahrungen auf den Schmerz abgerufen, und der Gyrus cynguli dient dazu, die negativen Empfindungen auf den Schmerz durch die Freisetzung endogener Opioide zu verringern. Der Tractus spinothalamicus sendet seine Fasern zum Hirnstamm (Medulla und Mittelhirn), wo er mit den Synapsen des venteroposterioren und den intrathalamischen Kernen des Thalamus Verbindung aufnimmt. Vom Thalamus schlieûlich ziehen Fasern zu der primaÈren somatosensorischen Region (S1 und S2) des Kortex. Von dieser Region ziehen Fasern zu den hinteren, parietalen Anteilen des Kortex und enden schieûlich im Nucleus amygdalea, dem perirhinalen Kortex und dem Hippocampus. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Fasern des Tractus spinothalamicus hauptsaÈchlich aus sog. »wide dynamic range« Neuronen und spezifischen Schmerzneuronen zusammengesetzt sind. Hierdurch koÈnnen unterschiedliche Dimensionen und SchmerzintensitaÈten vermittelt werden, sodass das System, bei langanhaltender Reizung, zur Weiterleitung mehr Afferenzen als urspruÈnglich akquirieren kann. Ob die von den spezifischen schmerzleitenden Fasern ausgeloÈsten Afferenzen der maûgebliche Faktor fuÈr das Empfinden von Schmerzen sind, wird von enigen Forschungsgruppen in Frage gestellt. Nach einer Theorie von Melzack (Melzack u. Wall 1995) ist Schmerz das Endergebnis eines uÈber den ganzen Organismus verteilten neuronalen Netzwerkes, sodass Schmerz von der individuellen koÈrpereigenen Neuromatrix bestimmt ist und weniger das Ergebnis eines direkten Inputs von geschaÈdigten sensorischen Nervenfasen ist. Immerhin konnte diese Theorie beim sog. Phantomschmerz, der nach Amputationen in bis zu zu 70 % der FaÈlle auftritt, bestaÈtigt werden, indem kortikale Reorganisationen zu einer deutlichen Schmerzverringerung fuÈhrten. GrundsaÈtzlich ist jedoch festzuhalten, dass bei einer ungenuÈgenden Schmerzunterbrechung und Schmerzlinderung, wie sie insbesondere bei Operationen aufteten koÈnnen, die postoperative MorbiditaÈt und MortalitaÈt ansteigt [699, 700, 701]. Hierbei spielen hormonelle und nozizeptivadaptive Prozesse mit beginnender Schmerzchronifizierung eine bedeutsame Rolle. Es ist deshalb schon vor dem Eintreffen nozizeptiver Afferenzen eine ausreichende Blockade in den schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden Systemen des RuÈckenmarks, des Hirnstamms und der subkortikalen Zentren anzustreben, weil ein Bambardement von afferenten Schmerzinformationen zu neuronalen VeraÈnderungen in den verschiedensten Regionen des ZNS fuÈhrt. 3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen 3.1 VerstaÈrkung und Chronifizierung von Schmerzen ± 13 3.2 Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem ± 14 3.3 Stickstoffmonoxid, Mediator fuÈr chronische Schmerzen ± 19 3.4 Deszendierendes antinozizeptives System ± 21 3.5 Reflektorische Schmerzsyndrome ± 22 3.1 VerstaÈrkung und Chronifizierung von Schmerzen Das Hinterhorn des RuÈckenmarks kann als das Tor angesehen werden, durch das nozizeptive Reize durchtreten muÈssen, um zu den hoÈheren supraspinalen schmerzverarbeitenden Zentren im ZNS zu gelangen. Es ist aber auch das Tor, an dem eine Modulation ankommender Schmerzimpulse im Sinne einer Verminderung bzw. VerstaÈrkung stattfindet. WaÈhrend allgemein akzeptiert wird, dass Opioidrezeptoren und die hierzu gehoÈrigen endogenen Liganden, die Endorphine oder Enkephaline, eine entscheidende Bedeutung bei der Verminderung eintreffender Schmerzimpulse haben [14±17], sind besonders die pronozizeptiven Transmitter von Bedeutung, die eine VerstaÈrkung eintreffender nozizeptiver Afferenzen bewirken [18]. Zu den pronozizeptiven Mediatoren gehoÈren die Gruppe der exzitatorischen AminosaÈuren wie Glutamat, Aspartat und die Gruppe der Tachykinine, zu denen Substanz P sowie Neurokinin A, B und C zaÈhlen. So wird neben anfaÈnglichen elektrophysiologischen und hormonellen VeraÈnderungen, ein nozizeptiver Reiz auch die Empfindlichkeit peripherer und zentraler Nozizeptoren erhoÈhen [702, 703] was der Entstehung chronischer Schmerzen Vorschub leistet. Denn durch langandauernde nozizeptive Reize kommt es zu einer gesteigerten Bahnung afferenter Schmerzleitungen [704] und zu einer langandauernden, morphologi- schen VeraÈnderung im Sinne eines Schmerzengramms im RuÈckenmark [697, 698, 705, 706] (. Abb. 3-1). Zuerst werden alle uÈber die C-Fasern eintreffenden nozizeptiven Afferenzen nach Bindung an exzitatorischen Tachykinin-Rezeptoren intrazellulaÈr das G-Protein aktivieren, das als der hauptsaÈchlichste sekundaÈre intrazellulaÈre Mittler (»second messenger«) einer Rezeptorbindung angesehen werden kann. Es ist dann auch das G-Protein, welches anschlieûend die Adenylatcyclase (AC) umwandelt, die dann wiederum Adenosintriphosphat (ATP) in zyklisches Aminomonophosphat (c-AMP) aktiviert. Hierdurch werden mehrere c-AMP-abhaÈngige Kinasen, insbesondere Proteinkinase A (PKA) und Proteinkinase C (PKC) dahingehend angestoûen, uÈber Phosphoproteine eigene spannungsabhaÈngige Ca2-IonenkanaÈle zu oÈffnen, sodass jetzt vermehrt Ca2-Ionen von extra- nach intrazellulaÈr wandern, ein physiologischer Ca2-Einstrom, der in eine Erregungssteigerung der neuronalen Zelle muÈndet (. Abb. 3-2). Bei repetetiver, langfristiger Reizung afferenter C-Fasern werden jedoch besonders die erregenden, glutaminergen Synapsen der spinalen Neurone (. Abb. 3-1) an einer uÈber den NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor ausgeloÈsten Potenzierung (»wind-up«) der ErregungsuÈbertragung teilhaben [13, 708]. 3 14 Kapitel 3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen 3.2 Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem Bei jedem nozizeptiven Reizen werden schon im Hinterhorn des RuÈckenmarks neben den Tachykininen (Substanz P, Neurokinin A und B) zusaÈtzlich exzitatorische AminosaÈuren wie Glutamat und Glycin freigesetzt. Letztere interagieren mit spezifischen Bindestellen, die grob gesehen in ionotrope und metabotrope Glutamatrezeptoren unterteilt werden koÈnnen. WaÈhrend der ionotrope Rezeptor nach Ligandenbindung direkt einen Ionenkanal beeinflusst, ist beim metabotropen Rezeptor als Mittler das G-Protein zwischengeschaltet, das nach Rezeptorbesetzung anschlieûend sekundaÈre intrazellulaÈre VeraÈnderungen bewirkt. Letztlich schlaÈgt sich diese Zwischenstufe auch in der Geschwindigkeit nieder, mit der eine Reaktion ausgeloÈst wird. So ist der ionotrope Glutamatrezeptor durch einen schnelle synaptische Transmission charakterisiert, waÈhrend der metabotrope Glutamatrezeptor als Modulator synaptischer VorgaÈnge anzusehen ist und um ein Vielfaches traÈger reagiert (. Abb. 3-3). Beide, sowohl der ionotrope als auch der metabotrope Glutamatrezeptor, koÈnnen in mehrere Subtypen unterteilt werden. So existieren beim ionotropen Glutamatrezeptor der NMDA (N-Methyl-D-Aspartat)Rezeptorsubtypen vom Glutamintyp und NichtNMDA-Rezeptoren, die mit Kainat (Kainatrezeptor) oder »a-amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazole-PropionsaÈure« (AMPA-Rezeptor) interagieren (. Abb. 3-2). Der NMDA-Rezeptor ist insofern von Bedeutung, weil uÈber ihn schnelle IonenkanaÈle geoÈffnet werden, die den Einstrom von Na- und Ca2-Ionen in die Zelle und den Ausstrom von K-Ionen aus der Zelle regulieren. Er hat eine verstaÈrkende Wirkung der exzitatorischen AminosaÈuren Glyzin und Glutamat zur Folge, sodass schon eine nur geringe Besetzung des Rezeptors zu einer groûen Folgereaktion fuÈhrt [24]. So soll der NMDARezeptor am sog. Wind-up-PhaÈnomen maûgeblich beteiligt sein, indem die wiederholte AusloÈsung gleichbleibender nozizeptiver Stimuli zu immer staÈrkeren Reaktionen fuÈhrt. Weil die NMDA-Rezeptorstimulation auch einen vermehrten Einstrom von Ca2-Ionen uÈber spannungsabhaÈngige IonenkanaÈle zur Folge hat, bzw. eine Verringerung der Mg-abhaÈngigen NMDA-Rezeptorblockade bewirkt (. Abb. 3-2), ist dieser »second-messenger« von entscheidender Bedeutung bei den genetischen VeraÈnderungen innerhalb der Zelle des Hinterhorns, die mit chronischen SchmerzzustaÈnden vergesellschaftet sind. Am NMDA-Rezeptor wirkt die PCP (Phenylcyclidin)-Bindestelle als sog. Modulationseinheit, indem der rezeptorabhaÈngige Ionenkanal blockiert wird. Ûber diesen Mechanismus wird die Wirkung sog. dissoziativer AnaÈsthetika, wie z. B. PCP (Phencyclidin) u. Ketamin erklaÈrt [25, 26], waÈhrend Magnesium und Dizocilpin (MK-801) den Calciumeinstrom uÈber eine gesonderte Bindestelle hemmen (. Abb. 3-4). Ebenso wie beim spannungsabhaÈngigen Ca2-Ionenkanal wird nach Bindung des exzitatorischen ÛbertraÈgerstoffs Glutamat am inotropen Neurokinin- (NMDA-) und am metabotropen Glutamat- (AMPA) Rezeptor ein Anstieg der intrazellulaÈren Ca2-Ionen erreicht, die direkt uÈber die NMDA-RezeptorkanaÈle in die Nervenzellen gelangen. Dieser Vorgang wird durch Substanz P, das am benachbarten Neurokinin-Rezeptor bindet, angestoûen (. Abb. 3-2). Durch die folgende Koaktivierung von Glutamat- und Tachykinin- (Substanz-P) Rezeptoren werden uÈber den Ca2-Einstrom in der Nervenzelle neuroplastische VeraÈnderungen ausgeloÈst, indem postsynaptische StroÈme verstaÈrkt uÈber das c-AMP den Transkriptionsfaktor CREB (»c-AMP-response elment-binding protein«) die Zielgene c-fos und c-jun aktivieren, die eine gesteigerte Synthese von Rezeptoren einleiten. Es stehen dann mehr Bindestellen fuÈr die Weiterleitung nozizeptiver Erregungen zur VerfuÈgung, was sich in einem »wind-up« und einer HyperaÈsthesie von Schmerzen niederschlaÈgt. Eine Verhinderung dieser Genexpression mit Opioiden ist deswegen eines der wichtigsten Ziele der Schmerztherapie, wobei die Genexpression dann am besten verhindert werden kann, wenn die Opioide vor dem Einttreffen der Schmerzreize verabreicht werden [19], bevor neuroplastische Ønderungen uÈberhaupt eingeleitet werden konnten. Denn ein akuter Schmerz kann deshalb nur chronisch werden, wenn er nicht ausreichend von Anfang an therapiert worden ist. Ist dagegen schon eine Chronifizierung mit der Entwicklung sog. neuroptahischer Schmerzen eingetreten, so ist es von klinischer Bedeutung, dass der bekannte unspezifische NMDA-Antagonist, das Ketamin, in subanaÈsthetischen Dosen, Analgesie erzeugen kann, wenn aufgrund einer Toleranzentwicklung auf Opioide zur ausreichenden Schmerzunterbrechung hoÈhere Dosen notwendig werden. Ein starker nozizeptiver Reiz fuÈhrt deshalb immer zu einer Freisetzung von exzitatorisch wirkenden Neurotransmittern und Peptiden im Bereich des Hinterhorns, die nicht nur die Inter- 3.2 Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem 15 . Abb. 3-1. Langanhaltende GewebelaÈsionen induzieren uÈber C-Fasern im RuÈckenmark die Freisetzung von Substanz P (SP), die direkt am Neurokininrezeptor (NK-1) oder, nach Zwischenschaltung uÈber ein glyzinerges Interneuron zu sog. »Wide-dynamicrange-« und nozizeptiv spezifischen Neuronen, eine ReizverstaÈrkung aszendierender Axone bewirkt. Ûber das 2. Neuron werden die Reize anschlieûend supraspinal zum Thalamus weitergeleitet, wo sie dann die Empfindung Schmerz ausloÈsen . Abb. 3-2. Schematische Darstellung des NMDA-Rezeptorkomplexes. Erst nach vorausgegangener kurzfristiger Depolarisierung der neuronalen Membran uÈber die Substanz P (SP) wird das den Rezeptor blockierende Mg2-Ion entfernt, und es koÈnnen die exzitatorischen Neurotransmitter Glyzin (Gly) und Glutamat (Glu) am NMDA-Rezeptor binden. Letzteres loÈst einen Kationenfluss aus, der in eine VerstaÈrkung nozizeptiver Afferenzen bzw. in eine pronozizeptive, antiopioidartige Wirkung muÈndet. Durch Ca2-Ionen kommt es zur Aktivierung intrazellulaÈrer Mechanismen mit Schmerzchronifizierung [Phospholipase C (PLC), Adenylatcyclase (AC), Proteinkinase C (PKC), Phospholipase A (PLA2), Nitritmonoxidsynthetase (NOS) und Zielgene (cFOS)]. Ein Pharmakon, das an der phencyclidinsensiblen (PCP) NMDA-Bindungsstelle angreift, ist Ketamin, wodurch ein funktioneller Antagonismus der Opioidwirkung verhindert wird. (Mod. nach Leslie 1987; Hudspith 1997) 3 16 Kapitel 3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen neurone aktivieren. Vielmehr stimulieren sie auch die Zellen des Tractus spinothalamicus, wodurch es zu einer langanhaltenden Empfindlichkeitssteigerung auf spaÈtere eintreffende nozizeptive Reize kommt. Dieser Effekt kann sogar den eigentlichen Reiz uÈberdauern [20], ein PhaÈnomen, das als zentrale Hypersensibilisierung oder »wind-up« [21] in die Literatur eingegangen ist. Klinisch ist bei diesem PhaÈnomen eine Hyperalgesie im Gebiet der SchaÈdigung und eine DysaÈsthesie in den umge- 3 . Abb. 3-3. Schematische Darstellung der schnellen ionotropen (NMDA-, AMPA- und Kainat-) und der langsamen metabotropen Glutamatrezeptoren . Abb. 3-4. Schematische Darstellung des bei langanhaltenden Schmerzen aktivierten NMDA- (N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptors und die am Rezeptor angreifenden Substanzgruppen 3.2 Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem 17 . Abb. 3-5a. Der Opioidrezeptor mit seinen 7 transmembranoÈsen aus Peptiden bestehenden Schleifen benden nicht beschaÈdigten Hautarealen mit anhaltenden Schmerzen nachweisbar [22]. Aufgrund dieser Erkenntnisse wird nicht nur die Forderung nach ausreichender Schmerzblockade verstaÈndlich, vielmehr laÈsst sich hieraus auch die Forderung nach einer vorangehenden (»preemptiven«) oder verhindernden (»preventiven«) Analgesie mit Analgetika ableiten. Opioide verhindern hierbei den Einstrom von Ca2-Ionen uÈber den spannungsabhaÈngige Ca2-Ionenkanal. Nach Bindung und anschlieûender KonformationsaÈnderung am Opioidrezeptors, wird uÈber das G-Protein eine SignaluÈbertragung in das Zellinnere stattfinden, indem die Adenylatcyclase deaktiviert wird. Es resultiert eine Dissoziation von Guanisindiphosphat (GDP) mit anschlieûender ÛberfuÈhrung in Guanisintriphosphat (GTP) (. Abb. 3-5b). Dieser Vorgang hat zur Folge, dass zum einen das G-Protein vom Rezeptor dissoziiert und zum anderen die AffinitaÈt des Liganden zum Rezeptor nachlaÈsst (Entwicklung einer Tachyphylaxie). Andererseits trennt sich die a-GTP Untereinheit des G-Proteins vom b/g-Restkomplex, um direkt mit dem Effektor (E) zu interagieren, wobei intrazellulaÈre VeraÈnderungen wie z. B. die DurchlaÈssigkeit der abhaÈngigen IonenkanaÈle, insbesondere eine gesteigerte Zunahme der K- und ein verminderter Transfer der Ca2-Ionen veranlasst werden, sodass die Zelle eine verminderte Ansprechrate auf nozizeptive Reize aufweist. Es resultiert eine Hyperpolari- sation bei einer gleichzeitigen verminderten DurchlaÈssigkeit bis hin zur Blockade von Ca2KanaÈlen, sodass die Zelle durch einen eintreffenden afferenten Impuls nicht mehr depolarisiert werden kann und eine Weiterleitung unterbrochen wird (. Abb. 3-5c). Das Wirkungsende des Opioids wird dadurch eingeleitet, dass das GTP sein Phosphat abgibt, sich von der a-Einheit trennt und nach Vereinigung der a-Einheit mit dem b/g-Restkomplex die Zelle wieder in den Ruhezustand zuruÈckkehrt. Solche opioidinduzierte analgetische Wirkung tritt zuerst im RuÈckenmark auf; es ist somit der Ort, an dem durch Bindung eines Opioids an die dort ebenfalls vorhandenen Opioidrezeptoren, uÈber Interneurone eine verminderte Ansprechbarkeit zellulaÈrer Reaktionen auf eintreffende nozizeptive Afferenzen stattfindet (. Abb. 2-2). Die Nervenzelle ist anschlieûend fu È r Reize nicht mehr ansprechbar und es werden alle eintreffenden afferenten Impulse nicht weitergeleitet; ein Transmitter wird im synaptischen Spalt nicht mehr freigesetzt, und die nozizeptive Erregungsleitung ist unterbrochen. Dieser neuromolekulare Wirkungsmechanismus stuÈtzt die Forderung nach ausreichender Schmerzblockade vor dem Eintreffen des eigentlichen nozizeptiven Reizes. Auf die Klinik uÈbertragen bedeutet dies, dass z. B. im Rahmen einer Narkose, schon vor dem operativen Eingriff eine genuÈgende nozizeptive Blockade mit Opioiden eingelei- 3 18 Kapitel 3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen 3 . Abb. 3-5b. Die Eigenschaft der Opioide, eine durch einen afferenten Schmerzimpuls induzierte Freisetzung von Neurotransmitter an der Synapse zu hemmen. Schematische Bedeutung der sekundaÈren Messengersysteme nach erfolgter Rezeptorbesetzung. Das G-Protein, wichtigster Mittler einer transmembranoÈsen Signalleitung, die sekundaÈre intrazellulaÈre Ønderungen induziert . Abb. 3-5c. Die nach Aufspaltung des G-Proteins eingeleitete Aktivierung von Proteinkinasen, die letztlich uÈber eine Phosporilierung der DurchgaÈngigkeit spannungsabhaÈngiger Ca2+- und K+-KanaÈle veraÈndern 3.3 Stickstoffmonoxid, Mediator fuÈr chronische Schmerzen tet wird, bzw. bei anhaltenden postoperativen oder posttraumatischen Schmerzen fruÈhzeitig mit einer Opioidtherapie begonnen werden sollte. Hieraus erhaÈlt auch die Forderung nach einer ausreichenden SaÈttigungsdosierung des Opioids bei Schmerzen ihre Berechtigung. Denn der nozizeptive Impuls laÈsst sich effektiver und mit weniger Opioiden vor seinem Eintreffen blockieren, anstatt wenn erst nach der Schmerzexposition mit einer Opioidtherapie begonnen wird [23]. In solchen FaÈllen koÈnnen hoÈhere Dosen notwendig werden, die dann die schon einsetzenden Chronifzierungsprozesse und die damit einhergehenden neuroplastischen VeraÈnderungen wieder ruÈckgaÈngig machen. 3.3 Stickstoffmonoxid, Mediator fuÈr chronische Schmerzen Dem Stickstoffmonoxid (NO), einem erst in den vergangenen Jahren entdeckten gasfoÈrmigen Transmitter im ZNS, kommt ebenfalls eine entscheidende Bedeutung in der Chronifizierung nozizeptiver Afferenzen zu [27]. So entsteht NO 19 als intrazellulaÈrer Mittler einer nachgeschalteten NMDA-Rezeptoraktivierung im RuÈckenmark, indem die Nitritoxydsynthetase (NOS) aktiviert wird und das dabei entstehende NO langfristig an der Entstehung eines Wind-ups und einer Hyperalgesie sowie einer sich anschlieûenden neuronalen StrukturveraÈnderungen mit Genmodifikationen und Chronifizierung von Schmerzen beteiligt ist (. Abb. 3-6). Die Bedeutung von NO im Chronifizierungsprozess von Schmerzen spielt hauptsaÈchlich dann eine Rolle, wenn eine bei der Verletzung von Gewebe begleitende EntzuÈndung vorliegt [27]. Hinweise hierfuÈr bieten Ergebnisse am Tier, an dem durch den Einsatz des NO-Synthesehemmers L-NAME (L-NitroargininMethylesther) intrathekal eine VerstaÈrkung der morphinbedingten Analgesie erreicht werden konnte [28] und eine im Rahmen einer Schmerzbehandlung auftretende Toleranzentwicklung auf Morphin, experimentell mit Hilfe des NO-Synthesehemmers verhindert werden konnte [29]. WaÈhrend beim akuten oder neuropathischen Schmerz. NO keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, kann hingegen es als gesichert gelten, dass . Abb. 3-6. Nach NMDA-Rezeptoraktivierung durch Glutamat kommt es zur Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO). Denn NMDA-Rezeptoraktivierung fuÈhrt zu einem Ca2-Einstrom, der an einer calmodolin(CaM-)sensiblen Stelle die Synthese von Stickstoffmonoxid aus L-Arginin und molekularem Sauerstoff in Gegenwart des Kofaktors NADPH bewirkt 3 20 Kapitel 3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen 3 . Abb. 3-7. Das nozizeptive System im Hinterhorn des RuÈckenmarks. Die ErregungsuÈbertragung wird indirekt durch enkephalinerge Interneurone blockiert. Gleichzeitig findet uÈber deszendierende serotinerge und noradrenerge Bahnen aus dem periaquaÈduktalen Grau und den Raphe-Kernen eine direkte Aktivierung der Interneurone statt (supraspinale Schmerzhemmung) 3.4 Deszendierendes antinozizeptives System NO an der Entstehung und an der Chronifizierung von EntzuÈndungsschmerz maûgeblich beteiligt ist. Inwieweit Pharmaka, die die Freisetzung von NO regulieren, in der Schmerztherapie der Zukunft und somit fuÈr die Praxis eine Bedeutung bekommen werden, wird zurzeit geklaÈrt. 3.4 Deszendierendes antinozizeptives System Ein weiteres, klar definiertes System, das den nozizeptiven Input im Bereich des RuÈckenmarks moduliert, bilden die deszendierenden Bahnen aus dem periaquaÈduktalen Grau des Mittelhirns und dem Nucleus raphe magnus [30]. Denn es ist bewiesen, dass die analgetische Wirkung der Opioide bei systemischer Gabe z. T. auf einer Aktivierung dieser Bahnen beruht, die direkt vom periaquaÈduktalen zentralen HoÈhlengrau oder auf Umweg uÈber Nucleus raphe magnus und dem Locus caeruleus zum Hinterhorn ziehen. Die Neuronen dieser Areale projizieren ihre serotinergen und noradrenergen Bahnen in das Hinterhorn des RuÈckenmarks (. Abb. 3-7), wo sie selektiv die AktivitaÈt der nozizeptiven Hinterhornneurone uÈber hemmmende, enkephalinerge Interneurone und Relayneurone mit a2-Adrenorezeptoren modulieren und desensibilisieren [31]. An diesen deszendierenden, hemmenden Bahnen des Tractus reticulospinalis sind unterschiedliche Neurotransmitter wie z. B. Glutamat, Aspartat, Serotonin und Neurotensin beteiligt, die alle in Nervenleitungen aus dem periaquaÈduktalen HoÈhlengrau nachgewiesen werden konnten [32, 33]. Schlieûlich ist die Schaltstelle in der Substantia gelatinosa des Hinterhorn im RuÈckenmark auch der Ort eines weiteren Hemmmechanismus der als »gate-control« von Melzack und Wall propagiert, in die Literatur eingegangen ist. Hierbei werden hemmende Interneurone im Hinterhorn durch schnell leitende Ab-Fasern aus den Mechanorezeptoren der Haut erregt. Trifft auf diese Zellen ein nozizeptiver Reiz aus den langsameren Adund C-Fasern, wird die Ûbertragung gehemmt [34]. Dieser Mechanismus erklaÈrt die Erfahrung, dass Schmerzempfindungen durch gleichzeitige taktile (TENS) oder thermische Erregung verringert werden koÈnnen (. Abb. 3-8). Hierzu gehoÈren auch die RuÈckenmark- oder Hinterstrangstimulation (SCS spinal cord stimulation), die Thalamusstimulation und die Elektroakupunktur, bei denen mit Hilfe elektrischer StroÈme (sog. Gegenirritationsverfahren) nozizeptive Afferenzen gehemmt werden. Nach der Gate- 21 control-Theorie begegnet ein aus den Ad- und C-Fasern aufsteigender nozizeptiver Impuls an der Pforte (»gate«) in der Substantia gelatinosa des RuÈckenmarks, einen absteigenden inhibitorischen Impuls aus den Ab-Fasern. Es werden die Schmerzimpulse unterdruÈckt und das eigentliche Schmerzempfinden erhaÈlt eine DaÈmpfung, ein Wirkungsmechanismus der letztlich auch im Experiment nachgewiesen werden konnte [35]. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei der nozizeptiven Ûbertragung vom 1. Neuron auf das 2. Neuron im Hinterhorn 3 Hemmmechanismen maûgeblich beteiligt sind: 1. Absteigende Fasern aus dem Locus caeruleus, der Formatio reticularis (Tractus reticulospinalis), den Raphe-Kernen und dem periaquaÈduktalen Grau. Sie verringern uÈber eine Serotonin- und Noradrenalinfreisetzung (serotinerge und noradrenerge Leitungsbahnen) in der Substantia gelatinosa die Empfindlichkeit der kleinen Relayzellen auf nozizeptive Reize (. Abb. 3-7). 2. Hemmende endorphinerge Interneurone im Bereich des Hinterhorns, die uÈber die AusschuÈttung, besonders von Enkephalinen, die nozizeptive Ûberleitung hemmen (. Abb. 2-2). 3. Einige uÈber das Hinterhorn des RuÈckenmarks einstrahlende Schmerzfasern erregen nicht nur das 2. aszendierende Neuron der Schmerzbahn, sondern sie stimulieren auch hemmende Zellen. Es findet eine Selbstregulation statt. . Abb. 3-8. Das Prinzip der »Gate-control-Theorie«, theo- retische Basis fuÈr den Einsatz der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS), die das nozizeptive System im RuÈckenmark uÈber Ab-Fasern hemmt 3 22 3 Kapitel 3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen Alle in der Substantia gelatinosa im Hinterhorn des RuÈckenmarks ankommenden ReizintensitaÈten werden hier gesammelt, integriert, moduliert und in Wechselbeziehung mit den einstrahlenden Hemmmechanismen wird entschieden, ob und in welcher StaÈrke eine Schmerzmeldung weitergeben werden soll (. Abb. 3-8). Eine der wichtigsten Aufgaben sinnvoller Schmerzbehandlung ist das Vermeiden dieser Chronfizierungs- und Lernprozesse. Deswegen ist auch die fruÈhzeitige und ausreichend lange Schmerzhemmung mit einem Opioid wichtigster Bestandteil solcher Strategien. Denn es blockiert hierbei nicht nur die Transmission an der Ûbertragungsstelle im RuÈckenmark; es kann auch uÈber absteigende hemmende Impulse direkt auf die spinale Schmerzleitung einwirken, wobei koÈrpereigenen Mechanismen der Schmerzkontrolle benutzt und verstaÈrkt werden. 3.5 Eine Umschaltung von viszerosensiblen Reizen auf viszeromotorische Neuronen, die zu einer Erregung der glatten Muskulatur fuÈhrt, kann einen Circulus vitiosus bedingen. Denn die freien Nervenendigungen der glatten Muskulatur sind gegenuÈber Kontraktionen sehr empfindlich, sodass bei einer Schmerzmeldung mit reflektorischer Kontraktion der Muskulatur die Nozizeption und Schmerzempfindung verstaÈrkt werden (. Abb. 3-9b). Reflektorische Schmerzsyndrome Erst wenn im RuÈckenmark die Erregungsschwelle oberhalb der Schmerzschwelle liegt, wird die Meldung vom 1. Neuron auf das 2. Neuron, den Tractus spinothalamicus und weiter zu den hoÈheren schmerzverarbeitenden Zentren geleitet. Die Substantia gelatinosa im Hinterhorn des RuÈckenmarks ist aber auch die Stelle, an der einstrahlende Schmerzafferenzen direkt oder uÈber zwischengeschaltete Interneurone zum Seitenhorn des RuÈckenmarks laufen und zu den motorischen Kernen des Vorderhorns weitergeleitet werden. Hier erfolgt uÈber das gleiche Segment oder uÈber Kollateralen die Umschaltung in mehrere benachbarte Segmente sowohl auf vegetative als auch motorische Neurone (konvergierende Afferenz; . Abb. 3-9a). Dies erklaÈrt sowohl Muskelverspannungen bei Schmerzempfindungen (Verspannungen der Bauchdecken bei viszerosensiblen Schmerzen; . Abb. 3-9b) als auch vegetative Sto È rungen (ZirkulationsstoÈrungen, Beeinflussung der SchweiûdruÈsen) und die Projektion von Schmerzen auf Hautareale des KoÈrper (. Abb. 3-9c), die von demselben RuÈckenmarksegment wie das betroffenen innere Organ nervoÈs versorgt werden (Head-Zonen). . Abb. 3-9a±c. Theorien zur AusloÈsung und Entstehung des uÈbertragenen Schmerzes (»referred pain«) durch sympathische EinfluÈsse und Reflexe sowie deren motorische Fehlsteuerung (positive RuÈckkoppelung) sowie der daraus resultierenden Chronifizierung. (Nach [10]) 4 Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen 4.1 Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses ± 23 4.2 Supraspinale Engramme chronischer Schmerzen ± 26 4.3 Psychisch bedingter Schmerz 4.1 ± 27 Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses Damit eine Schadensmeldung chronischen Charakter annimmt, muss nach anfaÈnglicher Reizung peripherer Nozizeptoren der Haut, wo etwa 90 % der uÈber 3 Mio. Nozizeptoren sitzen, die Erregung eine bestimmte IntensitaÈt erreichten. Erst dann werden uÈber unspezifische sog. multimodale Nervenfasern (Wide-dynamic-range-Rezeptoren), die taktile Empfindungen wie Druck, Dehnung und Hitze aufnehmen, jetzt auch Schmerzimpulse zum RuÈckenmark weitergeleitet. Hier an der ersten Schaltstelle werden neben hemmenden Stoffen, den Endorphinen, auch sog. pronozizeptive Transmitter wie Substanz P, Glycin, Glutamat, Neurokinin A und B freigesetzt. Wie in anderen Hirnregionen werden auch hier die synaptischen Potenziale uÈber verschiedenen Subtypen des Glutamatrezeptors (NMDARezeptor, AMPA-Rezeptor) vermittelt, wobei, als Folge wiederholter synaptischer Reizungen, sich ein Lernvorgang an der Nervenzelle manifestiert. Weil in der Folge immer wieder Schmerzreize an der Nervenzelle ankommen, wird diese die Zahl ihrer spontanen Entladungen erhoÈhen und anschlieûend, auch ohne erhoÈhten Reiz, eine gesteigerte Entladungsrate hochfrequenter Aktionspotenziale aufweisen (Wind-up-PhaÈnomen oder Phase der Bahnung). Solche durch langanhaltende Reize ausgeloÈste Reaktionsbereitschaft bleibt der Nervenzelle auch in der Zukunft erhalten. Es wirken jetzt die freigesetzten nozizeptiven Transmitter vermehrt auf die ihr nachgeschalteten Nervenzellen was eine verhaÈngnisvollen Kaskade zur Folge hat: In der Zellmembran oÈffnen sich Ca2-IonenkanaÈle, die im Inneren der Nervenzelle Botenstoffe, sog. »second messenger«, aktivieren. So ist Kalzium ein wichtiger Botenstoff, der eine Reihe von Zellfunktionen steuert und fuÈr eine zentrale Sensitivierung verantwortlich gemacht wird. Indem Phosphorilisierungsprozesse angestoûen werden, kommt es auch zur Aktivierung von Transkriptionsfaktoren wie CREB (c-AMP »responsive element binding protein«), das die Ablesung von Genen und somit den PhaÈnotyp nozizeptiver Hinterhornzellen steuert, sodass als Folge eine zentrale Sensibilisierung eingeleitet wird. Auch werden diese Transkriptionsfaktoren spezifische Eiweiûstoffe, »immediate-early-genes«, nach Bindung an Ziel-Gene zur Umsetzung der genetischen Information in eine Strukturinformation veranlassen. Die Zelle wird zur Synthese von spezifischen Proteinen angeregt, wobei mit Steigerung der Transkriptionsrate eine Neubildung und Synthese von zusaÈtzlichen Rezeptoren und IonenkanaÈlen ausgeloÈst wird. Die Zelle wird in eine permanente »Hab-Acht-Stellung« versetzt (Phase der Sensibilisierung und der HyperreaktivitaÈt), in der auch spontan Neurotransmitter und Neurohormone verstaÈrkt ausgeschuÈttet werden koÈnnen. Vorher inaktive Synapsen werden aktiviert, sodass trotz gleichbleibendem Impulsstrom aus 24 4 Kapitel 4 Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen der Peripherie jetzt der Signalstrom im RuÈckenmark hoÈher geschaltet wird. Dabei werden nicht nur weitere Nozizeptoren funktionell mit der EmpfaÈngerzelle verbunden. Es werden jetzt auch niederschwellige Mechano- und Thermorezeptoren mit in die Schmerzleitung einbezogen, sodass eine Ausdehnung der schmerzempfindlichen Zonen in gesunde Bereiche erfolgt und der Patient selbst leichteste BeruÈhrungsreize, von der verletzten und entzuÈndeten Stelle entfernt, als schmerzhaft empfindet (Phase der Allodynie). Im Endstadium hat die Nervenzelle die Schmerzinformation nicht mehr vergessen, eine chronische Ûbererregbarkeit ist die Folge, es ist ein SchmerzgedaÈchtnis entstanden, das, auch wenn der urspruÈngliche AusloÈser fuÈr die Schmerzafferenz nicht mehr existent, dauerhaft an den schmerzhaften Eingriff erinnert und fortan auch solche Reize an das Bewusstsein weiterleitet, die normalerweise als harmlose KaÈlte- oder Druckreize empfunden worden waÈren (Phase der chronischen Ûbererregbarkeit, . Abb. 4-1). Morphin [36], aber auch 5-HT2- (Ketanserin-) und 5-HT3-Rezeptorantagonisten [37] und Peptidaseinhibitoren, die die tonische AktivitaÈt der endorphinergen Zellen dadurch verstaÈrken, dass sie den enzymatischen Abbau verhindern [38], sind in der Lage, die Bildung der spezifischen Eiweiûstoffe (»immediate early genes«) und deren Unterfamilien wie c-fos, c-jun zu verhindern. Diese unter chronischer nozizeptiver Reizung nachweisbare gesteigerte c-fos-Expression konnte experimentell neben Morphin auch durch aÈquianalgetische Dosen des k-Liganden U50,488H unterdruÈckt werden, ein Effekt, der sich auf spinaler Ebene nachweisen lieû [39]. Hieraus ist abzuleiten, dass unterschiedliche viszerale, nozizeptive Afferenzen erfolgreicher durch Opioide mit unterschiedlicher RezeptorpraÈferenz unterbrochen werden koÈnnen, experimentelle Hinweise, die es gilt am Menschen nachzuvollziehen. Andererseits koÈnnen mit Antidepressiva und mit Antikonvulsiva antinozizeptive Wirkungen am Menschen nachgewiesen werden. WaÈhrend fuÈr die Wirkung der Antidepressiva eine Aktivierung hemmender, deszendierender Bahnen diskutiert wird, geht von den Antikonvulsiva wie z. B. Carbamazepin, Valproat, aber auch den neueren Lamotrigin und Gabapentin GABAerge Effekte aus. Letzteres ist dadurch zu erklaÈren, dass durch die exzessive ErhoÈhung der Kalziumionenkonzentration ein programmierter Zelltod (Apoptose) hemmender, antinozizeptiver Neurone, die als Neurotransmitter die g-AminobuttersaÈure (GABA) verwenden, offenbar wird, sodass der Verlust der GABAergen Hemmung im RuÈckenmark zu schweren Formen von Hyperalgesie und Allodynie sowie spontanen Schmerzen fuÈhrt. Dieser Verlust laÈsst sich jedoch durch eine kompensatorische Zunahme der RezeptoraktivitaÈt, wie er mit Hilfe von Antikonvulsiva aber auch von Benzodiazepinen erreicht wird, wieder wett machen, sodass von solchen Substanzgruppen auch analgetische Wirkungen zu erwarten sind. Denn sowohl spinale als auch supraspinale Zellareale weisen nach Antikonvulsiva eine Zunahme . Abb. 4-1. Theoretischer Unterbau fuÈr die NeuroplastizitaÈt im RuÈckenmark, eine wesentliche Komponente der Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses und der Entwicklung chronischer SchmerzzustaÈnde 4.1 Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses an g-AminobuttersaÈure (GABA) auf [40, 41], wodurch eine »LoÈschung des SchmerzgedaÈchtnisses« erreicht wird, ein Effekt der klinisch mit einem Verblassen der Schmerzempfindungen einhergeht. Solche sowohl klinischen als auch praÈklinischen Ergebnisse weisen darauf hin, dass 25 neben dem Opioidsystem auch das GABAerge System eine bedeutende Stellung bei der Verarbeitung von Schmerzafferenzen, schon in der ersten Schaltstelle im Bereich des RuÈckenmarks, einnimmt [42±44]. Dies erklaÈrt auch warum antinozizeptive Wirkungen von Baclofen, dem Prototyp fuÈr den GABAB-Rezeptor, und von Muscinol, dem Pro- . Abb. 4-2. Die Bedeutung von sowohl deszendierenden serotinergen und noradrenergen Bahnen als auch der im Hinterhorn des RuÈckenmarks lokalisierten enkephalinergen und GABAergen Interneurone bei der Hemmung nozizeptiver Afferenzen 4