Foto: Hilla Südhaus 310 TITEL Dr. Maria-E. Herrmann · Dr. Bettina Hermey Frühstück – die wichtigste Mahlzeit des Tages? Ergebnisse einer Metaanalyse Reis, Misosuppe und Algenzubereitung in Japan; Café au lait und ein Croissant in Frankreich – traditionelle Frühstücksgewohnheiten sind sehr unterschiedlich. Allerdings fällt inzwischen in vielen Ländern die Morgenmahlzeit aus. Welchen gesundheitlichen Wert nimmt ein regelmäßiges Frühstück ein? Und welche Auswirkungen hat das „Auslassen dieser Mahlzeit“? Ein Frühstück gibt es in allen Kulturen. In seiner Gestaltung und Zusammensetzung differiert es jedoch von Land zu Land. Trotz aller Unterschiede haben heute alle Kulturen etwas gemeinsam: Im Zusammenhang mit der Globalisierung verschwimmen die Unterschiede und die Anzahl der Menschen, die nicht frühstücken, steigt kontinuierlich. Je nach Nation gehen fünf bis 30 Prozent der Bevölkerung mit leerem Bauch in den Kindergarten, die Schule oder zur Arbeit. Zwar schwanken die Zahlen je nach Studiendesign und Nation, der Trend und vor allem die zunehmende Tendenz sind jedoch unverkennbar. Ernährung im Fokus 9-08 | 09 In der Ernährungswissenschaft gilt das Frühstück als die wichtigste Mahlzeit des Tages. „Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König und Abendessen wie ein Bettler“ – dieses Sprichwort war zumindest in Deutschland für Generationen eine Richtschnur. Ist die „kaiserliche Mahlzeit“ wirklich so wichtig für Gesundheit und Leistungsfähigkeit? Welche Auswirkungen hat ein Überspringen der ersten Mahlzeit (engl.: skipping) auf das körperliche und geistige Wohlbefinden? Methodik Diesem Review liegt eine umfassende wissenschaftliche Literaturrecherche unter Berücksichtigung von Arbeiten aus dem Zeitraum 1998 bis 2008 zugrunde. Die Literatur wurde nach 22 Recherche-Items (Tab. 1) verknüpft mit dem Begriff „Breakfast“ durchsucht und jeweils mit dem Begriff Europa und einzelnen ausgewählten Länderbezeichnungen verbunden. Ergänzend dazu kamen TITEL Arbeiten aus Referenzlisten von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen. Arbeiten relevanter Arbeitsgruppen in den größten europäischen Ländern (Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien, Großbritannien) vertieften die Studie. Dabei zeigte sich, dass in Europa zwar etliche Arbeitsgruppen aktiv sind; wichtige bevölkerungsrepräsentative Studien wie die Bogalusa Heart Study (s. dazu Public Health Studien, S. 331–332), die NHANES und andere wären bei dieser Vorgehensweise jedoch nicht berücksichtigt worden. Deshalb wurde die Suche im Hinblick auf wichtige US-amerikanische und internationale Arbeiten und Arbeitsgruppen erweitert. Die Detailauswahl von rund 120 Arbeiten erfolgte unter folgenden Aspekten: • Qualität der Arbeiten • Berücksichtigung von Reviews • Gewichtung der Stichworte Der weitaus größte Teil der Forschungsarbeiten stammt aus dem US-amerikanischen Raum. Dort sind Cerea­ lien* zum Frühstück beliebter als Brotmahlzeiten (Rampersaud et al. 2005). Selbst die EsKiMo Ernährungs-Studie und die nationale Verzehrsstudie ermöglichen für Deutschland keine mahlzeitenbezogene Bewertung der erhobenen Daten (Mensink et al. 2007; MRI 2008). Daraus ergab sich in vielen wissenschaftlichen Arbeiten eine intensive Behandlung des Themas Cerealien. 311 Tabelle 1: Verwendete Recherche-Items Häufigkeit des Frühstücksverzehrs Je nach Studiendesign schwanken die ermittelten Zahlen zur Häufigkeit des Frühstücksverzehrs erheblich. Weltweit gibt es jedoch einen deutlich zunehmenden Trend zum Auslassen der Frühstücksmahlzeit (Rampersaud et al. 2005; Mensink et al. 2007; UNICEF 2007; Cho et al. 2003; Siega-Riez et al. 2000; Vanelli ���������������������������� et al. 200���������� 5; Samuelson 2000; Sjöberg et al. 2003). Abbildung 1 zeigt internationale Prävalenzdaten der UNICEF-Studie (2007). Ein Verzicht auf das Frühstück ist vor allem bei Jugendlichen und jungen Frauen, bei ethnischen Minderheiten und unteren Schichten zu beobachten. In den Studien zeigte sich vielfach ein für die Gesundheit ungünstiger Lebensstil mit häufigem Konsum von Snacks bei geringer körperlicher Aktivität, Rauchen und häufigerem Alkoholkonsum (Rampersaud et al. 2005; Keski-Rahkonen et al. 2003; Siega-Riez et al. 2000; Kant et al. 2006; Song et al. 2005; Utter et al. 2007; Timlin et al. 2008). Zeitmangel, fehlender Appetit, Versuche zur Gewichtskontrolle, kein Angebot von Seiten der Eltern oder Armut kamen am häufigsten als Hauptgründe für das Auslassen der ersten Mahlzeit des Tages vor (Rampersaud et al. 2005; ­Keski-Rahkonen et al. 2003; Hufnagl et al. 2008). Dabei orientieren sich Kinder sehr stark am Vorbild der Eltern. Frühstücken die Eltern, tun dies meist auch die Kinder und umgekehrt (Keski-Rahkonen et al. 2003). Bedenklich stimmen deshalb die Zahlen zum Familienfrühstück in Deutschland: In nahezu jedem vierten Haushalt * Das Wort Cerealien geht zurück auf den Namen der römischen Göttin des Ackerbaus „Ceres“ und bezeichnet tischfertige Getreideerzeugnisse aus Mais, Reis, Hafer, Weizen und andere Getreidesorten. Die Warenkategorie Frühstückscerealien umfasst traditionelle Cerealien (Cornflakes u. a.) sowie Müsli. Abbildung 1: Prävalenz des Verzehrs von Frühstück International (UNICEF 2007) Tabelle 2:Zum Frühstück verzehrte Nahrungsmittel in Deutschland (Produkt+Markt, ZMP 2005) 9-08 | 09 Ernährung im Fokus 312 TITEL Frühstück mit Vollkornprodukten, verzehrsfertigen Cerealien und Obst die Morbidität und Mortalität für chronische Erkrankungen senkt (Timlin et al. 2007). Nährstoffversorgung Tabelle 3: Nährstoffversorgung von Kindern und jungen Erwachsenen (Nicklas et al. 1988) mit Kindern wird gar nicht oder nur manchmal gefrühstückt (Nielsen 2008; Kaufmännische Krankenkasse KKH 2008). Wenn Familien frühstücken, dann häufig unter Zeitdruck: ein Drittel der frühstückenden Familien mit Kindern nehmen sich dafür weniger als 15 Minuten Zeit (Nielsen 2008). Die Frühstücksvorlieben sind länderspezifisch sehr unterschiedlich: In Deutschland mögen es die einen lieber süß, die anderen pikant. Nach einer Studie der Zentralen Markt- und Preisberichtstelle (ZMP 2005) zu Verzehrshäufigkeiten stehen bei jungen Familien mit Kindern meistens Brot/Brötchen (33 %/28 %) mit herzhaftem Belag wie Käse (22,5 %) oder Wurst (20 %) oder einem süßen Aufstrich wie Konfitüre (24 %), Nuss-Nougat-Creme (6 %) oder Honig (5 %) auf dem Tisch. Zu Getreideprodukten wie Müsli, Cornflakes oder Haferflocken greifen rund zehn Prozent der befragten jungen Familien. Jogurt oder Gemüse/Salat ist mit rund drei Prozent eine eher seltene Wahl. Bei Jugendlichen verschiebt sich die Auswahl: Das Cerealienfrühstück (15 %) und die NussNougat-Creme (10 %) steigen in der Beliebtheit (Tab. 2). Bedeutung des Frühstücks für die ­Gesundheit Die Gesundheit profitiert von der Frühstücksmahlzeit in vielfältiger Weise. Ein Auslassen der ersten Mahlzeit des Tages ist mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko verbunden. So leiden Menschen, die regelmäßig frühstücken, seltener unter Beschwerden wie Depressionen, Angstzuständen oder Ärger/Stress. Zudem schlafen sie länger und entspannter (Smith 1999). Klinische Studien zeigen darüber hinaus, dass ein regelmäßiges tägliches Frühstück sowohl die Morbidität als auch die Mortalität von Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken kann (Timlin et al. 2007; Liu et al. 2003). Die lange Nahrungskarenz macht sich auf biochemischer Ebene offensichtlich mit einem erhöhten Gesamtcholesterin- und LDLCholesterinspiegel bemerkbar (Kleemola et al. 1999; Farshchi et al. 2005). Beide Parameter sind Risikofaktoren für die Entstehung von Arteriosklerose und ihren kardiovaskulären Folgeerkrankungen. Dagegen bestätigen mehrere Beobachtungsstudien, dass insbesondere ein Ernährung im Fokus 9-08 | 09 Kinder und Jugendliche sind eine Risikogruppe für defizitäre Vitamin- und Mineralstoffzufuhr (Serra-Majem 2001). Sie sollten etwa 25 Prozent der Tagesration an Energie und Nährstoffen mit der Frühstücksmahlzeit zu sich nehmen. Die empfohlenen Nährstoffmengen lassen sich eher erreichen, wenn Kinder überhaupt frühstücken – selbst bei kleineren Frühstücksmengen. Dies gilt für die Versorgung mit Energie und den Hauptnährstoffen (Nicklas et al. 2004; Rampersaud et al. 2005), besonders jedoch für die Vitamine A und C, Riboflavin, Calcium, Zink und Eisen (Nicklas et al. 2004; Rampersand et al. 2005; Barton et al. 2005; Affenito et al. 2005; Giovannini et al. 2008). Aber auch bei Erwachsenen zeigt sich bis ins hohe Alter hinein eine ähnlich positive Auswirkung des Frühstücks auf die Nährstoffversorgung (Matthys et al. 2007; Preziosi ����������������������������������������������������� et al. 1999; Nicklas et al. 1998, 2004; ���� Giovannini et al. 2008). Das Auslassen der Frühstücksmahlzeit hinterlässt dagagen eine Nährstofflücke, die sich mit den späteren Mahlzeiten des Tages nur schwer aufholen lässt. Bei einem Frühstücksverzicht werden den US-Daten zur Aufnahme von Vitaminen und Mineralstoffen zufolge nur Werte unterhalb von zwei Dritteln der amerikanischen Nährstoffempfehlungen erreicht (Nicklas et al. 2004). Es zeigt sich, dass das Auslassen der Frühstücksmahlzeit ein starker Marker für ein Auslassen auch anderer Mahlzeiten ist (Sjöberg et al. 2003), was sich wiederum negativ auf die Versorgungssituation mit Nährstoffen auswirkt. Der Nährstoffgehalt und die Nährstoffdichte verschiedener Frühstücksmahlzeiten variieren deutlich. Typisch britisch-amerikanische Ei-haltige Frühstücksvariationen haben von allen Frühstücksarten das ungünstigste Nährstoffverhältnis mit hohem Gesamtfettgehalt, hohem Gehalt an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin sowie einem niedrigen Ballaststoff-, Eisen- und Calciumgehalt. Obst-/Saft-Mahlzeiten, verzehrsfertige Cerealien und gekochte Cerealien schneiden in der Beurteilung besser ab. Sie haben ein günstiges Nährstoffverhältnis mit einem niedrigen Fett- und hohem Ballaststoffund Folsäuregehalt (Siega-Riez et al. 2000). Vor allem Frühstückscerealien können einen positiven Effekt auf die Nährstoffaufnahme haben (Siega-Riez et al. 2000; Barton et al. 2005; Albertson et al. 2003). Sie leisten einen beträchtlichen Beitrag zur Versorgung mit Kohlenhydraten, Ballaststoffen und zahlreichen Vitaminen und Mineralstoffen. Dies belegen Studien mit Kindern und Jugendlichen (Serra-Majem 2001; Kafatos et al. 2005; Van den Boom et al. 2006; Nicklas et al. 1998; Mensink et al. 2007) sowie jungen Erwachsenen (Nicklas et al. 1998; Van den Boom et al. 2006). Verschiedene Autoren zeigen, dass die Aufnahme von Fett und Cholesterin über Cerealien niedriger ist als bei anderen Frühstücksmahlzeiten (Albertson et al. 2003; Barton et al. 2005; Gibson 2003). TITEL In der Bogalusa Heart Study wurde nachgewiesen, dass ein regelmäßiges Cerealienfrühstück die Versorgung mit den Vitaminen Thiamin, Riboflavin, Niacin, B6, B12, Folat, C und D und den Mineralstoffen Eisen und Zink signifikant verbessert (Tab. 3). Junge Erwachsene mit Cerealienfrühstück profitierten durch die Kombination mit Milch zusätzlich von einer signifikant besseren Calciumzufuhr (Nicklas et al. 1998). Arbeiten von Wissenschaftlern anderer US-amerikanischer Arbeitsgruppen (Barton et al. 2005; Albertson et al. 2003) und anderer Nationen brachten ähnliche Ergebnisse (Van den Boom et al. 2006; Serra-Majem 2001; Gibson 1999, 2003). Die Bedeutung eines Frühstücks aus Cerealien für die Nährstoffzufuhr basiert auf dem Verzehr mit seinen komplementären Produkten Milch und Obst. Sie erhöhen die Frühstücksqualität sowohl hinsichtlich der Lebensmittelvielfalt als auch des Nährstoffgehalts und der Nährstoffrelation (Van den Boom et al. 2006). Die meisten Studien zeigen auch für Erwachsene einen positiven Einfluss auf die kognitive und mentale Leistungsfähigkeit (Grantham-McGregor 2005). So etwa wirkt sich ein regelmäßiger Verzehr von Frühstückcerealien positiv auf den Stresslevel (Smith 2002) sowie die mentale und physische Gesundheit aus. Frühstücksmahlzeiten mit langsam verdaulichen Kohlenhydraten – vor allem Getreideprodukten – und damit länger andauernder Glukosebereitstellung sind günstiger für Erinnerungsleistungen, Reaktionszeit und Wachsamkeit als ein Frühstück mit schnellverfügbaren Kohlenhydraten (Nabb et al. 2006; Wesnes et al. 2003; Ingwersen et al. 2007). Auch in puncto kognitive Leistungsfähigkeit gilt also: Wer frühstückt, ist an sich schon im Vorteil, zusätzlich begünstigt durch den Verzehr von Getreideprodukten aus Vollkorn. Kognitive und mentale Leistungs­ bereitschaft Seit einiger Zeit steht für eine gesundheitsförderliche Lebensmittelauswahl das Konzept des Glykämischen Index (GI) und der Glykämischen Last im Fokus. Der regelmäßige Verzehr einer Kost mit höherem GI wird mit einem insgesamt höheren Lebensmittelverzehr als Auslöser für Übergewicht und Diabetes diskutiert (FKI 2006). Aufgrund methodischer Probleme bei der GI-Bestimmung ergeben sich jedoch extrem schwankende inter- und intraindividuelle GI-Werte. Der GI kann deshalb bestenfalls orientierendes Auswahlkriterium sein (Howlett et al. 2008; Livesey et al. 2008). Unbestritten ist aber die Tatsache, dass ballaststoffreiche, kohlenhydrathaltige Lebensmittel (Stubbs et al. 2001) im Vergleich zu ballaststoffarmen den Blutzuckeranstieg verzögern (Englyst 2003). Zur Aufrechterhaltung des vormittäglichen Leistungshochs und für eine günstigere Glukosetoleranz ist es – über die kontinuierliche Bereitstellung von Glukose – also günstig, (Vollkorn-)Getreideprodukte, Gemüse und Obst als Kohlenhydrate zum Frühstück zu bevorzugen. Dieser Hinweis berücksichtigt in ausreichendem Maß das Konzept des GI und entspricht den gängigen Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (Hauner 2006; Liljeberg et al. 1999). Glykämischer Index Zu einem vollwertigen Frühstück gehört noch Milch oder ein Milchprodukt dazu. Foto: fotolia/Lucky_Dragon Die Frage, ob und wie das Frühstück die kognitive und mentale Leistungsbereitschaft beeinflusst, beschäftigt Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Drei Übersichtsarbeiten aus den Jahren 1998, 2001 und 2005 geben einen umfassenden Überblick über 20 Jahre Forschungstätigkeit (Pollitt et al. 1998; Kaiser et al. 2001; Rampersaud et al. 2005). Einige jüngere Arbeiten ergänzen die Aussagen. Theoretisch sind zwei Wege denkbar, wie ein Frühstück die Hirnleistung und kognitive Leistungsfähigkeit beeinflusst: • kurzfristig: Nachschub von Energie und Nährstoffen nach der langen nächtlichen Nahrungskarenz • langfristig: ausgeglichene Energie- und Nährstoffdepots, die sich positiv auf die kognitive Leistung auswirken (Pollitt et al. 1998; Rampersaud et al. 2005). Tatsächlich schwächt die Nahrungskarenz über Nacht die physiologische Leistungsfähigkeit. Kinder, die die erste Mahlzeit des Tages auslassen, und vor allem unterernährte Kinder zeigen in der Schule eine schlechtere Leistung (Pollitt et al. 1998; Kaiser et al. 2001; Rampersaud et al. 2005). Ein Frühstück verbessert • die schulische Leistungsfähigkeit allgemein (vor allem bei unterernährten Kindern und bei Kindern mit Eisendefizit (Hufnagl et al. 2008; Taras 2005; Lien 2007) • die Konzentrationsfähigkeit (UNICEF 2007; Benton et al. 2007), • verschiedene Erinnerungsleistungen (Kurzzeit-, Langzeitgedächtnis, episodisches Gedächtnis; Rampersaud et al. 2005; Benton et al. 2007) und Kognitionstests; Lòpez-Sobaler et al. 2003; Kaiser et al. 2001), • die Qualität der Schulaufgaben (Berkey et al. 2003), • Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeit (Benton 2007), • Depression und Hyperaktivität (Rampersaud et al. 2005). 313 9-08 | 09 Ernährung im Fokus TITEL Foto: Mauritius 314 Ein gutes Frühstück trägt entscheidend zu Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit am Vormittag­ bei. Körpergewicht In dem Maß wie die „Adipositasepidemie“ in den vergangenen Jahren voranschritt, wuchs auch das wissenschaftliche Interesse daran, die mögliche Rolle der Frühstücksmahlzeit für die Gewichtsentwicklung zu ermitteln (Timlin et al. 2007). In Querschnittsstudien wird immer wieder eine positive Korrelation zwischen einem regelmäßigen Frühstück und einem niedrigen Körpergewicht nachgewiesen. Dies gilt für Erwachsene (Cho et al. 2003; Song et al. 2005; Timlin et al. 2007) und Kinder (Utter et al. 2007; Purslow et al. 2008; Rampersaud et al. 2005; Barton et al. 2005; Timlin et al. 2007) gleichermaßen. Besonders die Regelmäßigkeit der Frühstückseinnahme macht sich bemerkbar: Menschen, die regelmäßig frühstücken, sind tendenziell schlanker als solche, die das Frühstück auslassen (Timlin et al. 2007; Hunty et al. 2007; Ma et al. 2003; Song et al. 2005), weil regelmäßiges Frühstücken den Appetit und die Energieaufnahme modulieren kann (Giovannini et al. 2008). In ihrer Metaanalyse zeigen Rampersaud et al. (2005), dass in zwölf von 16 Studien eine Verbindung zwischen dem Auslassen der Frühstücksmahlzeit und einer Erhöhung des BMI hergestellt werden kann. Obwohl die regelmäßigen „Frühstücker“ mehr Kalorien am Tag zu sich nehmen, sind sie seltener übergewichtig (Purslow et al. 2008; Berkey et al. 2003). Als mögliche Erklärung für diese Beobachtung gelten Underreporting bezüglich der verzehrten Lebensmittel, ein höherer Calciumgehalt der verzehrten Mahlzeiten oder ein „thermischer“ Effekt durch regelmäßige Mahlzeitenaufnahme (Hunty et al. 2007). Neben genetischen Einflussfaktoren hat ein regelmäßiges Frühstück offensichtlich auch Einfluss auf das Taillen-Hüft-Verhältnis. Es ist bei Männern und Frauen mit regelmäßiger Frühstücksaufnahme tendenziell niedriger (Bertrais et al. 2000). Viele Menschen versuchen, durch Auslassen der Frühstücksmahlzeit ihr Gewicht zu reduzieren (Farshchi et al. 2005; Neumark-Sztainer et al. 2007; Matthys et al. 2007). Es empfiehlt sich jedoch eher, zum Frühstück mehr Energie aufzunehmen und im späteren Tagesverlauf Energie einzusparen. Diese Strategie hilft, eine Gewichtszunahme bei Erwachsenen im mittleren Alter zu verhindern Ernährung im Fokus 9-08 | 09 (Purslow et al. 2008). Gewichthalten nach einer Diät gelingt auch besser, wenn regelmäßig ein Frühstück eingenommen wird (Fiore et al. 2006). Vermutlich entsteht durch das Überspringen der ersten Mahlzeit im Verlauf des späteren Vormittags stärkerer (metabolischer) Hunger, der zu vermehrtem Snacking und dadurch zu einer insgesamt höheren Aufnahme von Fett, Zucker und „leeren“ Kalorien führt (Matthys et al. 2007). Auch zwischen der Art des Frühstücks und der Gewichtsentwicklung besteht ein Zusammenhang (Hunty et al. 2007; Bertrais et al. 2000; Cho et al. 2003; Song et al. 2005; Kafatos et al. 2005). In allen Altersgruppen sind Adipositas und Übergewicht seltener, wenn regelmäßig Frühstückscerealien zur ersten Mahlzeit des Tages verzehrt werden (Serra-Majem 2001; Hunty et al. 2007; Cho et al. 2003; Barton et al. 2005; Kafatos et al. 2005; Bazzano et al. 2005). Dieser Zusammenhang hängt nicht alleine vom Cerealienkonsum ab, sondern auch von den „Frühstücksbegleitern“ wie Milch und/oder Obst (SerraMajem 2001). Als Gründe sind denkbar (Albertson et al. 2003; Kafatos et al. 2005): • Ein Cerealienfrühstück ist fettärmer als andere Frühstücksvarianten. • Cerealien werden meist zusammen mit Milch verzehrt. Eine hohe Calciumaufnahme aus Milch oder Milchprodukten ist positiv mit einem niedrigen BMI korreliert. • Die Regelmäßigkeit des Frühstücks moduliert den Appetit. Das Cerealienfrühstück könnte aber auch Ausdruck eines gesundheitsbewussten Lebensstils sein. Menschen, die Cerealien zu sich nehmen, essen mehr Gemüse, Obst, Milch und Milchprodukte über den Tag verteilt (Song et al. 2005). Gesüßte Soft-Getränke wie Limonaden oder Cola-Getränke, die für die Entwicklung von Übergewicht mitverantwortlich gemacht werden, kommen bei ihnen seltener auf den Tisch (Matthys et al. 2007). Zusätzlich bewegen sie sich häufiger (Hunty et al. 2007) und achten auf ihr Gewicht (Song et al. 2005). Resümee Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages – diese Aussage lässt sich in den rund 120 ausgewerteten Studien gut belegen. Das Auslassen des Frühstücks ist ungünstig beziehungsweise Ausdruck für einen wenig gesundheitsförderlichen Lebensstils mit negativer Auswirkung vor allem auf die Nährstoffversorgung, aber auch auf das geistige und körperliche Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit (Affenito et al. 2005; Affenito 2007). Damit stellt eine regelmäßige Frühstücksmahlzeit einen weiteren gesundheitsförderlichen Lebensstilfaktor dar, der gemeinsam mit Bewegung und Reduktion von weiterem gesundheitlichem Risikoverhalten (Rauchen, Alkohol etc.; Rampersaud et al. 2005; Giovannini et al. 2008) zur wichtigen präventiven Strategie für Kinder und Erwachsene zu zählen ist. Hoch einzuschätzen sind die Auswirkungen auf das Körpergewicht. Menschen, die regelmäßig frühstücken, sind in der Ten- TITEL denz schlanker als Menschen, die auf die erste Mahlzeit des Tages verzichten. Die Arbeitsgruppe um Giovannini et al. (2008) vermutet sogar, dass für Kinder das Auslassen des Frühstücks gemeinsam mit mangelnder Bewegung und dem „Alleine-Essen“ ohne Beteiligung der Eltern die relevanten Gewohnheiten sind, deren Veränderung im Zentrum von Bemühungen zur Adipositasprävention stehen sollten. Viele Studien stellen auch einen Zusammenhang zwischen Gewichtsentwicklung und der Art des Frühstücks her. Ein regelmäßiges Cerealienfrühstück scheint sich positiver auszuwirken als andere Frühstücksmahlzeiten. Fazit Die von Giovannini et al. (2008) formulierten Grundsätze eines ausgewogenen Frühstücks stimmen mit den allgemeinen Ernährungsrichtlinien der Fachorganisa­ tionen weltweit gut überein: • fettarme Milch oder ein fettarmes Milchprodukt • ein Getreideprodukt – vorzugsweise aus dem vollen Korn • Obst (frisch oder ein Glas Fruchtsaft) Kinder, die zum Auslassen des Frühstücks tendieren, sollten zumindest ein Getränk – vorzugsweise Milch – zu sich nehmen. Fällt das erste Frühstück sparsam aus, dann kann ein üppigeres zweites Frühstück den Ausgleich schaffen. Vor allem Familien mit Kindern sollten ein regelmäßiges gemeinsames Frühstück als wichtiges Sprungbrett in den Tag einplanen. Es ist ein Weg, einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu etablieren (Giovannini et al. 2008; Rampersaud et al. 2005; Vanelli et al. 2005; Keski-Rahkonen et al. 2003). Angesichts des aufgezeigten gesundheitlichen Wertes einer regelmäßigen Frühstücksmahlzeit und der bedenklichen Tendenz zum Verzicht auf das Frühstück sind Politik und Wissenschaftler gefordert zu handeln. So fällt auf, dass Mahlzeiten-bezogene Ernährungsempfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften (etwa DGE 2004) keinen Hinweis auf die Unverzichtbarkeit und Bedeutung der ersten Mahlzeit des Tages und ihrer empfehlenswerten Zusammensetzung enthalten. Die Nationale Verzehrsstudie II liefert bislang „nur“ Ergebnisse zu Lebensmitteln und Nährstoffen im Tagesmittel und keine Zuordnung zu Mahlzeiten. Der physiologische Wert der Frühstücksmahlzeit für die Nährstoffversorgung in Bezug auf die physische und mentale Leistungsfähigkeit, aber vor allem für das Gewichtsmanagement und damit für den Erhalt der Gesundheit verdient es, stärker gewürdigt zu werden. Literaturauswahl Affenito S: Breakfast: A missed opportunity – Research editorial. J Amer Diet Ass 107 (4), 565–569 (2007) Benton D, Jarvis M: The role of breakfast and a mid-morning snack on the ability of children to concentrate at school. Phys Beh 90 (2–3), 382–385 (2007) Giovannini M, Verduci E, Scaglioni S, Salvatici E, Bonza M, Riva E, Agostoni C: Breakfast: a Good Habit, not a Repetitive Custom. J Int Med Res 36, 613–624 (2008) Howlett J, Ashwell M: Glycemic response and health – summary of a workshop. Am J Nutr 87 (1), 212S–216S (2008) Hufnagl R, Scheil M: Familienfrühstück und Schulbeginn. Ernährung im Fokus 9 (9), 318–325 (2008) Ingwersen J, Defeyter M, Kennedy D, Wesnes K, Scholey A: A glow glycaemic index breakfast cereal preferentially prevents children’s cognitive performance from declining throughout the morning. Appetite 49 (1), 240–244 (2007) Kaufmännische Krankenkasse KKH: Umfrage GEWIS im Auftrag der KKH Hannover zum Thema Frühstück. Pressemitteilung vom 18.07.2008, www.kkh.de (2008) Lien L: Is breakfast consumption related to mental distress and academic performance in adolescents? Pub Health Nutri 10 (4), 422–428 (2007) Livesey G, Taylor R, Hulshof T, Howlett J: Glycemic response and health – a systematic review and meta-analysis: relations between dietary properties and health outcomes. Am J Nutr 87 (1), 258S– 268S (2008) Matthys C, De Henauw S, Bellemans M, De Maeyer M, De Backer G: Breakfast habits affect overall nutrient profiles in adolescents. Pub Health Nutri 10 (4), 413–421 (2007) Nicklas TA, O’Neil CE, Myers L: The importance of breakfast consumption to nutrition of children, adolescents and young adults. Nutrition Today 39 (1), 30–39 (2004) Nielsen: Nielsen PanelViews 2008: Food – Frühstücksverhalten. (2008) Purslow L, Sandhu M, Forouhi N, Young E, Luben R, Welch A, Khaw K, Bingham S, Wareham N: Energy intake at breakfast and weight change: prospective study of 6, 764 middle-age men and women. Am J Epidemiol 167 (2), 188–192 (2008) Rampersaud G, Pereira MGB, Adams J, Metzl J: Breakfast habits, nutritional status, body weight, and academic performance in children and adolescents. J Am Diet Ass 105 (5), 743–760; quiz 761–762 (2005) Timlin MT, Pereira MA, Story M, Neumark-Sztainer D: Breakfast Eating and Weight Change in a 5-year Prospective Analysis of Adolescents: Project EAT (Eating among Teens). Pediat 121, e638–e645 (2008) Die vollständige Literaturliste finden Sie im Internet unter „Literaturverzeichnisse“ als kostenfreie pdf-Datei. Für die Autorinnen Prof. Dr. Maria-E. Herrmann Studium der Ökotrophologie in Kiel und Gießen; in Berlin Promotion und erste Berufstätigkeit im Bereich der Intensivmedizin, dann Einbindung in verschiedene Projekte zu Stoffwechselerkrankungen. Seit 1994 Professur für „Ernährung des Menschen“ an der Fachhochschule Osnabrück. Prof. Dr. Maria-E. Herrmann Fachhochschule Osnabrück Fakultät Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur Oldenburger Landstr. 24 49090 Osnabrück E-Mail: [email protected] 9-08 | 09 Ernährung im Fokus 315