Der Mensch in der Medizin: Was ist normal/was ist gesund? Definitionen von Gesundheit und Krankheit, Normen und Modelle. Modellstudiengang Medizin Wer ist gesund wer ist krank? – Wann sind „wir“ gesund? "Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ (WHO 1946) Krankheitsspektrum in der Bundesrepublik heute Wandel von akuten Krankheiten hin zu chronischen Krankheiten (KHK, Krebs, Diabetes, Bluthochdruck, Rückenschmerzen,….) ca. 25 % der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer bedeutsamen psychischen Störung ( u. a. Depression) „Pest des 21. Jahrh.“ Menschen mit psychischen Beschwerden sind auch häufiger körperlich krank Gesund? Jasper S. (7): Lebendiger körperlich altersgemäß entwickelter Junge, einige Schürfwunden, Symptomübersicht: O.B.; selbst keine Beschwerden, außer Problemen mit der einjährigen Schwester; Mutter: Ständige, laute Störung, schwer beeinflussbare Überaktivität, Gefährdung der Schwester, unaufmerksam und ablenkbar,… Frau Stolze (46): Beschwerden: Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Antriebs- und Freudlosigkeit, Konzentrationsprobleme,… Vollzeitberufstätige Krankengymnastin, Mutter zweier Jungen (8 und 12 Jahre),… weitere Symptomübersicht und Labor o.B. Herr Schumann (53): Keine aktuellen Beschwerden, fühlt sich fit, erfolgreicher Geschäftsmann Symptomübersicht: kurzatmig, abends erschöpft, nächtliches Wasserlassen, BMI 29,9 kg/m²; Untersuchung und Labor: RR 190/110 mmHg; Cholesterin 260 mg/dl,….. Was ist gesund, was krank? B e f i n d e n (subjektiv) o.Befund positiver Bef. B e f u n d (ärztlich) Wohlbefinden „Unwohlsein“ Symptomwahrnehmung Symptomaufmerksamkeit – Selbstbeobachtung (…Hypochondrie) Interozeption: Propriozeption (Bewegungsapparat) Viszerozeption (Organtätigkeit) Nozizeption (Schmerz) Somatisierungsstörung „Organsprache“ Implizite Krankheitstheorie Symptomwahrnehmung Herr Schumann (53): Check-up, keine aktuellen Beschwerden, fühlt sich fit, erfolgreicher Geschäftsmann, Symptomübersicht: kurzatmig, abends erschöpft, nächtliches Wasserlassen, BMI 29,9 kg/m²; Untersuchung und Labor: RR 190/110 mmHg; Cholesterin 260 mg/dl,….. Symptomaufmerksamkeit Interozeption Implizite Krankheitstheorie  Symptominterpretation (gesund!) Gesund oder Krank? Gesundheit: Fehlen von Normabweichungen (Diagnose: ohne Befund, o.b.) Subjektives (seelisches und körperliches) Gesundsein (Anwesenheit vom Lebensqualität) Was ist gesund….normal? Statistische Norm (Ist-Wert) (durch Beobachtung, Zählung gewonnen) Perzentile für den Body Mass Index von Jungen im Alter von 0 bis 18 Jahren. KromeyerHauschild K, Wabitsch M, Kunze D, et al. Monatsschr Kinderheilkd 2001; 149: 807-818 Was ist gesund….normal? Idealnorm: Idealnorm biologische, physiologische Sollwerte Blutglukose Blutdruck … Lungenfunktion (Vitalkapazität) Funktionen des Bewegungsapparats … Was ist gesund….normal? Funktionale Norm: Norm bezogen auf das Individuum Kann Jasper (7) sich altersgemäß entwickeln und seine Entwicklungsaufgaben bewältigen? Begabungsangemessene Schulleistungen Soziale Integration und normale Persönlichkeitsentwicklung Unbelastetes Familienleben Eigen- oder Fremdgefährdung Jasper S. (7): Symptomübersicht o.B.; selbst keine Beschwerden, außer einjährige Schwester; Mutter: ständige, laute Störung, schwer beeinflussbare Überaktivität, Gefährdung der Schwester, unaufmerksam und ablenkbar,… Was ist psychisch gesund….normal? Gesellschaftliche Normen: Homosexualität: "§175 StGB - Unzucht zwischen Männern" 15. Mai 1871 - 10. März 1994 1935: 1 bis 10 Jahre Zuchthaus/KZ BRD Reform: 1969 und 1973 DDR Reform: 1959, Abschaffung 1988 Jahr Anzahl 1950: 1920 1952: 2476 1954: 2564 1956: 2774 1958: 3182 1960: 3134 1962: 3098 1964: 2907 1966: 3261 1968: 1727 Jahr Anzahl 1969: 894 1971: 272 1973: 373 1975: 160 1977: 191 1979: 148 1981: 147 1983: 178 1985: 123 1987: 117 Verurteilungen nach §§ 175, 175a Krankheit / Gesundheit können definiert werden durch: Biologische/physiologische Idealnorm-Werte Statistische Normen Funktionale Normen Gesellschaftliche / soziale Normen Krankenrolle Talcott Parsons 1951 Entbindung von Rollenverpflichtungen durch Experten (Stigmatisierung, Ausschluss Beruf, Aktivitäten) Keine Verantwortlichkeit für die Situation (Alkoholismus, Nikotin und KHK, kulturell bedingte Schuldzuschreibungen) Verpflichtung, gesund werden zu wollen (bei chronischer Krankheit?) Verpflichtung sachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen (Compliance) Gesundheits- und Krankheitsmodelle Es existieren verschiedene Vorstellungen davon, wie Krankheit verstanden und erklärt werden kann. Modelle beeinflussen die Wahrnehmung. Modelle beeinflussen Handlungen. Frau Stolze (46): Beschwerden: Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Antriebs- und Freudlosigkeit, Konzentrationsprobleme,… vollzeitberufstätige Krankengymnastin, Mutter zwei Jungen (8 und 12 Jahre),… weitere Symptomübersicht und Labor o.B. Gesundheits- und Krankheitsmodelle Frau Stolze (46): Beschwerden: Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Antriebs- und Freudlosigkeit, Konzentrationsprobleme,… vollzeitberufstätige Krankengymnastin, Mutter zwei Jungen (8 und 12 Jahre),… weitere Symptomübersicht und Labor o.B. Naturwissenschaftliches / biomedizinisches Modell: welche Veränderungen körperlicher Strukturen sind feststellbar. Verhaltensmodelle: Woher kommt das Symptom, wodurch wird es aufrecht erhalten, wozu dient es? Sozialpsychologisches Modell: sozialer Handlungsrahmen Biopsychosoziales Modell: Zusammenspiel physiologischer, psychologischer und sozialer Vorgänge. Gesundheits- und Krankheitsmodelle Herr Schumann (53): Check-up, keine aktuellen Beschwerden, fühlt sich fit, erfolgreicher Geschäftsmann, Symptomübersicht: kurzatmig, abends erschöpft, nächtliches Wasserlassen, BMI 29,9 kg/m²; Untersuchung und Labor: RR 190/110 mmHg; Cholesterin 260 mg/dl,….. Naturwissenschaftliches / biomedizinisches Modell: welche Veränderungen körperlicher Strukturen sind feststellbar. Verhaltensmodelle: Woher kommt das Symptom, wodurch wird es aufrecht erhalten, wozu dient es? Sozialpsychologisches Modell: sozialer Handlungsrahmen Biopsychosoziales Modell: Zusammenspiel physiologischer, psychologischer und sozialer Vorgänge. Integratives Bio-Psycho-Soziales Krankheitsmodell Gesundheits- und Krankheitsmodelle strukturieren das Handeln von Ärzten und Patienten. Die Reduktion auf ein Modell schränkt die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten massiv ein. Was ist psychisch gesund….normal? Therapeutische Entscheidungen Liegt eine Depression vor? Krank schreiben? Behandeln? Medikamentös und/oder psychotherapeutisch behandeln? Frau Stolze: …traurig …erschöpft …depressiv …suizidal Symptome Depression depressive Stimmung (ungleich Traurigkeit) Interessenverlust, Freudlosigkeit Antriebsmangel, Ermüdbarkeit verminderte Konzentration, Aufmerksamkeit vermindertes Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen Schuldgefühle, Wertlosigkeit negative Zukunftsperspektiven Suizidgedanken, Suizidhandlungen Schlafstörungen verminderter Appetit „somatische Symptome“ Klassifikationssysteme Definition / internationale Nomenklatur: International Statistical Classification of Diseases (ICD 10) > 2500 Krankheiten in 21 Kategorien Diagnostisches und Statistisches Manual (DSM IV) (APA) >200 psychische Erkrankungen Verlauf: Verlauf: einmalige einmalige Episode Episode F32 F32 bipolarer bipolarer Verlauf Verlauf F31 F31 unipolarer unipolarer Verlauf Verlauf F34 F34 Schweregrade: Schweregrade: leicht leicht mittelgradig mittelgradig schwer schwer Symptome und Ausprägungen? F32.0 Leichte depressive Episode (Der Patient fühlt sich krank und sucht ärztliche Hilfe, kann aber seinen beruflichen und privaten Pflichten gerade noch gerecht werden). F32.1 Mittelgradige depressive Episode (Berufliche oder häusliche Anforderungen können nicht mehr bewältigt werden). F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Der Patient bedarf ständiger Betreuung. Eine KlinikBehandlung wird notwendig, wenn das nicht gewährleistet ist). F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (Wie F.32.2, verbunden mit Wahngedanken, z. B. absurden Schuldgefühlen, Krankheitsbefürchtungen, Verarmungswahn u. a.). F32.8 Sonstige depressive Episoden F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet Wie kann psychologisch „gemessen“ werden? Methoden zur Analyse menschlichen Verhaltens und Erlebens Interview (direktiv / nondirektiv) Standardisierung Selbstbeschreibung von Erleben und Verhalten Selbst- / Fremdbeurteilung Verhaltensbeobachtung (teilnehmend/extern) Psychometrische Tests Psychophysiologische Messgrößen (EEG, EKG, RR, Puls, Hautwiderstand (EDA elektrodermale Akt.), Muskelaktivität (EMG), Atmung, etc.) Psychoneuroendokrinologische Messgrößen: Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin) Cortisol Psychometrische Tests ...sind wissenschaftliche Routineverfahren zur Untersuchung eines oder mehrerer empirisch abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale mit dem Ziel einer möglichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmalsausprägung ….sind standardisiert / normiert ... sind Zusammenstellung von Fragen, Aufgaben oder Aktivitäten (Items) ….erfüllen spezifische Qualitätskriterien (Gütekriterien) …..z. B. Depression: WHO5 als Screening-Instrument; Beck Depressions Inventar (BDI), Hamilton Depression Rating-Skala (Ham-D), Allgemeine Depressionsskala (ADs) Symptomdarstellung Gütekriterien für psychometrische Tests Objektivität: unabhängige Durchführung, Auswertung und Interpretation Reliabilität (Zuverlässigkeit): Wie genau wird gemessen? RetestReliabilität, Paralleltest-Reliabilität Validität (Gültigkeit): Wird das gemessen, was gemessen werden soll? Inhaltsvalidität: direkter Bezug der Items zum Thema Kriterienbezogene Validität: späterer Erfolg, Vorhersageleistung Konstruktvalidität: theoretische Aussagen über das Material werden mit anderen Verteilungen verglichen. ___________________________________________________________ Normierung: Vergleichsdaten großer Stichproben zur Interpretation individueller Daten Ökonomie: (Aufwand an Zeit, Material etc.) Gesund oder krank/behandlungsbedürftig Jasper S. (7): keine körperlichen Beschwerden, System o.B. aber funktionale Beeinträchtigungen qualifizierte pädiatrisch-psychologische Diagnostik multimodale Behandlung? Frau Stolze (46): körperlichen und psychische Beschwerden, System o.B. Funktionale, soziale Beeinträchtigungen qualifizierte psychologische Diagnostik multimodale Therapie (pharmakologische, psychotherapeutische Behandlung) Herr Schumann (53): diverse Abweichungen von physiologischen Sollwerten kaum Beschwerden und funktionale Beeinträchtigungen Information über Risiken und Prognose Pharmakotherapie und „Lebensstiländerung“ Dichotomie: gesund oder krank? Jeder Mensch ist in bestimmten Anteilen gesund und in anderen krank. Chronisch krank oder bedingt gesund? (Prof. Dr. F. Hartmann, ein Gründer und erster Rektor der MHH)