Der Absolutheitsanspruch des Christentums – und die Pluralität unserer Lebenswirklichkeit Vortrag am 10/II/09 in der von-Ketteler-Gilde von Knut Wenzel Dass für eine Religion ein Absolutheitsanspruch erhoben wird, ist in dieser ausdrücklichen und thematischen Form eine vergleichsweise junge Erscheinung, was mit der Begriffsgeschichte des Absoluten zusammenhängt. Sie ist erstens neuzeitlich-modern und zweitens philosophisch. Das Christentum als sowohl absolute wie positive Religion zu reklamieren, geht auf das Konto der Religionsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels;1 das Christentum als Konvergenzpunkt aller positiven Religionen und deswegen als absolut zu fassen, ist die religionsphilosophische Konzeption Ernst Troeltschs.2 Sie sehen, die Sattelzeit des Absolutheitsanspruchs des Christentums – oder besser für das Christentum – umfasst gerade einmal hundert Jahre. Nochmals sei darauf hingewiesen, dass es sich beim Absolutheitsanspruch um einen philosophisch, nicht theologisch erhobenen Anspruch handelt. Der im deutschen Idealismus, vor allem eben bei Hegel geprägte Begriff einer absoluten Religion meint etwas anderes als ein theologisch zu erhebender Absolutheitsanspruch des Christentums. Die christliche Religion ist religionsphilosophisch insofern absolut, als sie einen vernunftgemäßen Begriff von Gott und seiner Verehrung verwirklicht hat, der aufgrund seiner Vernünftigkeit Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Dass der Absolutheitsanspruch des Christentums theologisch anders zu bestimmen wäre, wird im folgenden zu zeigen sein. Zunächst aber ist darauf zu achten, dass wir bislang nur von dem ausdrücklich und so benannt erhobenen Absolutheitsanspruch des Christentums gesprochen haben. Der Sache nach ist dieser Anspruch durchgängig mit dem Christentum verbunden. Der Sache nach, so muss wohl hinzu gefügt werden, geht ein solcher Anspruch mit jeder Hochreligion, mindestens des monotheistischen Typs, einher. Der Absolutheitsanspruch des Christentums, der Absolutheitsanspruch jeder Religion, jeder Absolutheitsanspruch, erscheint uns heute vor allem deswegen als fraglich, ja gefährlich, weil wir ihn in direkter Verantwortung für gewaltförmige und leidbringende Religionskonflikte sehen. Ja, wir glauben zu sehen, wie eine Religion, die einen Absolutheitsanspruch erhebt, gerade durch eine Gesellschaft und Kultur, die sich nicht mehr um solche Absolutheitsansprüche zu kümmern scheint, zur Aggression provoziert wird. Als 1 Georg Wilhelm Friedrich H EGEL, Phänomenologie des Geistes, Bamberg-Frankfurt 1807; DERS., Begriff der Religion (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 1. Teil), Hamburg 1966 (1925). 2 Ernst TROELTSCH, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1902. füge diese moderne und säkulare Gesellschaft jener Religion gerade dadurch eine narzisstische Kränkung zu, dass sie deren Absolutheitsanspruch nicht einmal mehr zurückweist. Was kann es in diesem Zusammenhang auch Kränkenderes geben als einen Absolutheitsanspruch, der im gesellschaftlichen Geltungsverlust der ihn erhebenden Religion schlicht echolos verhallt? Nun ergeben sich freilich aus dieser nur angedeuteten Verhältnisbestimmung von säkularer oder postsäkularer Gesellschaft und Religion eine Reihe von Fragen: Was bedeutet es etwa für die durchaus zutreffende Diagnose vom Relevanzverlust der Religion, wenn auf der Basis jüngerer soziologischer Erhebungen und systematischer Analysen die säkulare Gesellschaft des Westens keineswegs als religionsfeindlich, sondern als religionsfreundlich charakterisiert werden muss? Welcher Größe ist nun genau der Relevanzverlust zuzuordnen? Offensichtlich nicht dem Phänomen des Religiösen als solchen, aber doch den verfassten und organisierten Formen religiöser Großgruppen. Innerchristlich ist dieses Phänomen längst unter dem Slogan „Jesus ja – Kirche nein“ bekannt. Zu vermuten ist allerdings, dass den dynamisch wachsenden christlichen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften, die erst seit Jüngerem in den westlichen Gesellschaften Fuß fassen und sich etablieren – von den Pfingstkirchen bis zu buddhistischen und islamischen Gemeinschaften – dieselbe Entwicklung der Dissoziierung von stabiler, verfasster Gemeinschaft und personaler Religiosität erst noch bevorsteht. Diese im Westen vergleichsweise jungen Gemeinschaften sollten sich auf derzeit möglicherweise exorbitante Zuwachszahlen nicht allzu viel einbilden: Sie werden nicht von langer Haltbarkeit sein. Der Sog der Säkularität wird auch sie noch in heilvoller Weise erfassen. Doch, wie gesagt: Heraus kommt nicht ein krasser Rückgang an Religiosität, sondern deren „Deregulierung“, die Entbindung der Religiosität von den Institutionen der Religion. Das alles sind aber nicht bloß religionssoziologische Analysen und Prognosen, sondern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema des Absolutheitsanspruchs des Christentums. Unter den von diesen Entwicklungen gesetzten Bedingungen stellt sich nämlich eine Frage, die systematisch ohnehin gestellt werden muss: Wer ist eigentlich der Träger dieses Absolutheitsanspruchs? Kann man wirklich von einem Absolutheitsanspruch des Christentums sprechen? Das Christentum existiert im Wesentlichen in sichtbaren, verfassten christlichen Gemeinschaften – aber nicht ‚als solches‘. Ähnliches gilt sicher für das Judentum und den Islam. Man ist Christin und Christ als Glied einer Kirche oder einer kirchlichen Gemeinschaft (um eine Redeweise des II. Vatikanischen Konzils aufzugreifen). Reale Träger des Absolutheitsanspruchs des Christentums wären demgemäß doch wohl die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Wenn man es so sagt, ergibt sich auf dem Hintergrund des zuvor Skizzierten aber eine einigermaßen drastische Konsequenz: Mit dem realen Relevanzverlust der christlichen Großgemeinschaften – à la longue aller verfasster Religion – schwindet ebenso real die Basis, auf der die Kirchen den Absolutheitsanspruch des Christentums geltend machen könnten. Angesichts solcher Entwicklungen – die jetzt die traditionellen Großkirchen treffen, die aber allen anderen Religionsgemeinschaften in der einen oder anderen Weise noch bevorstehen – stellt sich die Frage nach der „Trägerschaft“ oder der Grundlage des Absolutheitsanspruchs des Christentums noch einmal neu. Und Sie mögen es mir nachsehen, wenn es jetzt – jetzt erst oder jetzt endlich – in die Steilwand der systematischen Theologie geht. Es kann weder das Christentum noch die verfassten christlichen Gemeinschaften oder eine von ihnen Grundlage eines solchen Absolutheitsanspruchs sein: das Christentum nicht, weil es ‚als solches’ gar nicht fassbar ist, sondern nur in seinen geschichtlich-korporativen Verwirklichungen vorkommt; die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften nicht aufgrund ihrer Relativität. Diese Relativität ist übrigens qualitativ zu verstehen, ist also nicht vor allem im mehrzähligen Quantum ihres Vorkommens begründet. Sie ist vielmehr ihrem Begriff eingeschrieben. Kirche ist relativ, und zwar im doppelten Sinn: nämlich auf die Wirklichkeit hin, von der her sie sich bestimmt wissen muss, und auf die Wirklichkeit hin, für die sie sich bestimmt wissen muss. Wenn sich also ein solcher Absolutheitsanspruch begründen lassen sollte, dann muss eine solche Begründung auf den Bahnen dieser doppelten Verweisungsstruktur gesucht werden. Je weiter man die Geschichte der Gottesvorstellungen in ihre archaischen Vorzeiten zurückverfolgt, desto deutlicher wird dort Gott bzw. das Göttliche mit Macht in Zusammenhang gesetzt. Die Thematik der Macht ist aber mittlerweile nicht nur allgemein in Religionszusammenhängen, sondern auch im Kontext der Gottesfrage heikel geworden. Heute möchten auch manche christlichen Theologen das im griechischen Gott-Denken auf den Begriff gebrachte Prädikat der Allmacht Gottes gern einklammern oder ganz aufgeben. Aus vielen, z.B. freiheitstheoretischen Gründen wird Theologie, die up to date ist, auch kaum mehr die Allmacht Gottes, im Sinn der alle Wirklichkeit bestimmenden Macht, zum Ausgangspunkt der Begründung eines Absolutheitsanspruchs oder überhaupt einer Theologie machen. Dennoch: Die Machtfrage bleibt theologisch gestellt und spielt eine wichtige Rolle auch im Blick auf den Absolutheitsanspruch. Macht kann aber an sich nichts Absolutes sein. Denn sie ist immer auf etwas anderes bezogen, dem gegenüber sie geltend gemacht werden muss, das sie sich unterwerfen muss. Die Beziehung der Macht auf dieses Andere ihrer selbst, das sie sich unterwerfen muss, dessen Unterworfenheit sie sichern muss, ist nicht positiv und integrierend bestimmbar. Warum haben dann aber Religionen von Anfang an die Machtfrage gestellt? Und warum haben sie im Lauf ihrer geschichtlichen Selbstrevisionen versucht, die Machtfrage in andere Fragen zu transformieren? Und was hat das alles mit dem Absolutheitsanspruch zu tun? 1) Die in der Religionsgeschichte gestellte Machtfrage, die Identifizierung Gottes bzw. eines Gottes bzw. eines Göttlichen mit der Macht, das heißt mit einer erfahrbaren (Natur-)Macht, stellt einen ursprünglichen Kulturakt dar, der eine dramatisch-ursprüngliche Erfahrung mit einem ebenso ursprünglichen, jener Erfahrung aber auf dramatische Weise widersprechenden Begehren verknüpft. Ich meine die Erfahrung, also die irgendwann am kulturbegründenden Beginn der Menschheitsgeschichte in die erinnerbare Erfahrungserkenntnis eingegangene Tatsache der Ausgeliefertheit der Menschen an übermächtige, überwältigende, zerstörerische (Natur-)Mächte einerseits und die in denselben kulturbegründenden Akt eingehende Artikulation des Begehrens, bestehen zu bleiben, von den Mächten nicht verschlungen zu werden, nicht unterzugehen. Die Verehrung der überwältigungsfähigen Naturmächte als göttlich koordiniert diese mit jenem Überlebensbegehren in der Weise, dass die kultische Verehrung der Mächte ihre Mächtigkeit irgendwie einzugrenzen, zu befrieden, gar nutzbar zu machen verspricht. 2) Die erste Transformation der Machtfrage findet durch ihre Verabsolutierung statt: Im Durchgang durch die Identifizierung des Göttlichen mit den (Natur-)Mächten kommt es dann zu seiner Entkoppelung von ihnen und damit zur Verehrung einer göttlichen Macht jenseits der (Natur-)Mächte – wodurch sie relativiert werden und ein größerer Handlungs- und Gestaltungsraum der Menschen ihnen gegenüber entsteht. Mit dem verehrten Göttlichen, das oder die oder der nun nicht mehr das Naturphänomen selbst ist, sondern eine Macht über diesem, dem dessen Kontrolle zugetraut werden kann, bleibt verbunden der Wunsch, bestehen zu bleiben, nicht überwältigt zu werden. Der göttlichen Macht, die sich mit dieser ersten religionsgeschichtlichen Transformation auf den Weg in die Transzendenz aufgemacht hat, trauen die Menschen zu, ihr Bleiben zu gewährleisten. Ein Blick in die biblischen Texte zeigt überigens, dass Gewährleistung des Bleibens nicht bedeutet: Vernichtung aller (Über-)Lebensbedrohungen. Die Bibel kennt hier eher die Bilder des In-Schach-Haltens, der ironischen Verkleinerung3 oder der Ordnung jener Bedrohungsmächte, und nicht solche der 3 „... der Leviathan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen.“ (Ps 104,26) eliminierenden Überwindung dieser Vernichtungs- und Chaosmächte. Dieses Modell des Göttlichen als der die Vernichtungsmächte bezwingenden Macht hält sich bis hinein in späte Texte, ist doch die biblische Adaption des Schöpfungsdenkens hiervon geprägt. Mit der Integration der Machtfrage in die Schöpfungsthematik kommt aber ein anderer Zungenschlag ins Spiel, eine weitere Transformation der Machtfrage setzt sich durch. Denn nun steht nicht mehr die machtvolle Bezwingung, der Zwang der Macht, im Zentrum des Gottesverständnisses, sondern die Frei-Gebigkeit: Gabe und Anerkennung. Der Gott der Schöpfung begründet Wirklichkeit als zu sich selbst entlassen, als sich selbst (auf-)gegeben. Er begründet die Schöpfung als die von ihm unbedingt und einschränkungslos gewollte, anerkannte, geliebte Wirklichkeit. In selbst-bewusster, antwortfähiger Weise soll dieses Gewolltsein der Weltwirklichkeit im Menschen ausdrücklich werden. Unterstand dessen Lebendigkeit vor dieser Transformation dem machtvollen Zwang jenes Gottes, der die Zerstörungsmächte bezwang, so ist diese Macht der Bedrohungsabwehr nun aufgehoben in der schöpferischen Bejahung aller Lebendigkeit durch den Gott, der deswegen als der Lebendige erkennbar wird, als die Quelle allen Lebens – dies mindestens in dem Sinn, dass er die unhintergehbare Instanz der Anerkennung des unverzweckbaren Werts und der unrelativierbaren Würde alles Lebendigen ist. Diese Transformation der Macht in Anerkennung mag religionsgeschichtlich die spätere sein; sachlogisch dürfte in ihr die Erschließung der primären theologischen Bedeutung des Gottesgedankens vorliegen: die Rückbeziehung der vorfindlichen Welt auf ein Anerkanntsein, das in einem schöpferischen, hervorbringenden Sinn ursprünglich ist – worin der Schöpfergott erschlossen ist; auf ein Anerkanntsein, das auf ein Subjekt der Anerkennung zurückgeht – worin die Personalität dieses Schöpfergottes erschlossen ist; auf ein Anerkanntsein, das in einem nicht-relativierbaren, unumgrenz- und unverzweckbaren Sinn Geltung hat – worin die Transzendenz Gottes erschlossen ist. 3) Damit ist nun auch die Basis für eine Darlegung des Absolutheitsanspruchs des Christentums – zwar noch nicht formuliert, aber – erschlossen: Absolut ist das Lebendige im Sinn seiner unrelativierbaren Würde. Absolut ist Gott als der sich selbst auf alles beziehende Quell dieser Würde. Die Gnadenstruktur der Würde alles Lebendigen, sein Anerkanntsein, erfährt eine vergegenwärtigende Erfüllung darin, dass der die Weltwirklichkeit als seine Schöpfung anerkennende Gott sich in ihr als er selbst gegenwärtig setzt, zugänglich macht. Der Anerkennende gleicht sich dem Anerkannten an – ohne deswegen aufzuhören, er selbst zu sein: Dieser im Konzept der Inkarnation gefasste Gedanke markiert die unüberbietbare Würdigung der endlichen Wirklichkeit durch den unendlichen Gott. Die christliche Trinitätstheologie hält dieses unrelativierbare Engagement Gottes für die Welt (in ihr) als zum Begriff Gottes selbst gehörig fest. Das Christentum beansprucht „Absolutheit“ für den Wert des Lebendigen, der diesem in der Struktur des Anerkanntseins gnadenhaft vom Gott des Lebens her zukommt, der sich in die Welt begeben hat, um ihre Lebendigkeit in und an ihr selbst endgültig und konkret zugleich in Geltung zu bringen. Das Christentum legt diese so oder ähnlich formulierbare Beschreibung der Wirklichkeit vor – in der Hoffnung, dass in anderen Deutungstraditionen religiöser oder anderer Art vergleichbare, übersetzungsoffene Beschreibungen des unhintergehbaren, also absoluten Werts der Wirklichkeit erreichbar sind. Absolutheit beansprucht das Christentum demnach nicht für die theoretischen, lehr- und glaubensmäßigen Bestimmungen, die sich mit seinem Namen verbinden, sondern für das Bestimmte. Es liegt aber dieser Bestimmungsvorschlag des Christentums auf dem Tisch und wird nicht zurückgenommen. Auch darin mag etwas Absolutes wahrgenommen werden. Jedoch: Die, denen „das“ Christentum seinen Vorschlag unterbreitet, sind, ob Christen oder Nichtchristen, auf der Basis ebendieses Vorschlags als von Gott immer schon und unbedingt in ihrer Lebendigkeit anerkannt und gewürdigt anzusehen. So müssen sie auch, um Gott die Ehre zu geben, behandelt werden.