3 Behandlungsmöglichkeiten – Was hilft mir? „In der Entgiftung hat mich ein Arzt überzeugt, dass ich besser mal richtig in die Klinik soll. Er hat auch die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung gestellt.“ Vor jeder guten Therapie steht die richtige Diagnose Weltweit sind Ärzte und Psychotherapeuten heute gehalten, ihre Diagnose nach der ICD-10, also der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation, zu stellen. Auch in Deutschland muss auf Überweisungsscheinen, gegenüber Krankenkassen und Versicherungen, die ihre Leistungen von einer solchen ICD-10-Diagnose abhängig machen, die Ziffer der ICD-10, also in unserem Fall der emotional instabilen Persönlichkeit vom Borderline-Typus die F60.31 stehen (siehe Kasten). Viele Menschen zeigen einzelne BorderlineMerkmale, ohne dass die Diagnose „Borderline-Störung“ auf sie zutrifft. 90 Viele Menschen erleben hin und wieder ähnliche Gefühlszustände und verhalten sich gelegentlich ähnlich wie Menschen, auf die die Diagnose einer Borderline-Störung zutrifft, ohne dass sie an einer seelischen Störung leiden. Jemand ist zum Beispiel bekannt dafür, dass er leicht reizbar ist und öfter mal „aus der Haut fährt“. Von einem anderen weiß man, dass er ängstlich ist. Über die oder jene sagt man: „Typisch, dauernd beleidigt.“ Die eine kennt ihre Stimmungsschwankungen, während der andere weiß, dass er in bestimmten Situationen wie unter Strom steht. Sie erfüllen also aus: Niklewski, Borderline-Störung (ISBN 3830433328) © 2003, 2006 Trias Verlag Wann wird die Diagnose „emotional instabile Persönlichkeit“ gestellt? Die ICD-10-Ziffer 60.3 (emotional instabile Persönlichkeit) bedeutet, dass dem Arzt oder Psychotherapeuten, der die Diagnose stellt, mindestens drei der folgenden Beschreibungen zuzutreffen scheinen: Deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln. Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen. Ausbrüche von Wut und Gewalt, besonders wenn impulsives Verhalten behindert oder kritisiert wird. Unzureichende Handlungsplanung. Unbeständige und unberechenbare Stimmung. Die ICD-10-Ziffer 60.31 (emotional instabile Persönlichkeit vom Borderline-Typus) bedeutet, dass der Arzt oder Psychotherapeut vom Patienten von dessen Unsicherheit über das eigene Selbstbild und die Identität sowie der „inneren Präferenzen“ und intensiven, aber unbeständigen Beziehungen, die nicht selten Auslöser emotionaler Krisen sind, anhaltenden Gefühlen von Leere und/ oder parasuizidalen oder selbstverletzenden Verhalten INFO Vor jeder guten Therapie steht die richtige Diagnose erfahren hat. einzelne Kriterien, die im DSM-IV oder in der ICD-10 genannt werden. Sie selbst, ihre Freunde und Bekannten kennen das und rechnen inzwischen damit. Vielleicht leiden sie auch darunter, ahnen, dass etwas nicht stimmt, sind wirklich depressiv, haben Panikattacken oder „Essanfälle“ oder sie werden den Gedanken, am liebsten Schluss machen zu wollen, nicht mehr los. Suchen diese Menschen den Arzt oder Psychotherapeuten auf und schildern ihr Leiden, so wird die Diagnose einer Borderline-Störung jedoch nur dann gestellt, wenn nicht ein, sondern mehrere Merkmale dieser Störung als „überdauernd“ feststellbar sind, das heißt sie als seit langem und meistens vorhandene Verhaltensweisen oder Gefühlszustände geschildert werden. Wichtig ist also, dass die einzelnen Symptome gehäuft als Symptombündel oder Syndrom in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit auftreten. Das DSM-IV zum Beispiel verlangt fünf der neun genannten Merkmale (siehe S. 22). In der ICD-10 sind es zwei der fünf, wobei noch zwei der für die Borderline-Typus spezifischen Merkmale hinzukommen müssen (siehe Kasten). Erst dann darf eine Borderline-Störung diagnostiziert werden. Die Diagnose Borderline-Störung wird dann gestellt, wenn eine bestimmte Anzahl typischer Merkmale dauerhaft vorhanden ist. Die Bestimmung des Schweregrads ist das zweite wichtige Kriterium. Der Schweregrad ist ausschlaggebend dafür, ob tatsäch- aus: Niklewski, Borderline-Störung (ISBN 3830433328) © 2003, 2006 Trias Verlag 91 Behandlungsmöglichkeiten – Was hilft mir? INFO 3 Warum ist es so schwierig, die richtige Diagnose zu stellen? Was schematisch relativ einfach klingt, erweist sich jedoch gerade im Fall der Borderline-Störung als besonders schwierig. Das hat mehrere Gründe: Viele Betroffenen beklagen ja gerade einen ständigen Wechsel in ihrem Erleben, Fühlen und Verhalten, das heißt die Symptome, die auf eine Borderline-Störung hinweisen, fluktuieren: Sie sind nicht immer vorhanden, wechseln häufig und sie können außerdem zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sein, Dazu kommt: Die meisten Merkmale sind ja nicht „Borderline-spezifisch“, sondern können als Symptome auch innerhalb ganz anderer psychischer Störungen auftreten. Dies führt bei der Frage nach der richtigen Diagnose zu zwei Problemen. Ärzte und Psychotherapeuten sprechen zum einen vom Problem der Differenzialdiagnose, also von der Frage: Welche Krankheit liegt tatsächlich vor, ist es diese oder jene? Was unterscheidet sie von möglichen anderen Krankheiten? Zum andern vom Problem der Komorbidität (Mit-Krankheit), also der Frage: Leidet der oder die Betroffene vielleicht noch an einer anderen Krankheit? lich eine Störung im Sinne einer Krankheit diagnostiziert werden muss. Denn bei manchen Menschen reichen einzelne Merkmale über vorübergehende Befindlichkeitsstörungen, hin und wieder störende Verhaltensauffälligkeiten und charakterliche Besonderheiten nicht hinaus. Diese Menschen zeigen vielleicht einzelne „Borderline-Züge“, neigen zu Schwarz-Weiß-Denken, haben Schwierigkeiten mit Nähe und langfristigen Beziehungen, aber auch mit dem Alleinsein und erscheinen anderen als besonders empfindlich, manchmal unberechenbar und kontrollierend. Sie sind jedoch sozial gut integriert und angepasst, haben möglicherweise sogar leitende Positionen inne. Kein Arzt oder Psychotherapeut wird hier von einer psychischen Störung im Sinne einer Erkrankung sprechen. Am anderen Ende der Skala gibt es jedoch auch Menschen, deren Symptome ein funktionierendes Leben unmöglich machen. Sie bekommen nichts „auf die Reihe“, leben in chaotischen Beziehungen und sozialen Verhältnissen, können ihre unerträgliche innere Anspannung, ihre Wut, Angst, aber auch Leere nicht anders bewältigen, als dass sie sich in vielfältigster Weise selbst beschädigen und/oder ständig suizidal sind. 92 aus: Niklewski, Borderline-Störung (ISBN 3830433328) © 2003, 2006 Trias Verlag Vor jeder guten Therapie steht die richtige Diagnose Warum die richtige Diagnosestellung so wichtig und eventuell sogar lebensrettend sein kann, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Eine 17-Jährige hat sich schon häufig durch Schnitte im Unterarmbereich verletzt. Die Familie hat sich mittlerweile fast daran gewöhnt, vor allem da auch der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, bei dem sie wegen ihrer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus (dies die Diagnose nach dem ICD-10) schon länger in Behandlung ist, Entwarnung gegeben und der Familie empfohlen hat, im Falle einer Selbstverletzung möglichst gelassen zu reagieren. Nun scheinen aber die Häufigkeit und die Intensität der Selbstverletzungen zuzunehmen. Frage: Kann die Therapie weitergehen wie bisher oder deutet sich eine beginnende Suizidalität an? Das heißt: Sind die immer tiefer gehenden Schnitte inzwischen Ausdruck eines suizidalen Impulses, was eine Krisenintervention notwendig machte? Die Antwort auf diese Frage kann lebensentscheidend sein! Wie verläuft das Erstgespräch? Das Hauptinstrumentarium der Diagnostik in Psychiatrie und Psychotherapie ist das Gespräch. Nur im Gespräch mit dem Betroffenen und/oder seiner Familie oder seinen Angehörigen kann der Psychiater oder der Psychotherapeut klären, woran der oder die Betroffene leidet und welche Behandlung die beste sein wird. Einen wichtigen Bestandteil bildet das Erstgespräch. Fast immer ist ein Leitsymptom erkennbar oder eine typische Ansammlung von Beschwerden, die den Arzt oder Psychotherapeuten aufhorchen lassen. Berichtet eine Patientin zum Beispiel über häufig einschießende innere Anspannung, die sie nicht weiter identifizieren kann? Oder steht die Darstellung von Beziehungskonflikten im Vordergrund, die nach dem Borderline-typischen Muster ablaufen, wobei immer wieder von Wut und Angst berichtet wird? Im Erstgespräch geht es um die Beschwerden, die die Patientin, den Patienten zum Psychiater oder Psychotherapeuten geführt haben. Eine erste Einordnung anhand der diagnostischen Leitlinien – man spricht heute von operationalisierter Diagnostik – wird in diesem ersten Gespräch meist möglich. Gleichzeitig entsteht beim Psychiater oder Psychotherapeuten auch ein Eindruck: Wie ist die aus: Niklewski, Borderline-Störung (ISBN 3830433328) © 2003, 2006 Trias Verlag 93