.. WISSENSCHAFT Kosmologie SIEG DER REBELLEN Ein paar flackernde Sonnen im Sternzeichen Jungfrau haben eine Botschaft zur Erde gesandt. Sie lautet: „Achtzig“. Das ist genug, das Gedankengebäude der Kosmologen erbeben zu lassen. Tragende Säulen, entweder die Theorie des Urknalls oder die der Sternentwicklung, sind vom Einsturz bedroht. ünfzig oder achtzig? Wohl über keine Zahl haben Wissenschaftler mit mehr Erbitterung und Ausdauer gestritten als über diese beiden. Seit 20 Jahren münden die Diskussionen auf den Kongressen der Astronomen immer wieder in die eine Frage: Wie groß ist die Hubble-Konstante? Auf einem Wert um 50 beharrt Allan Sandage, der große Senior der Zunft, bekannt auch als „Mister Cosmology“. Für den Wert 80 plädiert eine ständig wachsende Zahl junger Rebellen. Seit Donnerstag letzter Woche haben sie einen mächtigen Verbündeten: das 590 Kilometer über der Erdoberfläche schwebende Hubble-Weltraumteleskop. F Die Hubble-Konstante ist die Zahl, die Milchstraße und Urknall verbindet, den kosmischen Vorgarten der Erde mit der ganzen Welt. Sie gibt den Takt an für die kosmische Partitur, die nach Vorstellung der Kosmologen die Geschichte des Weltalls beschreibt: das „Standardmodell“. Am Anfang war ein Knall. Alle Materie der Welt kochte auf unendlich kleinem Raum. Die Energie des brodelnden Urplasmas schleuderte sie in alle Richtungen auseinander. Wie Granatsplitter nach einer Detonation fliegen die Galaxien noch heute voneinander fort. Je weiter sie von der Erde entfernt sind, desto schneller bewegen sie sich von ihr weg. Diese Expansion des Universums mißt die Hubble-Konstante. Sie gibt damit zugleich an, * Am Schmidt-Teleskop von Mount Palomar in Südkalifornien. wie lange es her ist, daß alle Materie in einem Punkt vereinigt war: das Alter des Alls. Zwar ist das Messen von GalaxienGeschwindigkeiten nicht schwierig. Ähnlich wie eine Krankenwagensirene unterschiedlich klingt, je nachdem, ob sie sich auf einen Passanten zu- oder von ihm wegbewegt, so verändert sich bei hohen Geschwindigkeiten auch das Licht. Aus der Stärke dieser Verzerrung („Rotverschiebung“) läßt sich auf die Geschwindigkeit schließen. Zur Bestimmung der Hubble-Konstante ist es erforderlich, neben der Geschwindigkeit einer Galaxie auch ihre Entfernung von der Erde zu kennen. Genau das aber ist das Kardinalproblem der Astronomie: Woher soll ein Sternengucker wissen, wie lange die kosmische Reise der winzigen Lichtflecken am Himmel gedauert hat, ehe sie den Tupfer auf seine FotoEmulsion ätzten? Stammen sie von einer lichtschleudernden Riesengalaxie aus den Außenbezirken des Alls oder Hubble Weltraumteleskop Erde Milchstraße UPI / BETTMANN Teleskop Mauna Kea (Hawaii) Kosmologe Hubble (1949)*: Urknall oder Ewigkeit? 260 DER SPIEGEL 44/1994 Entfernung in Lichtjahren 80 000 von einer blassen Minigalaxis in der Nachbarschaft der Milchstraße? Schon Edwin Hubble, Urvater der Kosmologie und Entdecker der Universumsexpansion, war ein Meister darin, die Distanz zu fernen Welteninseln zu erraten. Seither haben die Astronomen die Kunst des Ratens verfeinert. Die Geschwindigkeit, mit der ferne Sterne um den Kern ihrer Galaxien wirbeln, winzige Veränderungen im Spektrum des Sternenlichts, das grelle Aufleuchten von Sternen im Todeskampf: alles verwerten sie als Indizien bei ihrer Vermessung des Kosmos. Verläßlich an diesen Methoden ist nur eines: Wann immer die Gruppe von Allan Sandage mit einer Methode auf den Wert 50 für die Hubble-Konstante kommt, finden seine Gegner garantiert eine andere, die den Wert 80 liefert. Nur die Cepheiden gelten allen Astronomen gleichermaßen als die Meilensteine des Weltalls. Wie große Leuchtfeuer senden diese Riesensterne rhythmisch flackerndes Licht. Je größer sie sind, desto langsamer pulsieren sie. Deshalb läßt sich ihre tatsächliche Leuchtkraft und damit auch ihre Entfernung von der Erde genau abschätzen. Mit Hilfe dieser Flackersterne gelang es den Astronomen, die kosmische Nachbarschaft unseres Sonnensystems zu vermessen: die Spiralarme der Milchstraße, die rund 50 000 Lichtjahre weit ins All greifen; die Kugelsternhaufen, die sich um die Scheibe der Milchstraße tummeln wie Fliegen um eine Zuckerschnecke; die Andromeda-Galaxie, die galaktische Schwester der Milchstraße, und die rund 30 Babygala- Veränderliche Sterne (Cepheiden) xien, die das galaktische Schwesternpaar begleiten. Jenseits dieser sogenannten Lokalen Gruppe versagte bisher das Maß der Cepheiden. Zwar wußten die Astronomen, daß die Lokale Gruppe nicht mehr als eine Art Vorort eines viel gewaltigeren kosmischen Ballungszentrums ist: Im Sternbild Jungfrau (Virgo) haben sich einige tausend Galaxien zu einer regelrechten Galaxienwolke zusammengeschlossen. Doch zu blaß war das Flakkern der Cepheiden, als daß es aus dem Licht der fernen VirgoGalaxien hätte heraus- Spiralgalaxie M 100 im Virgo-Haufen gefiltert werden kön- Meilensteine im Universum nen. ter Woche ihre wesentlich besseren BilJetzt haben zwei Gruppen gleichzeitig der in der Zeitschrift Nature veröffentdas Rennen gemacht. Und wie unter lichte. Mit dem Weltraumteleskop hatte den zanksüchtigen Astronomen kaum sie 20 Cepheiden in der Galaxie anders zu erwarten, tobt jetzt ein Streit M 100 aufgespürt und vermessen. um die Trophäe des Erstentdeckers. „Jammervoll“, „absurd“ und „unverantAllem Streit zum Trotz: Das Ergebnis wortlich“ wurde Michael Pierce von seibeider Gruppen ist gleich, und es bestänen Kollegen gescholten. Er gibt vor, tigt die Fraktion der Rebellen – eine mit dem Mauna-Kea-Teleskop auf HaHubble-Konstante von 80. waii als erster drei Cepheiden in der VirDie Konsequenzen erschüttern das go-Galaxie NGC 4571 flackern gesehen Welt-Bild der Kosmologen. Denn damit zu haben. Daß das von der Erde überberechnet sich das Alter des Alls auf haupt möglich ist, glauben ihm seine acht Milliarden Jahre. Es wäre rund Konkurrenten nicht. sechs Milliarden Jahre jünger als die ältesten Sterne – ein logisches Dilemma, Die fühlen sich betrogen: Die Gruppe dem die Kosmologen nur mit schmerzvon Wendy Freedman sollte nun nur haftem Verzicht entrinnen könnten: zweite sein, als sie am Donnerstag letz- Sternforschers Dilemma SCIENCE PHOTO LIBRARY / FOCUS .. Proto Galaxien, Quasare Wie alt ist das Universum? Andromeda Nebel Lokale Gruppe 2 Bis zu 80 000 Lichtjahre sind die entlegensten Sterne der Milchstraße von der Erde entfernt; die Galaxien der Lokalen Gruppe sind bis zu vier Millionen Licht jahre weit weg. Jetzt konnte das Hubble Weltraumteleskop auch die Entfernung zum großen Haufen von Galaxien im Stern bild Virgo messen: Sie beträgt etwa 60 Millionen Lichtjahre. 4 Millionen Galaxie M 100 Galaxie NGC 4571 Virgo Haufen 60 Millionen Die Urknalltheorie beschreibt, wie das Universum entstand: Extrem heißes Plasma dehnte sich explosionsartig aus (1). Berechnungen der Astrophysiker ergaben, daß der Urknall mindestens 14 Milliarden Jahre zurückliegen muß. Das Alter des Universums läßt sich jedoch auch direkt messen. Dazu müssen Entfernung und Geschwindigkeit ferner Galaxien exakt bestimmt werden. Das gelang jetzt erstmals mit Hilfe flackernder Riesensterne, sogenannter Cepheiden, die mit dem HubbleWeltraumteleskop in einer Galaxie des Virgo - Haufens entdeckt wurden (2). Danach wäre das Universum nicht älter als etwa 8 Milliarden Jahre. Dieser Widerspruch stellt die Kosmologen vor ein Dilemma. 1 Milliarde Jahre 1 Seit dem Urknall bläht sich das Universum unablässig auf. Nach etwa zwanzig Minuten bildeten sich Atom kerne von Wasserstoff und Helium, nach etwa 700000 Jahren ganze Atome, gleichzeitig begann das Urgas zu ver klumpen. Was dann folgte, zählt zu den größten Rätseln der Astronomie: Es entstanden Gestirne und Galaxien. URKNALL Zeit seit dem Urknall 700 000 Jahre 20 Minuten DER SPIEGEL 44/1994 261 0 i Sie könnten die Theorie der Sternent- wicklung opfern, einen der Pfeiler der Astronomie und Triumph der Kernphysik; i sie könnten das Fundament ihres Denkgebäudes, den Urknall, preisgeben; i oder sie müßten gigantische Kräfte unbekannter Herkunft annehmen, die an der Milchstraße zerren und die Messungen verfälschen. Die Evolution der Sterne schien den Forschern längst geklärt: Große Wolken von Wasserstoff stürzen unter ihrem eigenen Gewicht in sich zusammen, bis die Implosionshitze ausreicht, die Fusion zu zünden. Dann verschmilzt Wasserstoff zu Helium, bis der atomare Brennstoff erschöpft ist. Diese Verbrennung dauert ihre Zeit: Schon 14 Milliarden Jahre glühen die ältesten Sterne, so folgt aus den Rechnungen der Kernphysiker. Eine Möglichkeit, die Verbrennung um die jetzt fehlenden sechs Milliarden Jahre zu beschleunigen, sehen die Theoretiker nicht. Nicht geringer ist die Hemmung der Wissenschaftler, das Standardmodell der Kosmologie, den Urknall, in Frage zu stellen. Schon 1929 hatte Edwin Hubble entdeckt, daß alle Galaxien auseinanderstreben. Dennoch dauerte es noch drei Jahrzehnte, bis die Wissenschaftler bereit waren, sich von der Vorstellung der Ewigkeit zu lösen: Die Entdeckung der Hintergrundstrahlung, des Strahlenechos des Urknalls, überzeugte sie davon, daß sie sich mit einem Anfang aller Zeit abzufinden hätten. So wird sich die Mehrheit der Interpreten jetzt wohl darauf stürzen, in der Struktur des Universums die Ursache für die rätselhafte „80“ zu suchen. Könnte es nicht sein, daß sich Gravitationskräfte gigantischer Masseansammlungen in der Nähe des Virgo-Haufens der Expansionsbewegung überlagern? Dann wäre es nötig, in kaum plausibler Weise die Masse im Universum umherzuschaufeln. Schon wegen dieser Schwierigkeiten, eine „80“ zu erklären, ist die Fraktion von Allan Sandage zuversichtlich, daß am Ende doch ihre „50“ obsiegen wird. „Noch sehe ich keinen Grund zur Beunruhigung“, sagt der Schweizer Astronom Gustav Tammann, ein jahrzehntelanger Weggefährte von Sandage. Er vermutet, daß sich die Hubble-Forscher eine besonders helle Vordergrundgalaxie im Virgo-Haufen ausgesucht haben. Auf diese Weise hätten sie die tatsächliche Entfernung erheblich unterschätzt. Damit, so Tammann, bestätige sich einmal mehr eine alte Grundregel, gegen die er und Sandage seit 20 Jahren ankämpften: „Die Hubble-Konstante ist ein Maß für die Naivität, mit der sie gemessen wird.“ Y