Das Maß ist voll Für Angehörige von Alkoholabhängigen Ulla Schmalz BA L A N C E buch + medien verlag Schmalz Das Maß ist voll In den langen Jahren der schleichenden Entwicklung einer Abhängigkeit sind Angehörige von Alkoholkranken ratlos und verunsichert. Sie trauen ihren eigenen Augen nicht und fragen sich immer wieder, ob es wirklich ein Alkoholproblem gibt oder sie mit ihren Sorgen übertreiben. Doch der Weg zu einer positiven Veränderung geht über klar gesetzte Meilensteine – Augen öffnen, Realitäten erkennen, Realitäten akzeptieren, handeln. »Der Ratgeber bietet Aufklärung und Rat im besten Sinn: Klar, verständlich und kompetent geschrieben, spricht die Autorin aus eigener durchlittener und durchgearbeiteter Erfahrung und lässt in vielen eindringlichen Fallbeispielen andere Betroffene zu Wort kommen.« Peter Manstein in »Psychologie Heute« ISBN 978-3-86739-148-1 BAL ANC E www.balance-verlag.de ratgeber 14 auch das Einstiegsalter spielt eine große Rolle. So wird jemand, der sich mit 14, 15 Jahren schnell an hohe Trinkmengen und auch harte Alkoholika gewöhnt, schon nach ein bis zwei Jahren das Vollbild einer Alkoholabhängigkeit zeigen, während bei späterem Beginn und eher niederprozentigen Alkoholika der Prozess sich über Jahrzehnte hinziehen kann. Als erster hat der amerikanische Alkoholismusforscher Elvin Morton Jellinek nach seinen Beobachtungen und vor allem auch in Zusammenarbeit mit den Anonymen Alkoholikern eine Abfolge von Phasen beschrieben, die auch heute noch gebräuchlich ist. Er unterscheidet vier Phasen: # die voralkoholische Phase; # die Anfangsphase; # die kritische Phase; # die chronische Phase. In der voralkoholischen Phase Y ist das Trinken unauffällig und zu- meist sozial motiviert. Das Trinken wird als erleichternd und angenehm erlebt. Menschen, die den Alkohol als besonders wohltuend erfahren, weil sie vielleicht unter starken Ängsten oder Hemmungen leiden, sind mehr als andere gefährdet, dennoch ist es nicht möglich, vorherzusagen, wer von den so trinkenden Menschen einmal abhängig werden wird. Wenn der Alkohol häufiger als Medikament zur Stimmungsregulation benutzt wird, fängt der Körper an, sich an den Wirkstoff zu gewöhnen. Schließlich wird mehr Alkohol benötigt, um die gleiche angenehme Wirkung wie in der ersten Zeit zu erleben. Es kommt zu einer Erhöhung der Alkoholtoleranz. Gleichzeitig wird es schwerer, seelische Belastungen nüchtern auszuhalten, da es immer seltener geübt wird. Vielleicht hilft Ihnen hier der Vergleich mit dem Gebrauch eines Muskels. Wenn Sie jemals ein gebrochenes Bein hatten, wissen Sie, wie kläglich verkümmert schon nach kurzer Zeit der nicht benutzte Muskel ist. Ähnlich ist es mit der Seele. Und so wird in der Folge fast täglich die angenehme Methode des Spannungsabbaus gesucht. Die erleichternde Wirkung muss gar nicht bewusst angestrebt werden, sie beeinflusst das Verhalten trotzdem. Die Besonderheit des Trinkens ist in dieser Phase meistens weder der Partnerin noch dem Umfeld verdächtig, allerdings kann hier der Betroffene schon ahnen, dass er anders trinkt als andere, wird das Trinken doch zum Bestandteil seines Tagesablaufs. Auch kann es sein, dass jemand hier schon deutlich spürt, dass er Alkohol mehr braucht als andere Menschen, um sich gut zu fühlen. Hierzu gibt es auch neuere Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie, die dies belegen (siehe 34 ff.). Die Anfangsphase, Y die nächste Phase der Entwicklung zur Abhän- gigkeit, kann nach Jellinek zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren (!) dauern. In dieser Zeit treten erste Erlebnisse auf, die den Betroffenen spüren lassen, dass sein Trinken sich verändert. Mitunter beginnt hier schon das heimliche Trinken und der Betroffene legt sich dafür erste Alkohol-Vorräte an. Immer häufiger kreisen die Gedanken um Alkohol, es muss überlegt werden, ob die Vorräte ausreichen und wie für Nachschub gesorgt werden kann. Auch dies kann ganz unauffällig gelebt werden, da es in unserer Kultur eher normal ist, einen Alkoholvorrat zu Hause zu haben, und sei es in Gestalt eines gepflegten Weinkellers oder einer gut gefüllten Hausbar. Da der Betroffene fürchten muss, negativ beurteilt zu werden, möchte er nicht, dass jemand erfährt, wie viel er tatsächlich 15 16 trinkt. Dies wäre ihm peinlich. Deshalb sucht er nach Gelegenheiten, schnell ein Paar Schlucke zu trinken, ohne dass es jemand bemerkt. In jedem Fall wird er mit allen Mitteln versuchen, seinen wirklichen Konsum zu verbergen. Jemand, der so trinkt, weiß, dass etwas mit seinem Trinken nicht stimmt, zumal erste Gedächtnislücken auftreten, sogenannte »Filmrisse«. Sie sind deutliche Hinweise darauf, dass das Stadium der Abhängigkeit bevorsteht. Der Betroffene entwickelt Schuldgefühle und vermeidet Gespräche über Alkohol. Anders als früher, als Alkohol half, Kontakte zu knüpfen und sich in Gesellschaft wohler zu fühlen, zeigen sich nun erste Isolationstendenzen. Allerdings kann es auch sein, dass ein Mensch sowieso in einer Umgebung lebt, in der starkes Trinken normal ist – in diesem Fall muss auch nicht heimlich getrunken werden. Ganz typisch ist, dass es abends zu einem Stadium des Alkoholisiertseins kommt, das die Bezeichnung »Narkose der Seele« zu Recht trägt. Der Alkoholkonsum ist in dieser Phase insgesamt zwar hoch, fällt aber den meisten Mitmenschen des Betroffenen nicht besonders auf. Anders dem Lebensgefährten bzw. in den meisten Fällen der Lebensgefährtin, die neben dem alkoholisierten Zustand zunehmend mit Gleichgültigkeit und unwirschem Verhalten konfrontiert wird. Aber statt den Partner mit dem gestiegenen Alkoholkonsum zu konfrontieren, wird das Trinken eher entschuldigt, etwa den starken beruflichen Belastungen zugeschrieben. Das Alkoholproblem wird verleugnet, für Schwierigkeiten, in die der Betroffene durch Alkohol gerät, wird selbst Verantwortung übernommen. Entdeckt man z.B. Alkoholvorräte seines Partners, sorgt man dafür, dass niemand anderes sie findet. Müssen Verabredungen abgesagt werden, weil der Partner betrunken im Bett liegt, erfindet man Ausreden. Ein solches solidarisches Verhalten ist verständlich, unterstützt aber das Trinkverhalten des Betroffenen und wird deshalb von Fachleuten mit dem Begriff der Co-Abhängigkeit belegt (mehr dazu ab S. 89) Um dieses Verhalten geht es natürlich auch in einem Ratgeber für Angehörige. Hier mehr Klarheit für sich selbst zu bekommen und das eigene Tun zu hinterfragen, ist Ihre Chance zu einer Veränderung. Die kritische Phase Y wird eingeleitet durch das Auftreten von Kon- trollverlusten. Dadurch wird die Krankheit oft erstmalig für das soziale Umfeld deutlich. Der so trinkende Mensch erfährt vermehrt Ablehnung. Kleinste Mengen können einen nicht zu beherrschenden Drang nach mehr Alkohol auslösen. Die Fähigkeit, den Alkoholkonsum willentlich und aus eigener Kraft zu beenden, geht verloren. Allerdings kann hier noch Kontrolle darüber bestehen, ob und wann getrunken wird. Nach Trinkbeginn jedoch kommt es immer wieder zu Exzessen und infolgedessen zu sozialen Konflikten. An diesem Punkt beginnt das Umfeld sich von dem »Trinker« zu distanzieren. Doch auch diese Phase kann sehr unauffällig verlaufen, so funktionieren »Spiegeltrinker« lange Jahre ohne jeden Kontrollverlust. Über kurz oder lang verändert sich aber unweigerlich das soziale Verhalten. Großspuriges Benehmen im alkoholisierten Zustand oder dauernde Zerknirschung in den nüchternen Phasen lösen in den Angehörigen ein Wechselbad unangenehmer Gefühle aus. Latente Aggressivität weckt Angst, auch wenn sich die Aggressivität vielleicht nur in zynischen Bemer- 17 18 kungen über Dritte äußert. Wenn Tätlichkeiten dazukommen, wächst die Furcht und die Frage »Gehen oder Bleiben?« wird existenziell. Diese wird als Forderung an den Betroffenen weitergegeben: »Wenn du nicht aufhörst zu trinken, siehst du mich nicht wieder!« Auf Druck der Familie und auch, weil dem Trinkenden inzwischen selbst klar ist, dass er ein massives Problem hat, werden immer wieder Versuche unternommen, den Konsum zu reduzieren. Es gibt Phasen von Abstinenz, es werden verschiedenste Trinksysteme probiert: keine harten Sachen, nicht vor Sonnenuntergang etc. Alle diese Versuche scheitern, damit schwindet auch die Hoffnung der Angehörigen auf eine Besserung. In dieser Phase sind es dann zuweilen auch die Angehörigen, die aggressiv reagieren und ihren betrunkenen Partner schlagen aus hilfloser Wut und Verzweiflung. Verhalten und Denken des Betroffenen konzentrieren sich immer stärker auf Alkohol, Interessen und Beziehungen werden vernachlässigt und aufgegeben, auch Sexualität wird unwichtig. Es kommt zu auffallendem Selbstmitleid. Vielleicht wird der Wohnort, die Arbeit aufgegeben oder doch mit dem Gedanken daran gespielt. Erste Kündigungsdrohungen oder familiäre Trennungen verstärken das Gefühl, von allen verlassen zu sein. Die Ernährung wird vernachlässigt und erste Behandlungen im Krankenhaus stehen an, die aber noch nicht den Namen »Alkoholismus« tragen, sondern als Unfälle jeglicher Art, Kreislaufprobleme, Magenschmerzen usw. daherkommen. Wegen der einsetzenden Entzugssymptome kommt es zum regelmäßigen morgendlichen Trinken. Diese Beschreibung hört sich sehr dramatisch an, das Geschehen kann aber nach außen durchaus immer noch unauffäl-