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Eine Genealogie des Erinnerns
Eine Genealogie des Erinnerns
von
Margarete Hentze
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht,
es erkennen »wie es denn eigentlich gewesen ist.«
Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen,
wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.
Walter Benjamin
Eine Genealogie des Erinnerns
A. AUF DER SUCHE NACH DER VERGRABENEN GESCHICHTE
Archäologie als Methode
6
8
B. DEM GEDÄCHTNIS AUF DER SPUR 13
1. Die Mnemotechniken von der Antike bis zur Aufklärung
10
1.1. Das künstliche Gedächtnis in der Antike
1.2. Die Gedächtniskunst hinter den kulissen im Mittelalter
1.3. Die äussere Form des Gedächtnisses in der Renaissance
1.4. Das enzyklopädische Gedächtnis in Barock und Aufklärung
1.5. zeitgenössische Tendenzen des künstlichen Gedächtnisses
11
13
18
21
22
2. Gedächtnis als gesellschaftliches System
23
24
2.1. Kollektive Erinnerung und kulturelles Gedächtnis
2.2. Die naturwissenschaftliche Sicht auf das Gedächtnis
2.2.1. Eine kleine Geschichte der Gedächtnisforschung
26
2.2.2. Die neurologische Gedächtnisforschung
29
2.2.3. Die Entwicklung der psychologischen Auffassung über das Gedächtnis
31
2.2.4. Die psychologische Sicht auf das Gedächtnis
33
26
2.3. geisteswissenschaftliche Erklärungsansätze
2.3.1. Platons Anamnesis
37
2.3.2. Aristoteles Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung
38
2.3.3. Descartes Körper -Geist- Teilung
39
2.3.4. Nietzsches »grosse Vernunft«
41
2.3.5. Foucault und die Strafe als Memonik 43
2.3.5.1. Die Seele als Resultat Körperlicher Gewalt
2.3.5.2. Körperliche Gewalt als Schuldursache bei Kafka und Huxley
43
44
37
C.KÖRPER – GEDÄCHTNIS IN DER KUNST 46
1. Kunst als Erinnerung
50
1.1. Reflexion der Kindheit: Louise Bourgeoise
1.2. Take a Position in Relation to Your Works
51
52
2. Kindheit und Erinnerung
2.1. Pipilotti Rist
2.2. Das Kunstwerk in Kommunikation Bei Margarete Hentze
53
53
54
3. Tradition und Gedächtnis
3.1. Lygia Clarks körpertherapeutischer Ansatz
55
55
4. Partizipation und Körpererinnerung
56
4.1. Die Veränderung der Wahrnehmung durch eine Beteiligung
am Kunstwerk
56
4.1.1. Mallarmé: Idee einer prozessualen Kunst
4.1.2. El Lissitzkys Demonstrationsräume
4.1.3. Duchamp: Reardy-mades
4.1.4. John Cage und Rauschenberg
4.1.5. Happenings und Fluxnusbewegung
4.1.6. Die Funktion Der Kritik in der partizipatorischen Praxis
57
4.2. gelatin: Eine persönliche Angelegenheit
4.3. Körperliches ENgagement gegen Die Hemmschwelle
59
D.Resumee: WAS ICH MIT MEINER KUNST WILL
Bibliographie
Abbildungsnachweis
57
57
58
58
59
60
62
64
66
I read your body, like you read my mind. - Mountain
Erzähle mir die Vergangenheit
und ich werde die Zukunft erkennen.
Konfuzius
A. Auf der suche nach der vergrabenen geschichte
Erinnerung ist nicht nur ein mentaler sondern auch ein physischer Vorgang.
Was alles zum Gedächtnis gehört und wie wir Erinnerung herstellen, sind
Fragen mit denen sich verschiedenste Disziplinen befassen und auf deren
Antworten ich im Laufe dieser Arbeit eingehen werde.
Die Thematik Körper-Erinnerung ist für meine künstlerische Arbeit schon seit
längerem wichtig und durch die Recherchen zum Thema der vorliegenden
Arbeit haben sich weitere Zusammenhänge ergeben.
Und dass das Körpergedächtnis einen bedeutenden Teil unseres gesamten
Erinnerungsvermögens ausmacht, und damit nehme ich meine Hauptthese
gleich vorweg, ist eine Erkenntnis, die von wissenschaftlichen Disziplinen
noch kaum erforscht ist, die aber zum Hauptinteresse meiner künstlerischen
Arbeit geworden ist.
Um jetzt gleich einen möglichst direkten Zugang zu dieser These zu
gewinnen, beginne ich mit einem Beispiel aus meiner eigenen Tätigkeit.
In der Arbeit Luftlinie – ein Spaziergang von 2001 ging ich von der
Wahrnehmung eines Säuglings aus, der im Kinderwagen spazieren gefahren
wird. Diese Erfahrung wollte ich dem Betrachter möglichst ungefiltert
zugänglich machen. Ich filmte also den Spaziergang aus der Perspektive des
Säuglings mit Hilfe einer im Kinderwagen montierten Videokamera. Den so
entstandene Film projizierte ich dann an die Decke des Ausstellungsraumes.
Unter die Projektion stellte ich eine Liege, auf der sich der Besucher
liegend den Film ansehen konnte. Der Ton bestand aus alltäglichen
Straßengeräuschen.
Viele Betrachter sagten mir, dass das Ansehen des Filmes im Liegen für
sie eine ganz besondere neue Erfahrung sei und dass sie tatsächlich
meinten, sich dadurch an ihre früheste Kindheit wieder zu erinnern. Diese
Erinnerungen bestanden anfänglich meist in einem bestimmten Körpergefühl
und in Bewegungen, durch die sich dann weitere Empfindungen und
Reflexionen anschlossen. Der Körper scheint also Erinnerung ebenso zu
bewahren, wie das Gedächtnis im eher konventionell visuellen Verständnis.
Abb. 1.: Margarete Hentze. Luftlinie_ein
Spaziergang. Jahresausstellung der Akademie
der Bildenden Künste München 2002.
Der Regisseur Karl Dreyer hatte in seinem Film Vampyr
von 1931 einen ähnlichen Einfall, indem er eine
Beerdigung aus Sicht des Toten durch einen gläsernen
Sargdeckel filmte.
Dreyer war für die Suggestivkraft seiner Bilder bekannt.
Ich lernte den Film allerdings erst nach dem Entstehen
meiner Arbeit kennen.
Obstsalat als Metapher –
ein kleiner Exkurs aus den
Tiefen und Nöten einer Studentin im 3. Semester.
Im zweiten Jahr meiner Akademiezeit bekam ich von
dem Assistenten meines damaligen Professors
abfällig zu hören, meine Arbeiten seien wie Obstsalat.
Er fragte, wo denn zwischen dieser und den
vorangegangenen Arbeiten der Zusammenhang
sei.
Ich dachte kleinlaut, ich.
Ihm fehlte eine einheitliche Sprache und Materialität,
die den Betrachter schnell auf meine Fährte locken
sollte – eine Art Fingerabdruck war gefordert, der
den Studienarbeiten das Siegel des Kunstwerks
aufdrücken sollten.
War die Experimentierfreude nichts? Und die vitale
Durchsetzung des Projekts gegen alle erdenklichen
Steine, die uns in den Weg gelegt wurden – nichts?
Und was war mit der Präzision in der Vielfalt der
künstlerischen Mittel - nichts bemerkt?
Es herrschte reine Überforderung, vielleicht lag das an
mir?
Ja – die Haltung bei der Präsentation ist entscheidend.
Oder vielleicht lag es an einer sehr engen Sichtweise,
die sich im Formalismus beschränkt?
Ich war also irritiert, auf ein so absolutes Unverständnis
zu stoßen und wie so oft nicht schlagfertig, sofort zu
kontern – die Argumente kamen dann hinterher, als
alles vorbei war. Alles nochmal durchgegangen, hinund hergewendet und schliesslich widerleg.
Die Überzeugung, dass Obstsalat eine meiner
Leibspeisen ist, wuchs. Auch war mir klar, die Wahl
Außer der Philosophie haben sich im zwanzigsten Jahrhundert verschiedene
andere Disziplinen darum bemüht zu erklären, wie das Gedächtnis den Bezug
zur Vergangenheit herstellt. Und jede der Disziplinen stößt dabei auf andere
Probleme.
Die Soziologie steht vor dem Problem zu erklären, wie ein kollektives
Gedächtnis entsteht, das durch gemeinsame Erinnerungen geprägt ist,
obwohl das Bewusstsein der Einzelindividuen nicht aufgedeckt wird.
Die Neurobiologie stellt sich die Frage, wie Erinnerung zu Stande kommt,
obwohl das menschliche Gehirn nicht als Speicher funktioniert.
In der Physik wird gemutmaßt, dass Bewusstsein durch einen Übergang von
der Quantenwelt in die klassische Welt hergestellt wird.
Der Kulturwissenschaft ist die Thematik insofern besonders nahe, da jede
Kunst Gedächtnis ausdrückt.
Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, mich aus verschiedenen
Richtungen dem Thema meiner künstlerischen Arbeit durch Reflexionen über
das Gedächtnis zu nähern.
Der Zeitpunkt Studienende scheint mir für diesen Rückblick gut geeignet.
Ich betrachte die theoretische Auseinandersetzung mit meiner Kunst als
Gelegenheit, meine Ausdrucksweise zu hinterfragen, sie zu begründen und
durch Erinnern auf vergrabene Einflüsse zu untersuchen.
So geht es mir jetzt darum, das Fundament meines scheinbar intuitiven
Ansatzes freizulegen, und aus meiner jetztigen Perspektive nicht nur für mich
persönlich zu analysieren, sondern auch in eine von außen nachvollziehbare
Form zu bringen. Ich gehe also zurück zu den Quellen meines Wissens,
um einerseits die Zusammenhänge zwischen meiner Arbeit und meinem
historischen, kulturellen und sozialen Umfelds aufzudecken und andererseits
meine Sicht einer zukünftigen Positionierung und meinem weiteren
Vorgehen zu klären.
Während der Recherche zu den Wurzeln meiner künstlerischen Intention stieß
ich auf vergrabenes Wissen, das sich in Glaubenssätzen und Überzeugungen
kleidet, und so getarnt meine Arbeitsweise mitsteuert. Doch wenn ich
versuche sie zu demaskieren, zeigt sich ein Konglomerat, das sich aus religiös,
geistesgeschichtlich,wissenschaftlich und handwerklich tradiertem Denken
zusammensetzt, und deren Ursprung ich in der mir zu Teil gewordenden
Erziehung, Bildung und in der handwerklichen Ausbildung finden kann. In
Kombination mit weiten Feldern, die nicht leicht zu orten sind, wie meine
persönlichen Lebenserfahrung hat sich daraus eine schwer entschlüsselbaren
Gemisch ergeben. Wie dies alles meine Arbeitsweise beeinflusst, versuche
ich also im Folgenden zu ergründen. Dass ich hierzu weit zurück in meine
Kindheit und Jugend greifen muss, wurde mir erst im Laufe der Recherche
klar. Das interdisziplinäre Vorgehen ergab sich aus meinen weit gestreuten
Interessen. Im Laufe der Beschäftigung zeigte sich allerdings, dass sich
dahinter immer das gleiche Thema verbarg.
Ich erhebe hierbei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wichtig ist mir zu
zeigen, welche Beziehungen ich in der Reflexion zu meiner Arbeit ergeben.
Trotzdem versuche ich die historische Entwicklung in der Auffassung von
Gedächtnis in wesentlichen Aspekten nachzuzeichnen.
Ausserdem werde ich meine eigene Arbeit in den Kontext dieser Entwicklung
stellen. Ich möchte, anhand einiger Beispiele aus der Kunstgeschichte zeigen,
wie sich das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter, aber auch
zwischen Kunstwerk und Künstler entwickelt hat.
Die ursprünglich getrennten Positionen von Werk, Macher und Rezipienten
nähern sich im Lauf der Zeit immer weiter einander an.
Schließlich möchte ich dann versuchen, die beiden Hauptpunkte in einem auf
meine Kunst bezogenen Fazit zu verbinden, um so ein besseres Verständnis
meiner künstlerichen Arbeit zu ermöglichen.
Archäologie als methode
Meine Vorgehensweise könnte man als eine archäologische bezeichnen.
Ich untersuche alte Erzählungen und Kunstwerke, die mir den Vorgang
des Erinnerns und Vergessens veranschaulichen. Ich verwende für meine
Erklärungen einzelne Steine aus dem grossen Steinbruch der Erinnerung, wie
es der französische Historiker und Philosophe Michel Foucault anbietet.
In meiner archäologischen Vorgehensweise zeigen sich Parallelen zu
Foucaults‘ Formulierung, in der er seine eigene Theorie der Diskursanalyse
als Steinbruch bezeichnet, aus dem sich andere Wissenschaftler einzelne
Steine zu ihren Zwecken herausbrechen können. Mein Vorgehen würde ich
vorzuggsweise als diskursanalytisch bezeichnen.
Foucault: 1991, S.11 f.
meiner Zutaten nach meinem Geschmack auszuwählen
und mich nicht davon abbringen zu lassen, die
vielversprechenden
Kombinationsmöglichkeiten
auszuprobieren.
Ich war nicht gewillt mein Bild von einer Akademie,
nach dem mir alle erdenklichen Möglichkeiten offen zu
stehen schienen, aufzugeben.
Die Werkstatt wurde zum Zufluchtsort vor Destruktion.
Nach langen Entscheidungskämpfen folgte der
Klassenwechsel als Befreiungsschlag.
Mein Resumée zur Studienzeit lautet:
- Der künstlerische Obstalat wird immer nur aus
den reifen Früchten des Gedächtnisses zubereitet.
B. Dem Gedächtnis auf der Spur
Sokrates erzählt in Platons Werk dem Phaidros die
Geschichte wie der ägyptische Dämon mit Namen
Theut, der „zuerst Zahl und Rechnung erfunden [habe],
und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und
Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. ... [Theuth kam
zu Thamus, der König von Theben war] und zeigte ihm
seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen
Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen
eine jede habe? .... Vieles nun soll da Thamus dem Theuth
über jede Kunst ... frei heraus gesagt haben, .... Als er aber
an den Buchstaben war, sagte der Theuth: Diese Kenntnis,
o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger
machen, denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl
als für die Weisheit ist sie erfunden.
Thamus aber erwiderte: O du sehr kunstreicher Theuth!
Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört,
hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen
vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen
bringe, die sie gebrauchen werden...So hast auch du jetzt,
als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von
dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit
wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen,
herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns,
sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her
mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich
selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern,
sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel
erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern
nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel hören sind
dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu
sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind
und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie
Scheinweise geworden sind, nicht Weise.“
Die wissenschaftliche Sicht auf das Gedächtnis, und somit auch die Sicht auf
das Denken und Fühlen, auf Erinnern, Vergessen, Wahrnehmen und Handeln
hat sich im Lauf der Zeit durch neue Erkenntnisse der Gehirnforschung immer
wieder gewandelt. Das Gedächtnis wurde lange Zeit für ein untrügliches
Archiv gehalten, eine Art Computer, in dem Erlebnisse und Ereignisse
gespeichert werden, die es nur abzurufen gilt. Dass es sich hierbei um einen
Irrtum handelt, beweist die Existenz multipler Gedächtnissysteme, die von
unterschiedlichen Orten des Gehirns aus eine Vielzahl an Verbindungen
zwischen den Nervenzellen aufbauen und auf diese Weise miteinander
kommunizieren.
Das Gedächtnis weiß nicht nur mehr, als uns bewusst ist, sondern es ist
zudem auch noch erfinderisch.
Die Bedeutung der emotionalen Rückkopplung des Denkens an den
Körper wurde lange Zeit in der Wahrnehmung wie auch in der Forschung
vernachlässigt. Das ist mit Sicherheit der bedeutsamste Aspekt, da wir ohne
diese emotionale Bewertung nicht in der Lage wären, Entscheidungen
zu treffen. Das wird deutlich, wenn wir verbale und non-verbale
Kommunikation auf ihre Wirksamkeit hin betrachten. Denn Gefühle lassen
sich verstärken, wenn sie durch die passende Mimik ergänzt werden, wie
Darwin 1872 feststellte, denn „wer seinen gewalttätigen Gesten freien Lauf
lässt, wird seine Wut verstärken.“ Aber ein Gesichtsausdruck verstärkt nicht
nur das Gefühl, er kann das Gefühl auch erst auslösen, was Mitte der 70er
Jahre bewiesen wurde.
Trotz der frühen Erkenntnisse Darvins waren die Auswirkungen des
cartesianischen Menschenbilds die letzten dreihundert Jahre auf das
wissenschaftliche Denken wirksam und zeigen sich heute noch.
Die lange Tradition in der Beschäftigung mit dem Gedächtnis erscheint mir
für das Nachzeichnen der Gedankengänge so aufschlussreich, dass ich hier,
die mir wichtig erscheinenden Inhalte, anführen werde:
Gedächtnis und Medien gelten beide als Erinnerungsträger.
Platon, Phaidros 274C - 275B. Nach Yates S.42 f.
vgl. Antonio R. Damasio. Ich fühle also bin ich. München 2002.
Darvin nach David G. Myers.Psychologie. Heidelberg 2005. S.549
Das wird schon in der doppelten Bedeutung des lateinischen memoria als
Erinnerung und Gedenkschrift deutlich. Von Anfang an, das heißt, seit der
Erfindung der Wachstafel,„wird menschliches Erinnern und Vergessen in
Begriffen beschrieben, die man künstlichen Gedächtnissen entliehen hat.“
Die erste mir bekannte Quelle über das Gedächtnis ist Platons Dialog über
Erkenntnis und Wahrheit, in dem Sokrates zu dem jungen Theaitet über
die Beschaffenheit des individuellen Erinnerungsvermögens spricht. Er
vergleicht das Gedächtnis mit einer Wachsmasse, die je nach Konsistenz und
Reinheit des Materials mehr oder weniger fähig ist, die Abdrücke der Dinge
aufzunehmen. Dieser Wachsblock, sagt Sokrates (um 470-399v.Chr.), hat die
Mutter der Musen den Menschen als Geschenk in die Seele gelegt.
Obwohl Platon über Erinnern und Vergessen schreibt, erwähnt er die
Gedächtniskunst nicht.
„Und woran immer wir uns erinnern wollen, von dem,
was wir gesehen, oder gehört oder auch selbst gedacht
haben, das drücken wir in dieses Wachs ab, indem wir
es unter die Wahrnehmungen und Gedanken halten,
wie beim Siegel den Ring. Was sich nun abdrückt,
daran erinnern wir uns und wissen es, solange sein
Abbild vorhanden ist. Wurde dies aber gelöscht oder
konnte es auch gar nicht eingedrückt werden, so
vergessen wir die Sache und wissen sie nicht.“
Platon (427-347v.Chr.) im Theaitet. In der Übersetzung von Friedrich
Schleiermacher. Frankfurt 1979. S.110 -123.
1. Die Mnemotechniken von der Antike bis zur Aufklärung
Die Begriffe Mnemotechniken und Mnemotik sind von Mnemosyne, der
Mutter der neun Musen und Göttin des Gedächtnisses abgeleitet und
werden als übergeordnete Termini für jede Form der Gedächtniskunst
gebraucht. Sie ist eine fast vergessene Tradition, mit deren Hilfe das
Erinnerungsvermögen gesteigert werden kann. Mit Regeln, Kniffen und
Tricks, wie den uns bekannten Eselsbrücken wird das Gedächtnis unterstützt
und leistungsfähiger gemacht.
Wie viele andere Künste auch, wurden die Mnemotechniken von den
Griechen überliefert und von den Römern weitervermittelt. Von Rom aus
nahmen sie dann ihren Weg durch die europäische Geistesgeschichte.
Frances A. Yates beschreibt diese Entwicklung in ihrem Buch Gedächtnis und
Erinnern sehr ausführlich.
Mnemotechnik ist ein aus dem griech.
mném und téchn - Erinnerung und Kunst
zusammengesetztes Kunstwort, das seit dem
19. Jahrhundert für ars memoriae und ars
reminiscentiae Gedächtniskunst benutzt wird.
Im 18. Jh. wurde meist Mnemonik verwendet,
das vom griechischen mnëmonikë – das
Gedächtnis betreffend – kommt und ebenfalls
die Kunst meint, mit geeigneten Mitteln wie
durch Assoziationen das Gedächtnis zu schulen
Douwe Draaisma. Die Metaphermaschiene. Darmstadt 1999. S.33
Frances Amalia Yates. Gedächtnis und Erinnerung. Mnemotechniken von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin
und Weinheim, 1990. S.37. Eigene Anmerkung: Das hängt wahrscheinlich mit der negativen Einstellung Platons
den griechischen Rednernund und Sophisten zusammen, die er beschimpft, da sie alle ethischen Kathegorien
relativierten, das Recht des Stärkeren predigten und Schüler durch Schmeicheleien anlockten. Durch die Kritik
Platons wurde „Sophist“ später oft als Schimpfwort gebraucht. Vgl. Einleitung zu Cicero. De Oratore.
Erato, die Muse der Liebesdichtung, der Lyrik,des Gesangs und des Tanzes; Euterpe, die Muse der Tonkunst,
der lyrischen Dichtung und des Flötenspiels; Kalliope, die Muse des Epos Wissenschaft und Elegie; Kilo, die
Muse der Heldendichtung und Geschichtsschreibung; Melpomene, die Muse der tragischen Dichtung und des
Trauergesangs; Polyhymnia, die Muse der Hymnendichtung, des Tanzes, der Pantomime und der Geometrie;
Terpsichore, die Muse der Chorlyrik und des Tanzes; Thalia auch eine der drei Grazien und Muse der kosmischen
Dichtung und der Unterhaltung; Urania, die Muse der Sternkunde.
10 Abb. 2 : Die Neun Musen. auf einem römischen
Sarkophag. 2./3. Jht. n. Chr.
„...vielleicht ist sogar nichts unheimlicher an der
1.1. Das künstliche Gedächtnis in der Antike
ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine
Mnemotechnik. „Man brennt etwas ein, damit es im
Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu
tun, bleibt im Gedächtnis“ – das ist ein Hauptsatz
aus der aller ältesten (leider auch allerlängsten
Psychologie auf Erden“ Nietzsche. 5. S. 295
Abb. 3 : Bildnis eines Menschen an einem
Gedächtnisort. Holzschnitt . Die zum memorieren
ausgewählten Orte sollen den menschlichen
Proportionen entsprechen. Diese Regel entspricht
den klassischen Empfehlungen für die loci , die nach
dem Ad Herennium hell, und nicht zu groß und
.nicht zu klein sein sollen. „Diese Regel entwickelte
sich aus dem künstlerischen Gefühl für Raum ,
Licht, Entfernung, das vielleicht Giottos gemalte loci
beeinflußt haben könnte.“ Yates S. 111
Im vorsokratischen Zeitalter lebte ein, wegen seiner besonderen Bildsprache
bewunderter, lyrischer Dichter namens Simonides von Keos.
Der griechische Dichter Simonides war beauftragt bei einem Gastmahl zu
Ehren des Gastgebers Skopas ein Gedicht vorzutragen. Da aber auch der
Ruhm der beiden Zwillingssöhne des Zeus Kastor und Pollux besungen
wurde, weigerte sich der Faustkämpfer Skopas, den vereinbarten Preis für das
Loblied zu bezahlen. Er bezahlte die Hälfte und verwies den Dichter an die
Zwillingsgötter, die den Rest begleichen sollten.
Simonides wurde wenig später die Nachricht gebracht, draußen warteten
zwei junge Männer auf ihn. Als er vor die Tür trat, war niemand zu sehen. Im
selben Augenblick brach hinter ihm das Dach des Festsaals ein und begrub
die gesamte Gesellschaft unter sich. Doch hätte sich Simonides nicht daran
erinnert, wie die Gäste bei Tisch gesessen hatten, wären die verunstalteten
Leichen nicht von ihren Angehörigen zu identifizieren gewesen.
So führte Simonides nicht nur die Bezahlung von Dichtkunst ein, und brachte
seinem Beruf mehr Achtung und Ansehen ein, sondern formierte auch die
Technik der Gedächtniskunst. Die Ars memoriae galt Jahrhunderte lang
mit ihren komplexen Methoden und Inhalten als Mittel zu Steigerung des
Erinnerungsvermögens.
Die Geschichte, wie Simonides Gedächtniskunst erfand, wird in Ciceros
berühmten Werk De oratore erzählt.
Im zweiten Buch seiner Rhetorik behandelt er das Gedächtnis und leitet mit
dieser Geschichte eine kurze Beschreibung der Mnemonik ein.
Römische Redner, Anwälte und Senatoren nutzten diese Technik, ihre langen
und komplexen Vorträge im Gedächtnis zu behalten.
Sie trainierten die Fähigkeiten ihres Gedächtnisses, indem sie eine
Reihenfolge von Orte (loci) visualisierten, wie beispielsweise eine Abfolge von
Zimmern in einem Haus. In der gewünschten Reihenfolge wurden dann die
zu behaltenden Inhalte als Bilder den Räumen zugeodnet.
Mit dieser sogenannten Gebäude-Metapher oder auch Loci-Methode ist
der Sprechende im Stande, das in Bildern gespeicherte Faktengedächtnis
wieder zu beleben, indem er die Räume in Gedanken abgeht und an jedem
Cicero. De Oratore. Stuttgart 2003. II, 352
ibidem II, 351-354
11
eingeprägten Ort das entsprechende Pfand einfordert. Auf diese Weise kann
er sein Sachwissen im richtigen Augenblick anbringen.
Um das Wortgedächtnis zu erweitern, wird diese Technik in komplexerer
Ausführung angewandt. Als Bilder sollen menschlichen Gestalten, imagines
agentes mit auffälligen und ungewöhnlichen Zügen ausgesucht werden,
die gleichzeitig eine Klangähnlichkeit zum einzuprägenden Wort aufweisen
sollten. Dieses Prinzip erinnert an die uns gebräuchliche Eselsbrücke, bei der
uns völlig absurde zufällige Assoziationen auf die Sprünge helfen können. Die
klassische Form ist eine Systematisierung dieses Vorgangs.
Auf dem Höhepunkt der Rhetorik zwischen erstem Jahrhundert vor und
erstem Jahrhundert nach Christus entstanden die drei wichtigsten uns
überlieferten Quellen zur antiken Gedächtniskunst, nämlich De oratore von
Cicero, die Institutio oratoria des Quintilian und die Rhetorica Ad Herennium
eines unbekannten Autors, die bis ins 15. Jahrhundert fälschlich Cicero
zugeschrieben wurde. Diese rhetorischen Texte wurden als Lehrbücher in
Rhetorikschulen verwendet.
Die antiken Redner waren darin geübt, das visuelle Gedächtnis, in dem
sich die Malerei und Plastik wieder fand, mit Sach- und Wortgedächtnis
zu verbinden. Das interessante für mich ist dabei, dass die Rhetoriklehrer
der Antike die Funktionen des Gedächtnisses mit imaginierten Bildern
verbesserten, was der heutigen neurologischen Sichtweise nahe kommt.
Es wird von Engrammen gesprochen, die Gedächtnisinhalte repräsentieren,
Außerdem war die Bedeutung der Körpersprache als Überzeugungsmittel
beim Referieren bewusst.
Heute, im digitalen Zeitalter sind wir nicht mehr ausschließlich auf ein
trainiertes Gedächtnis angewiesen. Es gibt nur mehr wenige Redner, die
im Stande sind einen Vortrag völlig frei zu halten. Meist wird vom Skript
abgelesen, vielleicht auch mal Blickkontakt mit dem Publikum aufgenommen,
wenn es sich um einen geübten Referenten handelt, wird schon mal eine
Anekdote frei erzählt. Ausformulierte Reden, PowerPoint-Präsentationen und
digitale Bibliotheken übernehmen die Funktion des Gedächtnisses.
Quintilian erwähnt in seiner Rhetorik einen gewissen Metrodorus von
Skepsis mit einem „beinahe übermenschlichen“10 Gedächtnis11, der seine
vgl. Cicero. De oratoe.
10 Yates S.26
11 Von seinem Werk sind nur Fragmente überliefert. Wegen des uns dank Cicero erhaltenen Anfangs seiner Schrift
12 Das Ad Hernnium ist die einzige vollständige lateinische
Abhandlung über das künstliche Gedächtnis, für die der
unbekannte Autor wahrscheinlich verloren gegangene
griechische Quellen zur Gedächtnislehre heranzog. Jede
weitere Abhandlung der ars memorativa folgt in ihrem
Aufbau, im Inhalt und oft sogar im genauen Wortlaut den
Regeln für Orte (loci), für Bilder (imagines), bei der Erörterung
des Sachgedächtnisses und des Wortgedächtnisses diesem
Hauptwerk. Die loci werden mit Wachstäfelchen verglichen,
die bestehen bleiben auch, wenn das geschriebene gelöscht
wird. Es wird empfohlen sich als Gedächtnisorte wenig
besuchte Gebäude zu suchen, deren loci einen angemessenen
Abstand von einander haben sollten, denn wie das äußere
Auge so ist auch das innere Auge des Denkens schwächer,
wenn der Gegenstand der Betrachtung zu nahe oder zu
weit weg ist. Es gibt zwei Arten von Bildern, eine für Dinge
(res) und eine andere für Wörter (verba). Das bedeutet, dass
das Sachgedächtnis Bilder schafft, die an Behauptungen, an
Vorstellungen oder ein Ding erinnern, das Wortgedächtnis
aber muss Bilder finden, die an jedes einzelne Wort erinnern.
Die Ausführung, wie man dabei vorgehen sollte, würden den
Rahmen dieser Arbeit sprengen, sind aber im Detail bei Yates
(S.14 ff ) zu finden.
Gedächtniskunst auf den Zodiakus, den Tierkreis begründete und damit die
„kosmische Wirkung“ mit dem Gedächtnis verband. Sein auf die Astronomie
begründetes Gedächtnis wurde im Verlauf der Geschichte mehrfach wieder
aufgenommen und weiterentwickelt.
Abb. 4 : Die Sphären des Universums
als
Gedächtnissystem. Es sind verschiedene Sphären
dargestellt, und zwar die der Elemente, der Planeten,
der Fixsterne und darüber die himmlischen Sphären
und die der neun Ordnungen der Engel.
„Unmittelbar bevor im Umbruch der antiken Welt jede organisierte Bildung
zusammenbrach“, beschrieb Martianus Capella die sieben freien Künste
allegorisch in weiblicher Personifikation und bewahrte auf die Weise das
antike Bildungssystem.„Bei der „Hochzeit zwischen Philologie und Merkur“12
erhält die Braut als Hochzeitsgeschenk die sieben freien Künste in weiblichen
Personifikationen. Die Grammatik war eine strenge alte Frau, die ein Messer
und eine Feile trug, um damit die grammatikalischen Fehler der Kinder zu
entfernen. Die Rhetorik war eine hoch gewachsene schöne Frau, die ein
reich mit Redefiguren geschmücktes Gewand trug sowie Waffen, mit denen
sie ihre Gegner verwunden konnte. Die Personifikationen der freien Künste
entsprechen erstaunlich genau den Regeln des künstlichen Gedächtnisses
– auffallend hässlich, oder schön, mit sekundären Bildern,“ die durch diese
Attribute an ihre Aufgaben erinnern.
Mit dem Niedergang des römischen Westreiches im fünften bis sechsten
Jahrhundert verschwand auch das Bildungssystem, das auf den sieben freien
Künsten beruhte. So hatte die Rhetorik und mit ihr auch die Gedächtniskunst
ihre Anwendung verloren.
1.2. Die Gedächtniskunst hinter den kulissen im Mittelalter
Die Stimmen der Redner verstummten, als sie von den ‚Barbaren’ von der
Straße vertrieben worden waren und die Gelehrten zogen sich in die Klöster
zurück.
Karl der Große führte das, auf die sieben freien Künste beruhende antike
Bildungssystem im neuen Römischen Reich ein, zu dessen Kaiser er im Jahre
800 von Papst Leo III. gekrönt wurde und leitete damit die karolingischen
Renaissance ein. Auf seinen Ruf hin kamen einige bedeutende Gelehrte
Peri physeos (Über die Natur) wird er gelegentlich als Wegbereiter der Pyrrhonischen Skepsis angesehen: „niemand
unter uns weiß etwas, nicht einmal eben das, ob wir wissen oder nicht wissen.“ http://de.wikipedia.org/wiki/
Metrodoros_von_Chios
12 In Martianus’ Werk über die sieben freien Künste – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik
und Astronomie – werden sie in romantisch allegorischer Form dargestellt. Yates S. 59
13
seiner Zeit an seinen Hof. Unter ihnen Alcuin, der einen anschaulichen Dialog
schrieb, in dem Karl der Große ihn über die fünf Teile der Rhetorik und über
das Gedächtnis befragt, das er „für den edelsten Teil der Rhetorik“ hielt. Doch
Alcuin kannte scheinbar nur dürftig die Quellen zum künstlichen Gedächtnis
und empfahl für seine Verbesserung außer „Übung beim Auswendiglernen,
Praxis beim Studium“ nur noch „das Meiden von Trunkenheit.“ Doch
das Hauptziel der karolingischen Bildungsreform war nicht allein die
Wissenssteigerung. Die sieben freien Künste stellten für Karl den Großen die
sieben Stufen zu seinem großen Ziel eines Gottesstaates, dem imperium
christianum dar, einem Reich, das den Glanz des alten Athen, Rom und
Jerusalem bündeln und noch überstrahlen sollte.
Ein halbes Jahrhundert später trugen gebildete Dominikanermönche,
wie Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin wesentlich zur
Erneuerung und Wiederbelebung der Gedächtniskunst bei. Die Bedeutung
der Scholastiker „markiert einen wichtigen Punkt in ihrer Geschichte, einen
Höhepunkt in ihrer Wirkungsgeschichte.“13
Der mittelalterliche Theologe und Philosoph Thomas von Aquin führt die
Verschmelzung der Lehren Ciceros mit der aristotelischen Theorie seines
Lehrers fort und systematisierte die aristotelische Philosophie derart, dass sie
für Theologie und Philosophie für Jahrhunderte nutzbar wurde.14
Er machte die Gedächtniskunst für die Religionsausübung anwendbar. Die
vormals von einer kleinen Gruppe von Politikern und Juristen angewandte
Kunst, wird nun von Mönchen und Theologen verwendet, und wird auf diese
Weise mit der Liturgie verbunden.
Thomas von Aquin soll für Papst Urban IV. einen Kommentar der vier
Evangelien aus dem Gedächtnis herunter geschrieben haben. Die Texte, die
er dazu benötigte, hatte er während seines Aufenthalts in anderen Klöstern
gelesen und auswendig gelernt.
Einige seiner Klosterbrüder hatten während des lange andauernden
Heiligsprechungsprozess erzählt, er wäre durch sein immenses
Erinnerungsvermögen im Stande gewesen, vier Sekretären gleichzeitig
unterschiedliche Texte zu diktieren, „auswendig und ohne zu suchen:
‚Er schien seinem Gedächtnis schlichtweg aufzutragen, seine Schätze
herausströmen zu lassen.’ Traf er ein Problem, wandte er sich im Gebet nach
innen, um nach seiner Rückkehr an den Schreibtisch zu bemerken, dass seine
13 Yates, S.75
14 Meyers
14 Abb. 5 : Summa contra gentile de Saint Thomas
d’Aquin. Florence 1521.
Thomas v. Aquin (1225-1274) entwickelte in seinem
Hauptwerk Summa Theologica als Höhepunkt der
Scholastik, eine globale Synthese von Glauben und
Wissen, Offenbarung und Vernunft, Gnade und
Natur- bzw. Schöpfungsordnung, Übernatur und
Natur, Theologie und Philosophie. Nachdem seine
Lehre mehr als 30 Jahre verboten war, wurde sie
1309 zur Ordensdoktrin des Dominikanerordens.
Die Heiligsprechung (1323) und seine Erhebung
zum Kirchenlehrer (1567) steigerte die Wirkung
seiner Lehre auch institutionell.
Meyers. Grosses Universal Lexikon . Mannheim 1985
Gedanken so klar vor seinem Geist standen, ‚als nähme das Wissen in deiner
Seele immer zu. Wie sich beim Schreiben eines Buches Seite zu Seite fügt.’“15
In seiner memoria unterscheidet Thomas Wiedererinnerung nicht im
intellektuellen Teil und das Gedächtnis im sinnlichen Teil der Seele,
sondern schreibt beides der Seele zu. Er begründet dies in ähnlicher
Weise wie Aristoteles, der die Verbesserung des menschlichen
Wahrnehmungsvermögens durch körperhafte Sensibilisierung betont.16
Der niederländische Psychologiehistoriker Douwe Draaisma nennt Thomas
von Aquin den Hohenpriester des Hermetismus17, der die Mnemotechniken
der Antike zur religiösen Erbauung nutzte, indem er sie neu systematisierte
und in hoch ikonologischer Sprache auf die Gleichnishaftigkeit der Heiligen
Schrift anwendet.
In seiner ersten Regel bezieht sich Thomas auf
das Ad Herennium, doch aus den dort erwähnten
auszuwählenden ungewöhnlichen und auffallenden
Bildern macht er „körperhafte Gleichnisse“, die in
Verbindung mit Bildern verhindern sollen, daß„geistige
und einfache Intentionen der Seele leicht entgleiten.“
Er weist ausdrücklich darauf hin, daß die Gleichnisse
nicht zu vertraut sein sollten, „denn wir erstaunen mehr
über unvertraute Dinge.“ Interessant scheint mir auch
seine Formulierung im folgenden, dass „die Seele von
ihnen stärker und heftiger festgehalten“, - nicht wir
halten die Dinge fest sondern die Seele wird von ihnen
gebunden – „deshalb erinnern wir uns auch besser an
Dinge, die wir in der Kindheit gesehen haben.“
Vgl. die vier Vorschriften des Gedächtnisses von Th. v. Aquin im Anhang.
Yates S. 72, 73
Abb. 6 : Die Weisheit .Thomas von Aquins. Fresko von Andres da Firenze. Florenz. Das Fresco wird auch als Triumpf des Thomas von Aquin bezeichnet, der in mitten von vierzehn
Figuren sitzt, die sein gewaltiges Wissen als „Bildvorstellungen, den sieben freien Künsten“ und
sieben weiteren verkörpern. Yates bringt die Darstellung mit der Gedächtniskunst in Verbindung
und vermutet, dass das Fresco auch auf Thomas‘ „Methode des Memorierens anspielt“. Yates S.114
15 Douwe Draaisma. Die Metaphermaschiene. Darmstadt 1999. S.41
16 Yates S.39
17 Der Hermetismus geht nach einem mittelalterlichen Mythos auf das Corpus Hermeticum, das Werk eines
ägyptischen Priesters Hermes Trismegitos zurück, das eine Sammlung griechischer Schriften aus der Zeit zw. 100
und 300 n.Chr. beinhaltet.
15
Die mittelalterliche Anwendung des Memorierens zielte also auf die
persönlichen Erbauung und das »Heilwerden« durch eine moralisch angewandte
Gedächtnissteigerung. Sie ging also nach innen, während die antike
Gedächtniskunst in die Öffentlichkeit gerichtet war.
Eine ganz andere Anwendung der Mnemonik ist das System des Ramon Lullus.
Sie kommt nicht aus der klassischen rhetorischen sondern aus der philosophischen Tradition. Er begründet seine Kunst auf die Namen und Attribute Gottes
gemeinsamer religiöser Begriffe aus Christentum, Judentum und Islam.
Diese »mystisch-occulte« Anwendung war in der Renaissance sehr populär.
Interessant ist für mich hier das Bedürfnis, die gesamte Welt in einem
abstrahierten System zu fassen und für das Gedächtnis nutzbar machen zu
wollen.
Abb. 7 : Die Leiter des Aufstiegs und Abstiegs.
Mit Hilfe der lullischen Methode sollte man
bis zur Trinität an der Spitze auf der Leiter der
Schöpfung durch jede Ebene bis zur Weisheit
aufsteigen können.
Kombinationsfigur. Die einzelnen
Abb. 8 : A) Das „A“-Diagramm. Es handelt sich hier B)
um eine mystische Figur der ars combinatoria Buchstabenkreise sollen auf drehbaren
in ihrer einfachsten Form bestehend aus den Segmenten angeordnet sein.
geometrischen Figuren Kreis, Dreieck und Quadrat
in ihrer kosmischen Bedeutung Elemente, Himmel
und Göttlichkeit.
Die Buchstaben B bis K entsprechen den astrahierten Attributen Gottes: bonitas magnitudo,
eternitas, potestas sapientia voluntas virtus veritas gloria
Von nun an ersetzen die Medien immer mehr das künstliche Gedächtnis.
Buchillustrationen, Zeichnungen, Emblemen und Bilder dienen dazu, das
Gedächtnis für den Zweck der Frömmigkeit zu schulen.
Der deutsche Dominikaner Johannes Romberch sammelte Anfang des
16.Jahrhunderts in seinem kleinformatigen Buch Congestorium artifisciose
memorie 18 allerlei sonderbares Material zum künstlichen Gedächtnis, das er nach
18 Johannes Romberch. Congestorium artifisciose memorie. 1533. Romberch verwendet für sein Buch die drei klassischen
16 „Lullus war kein Scholastiker er war ein Platoniker,
und in seinem Versuch, das Gedächtnis auf die
göttlichen Namen zu gründen, die dem nahe
kommen, was er sich unter platonischen Ideen
vorstellte, steht er der Renaissance näher als dem
Mittelalter.“ Yates S.164 ff
In der Renaissance setzte sich der „Lullismus als
der modischen Philosophie zugehörig durch und
wird den verschiedenen Aspekten der hermetischkabbalistischen Tradition assimiliert.“ In Verbindung
mit der Astrologie ergibt sich aus der Kombinatorik
„eine Art menschenfreundliche Astralmedizin“,
diese »Lullische Medizin« gilt laut Giordano Bruno
als Grundlage für die Medizin des Paracelsus.
Yates S.163 ff.
drei verschiedenen Orts-typi gliedert. Für den ersten Typus steht die
Metapher des Kosmos.
Als zweiten Typus schlägt Romberch das metrodorische System der
Zodiakalorte als leicht zu memorierende Reihung von Orten vor. (Abb.3)
Der dritte beschreibt die klassische loci-Methode in Verbindung mit der
alphabethischen Reihung. (Abb.3)
Abb. 9 : Gedächtnissystem mit Abtei. . Diese Abtei
mit Nebengebäuden sollten als Gedächtnisorte
gebraucht werden. Hier konnte das zu memorierende
Material, wie Psalmen oder liturgische Formeln
assoziiert werden.
„Im 12. und 13.Jahrundert bildete
sich neben der monastischen eine
scholastische Tradition heraus.“19 Die
Spannung zwischen dem Anfang eines
organisierten Bildungssystems und der
mittelalterlichen Rechtsprechung mit ihren
unvorstellbar grausamen körperlichen
Strafen und ihren traumatisierenden
Auswirkungen auf das kollektive
Gedächtnis ist es, was ich an dieser Stelle
kurz streifen möchte.
Besonders interessant ist hier der
Abb. 11 : Die Buße als Gedächtnisbild
Vergleich der Höllendarstellung als
war dazu gedacht sich die Sünden, die
Gedächtnisbild mit Dantes Inferno, das als auf die Bänder der Geißel geschrieben
poetische Umsetzung einer Verbildlichung sind, besser zu merken.
der Hölle mittels des künstlichen Gedächtnisses angesehen werden kann.
Als loci sind die Höllenkreise gewählt, in denen die Sünder ihre gerechten
Strafen erhalten. Sie erinnern den Gläubigen auf eine körperlich eindringliche
Art, welche Strafen ihm blühen, wenn er sich nicht an die göttlichen Gesetze
hält.
Abb. 10 : Diese Bildalphabethe sollten in dem
Gedächtnissystem mit Abtei verwendet werden.
Aus Ordnungsgründen ist über jedem fünften
Bild eine Hand und bei jedem zehnten ein Kreuz
gezeichnet. Die Gegenstände stehen mit den Orten
in Verbindung..
Die Göttliche Komödie (1307-21) des mittelalterlichen Staatsmanns,
Philosophen und Dichters Dante Aligheri gilt als größtes christliches
Weltgedicht. Es verknüpft Geschichte mit Transzendenz, Zeitlichkeit mit
Zeitlosigkeit und wird als „Summa“ des Mittelalters bezeichnet. In hundert
Quellen: Ad Herennium, De Oratore und Quincilian. Die Basis seiner Systematisierung geht auf „Formulierungen
der Summa von Thomas von Aquin und dem Aristoteles-Kommentar“ zurück. „Das Buch hat vier Teile: einen ersten
einleitenden, einen zweiten über Orte, einen dritten über Bilder und einen vierten Teil, der ein enzyklopädisches
Gedächtnissystem umreißt.“ Yates S.109
19 Daarisma. S.45
17
Gesängen es schildert gleichnishaft die Wanderung der Seele auf dem Weg
der Unwissenheit und Sünde über Reue und Erkenntnis zum Heil.
Die menschliche Erfahrung gipfelt in der mystischen Erfahrung der
Gottesvision.
Die Bestrafung entsprach im Mittelalter den begangenen Verbrechen,
die den Ständen entsprechen ausfielen. Sie wurden als Teile des
Gemeinschaftskörpers angesehen. So wurde ein Adeliger, der metaphorisch
als Haupt des Gemeinwesens angesehen wurde, geköpft. Das Volk jedoch,
das den Körper symbolisiert, wurde am Körper bestraft.
Die Frage, welche Spuren körperlichen Strafen der vorbürgerlichen Zeit im
kollektiv-kulturellen Gedächtnis hinterlassen haben, wird im Rahmen des
philosophisch betrachteten Gedächtnisses noch einmal auftauchen.
Im Wesentlichen ist die Veränderung des künstlichen Gedächtnisses
zwischen Mittelalter und Renaissance durch eine Veräußerlichung der einst
imaginierten Bilder und Orte gekennzeichnet. In den Klöstern entstehen
Bibliotheken und die Mönche kopieren und illustrieren kunstvoll Bücher. Die
Befruchtung der bildenden Künste durch die in der Mnemonik angewendete
Bildimagination zeigt sich hier erstmals.
Abb. 12 : Die Hölle als künstliches Gedächtnis ist in
elf Orte geteilt. In der Mitte steht ein Feuerbrunnen
zu dem drei Stufen hinaufführen, auf denen Ketzer,
jüdische Ungläubige, Götzenanbeter und Heuchler
ihre Strafen erleiden. Ringsum die Stufen befinden
sich sieben weitere Orte entsprechend den sieben
Todsünden:. superbia - Hochmut, avaritia -Geiz,
invidia - Neid, ira - Zorn, luxuria - Wollust, gula Völlerei, acedia - Trägheit.Dantes Inferno ist
die literarische Veranschaulichung dieses künstlichen
Gedächtnisses..
1.3. Die äussere Form des Gedächtnisses in der Renaissance
In der Renaissance entstand, im Unterschied zum Mittelalter, ein
diesseitsbezogenes Welt- und Menschenbild. Zahlreiche wichtige
Erfindungen wie etwa der Buchdruck von Gutenberg, der 1456 die erste
gedruckte Bibel heraus gab, brachten weit reichende Veränderungen mit sich.
Philosophen und Mystiker wie Guillo Camillo, Giordano Bruno oder Pierre
de la Ramèe versuchen mit Hilfe der mnemonischen Ordnungsregeln
enzyklopädisches Weltwissen zu speichern, das sich in dem von Gott
geschaffenen Universum widerspiegelt.
Diese Enzyklopädien sollten die von Gott gegebene Bedeutung der Natur
erfassen. „Die Mnemotechniken der Renaissance sind nicht mehr bloß
Werkzeuge, sondern verstehen sich als kosmische Weisheit, als organische
imago mundi.“ 20
Gleichzeitig tauchten „moderne Strömungen in der humanistischen
Gelehrsamkeit und Erziehung“ auf, die der Gedächtniskunst feindselig
20 Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München & Wien 1992, S. 85.
18 Abb. 13 : Das Paradies als künstliches Gedächtnis. ist
von einer mit Edelsteinen besetzten Mauer umgeben.
Im Zentrum steht der Thron der Apostel, Patriarchen,
Propheten, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen, der
Heiligen.
Abb. 14 : Gedächtnissystem nach Giordano Bruno, Auf
Brunos sich drehenden Scheiben sind die Kreise sind
in 30 Hauptsegmente mit jeweils fünf Abschnitten
eingeteilt. 150 Erfinder werden genannt unter ihnen
auch Simonides und Philolaus, auf den „in Brunos
Werk als auf einen Vorläufer des Kopernikus ständig
verwiesen“ wird (Yates S.203). Die Inschriften sind kaum
lesbar. Das macht aber nichts, meint auch Yates, „denn
wir werden diese Sache im einzelnen nie verstehen.
Der Plan soll nur eine Vorstellung von der allgemeinen
Anordnug des Systems vermitteln, und auch von
seiner abschreckenden Komplexität.“
Yates S.195
gegenüber standen. Der führende humanistische Denker Erasmus von
Rotterdam vergleicht die entartete Tradition mit Spinnweben, die den
Mönchen aus den Köpfen gekehrt werden sollte. Die Regeln wurden immer
detaillierter, alphabetische Listen und Bildalphabete wurden zunehmend
trivial eingesetzt. Yates gewinnt beim Studium der Traktate „oft den Eindruck,
die Gedächtniskunst sei zu einer Art Kreuzworträtsel als Zeitvertreib für die
langen Stunden im Kloster verkommen. ... Buchstaben und Bilder werden zu
einem kindischen Spielzeug. “21
Doch die Neuplatoniker der Renaissance teilten die ablehnende Haltung
mancher Humanisten dem Mittelalter gegenüber nicht. Genauso, wie die von
Aristoteles beeinflussten Scholastiker des Mittelalters die mnemonischen
Traditionen wieder aufgriffen, tat es jetzt die neuplatonische Philosophie mit
ihrem Hermetismus.
Giordano Brunos Gedächtnissystem gilt trotz seiner Erläuterungen als eines
der unergründlichsten der Mnemonik. Es beinhaltet das gesamte Universum
als Mikro und Makrokosmos und funktioniert durch Magie.
Brunos Kombination der klassischen Gedächtniskunst mit dem Lullismus
sollte, wie Yates es annahm, als magisch-mechanische „Denkmaschine“
funktionieren.
Hatte Bruno (* 1548 † 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen in Rom) die
Absicht mit Hilfe sich ständig verändernder Kombinationen der Astralbilder,
mit einer „Art Alchemie der Vorstellungskraft,“ einen innerseelischen „Stein
der Weisen“ zu bilden, um „die ganze Geschichte des Menschen“ und
„alle seine Entdeckungen, Gedanken [und] Philosophien“22 zu erinnern?
Brunos Annahme, die Astralkräfte, die die äußere Welt regieren, seien
auch im Inneren wirksam und könnten dort zur Aufrechterhaltung eines
magisch-mechanischen Gedächtnisses reproduziert oder eingefangen
werden, erinnert... an eine Denkmaschine, die mit mechanischen Mitteln
weitgehend die Arbeit des menschlichen Gehirns verrichten kann.“ Yates S.
205 „Die Renaissance-Vorstellung von einem animistischen, durch Magie
funktionierenden Universum“ hat der Überzeugung von einem „mechanisch,
mathematisch“ funktionierendem Universum den Weg bereitet.23 . Giordano
Bruno wagte sich weit vor in die Unendlichkeit des Universums und bezahlte
dies mit seinem Leben.
Abb. 15 : Holzschnit Atmosphäre.
21 Yates S.115 f.
22 Yates S.204 f.
23 Yates S.205
19
Giulio Camillos Gedächtnistheater war ein aussichtsloser Versuch, dieses
enzyklopädische Weltwissen räumlich zu speichern und anwendbar zu
machen. Doch ist das Vorhaben, die Mnemonik zu einer Enzyklopädie, also zu
einem kosmologischen Abbild der Wirklichkeit zu machen, unermesslich ja
sogar utopisch. Diesem hohen Anspruch konnte auch Camillo nicht gerecht
werden. Denn dann müsste „auf der Inhaltsebene der ganze Bau des Kosmos
stehen und auf der Ausdrucksebene ein korrespondierendes Labyrinth von
loca und Bildern. Obgleich bleibt diese globale Kompetenz, obwohl sie
vorausgesetzt wird immer nur virtuell.“24
Wigle von Aytta (Vigilius Zuichemus) schrieb an Erasmus ein gewisser Camillo sei in aller Munde und
habe ein Theater von wunderbaren Fähigkeiten errichte, „dass jeder, der als Zuschauer eingelassen
wird, über jedes Thema nicht weniger gewandt disputieren kann als Cicero. ... man sagt, dieser Architekt
habe an bestimmten Orten gesammelt, was immer über jedweden Gegenstand bei Cicero gefunden
werden kann. ... bestimmte Ordnungen und Stufen sind eingerichtet... mit erstaunlicher Mühe und
göttlicher Geschicklichkeit.“ Wigle besuchte das geheimnisvolle Theater in Venedig und berichtete von
seinen Eindrücken in dem hölzernen Amphitheater und dass die vielen Bilder, Ornamente, Figuren
und kleine Kästchen in „Ordnungen und Zonen“ gegliedert sind und „eine solche Menge Papier, daß
ich, obwohl ich immer gehört hatte, dass Cicero die Quelle der reichsten Beredsamkeit sei, wohl kaum
gedacht hätte, daß in einem Autor so viel enthalten sei. ... Er gibt vor, daß alles, was der menschliche
Geist erfassen kann und was wir mit dem körperlichen Auge nicht sehen können, nachdem es durch
sorgfältige Meditation gesammelt sei, durch gewisse körperliche Zeichen in einer solchen Weise zum
Ausdruck gebracht werden könne, daß der Betrachter mit seinen Augen sogleich alles begreifen kann,
was sonst in den Tiefen des menschlichen Geistes verborgen ist. Und wegen dieser körperlichen
Anschauung nennt er es Theater.“ Erasmus Epistulae, P.S.Allen Hg. IX S.479 nach Yates S.123 f.
Durch den Buchdruck steigert sich die Verfügbarkeit von Büchern und damit
wurden auch Bilder immer mehr verbreitet.
Zwischen 1500 und 1600 verdoppelte sich die Bevölkerung und die
Buchproduktion wurde verzehnfacht. Das Pergament wurde vom Papier
abgelöst und das Buch wurde nach und nach zum Gebrauchsgegenstand.
Die Metapher des Buches als Gedächtnis und Sinnbild für das Beständige
verändert sich. Es wird jetzt mit „Vergeblichkeit und Nichtigkeit des Irdischen“
„zum Vanitassymbol“25 Schon 50 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks
verspottete Sebastian Brandt in seinem Roman „Das Narrenschiff“ das
Sammeln Von ungenützten Büchern, die ein eitler Narr zum Prahlen zu Hause
angesammelt hat. Allmählich verblasste die Ehrfurcht vor dem geschriebenen
Wort, dessen Ausdruck im Mittelalter noch hoch ikonologisch war. Daarisma
spricht von einem „Prestigeniedergang“ der Anfang des 17.Jh. vollzogen war.
„’Wir haben bereits ein enormes Chaos an Büchern. Wir werden darunter
24 Eco 1992. S.84
25 Daarisma S.47
20 Abb. 16 : Das Gedächtnistheater des Giulio Camillo
Delminio. Reconstruktion von Yates. The Seven
Pillars or Solomon´s House of Wisdom Hier sind nach
Sitte der antiken Theatern die unteren Sitze gemäß
der wichtigsten Leute „den sieben wesentlichen
Maßeinheiten zugedacht, nämlich den sieben
Planeten. Hat man diese einmal organisch erfasst
und mit ihren Bildern und Symbolen demGedächtnis
eingeprägt, kann sich der Geist von dieser mittleren
himmlischen Welt in jede Richtung bewegen.“ Yates
S.130
Abb. 17 : Es führt der Narr den Vortanz aus,
der viele Bücher hat zu Haus und
liest sie nicht, versteht nichts draus.
Sebastian Brandt. Das Narrenschiff. Holzschnitt.
1.4. Das enzyklopädische Gedächtnis in Barock und Aufklärung
Abb. 18 : Armillarsphäre mit allegorischen Figuren.
Leibniz als Philosop hatte die Absicht den Glauben
mit der mechanistischen Naturerklärung Descartes’
zu verbinden und führte anstelle von toten Atomen
einfache lebendige Einheiten ein, die sogenannten
Monaden, in der sich das Weltgeschehen in
Unterschiedlicher Form abspielt. Brockhaaus Philosophie.
So ist die Barockpoetik im Grunde eine Reaktion auf das
neue Weltbild, das die kopernikanische Umwälzung mit
sich brachte, und dass dies fast bildlich zum Ausdruck
kommt in der Entdeckung der elliptischen Form der
Planetenbahnen durch Kepler- einer Entdeckung, die
die Vorzugsstellung des Kreises als klassisches Symbol
kosmischer Vollkommenheit in Frage stellt. Und so wie
die Multiperspektivität des barocken Bauwerks den
Einfluß dieser- nicht mehr geozentrischen und damit
nicht mehr anthropozentrischen – Konzeption eines in
Richtung auf das Unendliche erweiterten Universums
verspüren läßt. Eco 1977. S.163
begraben, unsere Augen schmerzen, vom Lesen, unsere Finger vom Blättern’,
schrieb Robert Burton in seiner Anatomy of Melancholy (1621).“ 26
Im 17.-19. Jahrhundert war von Abkehr von Autorität und Tradition,
Hinwendung zum Subjekt und zur vernünftigen Erkenntnis gekennzeichnet.
Das neue kopernikanische Weltbild hatte sich etabliert und veränderte
das Denken. Die Enzyklopädisten wie Diderot, d’Alembert, Montesquieu
und Voltaire versuchten das Weltwissen zu speichern um es für jedermann
zugänglich zu machen.
Gottfried Wilhelm Leibniz war ein universaler Mensch im Sinne der
Renaissance. Er war auch mit der Gedächtnistradition sehr gut vertraut,
kannte die Gedächtnistraktate und wendete nicht nur die klassischen Regeln
an, sonder verfeinerte sie. Sein auf „Adaptionen des Lullismus begründetes
Werk, De arte combinatoria“.. ist der Versuch „ein universales Kalkül zu
erfinden, bei dem Kombinationen von signifikanten Zeichen oder Symbolen
verwendet werden.“
Dieser Versuch ist „zweifellos in der historischen Abstammungslehre von
jenen Renaissance-Bemühungen“27 eines Giordano Bruno zu sehen.
Doch Leibniz setzt für die Symbole mathematische Zeichen in logischer
Kombination ein fand zwar das universales Kalkül nicht, aber dafür erfand er
das Infinitesimalkalkül.
Die Caracteristica sollte mehr als eine Universalsprache, sie sollte ein
„universales Kalkül“ sein mit dem sich alle erdenklichen Probleme
lösen ließen. Wenn alle bekannten Künste und Wissenschaften in einer
Enzyklopädie enthalten wären, könnte das Kalkül auf alle Bereiche des
menschlichen Denkens angewendet werden, sogar religiöse Probleme: „War
man zum Beispiel über das Konzil in Trient nicht einig, würde man nicht
mehr Krieg führen, sondern sich zusammensetzen und sagen, ‚wir wollen es
berechnen’.“28
Der englische Arzt Robert Fludd verband rosenkreuzerischen Mystizismus mit
einer bemerkenswerten technischen Begabung.29
26 Ibidem S.47
27 Yates S.344 ff.
28 Ibidem S.347
29 Heckmann. S.188
21
Er ging von der pythagoräischen Vorstellung aus, dass die Verhältnisse, nach
denen die Welt gebaut ist, die musikalischen Intervalle sind, der hielt gar den
Kosmos selbst für ein Instrument, dessen Griffbrett die Intervalle zwischen
den himmlischen Heerscharen, den Fixsternen, den Planeten und den
Elementen besitze.
1.5. zeitgenössische Tendenzen des künstlichen
Gedächtnisses
Zusammenfassend lässt sich das künstliche Gedächtnis auf einem Weg
der Veräußerlichung verfolgen. Von der methodischen Anwendung in
Rom, führt er über die religiöse Funktionalisierung und die gründlichen
Christianisierung aller Gedächtnissysteme30 im Mittelalter hin zur
Mechanisierung in der Renaissance ist bis zur Elektronisierung heute.31
Das antike Griechenland und Rom waren fast ausschließlich mündliche
Kulturen mit der Wachs- oder Tontafel als Gedächtnisstütze. Heute hat sich
das Verhältnis komplett umgedreht. Fax, Videotext, Email sind sogar auf
traditionell mündlichen Gebieten, wie Politik und Rechtssprechung offizielle
Kommunikationsträger geworden. Es stehen uns extern gespeicherten
Informationen in überwältigender Menge zu Verfügung, die sich über
Netzwerke und computerisierte Suchverfahren abrufen lassenSo hat sich
das künstliche Gedächtnis mit der Verfügbarkeit von Medien verändert
und sie werden auch die zukünftige Entwicklung weiter beeinflussen.
Doch wie haben die einzelnen Gedächtnismetaphern auf unser Denken
gewirkt? Um das Gedächtnis nicht unnötig zu belasten, empfahlen die
meisten Gedächtnistraktate vertraute Gebäude als Ortsmetaphern zu
wählen. Dadurch wurde das Gedächtnis zum „Spiegel“ einer antiken, einer
romanischen und byzantinischen, dann zu einer gothischen und schließlich
zu einer Renaissance-Architektur. Und da die Bilder den alltäglichen Dingen
der jeweiligen Zeit entsprachen, übermittelten sie uns heute einen Eindruck
der dort herrschenden Lebensumstände und ihrer materiellen Welt. Auf
diese Weise wurden die bedeutsamen Dinge im kulturellen Gedächtnis
gespeichert, und wirken so auf unser Bewusstsein.
Wie sich auch Giulio Camillo in seinem Vorhaben ein Gedächtnistheater zu
30 Daarisma S.50
31 Jochen Berns / Hg. Wolfgang Neuber. Mnemonik zwischen Renaissance und Aufklärung. Ein Ausblick. in: Ars
Memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1700. Tübingen 1993. S. 373-385.
22 Abb. 19 : R.Fludd. Orgel .
„Ziel der Mnemotechniken hätte sein sollen, das
Universum der Kunstgriffe auf der Ausdrucksseite
ebenso wie das der zu erinnernden Sachen auf eine
sehr ökonomische Kombinatorik und eine elementare
und unmittelbar einleuchtende Korrelationsregel
zu reduzieren. Statt dessen aber waren die
Mnemotechniken der Renaissance und des Barock
beherrscht vom Dämon der hermetischen Semiose.
Wenn es stimmt, dass es darum geht, eine Form der
loca und der Bilder mit der Form und der Möblierung
der Welt dadurch zu korrelieren, dass man Ketten
homologer Beziehungen festlegt, dann scheint die
Mnemotechnik nicht geeignet zu sein, eine Logik
dieser Ketten zu erarbeiten, und bringt vielmehr eine
Hermetik der Interpretation ins Spiel, für die, weil alles
zur Signatur von allem werden kann, das Spiel der
Korrespondenzen proteisch wird.“
Eco 1992. S.97
Abb. 20 : Im Internetforum:
Ich habe einen Text. Der Text ist
als Hyperlink eingerichtet. In der
Menüleiste definiere ich unter
„Modifizieren“ > „Seiteneigenschaften“
eine Farbe für den Hyperlink. Dann
lege ich 2 andere Farben für „Besuchte Hyperlinks“ und „Aktive
Hyperlinks“ fest. Dann sehe ich mir das Ganze in „Vorschau in
iexplore“ (F12) an. - Funktioniert tadellos. Dann gehe ich zurück
zur Entwurfsansicht und bastle vielleicht noch etwas herum und
sehe mir das Ergebnis neuerlich unter „Vorschau in iexplore“ an.
- Alles da, aber der Farbstatus des besagten Links verharrt noch
immer in der „Besuchte Hyperlinks“-Farbe möchte aber gerne den
„jungfräulichen“ Farbstatus. Wie mache ich das bitte?
errichten in der Komplexität verloren hat, so ging es mir zeitweise auch bei
meinem Vorhaben die Geschichte der Entwicklung der Gedächtnisforschung
zu erfassen. Die schwer überschaubare Flut an Informationen, die aber
durch die digitalen Datenspeicher so leicht verfügbar und nutzbar scheinen,
sowie die ständige Präsenz der abgebildeten Welt über die etablierten
Massenmedien, erfordert ein ständiges Selektieren. Die eigentliche Aufgabe
scheint mir heute nicht mehr das mentale Erinnerungsvermögen zu steigern,
sondern das Konzentrationsvermögen auf das individuell Wesentliche. Das
ist aber nur möglich, wenn der gesamte Organismus daran beteiligt ist.
„Wenn in der Medientheorie zu Recht vom Auflösen oder Verschwinden der
Wirklichkeit gesprochen wird, dann wird die Sehnsucht und das Festhalten
an authentischem Erfahrenen und Erinnertem zu wichtigen kulturellen
Phänomenen.“32
Was ich jedoch erreichen wollte, war, ein positives unbewusstes des Wissens zu enthüllen:
jene Ebene, die dem Bewusstsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil
des wissenschsftlichen Diskurses ist – anstatt über seinen Wert zu streiten und seine
wissenschaftliche Qualität zu verringern zu suchen.
– Foucault
2. Gedächtnis als gesellschaftliches System
Die naturwissenschaftliche Erklärung von Gedächtnis, die
geisteswissenschaft-lichen Aussagen darüber als auch mit solchen, die aus
einer persönlichen Lebenserfahrung heraus formuliert werden, stehen im
folgenden unbewertet nebeneinander. Damit will ich sagen, dass ich keine
der Aussagen einer anderen vor ziehen werde. Jede einzelne versucht die
Fragen aus ihrer Perspektive zu erklären. Der Unterschied besteht allein darin,
dass die Wissenschaft sie, anhand oft mehrfach wiederholter Experimente
und mit ihrer etablierten Terminologie beschreibt. Jeder versucht sich daran
mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und wahrscheinlicht trifft
keiner den Kern absolut.
32 Cordula Meier. Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher.
München 2002. S.13. Cordula Meier weist in diesem Zusammenhang auf die Theorie einer Destabilisierung von
Wahrnehmungsfeldern hin, die es dem Menschen möglich macht, sich in Raum und Zeit zu orientieren. Die
Dynamisierung der Lebens- und Produktionsverhältnisse tragen demnach dazu bei, dass grundlegende Fähigkeiten
des Gedächtnisses und des Raumbewusstseins verkümmern, da der Mensch den extreme schnellen Wechsel von
Eindrücken nicht verarbeiten kann.
Vgl. Paul Virilo. Ästetik des Verschwindens. Berlin 1986, ders.: Der negative Horizont. Bewebung, Geschwindigkeit,
Beschleunigung. München/Wien 1989.
23
2.1. Kollektive Erinnerung und kulturelles Gedächtnis
Das Gedächtnis als gesellschaftliches System aufzufassen ist eine Sichtweise,
die der französische Soziologe Maurice Halbwachs in den 20er Jahren geprägt
hat. Er stellt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Modulatoren von
Erinnerung fest. Kollektive Erinnerung entsteht demnach durch eine Prägung,
die durch gegenseitiges Erinnern hervorgerufene wird.
Die Vielfalt der Medienlandschaften im digitalen Zeitalter hat eine ebenso
nachhaltige Wirkung auf unsere Denkprozesse, wie die Erfindung des
Buchdrucks für den Renaissance-Menschen.
Cordula Meier nennt Vilém Flussers Theorie, in der er einen wichtigen Aspekt
veränderter kognitiver Prozesse nennt und ihn mit dem „Wechsel vom
linearen Denken zum Hypertext“ begründet. Wie schon mehrfach festgestellt,
beeinflusst „jegliche Art der neuen Medien nicht nur das individuelle
Gedächtnis, sondern [auch] die Vorstellungen vom kollektiven Gedächtnis ...
Zudem gehen individuelle Erinnerungen und kollektive Erinnerungen eine
komplexe Verflechtung ein.“33
Zum Thema kollektives Gedächtnis entstand 2000 eine Projekt auf der Basis
der Redewendung Die Ideen sind frei.
Eine Gruppe von vier Münchner Künstlern kommunizierten mehrere Monate
auf comutation.de über das WorldWideWeb mit ihren unbekannten Partnern.
Jeder einzelne Künstler stellte seinem Partner eine Idee zur Verfügung,
die er mit seinen eigenen künstlerischen Mitteln verarbeiten sollte. Die so
entstandenen Arbeiten wurden dann aus dem virtuellen Raum des Internets
in den Realraum der Ausstellung überführt.
Warum ich diese Arbeit hier in diesem Zusammenhang nenne, ist die
Tatsache, dass sich in meiner Erfahrung immer wieder kollektive Themen
zeigen, die an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig bearbeitet werden.
Auch Kunsthistoriker Wolfgang Ulrich griff mit seiner Internetseite
ideenfreiheit.de das Thema auf. Seine Seite ist „zum Austausch und Sammeln
von Argumenten zu Themen aus Ethik, Politik, Wirtschaft und Kultur“34
gedacht.
Die kulturell vermittelten Überlieferungen, die in künstlichen Gedächtnissen
gespeichert sind und die wir aus dem kollektiven Gedächtnis erben, sind Teil
unserer Erinnerungsbilder.
33 Cordula Meier. Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher.
München 2002. S.24
34 http://www.ideenfreiheit.de/index.php ;2001
24 Abb. 21 : comutation.de. lothringer_13 halle..
München 2001.
Abb.22 : Dialogseite von Margarete Hentze, geb.
Drum und Smike Käszner. comutation.de. 09.2000.
Die Kommunikation derr vier Partner konnte im
Internet und später in der Ausstellung mitverfolgt
und kommentiert werden. Ausgehend von einem
Ideentausch, der in Form eines Auftrags an den
Partner weitergegeben wurde, entwickelten sich
unterschiedliche Arbeitsstrukturen unter den Paaren.
Das
Internet
als
Kommunikationswerkzeug
wurde in diesem Projekt genutzt, um einerseits
die vielfälitgen Verarbeitungsmöglichkeiten von
Ideen mit künstlerischen Mitteln zu untersuchen
und andererseits um die Möglichkeiten einer
künstlerischen Zusammenarbeit an konkreten Themen
mit konstruktiver Kritik unter bildenden Künstlern zu
erproben.
Die Internetseite wurde nach etwa einem Jahr wieder
aus dem Netz genommen. .
„Kein Mensch kennt diese real existierende,
menschenunabhängige, aber dem Menschen
zugängliche Wirklichkeit - wir kennen nur
Ausschnitte und handeln entsprechend’, definiert
Watzlawick.“G.Roth
Der Gedächtnisdiskurs läuft auch 10 Jahre nach Assmanns Erklärungen zum
kulturellen Gedächtnis nicht aus. Im Gegenteil – die neuesten Erkenntnisse
der Hirnforschung tauchen in regelmäßigen Abständen in der Tagespresse
auf.
Die neuen Sichtweisen, die sich aus der Weiterentwicklung der
Neurowissenschaften und der gesamten Biologie letzten Jahren ergeben,
sind so immens, dass es schwierig ist, einen Überblick zu bekommen. Obwohl
das Feld für einen Laien kaum zu überblicken ist, versuche ich mich daran,
aus dem Wirrwahr Informationen und Namen für meine Arbeit wesentlichen
Punkte herauszufiltern. Dabei versuche ich mich auf die Erkenntnisse
zu konzentrieren, die zum einen grundlegende Veränderungen für die
menschliche Bewusstseinsbildung mit sich bringen, und zum anderen auf die
Einsichten, die eine Verbindung der physischen und psychischen Funktionen
des Gehirns in Abhängigkeit zum Körper annehmen.
„Das neue biologische Weltbild ermöglicht neue Theorien über das
menschliche Gehirn, die Sinne, die Wahrnehmung und die Wirklichkeit.“35
Roth bezeichnet die Wirklichkeit nur noch als Konstrukt.
Trotzdem versuchen Wissenschaftler, Philosophen und Künstler auf ihre
Weise einer Allgemeingültigkeit von Wirklichkeit immer näher zu kommen.
35 Varela, Maturana, Watzlawick, von Glasersfeld, Roth, Damasio, Lurija und viele andere Wissenschaftler haben mit
ihren Forschungen das „biologisches Weltbild“ verändert, um nur einige Namen aus der einschlägigen Literatur zu
nennen.. So beantwortet der Neurologe Gerhard Roth die Frage, was sich hinter dem veränderten „biologischen
Weltbild“verbirgt in einem Interview mit dem „Trendforscher“ Peter Diehl. in; Geist, Gehirn, Gedankenwelten,
connection Sonderheft, herausgegeben von Lutz Berger, Johannes Holler und Micky Remann..
25
In sozialen Gesellschaften wird die individuelle Interpretation der Wirklichkeit
durch Traditionen ausgeglichen, die gemeinsame Werte der Erinnerungen
evozieren.
Die Wissenschaft versucht nur das mit ihren Mitteln zu beweisen,
was die Menschen schon seit Jahrhunderten kennen.
2.2. Die naturwissenschaftliche Sicht auf das Gedächtnis
So resumiert die Neurologin Hanna Monyer
in etwa unser Gespräch über Körpererinnerung:
2.2.1. eine kleine Geschichte der Gedächtnisforschung36
Bis in die Antike gibt es Belege für Entschlüsselungsversuche der
Gehirnfunktionen. Die experimentelle Hirnforschung begann mit den
grausamen Vivisektionen 500 v. Chr. in Griechenland und reicht bis zu den
schmerzfreien Tomographien der Gegenwart. Besonder Erkenntnisgewinne
sind in der Renaissance oder im 20. Jahrhundert zu verzeichnen. Die späte
Einsicht der Naturwissenschaften, dass Körper und Geist immer als Einheitzu
betrachten ist, interessiert mich hier besonders. Was zu dieser Entwicklung
beigetragen hat möchte ich im Folgenden untersuchen. Sicherlich waren
hierfür auch von Erfindungen Beobachtungs- und Messgeräten für »objektive
Beweiseführung« der Wissenschaften fördernd.
Der Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio macht für die lange
medizinische Vernachlässigung und Nichtbeachtung der Einheit von Körper
und Geist ein verstümmeltes Humanitätsverständnis verantwortlich, das
durch das cartesianische Denken geprägt war.37 Doch denke ich, dass die
Wurzeln dieser Anschauungen schon in der Antike zu finden sind.
Hippokrates gilt als Begründer der Medizin als Erfahrungswissenschaft.
Seine Erinnerung steht bis heute mit einem rational-natürliches Verständnis
von Krankheit und einem hohen ethischen Verantwortungsbewusstsein in
Verbindung. Durch unbefangene Beobachtungen und Beschreibungen der
Krankheitssymtome und einer „kritischen und spekulationslosen Diagnostik“
vertrat er schon vor fast 2500 Jahren einen „organischen Körper- im-GeistAnsatz,“38 der bis in die Renaissance vorherrschte. Hippokrates war der
Meinung, dass alle Sinnesempfindungen nur dem Gehirn zuzuordnen sei. Es
vermittle dem Verstand, das Medium des Denkens sei nicht das Gehirn selbst.
36 Alexander R. Luija. Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Reinbeck bei Hamburg 1992.
Org.1973. S.15
37 Antonio R. Damasio. Descartes’ Irrtum. 2004 Org.1994
38 Damasio S.332
26 Abb. 23 : Albertus Magnus lokalisiert 1260
Empfindung, Vernunft und Gedächtnis in drei
Ventrikeln, Holzschnitt aus
Albertus Magnus.
Philosophia naturalis Im Spätmittelalter definierte
man oft bis zu zehn verschiedene Fakultäten
im Kopf. Diese Lokaliierung der Fähigkeiten
in den Hohlräumen des Gehirns geht auf die
Pneuma-Theorie zurück und hielt sich bis ins 18.
Jahrhundert.
uiniker
Sang
Luft
alt
e
Feu r
Erde
z
hwar e Galle
Sc
nkoliker
Mela
Choleriker
Gehirn
k
n
ke
Schleim
Phlegmatiker
Wasser
Leber
Blut
Denkfähigkeit und Einsicht entsteht, wenn der Mensch durch die Nase Luft in
das Gehirn einziehe. Diese so genannte Pneuma-Theorie prägt die Leib-SeeleProblematik für viele Jahrhunderte.
feu
c
ht
wa
rm
Gelbe Galle
Herz
tro
c
Milz
Abb. 24 Die Vier-Säfte-Lehre wird von Galen auf
seelische Vorgänge angewendet. Sie stellte den
Zusammenhang mit den vier Grundqualitäten
her, die das Weltganze symbolisieren. Ist diefür
jeden Menschen spezifischen Mischung im
Ungleichgewicht (Dyskrasie), dann wird der Mensch
krank. Die Aufgabe des Arztes ist es, die natürliche
Heilkraft durch Diätetik, Pharmakotherapie und/
oder durch Chirurgie anzuregen.
Der griechische Arzt Claudius Galenos (um 129 Pergamon - 200 Rom) war der
bedeutendste Arzt der Antike nach Hippokrates. Er kanonisierte als Syntese
die hippokratische Medizin, die auf einen rein analytischen Ansatz begründet
war, mit der dogmatischen alexandrinischen Tradition, die den körperlichen
Symtomen anatomische Veränderungen zuschrieb. Damit wurde die
Lehre Galens39 bis ins 19. Jahrhundert. zum medizinischen Fundament des
Abendlandes. Nach dem Untergang Roms entwickelten arabische Ärzte wie
Avicenna die Elementenlehre weiter. Durch die Kreuzzüge kam das Wissen
wieder zurück nach Europa und beeinflusste die Medizin des Mittelalters
erheblich. In Spätmittelalter und Renaissance erlebte die Elementenlehre ihre
letzte Hochblüte.
1543 erstellte der berühmte Anatom und Chirurg Andreas Vesalius in
seinem Atlas der Anatomie eine exakte Illustration des Gehirns. Auch der
Universalgelehrte Leonardo Da Vinci bestätigte anhand seiner anatomischen
Studien (ab 1472 ) die auf Aristoteles zurückgehende Lehre vom Sitz der
Abb. 26 : Andreas Vesalius beschreibt in
seinem Buch De Humani Corporis Fabrica, (1543)
die schnelle Entwicklung der anatomischen
Techniken innerhalb rweniger Jahrzehnte.
Abb. 25 : Andreas Vesalius vertrat gegen die
allgemeine Überzeugung die Einstellung, allein die
menschliche Leiche sei als zuverlässiger Weg zur
Erkenntnis des Körperbaus zulässig und erkannte
als Erster, dass sich Galens anatomische Arbeiten
auf Tiere bezogen..
Abb. 27 : Diagramm der Vermögenspsychologie. Von Johannes Romberch 1533
Seele in den Hohlräumen des Gehirns. Diese Ansicht das Herz sei der Sitz des
Willens, der Intelligenz und des Gefühls bis ins 17.Jahrhundert.
Im 18. Jhdt. konnte durch die Erfindung des Lichtmikroskops die Anatomie
des Nervensystems erforscht werden.
39 In seiner philosophischen Abhandlung Über die Aufgaben der Körperteile des Menschen verfolgte Galenos die
Vorstellung, die Ziele Gottes seien durch die Untersuchung der Natur erkennbar. Die Lehre Galenos von den vier
Kardinalsäften und den zugehörigen Kardinalorganen in Beziehung zu dem Kosmos wurden in seinem Wrk Corpus
Hippocraticum publiziert.
27
Abb. 28 : Franz Joseph Galls Auffassung des
Gehirns als der Sitz mentaler Activität. Seine
Karten dienten zur Lokalisierung psychischer
Vermögen, deren besondere Ausprägung,
wie er meinte, durch Erhebungen an der
Schädeldecke zu erkennen sei.
Abb. 29 : Dieser Phrenometer war bis 1907
in Betrieb.. In Amerika war eine vereinfachte
Form der Phrenologie populär und wurde
von den Brüdern Fowler zu einem überaus
lukrativen Geschäft, das auch in Europa
florierte
Der bekannte Anatom Franz Gall (1758-1828) ordnete voller Zuversicht
die menschlichen Fähigkeiten bestimmten Gehirnarealen zu. „Galls
Phrenologische Karten waren jedoch hilflose Versuche, ohne viel empirische
Rechtfertigung, die damals modische Vermögenspsychologie auf das Gehirn
zu projizieren. “ 40
Die Ansicht vom Gehirn als Drüse mit seinen Flüssigkeiten wurde erst 1791
widerlegt, als der italienische Mediziner Luigi Galvani in seinem berühmten
Versuch einen gerade getöteten Frosch an einen Blitzableiter anschloss und
auf diese Weise nachwies, dass Nervenprozesse elektrisch funktionieren.
Was Wissenschaftler auf die Fährte der heute anerkannten Theorien führte,
war der beobachtete Zusammenhang zwischen Kopfverletzungen mit
körperlichen Folgen. Die erste Erwähnung über eine derartige Beziehung
wurde in einer Papyrusrolle von 3700 v.Chr entdeckt41. Auch in der uns
näheren Vergangenheit gab es frühe klinische Beobachtungen derartiger
Verletzungen, wie zum Beispiel eine Läsion des motorischen Kortex, die
Lähmungserscheinungen der kontralateralen Gliedmassen, also der Glieder
der gegenüberliegenden Körperseite zur Folge hatte.
40 Lurija S.14
41 Museum Mensch und Natur. München. Die älteste schriftliche Darstellung des Begriffes Gehirn finden sich
in Hieroglyphen aus dem Papyrus Smith (17. Jahrhundert v. Chr). Die Daten des Papyrus könnten nach Art der
Darstellung auch viel älter sein, d. h. ursprünglich etwa 2500 v. Chr. aufgezeichnet.
28 Abb. 30 : Phrenologische Karten : Gall bezeichnet
die Areale als einzeln von einander abgegrenzten
Organe z.B. als: Das Organ: des Geschlechtstriebes 1,
der Kinder- und Jugendliebe 2, des Kunstsinns 11,
des Raufsinns13, des Mordsinns 14, der Ruhmsucht
und Eitelkeit 18, des vergleichenden Scharfsinns
20 oder als das Organ des Witz 22.
Welch verherende Ausmaße derartige Theorieen
annehmen können, zeigt sich wenn versucht wird sie
straftechtliche anzuwenden wie Ceasare Lombroso,
der im Jahr 1890 die erste empirische Studie
darüber veröffentlichte, nach der Verbrecher durch
körperlichen Merkmale vom harmlosen Nachbarn
unterschieden könne.
Die Renaissance
der Phrenologie . Von Edda Grabar in. Technology Review11/20069
Abb. 31 : Luigi Galvani demonstriert an
Froschschenkeln Muskelkontraktionen durch die
elektrische Stimulation von Nerven.
2.2.2. Die neurologische GedächtnisForschung
Lujia datiert den eigentlichen Beginn der wissenschaftlichen Forschung auf
das Jahr 1861, als der französiche Anatom Paul Broca (1824-1880) schließlich
den Nachweis für die Lokalisation der sprachlichen Funktion in der linken
Gehirnhälfte lieferte.
Abb. 32 : Das Broca-Areal ist im Gehirn an der
motorischen Erzeugung von Sprache beteiligt;
während das Wernicke-Areal (1874 von Carl Wernicke
entdeckt ) an dem Verstehen von Sprache beteiligt
ist.
Abb. 33 : I. Pavlows Konditionierungsexperiment,
das einen Hund während dem Fressen an den
Klang eines Glöckchens gewöhnte, so dass ihm
nach der Konditionierung sofort beim Erklingen der
Glocke das Wasser im Maul zusammenlief, war die
Grundlage für viele weitere Forschungen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die experimentelle
Gedächtnisforschung, die sich bis in die fünfziger Jahre auf die
behavioristischen Verfahren des Reiz-Reaktions-Experiments beschränkte.
„Die Entdeckung, dass komplexe Formen psychischer Tätigkeit als Funktionen
(Bewegung und Empfindung) in umschriebenen Regionen der Hirnrinde
lokalisiert werden konnten, entfachte in der Neurologie einen beispiellosen
Enthusiasmus.“ Im Eifer der Lokalisierungen wurden verschiedenste
Zentren für bestimmte Funktionen bestimmt und ähnlich wie bei Galls
phrenologischen Karten wurden aufs neue funktionale Karten des Kortex
erstellt, mit denen „die Frage des funktionalen Aufbaus des Gehirns als des
Organs psychischer Tätigkeit endgültig beantwortet“42 sein sollte, doch „die
Skepsis gegen die Anwendbarkeit der strengen Lokalisation auf die zerebralen
Mechanismen der komplexen psychischen Tätigkeiten“43 verfestigte sich.
Der Neurowissenschaftlers Antonio R. Damasio, behauptet das cartesianische
Denken habe die westliche Biologie und Medizin nachhaltige beeinflusst
und damit die Forschung aufgehalten. Diese These ist für mich sehr schlüssig,
wenn ich beobachte, welche Bereiche die Forschung anfangs für bedeutend
hielt. Durch das Ausklammern des Gefühls von den Denkprozessen musste
sich eine Konzentration auf strukturelle Beobachtungen ergeben. Das würde
auch erklären, warum die wissenschaftliche Erforschung von psychischen
Prozessen erst so spät einsetzte.Damasio beschreibt in seinem Buch Descates’
Irrtum ein besonderes Phänomen: werden bestimmte Bereiche im Gehirn
geschädigt, die für die Emotionsverarbeitungzuständig sind, können
rationale Entscheidungen nicht mehr getroffen werden. Der „zielorientierte
Denkprozeß, den wir Schlussfolgern oder Urteilen nennen“ als auch „die
Reaktionsselektion, die wir als Entscheidungsfindung bezeichnen“ nicht
möglich wären.
42 Lurija. S.18
43 ibidem S.20
29
Die Methoden der Hirnforschung44 konvergieren in ihren Ansichten mit zunehmender
Erkenntnis: Die ältesten Methoden der Hirnforschung sind biologische und psychologische
Verhaltensbeobachtung, die in letzter Zeit mit anderen Untersuchungsmethoden kombiniert in
Laborexperimenten oder Feldforschung betrieben werden.
Die anatomischen Methoden sind in neuerer Zeit so weit ausgereift, dass das „Schneiden
im Mikrometerbereich und das Anfärben des Hirngewebes“ mit fluoreszierenden Fabstoffen
in seinen einzelnen Kleinstteilen wie Zellkörper oder Axone differenziert zulässt. Es werden
dreidimensionale Hirnatlanten erstellt.
Die Läsionsmethode besteht in der Untersuchung von Verhaltensänderungen
nach Beschädigung von Hirngewebe durch Infarkt, Tumore, Infekte, Hirntraumata, Epilepsie,
Drogenmißbrauch usw.
Die Hirnreizung und Hirnselbstreizung durch transkraniale Magnetstimulation lässt sich
therapeutisch einsetzen.
Elektrophysiologische Methoden durch Elektroencephalogramm (EEG) oder neuerding
mittels Magnetencephalographie werden zur Messung der Hirnströme eingesetzt.Das
Bildgebende Verfahren (neuroimaging) erfolgt mittels Computertomographie (CT), Kernspinoder Magnetresonaztomographie (MRT), sowie die funktionell bildgebenden Methoden, wie
die Positronnen-Emissions-Tomographie (PET), der Single Photonen -Emissions - Computed
– Tomographie (SPECT) und der funktionellen Kernspinttomographie (fMRI). Vorläufer der
Computertomographie waren Röntgenbilder, die der funktionellen Verfahren, waren 2-DeoxydGlukose-Technik, die mittels radioaktiver Substanz in die Blutbahn injiziert wird, das Gehirn
des toten Tiers wird scheibenweise mit radioaktivem Filmmaterial aufgenommen um aktivere
Gehirnregionen von weniger aktiven abzugrenzen.
Eine ganze Reihe etablierter und experimenteller Neuropsychologische Verfahren stehen zur
Verfügung um kognitiv-intelektuelle wie auch emotionale, die Persönlichkeit betreffende und
basale Funktionen zu untersuchen.
Die mnestrische Leidstungen können nur analysiert werden, wenn alle
Faktoren wie Intelligenz, Sprach- und Sprechfähigkeiten, Aufmerksamkeit
und Konzentrationsfähigkeit, Befindlichkeit sowie exekutive Funktionen wie
Problemlösefähigkeit, kognitive Flexibilität und Konzeptbildungsfähigkeit
innerhalb ihrer Gedächtnisdimensionen getrennt voneinander angeschaut
werden und aufeinander bezogen interpretiert werden. Die neuen präzisen
Messtechniken machen es möglich Reaktionen am lebenden Gehirn bildlich
darzustellen. Einige Forscher sind der Meinung, dass komplexe kogntive
Prozesse wie Bedeutung oder kathegoriales Verhalten vom gesamten Gehirn
gesteuert werden und nicht nur von lokalen Bereichen aus.
44 Markowitsch. S.76-82
30 Abb. 34 : Diagramm der Regionen, deren
Schädigung sowohl die Denkfähigkeit als auch die
Emotionsverarbeitung beeinträchtigt. Aufgrund
seiner Untersuchung zahlreicher Fälle von Läsionen
des präfrontalen und ventromedialen Cortex und
der Amygdala, denen er die Funktionen Gefühl/
Empfinden und Denken/Entscheidungsfindung
zuordnet, stellte er fest, dass diese Funktionen
besonders„im persönlichen und sozialen Bereich“
gemindert werden. Auch die Schädigung eines
Komplexes, der die somantischen Rindenfelder der
rechten Hemisphäre zieht ausser diesen Folgen auch
noch die Störung grundlegender Körpersignale
nach sich. Ein dritter Bereich, der durch Verletzung
Denken und Entscheidungsfindung nach sich zieht,
ist „eine Region im präfrontalen Cortex jenseits des
ventromedialen Abschnitts.“
Abb. 35 : Die serotonerge Bahnen . Die verschiedenen
chemischen Botenstoffe sind auf eigenen Bahnen im
Gehirn organisiert. Dieses Neurotransmitter steuern
Stimmungen, Hunger Schlaf und Erregung.
2.2.3. Die Entwicklung der psychologischen Auffassung über das Gedächtnis
»Humoraler Mechanismus«
Hydéns Veröffentlichungen (1960,62,64) über „die
Speicherung von Gedächtnisspuren vergangender
Erregungen mit einer dauernden Veränderung
der Struktur der Ribonucleinsäure (RNS)...“ sowie
die Feststellung eines bleibenden Anstiegs „ des
Ribonuclein- und Desoxyribonucleingehalts (RNS/
DNS-Gehalt) in Zellkernen, die intensiverer Erregung
ausgesetzt worden waren, bildeten die Grundlage für
eine intensivierte Forschung. Eine Folgerung daraus,
war, „dass einzelne in einem Individuum gespeicherte
Informationen über einen humoralen Mechanismus
auf ein zweites Individuum übertragen werden.“
Lurija S.285 f.
„Das Erste, was Säuglinge an kommunikativem
Verhalten zeigen, ist der Versuch, mütterliche
Gesichtsausdrücke und den Klang der Stimme zu
»spiegeln«, siehe dazu Kap.6.“ Die Entdeckung der
Spiegel-Nervenzellen wurde von einer italienischen
Forschergruppe um Giaccomo Rizzolatti und M.
Alessandra Umiltà gemacht.
J.Bauer. 2004.
Abb. 36 : Am Gedächtnis beteiligte Hirnstruktur.
Diese vereinfachte Abbildung zeigt die wichtigsten
Strukturen des Gehirns, die an Aufbau, Speicherung
und Abruf von Gedächtnisinhalten beteiligt sind.
Henri Bergson (1896) ging Ende des 19 Jh. noch davon aus, dass es ein
räumliches und ein geistiges Gedächtnis gibt. Das räumliche bezeichnet er als
Naturphänomen, mit der »universellen Eigenschaft« Materie als Engramme zu
speichern. Das geistige Gedächtnis verstand er als Sitz des freien Willens, der
dazu fähig ist mittels Anstrengung vergangene Erfahrungen zu erinnern.45
Erst in den 60er Jahren gelang es die Grundlagen der physiologischen
Gedächtnisforschung zu schaffen, die sogar den genetischen Zusammenhang
von Gedächtnisaktivitäten aufdeckten.
Die Vorstellung, dass die Übertragung von Informationen von einem
Individuum über einen humoralen Mechanismus laufen könnte, würde der
Vorstellung von Gedankenübertragung nahe kommen.
Joachim Bauer46 erwähnt in diesem Zusammenhang die Entdeckung
der so genannten Spiegel-Neuronen, durch die wir im Stande sind
Verhaltensweisen, die wir bei anderen Menschen beobachtet haben, uns so
einzuprägen, dass wir sie selbst fühlen und sie dadurch auch gut nachahmen
können.
Wie sich hier schon zeigte, kamen neue Erkenntnisse meist in der
interdisziplinären Zusammenarbeit zustande. Trotzdem kommt es bisweilen
immer noch vor, dass sich einzelne Disziplinen strikt von einander abgrenzen.
Die Frage nach den Hirnregionen, die tatsächlich an der Erinnerungsbildung beteiligt sind und welche Aspekte in die Zuständigkeit der einzelnen
Bereiche fallen, sollte jetzt unter einer psycho-neurologischen Gesamtansicht
untersucht werden.
Die Komplexität der neuronalen Funktionen und deren Auswirkung auf unser
Verhalten, die immer deutlicher werdenden Zusammenhänge zwischen
psychischer neuronaler Prozesse führten zur Fusion der beiden Disziplinen,
der Neuropsychologie.47
45 Die Frage nach dem freien Willen ist sicherlich eine der interessantesten in diesem Zusammenhang. Trotzdem
möchte ich hier nicht weiter auf Erklärungsansätze eingehen, bis auf den Hinweis, dass auf diesen philosophischen
Diskurs, inwieweit der Mensch determiniert ist und in wieweit nach der funktionalen Bestimmung chemischer
Botenstoffe noch von Willensfreiheit gesprochen werden kann, ausführlich von Gerhard Roth in seinem Buch Fühlen
,Denken, Handeln (S.494-564) eingegangen wird.
46 Prof. Dr. Joachim Bauer ist Leiter der Ambulanz der Abteilung für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapeutie der Universitätsklinik Freiburg sowie Universitäts- Professor für Psychoneuroimmunologie. In
seinem Buch Das Gedächtnis des Körpers.
47 Lurija. S.11f Alexander R. Lurija war der begründete diesen neuen Wissenschaftszweig in den 70er Jahren.
31
Die Mathematiker Roger Penrose und Stuart Hameroff stellten 2001 die Quantenphysik in
den Mittelpunkt des Luzerner Symposiums Das Rätsel des Bewusstseins48 Die Hypothese, dass
sich Bewusstsein möglicherweise quantenmechanisch erklären lässt, hat frischen Wind in den
Gedächtnis-Diskurs gebracht. Doch die Absage der Neurologen folgte auf dem Fuß: „Es gibt nicht
den geringsten Hinweis dafür, dass Quantenprozesse im Gehirn auf der Ebene, die für die Funktionen des
Gehirns im Zusammenhang mit Wahrnehmung, Kognition, Emotion und Motorik wichtig sind, eine Rolle
spielen. Bei diesen Funktionen sind immer Millionen, wenn nicht Milliarden von Nervenzellen und Milliarden
von Synapsen aktiv, und das Ganze ist ein klar makrophysikalisches Geschehen.
Die einzigen ‚Ansatzorte‘, an denen überhaupt Quantenprozesse eine Rolle spielen könnten, wären der
Ausstoß von Transmitter-Molekülen an der erwähnten Synapse und das genaue zeitliche Auftreten eines
singulären Aktionspotentials. Beide physiologischen Prozesse ... liegen um mindestens eine Größenordnung
über quantenphysikalischen Geschehnissen.“ Gerhard Roth
Präsynaptisches Neuron
Postsynaptisches Neuron
1.Elektrische Impulse
als Aktionspotential
axionale
Endigung
synaptischer
Spalt
3. Wiederaufnahme
der Transmittermoleküle
2. Aussschüttung der
Neurotransmitter
Neurotransmitter
Abb. 37 : Kommunikation von Nervenzellen: 1.elektrische Impulse (Aktionspotential)
wandern über die Synapse von einem Neuron zum anderen.
2. Hat das Aktionspotential eine
axonale Endigung erreicht, werden Neurotransmitter ausgeschüttet, die den synaptischen Spalt
überqueren. Atome werden freigesetzt, die ein Aktionspotential bewirken oder verhindern.
3. Das präsynaptische Neuron nimmt die Transmittermoleküle wieder auf.
Gerade in den Fragen nach Geist und Bewusstsein zeigt sich das
interdisziplinäre Interesse an gemeinsamen Lösungsansätzen. Vielleicht wird
das in der Zukunft einmal dazu führen, dass die disziplinären Grenzen noch
durchlässiger werden. Dass es immer von neuem nötig wird, das eigene Fach
von den anderen abzugrenzen und die eigene Bedeutung hervorzuheben,
scheint mir letztlich an materiellen Forschungsmitteln zu liegen, die oft nach
48 „Das zur Schweizer Biennale zu Wissenschaft, Technik + Ästhetik mutierte gleichnamige Luzerner Symposion
wird 10 Jahre alt. Die neue Ausgabe knüpft an das Symposion von 2001 «Das Rätsel des Bewusstseins» an.“ Es ist
ein interdisziplinäres Symposium mit Vertretern aus der (Natur)Wissenschaft (S.Hameroff, D.J.Bierman, J.D.Pettigrew,
G.Guttmann) Philosophie (J.Mitterer, G.J.Lischka), Kunst und Ästhetik (J.Scott, O.Wiener, P.Weibel). http://h2hobel.phl.
univie.ac.at/mahr‘svierteljahrs/20050103.html
32 Abb. 38 : Das vegetative Nervensystem steuert
Vitalfunktionen wie Atmung, Verdauung,
Stoffwechse. Das somatisches Nervensystem
unterliegt größtenteils der willkürlichen
Kontrolle und koordiniert die Motorik. Einzelne
Nervenzellen lassen sich vor allem im Gehirn,
nicht mehr eindeutig voneinander abgrenzen.
In der Peripherie des Körpers, also außerhalb
des Gehirns, kann man beide Nervensysteme
voneinander klar trennen.
Zimbardo und Gerrig definieren das Gedächtnis als
mentale Fähigkeit, Informationen zu enkodieren, zu
speichern und abzurufen. Eine wichtige Funktion
besteht im eigenen, als auch im kollektiven
Erinnern, eine weitere Aufgabe ist das Herstellen von
„Kontinuität der Erfahrungen von einem Tag auf den
anderen.“ Viele Gedächtnisleistungen spielen sich
außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung ab. Die
Psychologie schreibt sie dem implizine Gedächtnis zu,
das uns ohne Anstrengung Informationen bereitstellt.
Das explizite Gedächtnis bedienen wir durch bewusste
Anstrengung.
Im deklarierten Gedächtnis werden Fakten und
Ereignisse verarbeitet und mit dem prozedualen
Gedächtnis meint die Psychologie das „gewusst wie“
„perzeptuelle, kognitive und motorische Fähigkeiten
erworben, aufrechterhalten und angewendet
werden. Ein „Gedächtnisprozess zur momentanen
Aufrechterhaltung zerrinnender Eindrücke“ wird als
sensorisches Gedächtnis bezeichnet. Es beinhaltet
die Verarbeitung visueller od. ikonischer, auditive od.
echoische, und wahrscheinlich auch olfaktorischer
Reize. Das ikonische Gedächtnis ist die Bezeichnung
des sensorischen Gedächtnisses für den visuellen
Bereich. Es ermöglicht die Speicherung großer
Informationsmengen für eine kurze Dauer. Zimbardo/
wirtschaftlichen kurzzeitig erfolgreichen und nicht nach auf lange Sicht
grundlegenden Interessen vergeben werden.
So scheint es immer noch nötig, wie sich in einem Artikel der Zeitschrift
Gehirn & Geist zeigte, dass führende deutsche Psychologen die
bedeutsame Position der Psychologie im 21.Jahrhundert im Verhältnis
zu ihren Nachbardisziplinen, wie Genetik, der Hirnforschung und der
Evolutionstheorie und Philosophie bestimmen müssen. Sie betonen die
„Grundfragen der Psychologie“ , zu denen gehören: „Wie funktioniert
menschliches Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Urteilen, Problemlösen und
Handeln? Welchen Prinzipien und Entwicklungen unterliegt es? Welche
Entwicklungspotentiale weisen bestimmte psychische Leistungen auf? Was
befähigt uns zur Sprache und zur Fantasie? Wie werden Traumata verarbeitet?
In welcher Weise wird unsere soziale Identität dadurch bestimmt, dass wir
uns sozialen Gruppen zuordnen? Die Liste solcher Fragen lässt sich beliebig
fortsetzen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich auf psychische Phänomene
und Leistungen beziehen; sie sind somit genuine Fragen der Psychologie.“
Diese Grundfragen lassen sich aber „nur beantworten, wenn wir die Prinzipien
besser verstehen, auf deren Grundlage unser Gehirn all die komplexen
psychischen Phänomene und Leistungen hervorbringt.“ Die Psychologie ist
aber prädestiniert dafür, „den Dialog mit Nachbardisziplinen aufzunehmen.“49
Gerrig 2004. S.295ff
Sensorisches Gedächtnis
Die Sinne registrieren einEreignis im Augenblick des
Geschehens
Kurzzeitgedächtnis
Einige Items werden bewust wahrgenommen und
enkodiert
Langzeitspeicher
Manche Items werden verändert und gehen verloren
Abruf aus dem Langzeitgedächtnis
Je nach Interferenz, Abrufhilfe, Stimmung und
Motivationkönnen manche Dinge abgerufen werden,
andere dagegen nicht.
Abb. 39 : ‚Was wird vergessen? Es kann in jeder Phase des Prozessesetwas verolren gehen.
„’Die Psychologie besitzt eine lange Vergangenheit aber einer nur
kurze Geschichte,’ schrieb Hermann Ebbinghaus (1908).“ Zimbardo/Gerrig 2004.
2.2.4. Die psychologische Sicht auf das Gedächtnis
Die psychologische Sicht auf das Gedächtnis geht wie ein Grossteil der
Neurowissenschaftler von einem dynamischen Begriff von Gedächtnis aus,
also davon, dass die gespeicherten Informationen bei Bedarf
modifiziert werden können. Jede gespeicherte Information wird auf die
aktuelle Situation hin angepasst und aktualisiert. Daraus folgt jedoch, dass
die Zuverlässigkeit der Erinnerungen in Frage gestellt ist. Jeder von uns kennt
die Situation, dass wir uns mit einem Freund über gemeinsame Erinnerungen
austauschen, und dass der andere eine komplett abweichende Version der
zusammen erlebten Situation beschreibt, als man es selbst vor Augen hat.
Für die Entwicklung der modernen Psychologie gingen entscheidende
Impulse von Sigmund Freud aus. Von zentraler Bedeutung ist seine
49 Gehirn & Geist 7-8/05 Brennpunkt, S.56
33
Einschätzung des Unbewussten als eigentlichem Ausgangspunkt allen
menschlichen Handelns, gesellschaftlich wie individuell. Das Unbewusste
sind für Freud die Triebe, wobei dem Sexualtrieb die Hauptrolle zufällt. Freud
beschrieb die kindliche Sexualentwicklung ausführlich und unterschied
verschiedene Phasen dieser Entwicklung. Neurosen, die im Laufe des
Lebens auftreten haben gemäß Freud ihre Ursache fast ausschließlich in
Störungen der sexuellen Entwicklung in der frühen Kindheit. Sein Konzept
des selektiven »Verdrängens« ist aber bis heute nicht eindeutig empirisch
bewiesen.50 Mit seiner Methode der Traumdeutung legte er das Fundament
der Psychoanalyse. Er versuchte die »allnächtliche Verrücktheit« der Träume,
in denen sich mächtige, unbewusste und unterdrückte Wünsche zeigen, zu
deuten und sah darin den Königsweg zum Unbewußten. „Man muß dann
zugestehen, dass man im Traum etwas gewusst und erinnert hat, was der
Erinnerungsfähigkeit im Wachen entzogen war.“51
Das Krankheitsbild der Neurose ist für Freud ein Versuch des Ich, mit den
übermächtigen Trieben fertig zu werden, das heist, sie zu verdrängen, was
jedoch nur unter Inkaufnahme einer psychischen Störung möglich ist.
Man könnte die Neurose also auch als ein verhindertes Körpergedächtnis
sehen. Freud erkannte einerseits die Bedeutung des Körperlichen in Form des
Triebhaften an. Andererseits beschäftigte er sich aber eben mit der Psyche,
die er als „Apparat“ sah, Körperlichkeit oder Triebhaftigkeit zu verarbeiten.
Sein Augenmerk liegt auf der Art und Weise dieser Verarbeitung, nicht
auf dem Körperlichen, Triebhaften selbst, entsprechend spielt der Begriff
„Körpergedächtnis“ bei ihm keine Rolle, obwohl er sicherlich entscheidende
Impulse dazu gegeben hat, die Bedeutung und Verbindung des Körperlichen
mit der Psyche anzuerkennen und sich mit ihr zu beschäftigen.
Anfang des Jahrhunderts deckte Ebbinghaus als erster die
Gesetzmässigkeiten des Vergessens auf. Seine Forschungsergebnisse zeigen
einen Informationsverlust auf der Zeitachse einer logarithmisch abfallenden
Funktion das heißt, dass „Fakten die kurz vor der Prüfung gepaukt werden,
verschwinden bald wieder, wenn sie nicht auf früheren Lernprozessen
aufbauen, und danach hinreichend überdacht werden.“
Ein Pioneer der anatomischen Erforschung des Gehirns war Karl Lashley. Er
zeigte ebenfalls in der ersten Jahrhunderthälfte, dass sich die Funktionen
unseres Gedächtnisses nicht in einem einzigen Gehirnteil abspielen,
50 Thomas Knecht. IRRUNGEN UND WIRRUNGEN. Schweiz Med Forum. Münsterlingen 2005. 5:1083–1087 S. 1084
51 Siegmund Freud. Die Traumdeutung. Frankfurt am Main 1996. S.28
34 „Die Neurosen sind durchweg, man möchte sagen,
entweder Ersatzbefriedigungen irgendeines
sexuellen Strebens oder Massnahmen zu ihrer
Verhinderung.“
Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der
Kultur. Frankfurt am Main 1953. S. 43.
Prozentsatz des
errinnertem
Stoffs
%
60
50
40
30
20
10
0
12345
10
15
20
25
30
Verstrichene Zeit in Tagen, seit dem Erlernen
Abb. 40 : Vergessenskurve nach Ebbinghaus.
Durch Selbstversuch fand er 1885 heraus, dass die
Behaltensleistung anfangs schnell nachlässt und
sich später einpendelt.
SYMPATHIKUS
erreged
Erweitert
die Pupille
Beschleunigt
den Herzschlag
Gehirn
PARASYMPATHIKUS
berruhigend
verengt die
Pupille
verlangsamt den
Herzschlag
Rückenmark
Hemmt die Veraduung
Stimuliert die Glükoseausschüttung durch die
Leber
und
die Ausschüttung
von Adrenalin
und
Neoadrenalin
Entspannt die Blase
Regt die
Verdauung an
Stimuliert die
Gallenblase
Kontrahiert
die Blase
Steuert die
Blutzufuhr zu den
Genetalien
beim Mann
Abb. 41 : DieStimuliert
funktionelle
Zweiteilung des
die Ejakulation
vegetativen Nervensystems
in Sympathikus und
Parasympathikus. Der sympatische Teil sorgt durch
Erregung für die optimale Nutzung der Energie in
Stresssituationen. Der Parasympathikus sorgt führ
Beruhigung und ermöglicht so dem Körper neue
Energie zu tanken.
sondern dass die Informationen den sensitiven Reizen entsprechend
als Engramme also als physikalische „Gedächtnisspur“ in verschiedenen
Hirnstrukturen eingespeichert werden. Diese Ausdrucksweise erinnert an die
Wachstafelmetapher der alten Griechen.
Für das Phänomen der dissoziativen Amnesie52versucht das Freudsche
Verdrängungskonzept, und „auch die Schule der Jungschen analytischen
Psychologie Erklärungsmodelle zu finden.
Mit »body memory« sind präverbale oder averbale Gedächtnisspuren
gemeint, die „in der Tiefe der Eingeweide oder anderer Körpergewebe gefühlt
werden und sich dann in Haltung und Bewegung manifestieren sollen.“53
Der Begriff Körpererinnerung tauch vor allem im Zusammenhang mit
alternativen Heilmethoden54 auf, die oft genau an Punkten ansetzen, an
denen sich Erinnerung zeigt.
Die »neuesten Erkenntnisse« der Wissenschaft besagen, was unser gesunde
Menschenverstand ohnedies längst weiß:
Wir denken nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch.
Von einem Nervengeflecht im Bauch werden nach Erkenntnissen mehrerer
Forschungsteams Gefühl und Intuition mitgesteuert.
Das so genannte Bauchhirn besitze mehr Nervenzellen als das
Rückenmark. Sie umhüllen den Verdauungstrakt, sagt der amerikanische
Neurowissenschaftler Michael Gershon, Chef des Departments für Anatomie
und Zellbiologie der Columbia University in New York und bezeichnet den
Darm als unser „zweites Gehirn“.55
Das Bauchhirn entwickele seine eigenen „Neurosen“, sagt Michael Gershon.
Und noch viel mehr. Erst vor kurzem stellten Forscher fest, dass weitaus mehr
Nervenstränge vom Bauch in das Gehirn führen als umgekehrt: 90 Prozent
der Verbindungen verlaufen von unten nach oben. Der deutsche Neurologe
Emeran Mayer hat mit seinen Experimenten an Reizdarm-Patienten
gezeigt, dass „im Vergleich zu gesunden Menschen beim Auftreten von
52 Dissoziative Amnesie bezeichnet die „Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Erfahrungen zu erinnern;
hervorgerufen durch psychische Faktoren ohne organische Grundlagen.“ (Zimbardo/Gerrig)
„Pierre Janet hat schon um 1900 eine «Bewusstseinsspaltung» als Traumareaktion postulierte, dem zufolge erst
durch das traumatische Erlebnis via Dissoziation ein unbewusstes Subsystem in der Psyche entsteht, das als
Speicher für solche verdrängten Erfahrungen dient. Thomas Knecht. S. 1085
53 Thomas Knecht ist Leitender Arzt Psychiatrische Klinik, Münsterlingen in der Schweiz.
54 Hier die wichtigsten mir bekannten Verfahren, die mit Körpererinnerung arbeiten: die biodynamische
Psychologie (Gerda Boyesen), die traditionelle indische Medizin (Ayurveda in Verbindung mit Yoga), sowie die
Traditionellen chinesischen Medizin (Akupunktur, Akupressur, Meridianmassagen und Bewegung in Qi Gong und Tai
Chi) ; die Kraniosakraltherapie (Teilbereich der Osteopathie) und die Homöopathie.
55 Magazin GEO.11. Nr. 11/00 Wie der Bauch den Kopf bestimmt. Entscheidungen aus dem Bauch heraus.
35
unangenehmen Gefühlen unter anderem eine erhöhte Aktivität in Regionen
des limbischen Systems“ festzustellen ist.
„Kein Kollege lacht heute mehr, wenn Emeram Mayer, der
Neurogastroenterologe und Professor für Physiologie, in den so überraschend
umfangreichen Nervenfasern, die das kleine mit dem großen Gehirn von
unten nach oben verbinden, quasi das biologische Korrelat menschlicher
„Bauchgefühle“ sieht - und der Intuition. Sie entsteht aus der Wechselwirkung
der zwei intim verschalteten Gehirne.“
„Es hat seinen biologischen Sinn“, sagt Mayer, „dass sehr starke Gefühle ins
Bewusstsein dringen.“ Je besser Menschen Angst erinnern, um so besser
können sie das nächste Mal entscheiden. Unsere Evolution sei deshalb so
erfolgreich, weil Emotionen - ob negativ oder positiv - uns erlauben, bessere
Entscheidungen zu treffen. Je stärker die emotionale Erfahrung, um so
besser“ arbeiten die ‚somatischen Marker’ aus der Vergangenheit.56Könnte
nicht angesichts dieser Erkenntnisse „der Bauch auch ein Teil der biologischen
Matrix für das große Unbewusste sein“? Diese psychische Innenwelt des
Menschen ist bis heute realtiv unerforscht.
Der Hirnforscher Vilayanur Ramachandran erforscht das Gehirn mit „so
einfachen Experimenten, dass sie jeder nachmachen kann.“57 So brachte
er beispielsweise den Phantomschmerz bei arm- oder beinamputierten
Patienten zum Verschwinden. Nur mit Hilfe der Spiegelung der gesunden
Gliedmaße, auf die amputierte Seite wird dem Gehirn vorgegaukelt, „der
amputierte Körperteil sei wieder da und alles sei in Ordnung. Damit fehlt
der Auslöser für den Schmerz. Erstaunlicher Weise genügt diese Illusion, das
Schmerzempfinden für immer zu löschen.“
Damasio deckt Descartes’ Irrtum, der Geist sei vom Körper getrennt,
auf, indem er die Abhängigkeit kognitiver Prozesse in einer GehirnKörper-Wechselwirkung beschreibt: „Das Gehirn konstruiert immer neue
Repräsentanten des Körpers, während dieser sich unter chemischen und
neuronalen Einflüssen verändert. Während einige dieser Repräsentanten
unbewußt bleiben, gelangen andere ins Bewußtsein. Gleichzeitig fliessen
fortwährend Signale vom Gehirn zum Körper, einige willkürlich und andere
automatisch … Infolgedessen verändert sich der Körper abermals, der davon
gewonnenen Vorstellung, entsprechend.“58
56 ibidem
57 SZ Magazin. Fast jeder kann mit einem Tisch verschmelzen. 3. 19.1.2001
58 Damasio S.304 ff
36 Abb. 42 : Das enterische Nervensystem (ENS)
arbeitet ohne Hilfe des Gehirns. Das Gehirn sendet
nur wenige Informationen an die Därme.
Abb. 43 : Der Körper glaubt, was das Hirn ihm
vorsiegelt: zum Beispiel, dass dieser Gummiarm zu
ihm gehört
... Ein ganz ähnliches Kunststück des Gehirns suggeriert
Liebenden, mit dem Partner zu verschmelzen... Dies ist
mehr als eine Metapher – es ist die Wirklichkeit. ... Die
beiden Gehirnhälften habe unterschiedliche Aufgaben:
Die linke ist ein Geschichtenerzähler. Sie ist unter anderem
damit beschäftigt fortwährend Theorien über die Welt
zu erfinden. Das ist nützlich, weil wir oft nicht genügend
Informationen haben, um Entscheidungen zu treffen. So
legt sich die linke Hemisphäre den Rest einfach zurecht
und konstruiert eine Story, die schlüssig scheint. Die
rechte Hälfte hingegen überprüft diese Ideen anhand der
Wirklichkeit. ...
Untersuchungen haben gezeigt, dass wir chronisch
optimistisch sind. 90% der amerikanischen Bevölkerung
halten sich für überdurchschnittlich intelligent. Wie ist
das möglich? Durch nette Schmeicheleien der linken
Hirnhälfte. ...Wir werden erforschen, was bei Hypnose
und Yoga im Gehirn geschieht. Die westliche Medizin hat
solche Phänomene viel zu lange vernachlässigt. ... Was
uns antreibt ist kein Ich, sondern ein wildes Sammelsurium
unter der Schädeldecke.... Trotzdem ist das Ich Einbildung
– ein flüchtiges oft tragisches Konstrukt des Gehirns
dasselbe behaupteten die Weisen Indiens schon vor
Jahrtausenden. Denen zu folge leidet der Mensch
unter dem Irrglauben, eine individuelle Seele zu
haben. Der Weg zur Erleuchtung besteht darin,
den falschen Zauber des Ichs zu durchschauen
und seine Einheit mit dem Kosmos zu erkennen.
Ganz genau. Lange hielt ich diese Überlieferungen für
Blödsinn. ... erst 15 Jahre Hirnforschung haben mich zur
Überzeugung gebracht, dass an diesen Lehren auch was
dran sein könnte. ....
Vilayanur S.Rachandran, 49, ist Professor für eurowissenschaften und
Psychologie an der University of California, San Diego. SZ Magazin 3.
München 2001
Damasio beklagt, dass Vernachlässigung des Geistes in der westlichen
Biologie und Medizin eine Verzögerung der Forschung zur Folge habe. Er
vermutet den Erfolg „alternativer« Heilmethoden, besonders jener, die sich
aus der traditionellen Medizin nicht-westlicher Länder herleiten, [als] eine
kompensatorische Reaktion auf das Problem.“59
Der menschliche Geist würde in die Obhut der Philosophie, Theologie gelegt.
Es dauerte lange, bis sich die Psychologie seiner annahm und nun schließlich
Hand in Hand mit den Neurowissenschaften gearbeitet wird.
2.3. geisteswissenschaftliche ERKLÄRUNGSANSÄTZE
Wie in der Philosophie das »Gedächtnis« gewichtet wird, habe ich schon mit
dem philosophischen Diskurs angedeutet, der in der Antike mit der Rhetorik
begann. »Das Körper-Geist-Phänomen« steht mit großen Differenzen
im philosophischen Diskurs. Welche Auffassungen daraus die gesamte
wissenschaftliche Forschung gewonnen hat, interessiert mich hier besonders.
2.3.1. Platons Anamnesis (*427v.Chr. † 348/349 v.Chr.)
Abb. 44 Das Höhlengleichnis stellt den Aufstieg zu
den Ideen dar:
Platon vergleicht das irdische Dasein mit einer
unterirdischen Höhlenexisitenz, in der die Menschen
so gefesselt sind, daß sie nur an die Wand der Höhle
blicken können. Auf diese werden durch ein für
sie unsichtbares Feuer im Hintergrund Schatten
von künstlichen Gegenständen projiziert. Diese
Schattenbilder, die nichts anderes sind, als die sinnliche
Erscheinung irdischer Dinge, halten die Gefesselten für
die Realität. Die Gegenstnäde selbst, die den Schatten
geworfen haben, kann nur der erkennen, der sich von
seinen Fesseln befreit hat; er erkennt, dass die Schatten
Platons Schriften sind selbst ein Gedächtnis, in dem die Reden seines Lehrers
Sokrates († 399 v.Chr.) aufbewahrt werden. Im Phaidon schildert er im
Dialog den letzten Tag seines Lehrers, der als Philosoph den Tod nicht zu
fürchten braucht, da er dem Ziel, der vernünftigen Erkenntnis des wahrhaft
Seienden näher kommt, „das die Trennung der Seele vom Körper voraussetzt
und ihren Aufstieg zu den Ideen erfordert.“ 60 Nur ohne die trügerischen
Sinneswahrnehmungen können die reinen unvergänglichen Urbilder erkannt
werden. Die unsterbliche Seele strebt ihrer Befreiung vom Körper und
seinen Bedürfnissen und Begierden entgegen, um sich den ihr ursprünglich
verwandten Ideen zuzuwenden.
Platon glaubte im Unterschied zu Aristoteles, dass es ein Wissen gibt, dass
nicht von den Sinneseindrücken abgeleitet ist, sondern dass in unserem
Gedächtnis latent vorhandene Formen oder Modelle der Ideen jener
Wirklichkeiten existieren, die die Seele wie in einer Wachstafel eingeprägt
»von oben« mitbrachte.
Mit seiner Erklärung der menschlichen Erkenntnis, die die Wahrheit aus einem
Wiedererinnern (Anámnesis) heraus erkennt, war er wegbereitend für „den
hermetisch beeinflussten Renaissance-Menschen, der sich im Besitz göttlicher
59 ibidem S. 339
60 Der Brockhaus. Philosophie. Hamburg 2004
37
Kräfte“ glaubte. 61
Platons Auffassung von den trügerischen Sinneseindrücken entspricht
einerseits unserem heutigen Verständnis von Wahrnehmung, die immer
individuell interpretiert ist, andererseits aber ist seine Vorstellung, der
Mensch verfüge über ein erfahrungsunabhängiges Wissen, mit einem
wissenschaftlichen Denken unvereinbar. Es würde nicht als Wissen, sondern
als Instinkt oder Anlage bezeichnet werden.
nur Abbilder dieser Dinge sind. Wenn der Mensch
nun noch aus der Höhle entkommen kann, blendet
ihn zuerst das Tageslicht, das Licht der Außenwelt
und er wird zuerst Schatten und Widerspiegelungen
erkennen; in einem Gewöhnungsprozeß dann aber
die Dinge selbst und zuletzt die Sonne sehen und
erkennen, dass sie die Ursache allen Seins ist.
2.3.2. Aristoteles Unterscheidung von Gedächtnis und
Erinnerung
Aristoteles begründet eine Theorie des Gedächtnisses und der Erinnerung
auf seiner Erkenntnistheorie, die er im letzten Teil der Physica seiner
Naturphilosophie Über die Seele verfasst. Er unterschied zwischen Gedächtnis
und Erinnerung, was das Wiedererlangen einer Erkenntnis oder Empfindung
durch die Anstrengung, mit Hilfe von geordneter Assotiationen seinen Weg
durch die Gedächtnisinhalte zu finden, bedeutet.62
Die Einbildungskraft vermittelt zwischen Wahrnehmungskraft und Denken,
das die Aussenwelt mit Hilfe des Imaginationsvermögens reflektiert
verarbeitet. Erst hier entsteht Denken. ‚Die Seele denkt niemals ohne ein
Vorstellungsbild.’63 Und auch das Gedächtnis „gehört zum selben Teil der
Seele wie die Imagination“ doch kommt hier noch das Zeitelement hinzu,
denn die Bilder stammen nicht aus der momentanen Wahrnehmung sondern
aus einer vergangenen. Auch Tiere können sich erinnern, doch intellektuelle
Fähigkeit besitzt nur der Mensch, wie Aristoteles in seiner Seelenlehre
beschreibt:Die Bewegungsursachen der Seele sind als Formursache oder
als Prinzip des Wirklichseins des „organischen Leibes“ zu sehen, „der nur
potentiell Leben hat“.64
Aus den verschiedenen Tätigkeiten der Seele schließt Aristoteles auf ihre
Vermögen: Der Mensche ist mit drei Bewegungsprinzipien ausgestattet,
nämlich dem vegetativen, sensitiven und dem intelektuellen. Das Tier hat
zwei Bewegungsprinzipien das vegetative Vermögen und das sensitive,
während die Pflanze nur das vegetative inne hat, das Fortpflanzung
und Stoffwechsel anregt. Er betont die Verbesserung des menschlichen
61 Yates. S. 159 Dieser wollte mit seinem magischen Gedächt-nis die Welt wieder spiegeln, „indem er den göttlichen
Makrokosmos im Mikrokosmos“ mit Hilfe der Rede- und Dichtkunst, als auch in den vollkommenen Proportionen
der Kunst und Architektur ausdrückte.
62 Vgl. Yates
63 Aristoteles De animna. 427b 18-22 (übers. V. Hett).nach Yates S.38
64 Aristoteles. De anima. II 1, 2
38 Abb. 45 : Weih- oder Opfergabe, die in einem
Asklepios-Heiligtum im 4. Jahrhundert v. Chr.
aufbewahrt wurde. Bei entferntem Schädeldach
zeigen sich deutlich die Hirnwindungen, die wir
heute als Gyri und Sulci bezeichnen.
„Manche Menschen haben trotz eines heftigen
Anreizes au Grund von Krankheit oder Alter kein
Gedächtnis, wie… ein Siegel fliessendem Wasser
aufgedrückt würde….Deshalb haben die ganz
Jungen und die Alten schlechte Gedächtnisse; sie
befinden sich in einem Zustand steter Veränderung,
die Jungen wegen ihres Wachstums, die Alten
wegen ihres Verfalls. Aus einem ähnlichn Grund
scheinen auch weder die sehr Schnellen noch
die Langsamen gute Gedächtnisse zu haben; die
ersteren sind feuchter, als sie sein sollten, und
die letteren härter; bei den ersteren hat das Bild
keinen Bestand, bei den letzteren hinterlässt es
keinen Eindruck.“
De memoria et reminiscentia. 452b 31 (als eine der Prosa naturalia von
W.S. Hett in dem angegebenen Loeb Band übersetzt
„Das Gehirn ist es, das die Wahrnehmungen des
Hörens, Sehens und Riechens gestattet, aus diesem
entstehen Gedächtnis und Vorstellung, aus
Gedächtnis und Vorstellung aber, wenn sie sich
gesetzt haben und zur Ruhe gekommen sind, bildet
sich das Wissen“
formulierte der griechische Gehirnforscher Alkmaion schon im 6.
Jahrhundert v. Chr. (Capelle, 1940)..
Descartes trennte den Geist von der Materie, aber
seine Aufteilung war eine rationale. Dies ist nicht
die geeignete Methode, um die Unterscheidung
zu treffen.. Der Mensch ist eine Gesamtheit, ein
Organismus; er muss diesen Begriff entwickeln
und sich nicht auf den Verstand reduzieren.
Duchamp
1958. Interviews und Statements. Serge Stauffer. Stuttgart 1991 S.66 f
Wahrnehmungsvermögens durch körperhafte Sensibilisierung. Ausserdem
ist ihm aufgefallen, dass das Wiedererinnern angeregt wird, wenn sich,
die Menschen bei der Bestrebung sich zu erinnern, an den Kopf schlagen
und ihren Körper in Bewegung setzen. 65Dieses Phänomen werden in
Zusammenhang mit nonverbaler Kommunikation, insbesonder mit deren
Rückwirkung auf die menschlichen Emotione untersucht.66
Damit die Vernunft von potentieller zu aktueller Erkenntnis gelangen kann,
also alle Objekte geistig wahrnehmen kann, wirkt in ihr ein aktives, sowie
ein passives Prinzip, wobei das letztere vergänglich ist. Das aktive Prinzip
hingegen ist an kein Körperorgan gebunden und deshalb unvergänglich.67
Die drei Bewegungsprinzipien des Aristoteles könnte man in Verbindung
mit der heutigen Sicht des Gedächtnisses so interpretieren, dass die drei
Bewegungsprinzipien im Zusammenspiel der Körper – Gedächtnis – Funktion
zu finden ist. Aristoteles ist also mit seiner Auffassung in der Tradition des
Hippokrates, der die Konstitutionen des Menschen durch die Säfte erklärte.68
Damasio nennt es einen „organischen Geist-im-Körper-Ansatz“ und fragt
sich, wie ärgerlich wohl Aristoteles auf Descartes gewesen wäre, hätte er ihn
gekannt.69
2.3.3. Descartes´ Körper-Geist-Teilung
Descartes nimmt wie Sokrates und Platon die Körper-Geist-Teilung an
und gilt damit als Begründer des Rationalismus und der neuzeitlichen
abendländischen Philosophie, auf die sich bis zu Kant alle berufen werden.
Mit seinem berühmten Ausspruch Cogito ergo sum postuliert er die
Unabhängigkeit des Denkens. Alles kann bezweifelt werden nur das Denken
nicht.
Er unterscheidet die determinierte Materie als Res extensa vom Geist, der sich
frei in den Res cogitans entfalten kann.
Mit dem vielleicht berühmtesten Satz der Philosophiegeschichte, dem
Cogito ergo sum – ich denke also bin ich – ist er über jeden Zweifel erhaben.
Seine absolute Erkenntnis besteht darin, dass die denkende Substanz die
Res cogitans allem anderen selbstständig voraus geht und abgetrennt von
65 Yates S.39, S.71
Abb.46 : René Descartes Illustration des Dualismus.
Reize werden von den Sinnesorganen weitergeleitet,
erreichen die Epiphyse im Gehirn und wirken dort
auf den immateriellen Geist ein.
66 Vgl. Ekman P. & Friesen W.V., Myers.. S. 543 ff
67 Aristoteles III 4/5
68 Aristoteles bezieh sich auf die Temperamente des Hippokrates laut Philosophischem Wörterbuch: http://www.
textlog.de/5216.html 2007
69 Damasio. S.332
39
den Res extensa – der ausgedehnten Substanz, also unabhängig von der
Außenwelt existiert.
Descartes hatte die Absicht seinen Satz logisch zu begründen und meinte
ihn damit unwiderlegbar zu machen. Was hätte er wohl zu den neuronalen
Forschungsergebnissen und über den untrennbaren Zusammenhang der
körperlichen und geistigen Funktionen gesagt?
Er war sich jedenfalls sicher, „daß die Wahrheit ‚ich denke, also bin ich’ so fest
und sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie
nicht zu erschüttern vermöchten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach
als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, annehmen“.70
Genauer formuliert er weiter: „Ich erkannte daraus, daß ich eine Substanz
sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu
ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge
abhänge, so daß dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin,
vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser
und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist.“
„Darin liegt Descartes’ Irrtum: in der abgrundtiefen Trennung von Körper
und Geist, von greifbarem, ausgedehntem, mechanisch arbeitendem,
unendlich teilbarem Körperstoff auf der einen Seite und dem ungreifbaren,
ausdehnungslosen, nicht zu stoßenden und zu ziehenden, unteilbaren
Geiststoff auf der anderen: in der Behauptung, dass Denken, moralisches
Urteil, das Leiden, das aus körperlichem Schmerz oder seelischer Pein
entsteht, unabhängig vom Körper existieren. Vor allem: in der Trennung
der höchsten geistigen Tätigkeiten vom Aufbau und der Arbeitsweise des
biologischen Organismus.“71
Damasio rechnet hier mit Descartes ab wie er sagt, und „nicht mit Platon,
dessen Ansichten über Körper und Geist noch viel ärgerlicher wären“, weil
Descartes’ Denkansatz noch heute seinen verheerenden Einfluss auf das
kollektive Körperbewusstsein ausübt.
So gibt es sogar heute noch Neurowissenschaftler, die allen Ernstes davon
ausgehen, dass Geist sich ausschließlich durch Gehirnaktivitäten erklären
lassen.
Die Tatsache, „daß der Geist aus dem Gehirn erwächst“ streitet Damasio nicht
ab, besteht aber auf einer Erweiterung und stellt die Frage nach den Gründen,
70 René Descartes. Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen
Wahrheitsforschung. Übersetzung: Kuno Fischer, 1863 (Org. 1637) IV. Dasein Gottes und der menschlichen Seele als
Grundlage der Metaphysik. »Cogito, ergo sum« als das erste Prinzip der Philosophie.
71 Damasio S.330 f
40 Descartes’ Dualismus zwischen Denken Res cogitans
und dem Ausgedehnten Res extensa zeigt sich in
seiner Beschreibung vom Tier als Automaten: „Gäbe
es dagegen Geschöpfe, die mit unserem Körper
Ähnlichkeit hätten, und unsere Handlungen so sehr
nachahmten, als es moralisch möglich wäre, so hätten
wir doch stets zwei recht gewisse Mittel, um zu
erkennen, daß die darum noch nicht wahre Menschen
wären. Das erste ist, daß sie niemals sich der Worte
oder anderer Zeichen bedienen könnten, um sie so
zusammen zu setzen, wie wir es tun, um anderen
unsere Gedanken zu vermitteln....Während nämlich die
Vernunft ein allgemeines Werkzeug ist, das bei aller
Art von Fällen dienen kann, bedürfen diese Organe
für jede besondere Tätigkeit einer besonderen Anlage.
So kommt es, daß es moralisch unmöglich ist, daß
es in einer Maschine genügend..Organe gibt, um sie
...ebenso handeln zu lassen, wie unsere Vernunft uns
handeln lässt.“
In Discours de la Méthode (1637):Aus: Die andere Schöpfung.
Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Herbert
Heckmann.
Hier wird die Computeranalogie zum Gedächtnis
vorweggenommen, die heute noch weit verbreitet
ist und das Gehirn als Hardware betrachtet, die die
Grundlagen für den Geist als Software bereitstellt.
Abb. 47 : Das Gehirn als Schaltzentrale. Fritz Kahn.
1929
„Leib bin ich und Seele – so redet das Kind. Und
warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber
der Erwachte, der Wissende sagt:
„warum sich die Hirnneuronen so vernünftig verhalten.“ Eine mögliche
Erklärung haben wir in der Erkenntnis unseres zweiten Gehirns im Bauch
erhalten.
Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem;
und Seele ist nur ein Wort für ein etwas am Leibe.
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit
2.3.4. Nietzsches »grosse Vernunft«
Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden,
eine Heerde und ein Hirt.
Werkzeug des Leibes ist auch deine kleine Vernunft,
mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werkund Spielzeug deiner grossen Vernunft. ...“
Abb. 48: Ausschnitt. Die Schule von Athen. Raffael
1509, Fresko, Stanza della Segnatura, Vatikan. Im
Vordergrund Ptolemäus, Hintergrund Zarathustra
„Ich“ sagst du und bist stolz auf dieses Wort.
Aber das gössere ist,
woran du nicht glauben willst, dein Leib und seine grosse Vernunft:
die sagt nicht ich aber, thut ich.
Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das
hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist
möchte dich überreden, sie seien aller Dinge Ende:
so eitel sind sie.
Werkzeuge und Spielzeuge sind Sinn und Geist –
hinter ihnen liegt noch das Selbst.
Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne,
es horcht auch mit den Ohren des Geistes.
Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra.Von den Verächtern des
Leibes. KSA 4
Der bedeutende doch auch kontrovers diskutierte Philosoph Friedrich
Nietzsche (* Röcken 1844 – 1900 Weimar) nimmt die Körper-Geist-Teilung
nicht hin und geht in seinen Schriften radikal gegen sie an.
In seiner Philosophischen Dichtung Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle
und Keinen wendet er sich den Menschen in der Person des Priesters und
Propheten zum Zweck der Überwindung der Moral zu.
Doch „als seine Botschaft von der Menge in der Stadt zurückgewiesen wird,
beschließt er, nur noch zu einzelnen zu sprechen, um sie für seinen Plan zu
gewinnen.“72
Also sprach Zarathustra, wie hier zitiert, auch von den Verächtern des Leibes, die
er abweichend von den im Zeitgeist vorherrschenden Meinungen über den
tatsächlichen Sitz der Vernunft unterichtet, die nämlich nicht, wie allgemein
angenommen, unabhängiges und „allgemeines Werkzeug ist, das bei aller Art
von Fällen dienen kann“73, sondern eben ein „Werkzeug des Leibes“.
Es ist, als ob Zarathustra hier Descartes persönlich anspricht:„Auch deine
kleine Vernunft, mein Bruder die du ‚Geist’ nennst,“ ist nur „ein kleines Werkund Spielzeug deiner grossen Vernunft.“. Nietzsche deklariert hier in Gestalt
des Propheten, dessen historisches Pseudonym den Anfang des moralischen
Bewusstseins verkörpert, nun das Ende der moralischen Geschichtsepoche.
Die grosse Vernunft ortet Nietzsche im Leib, und auch die Weisheit liegt im
Körper. Sie schöpft allerdings immer aus seinem Gedächtnis, denn der
Wissende hat erkannt, dass seinem Leib eine Vielheit mit einem Sinn, innewohnt,
der als Hirte die Herde bewacht.
Darin sehe ich eine Analogie zur körperlichen Intelligenz, die sich in den
Genen manifestiert. Dass sich in der Zellsubstanz Intelligenz befindet, beweist
die Gentechnologie mit ihren kontrovers diskutierten
Experimenten, wenn etwa aus reinem Zellgewebe Leben geklont
wird. Der genetische Code ist also die kleinste bisher bekannte physische
72 Kindlers Neues Literaturlexikon. München 1988
73 vgl. Descartes oben
41
Einheit des Menschen. „Die Beweise für den Einfluss der Gene auf die
menschliche Intelligenz sind überwältigend und es zeigt sich: Intelligenz ist
das am stärksten erbliche Persönlichkeitsmerkmal überhaupt.“74
Auf diese Weise kann ich Nietzsches gleichnishafte Philosophie in meiner
Intention interpretieren und anwenden.
Nietzsche schildert in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral die Seele als
ein Produkt von Gewalt und zwar von körperlicher Gewalt. Laut Nietzsche
entstand die europäische Seele nur durch die Verinnerlichung von Gewalt,
während die ältere Menschheit ihre aggressiven Triebe auslebte und in
entsprechend bildreichen Überlieferungen festhielt, in denen psychische
Introspektion praktisch nicht vorkommt, sondern durch Metaphern in
eine äußere Welt verlegt wird. Hieran sieht man, wie weit Nietzsche bereit
war theoretisch zu gehen, um dem Instinktiven - Körperlichen den Primat
gegenüber dem Seelisch - Geistigen zusprechen zu können.
Die Seele definiert sich für Nietzsche rein defizitär, sie ist nichts, außer dem
Bild, das das unterdrückte Individuum sich von sich selbst und seiner nicht
verstandenen Unterdrückung und ihren Mechanismen macht.
Ziel der Kultur sei es, „ein Tier heranzuzüchten, das Versprechen darf“75 Dies
wird erreicht durch eine Form der Mnemotechnik, die kein anderes Mittel
kennt und kennen kann, als den körperlichen Schmerz.
Der Mensch als krankes Tier muss sich von der Abwertung seiner Sinnlichkeit
durch Religion und Philosophie erst wieder befreien.
Eine wichtige Rolle spielt in diesen Überlegungen das Phänomen der
öffentlichen Hinrichtung unter Folter im vorbürgerlichen Zeitalter. Eine
solche Hinrichtung musste öffentlich sein, ein Hinweis auf den beabsichtigten
erzieherischen Effekt. Entscheidend ist hierbei, dass die Strafe, als
beabsichtigte Mnemotechnik wie eine natürliche Folge des Vergehens
erscheint.
Einerseits sollten solche Hinrichtungen vor Vergehen abgeschrecken und
damit auch Verinnerlichung und Gewissen erzeugen, andererseits dienten sie
der Befriedigung der unterdrückten Triebe ganz allgemein.
Gemäß Nietzsches Anthropologie lässt sich die „natürliche“ Grausamkeit des
Menschen nicht beseitigen, sondern nur transformieren.
„Sie geniessen die Freiheit(...) als frohlockende
Ungeheuer, welche vielleicht von einer
scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung,
Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und
seelischen Gleichgewicht davongehen, wie als ob
nur ein Studentenstreich vollbracht sei überzeugt
davon, dass die Dichter für lange nun wieder
etwas zu Singen und zu Rühmen haben.“
Nietzsche. 5. S.275
„Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit
scheint in der That ausserordentlich und fast
plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen
Zehn-Tausend oder Zehn-Millionen der Übercultur
hinter sich hat; und ich für meine Person zweifle
nicht, dass, gegen Eine schmerzhafte Nacht
eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens
gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt,
welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher
Antworten mit dem Messer befragt worden sind,
einfach nicht in Betracht kommen.“
Nietzsche. 5. S.303.
74 Plonim, Robert, Genforscher und Leiter des Social, Genetic and Developmental Psychiatry Center am Institut für
Psychiatrie in London; in: Profil, Nr. 48, vom 27. November 2000, 31. Jg., S. 146.
75 Nietzsche. 5. S. 291
42 2.3.5. Foucault und die Strafe als Memonik
„Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist
bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine „Seele“
wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber Stück der Herrschaft ist,
welche Macht über den Körper ausübt.“ „In dem Masse, in dem die Medizin, die Psychologie,
die Erziehung, die Fürsorge, die Sozialarbeit
immer mehr Kontrolle – und Sanktionsgewalten
übernehmen, kann sich der Justizapparat
seinerseits zunehmend medizinisieren,
psychologisieren, pädagogisieren; und in
eben diesem Masse verliert das Scharnier an
Nützlichkeit, welches das Gefängnis darstellte,
als es durch die Kluft zwischen seinem
Besserungsdiskurs uns seiner Wirkung als
Delinquenzkonsolidierung die Strafgewalt mit
der Disziplinargewalt verknüpfte. Inmitten dieser
Normalisierungsnetze verliert das Gefängnis an
Bedeutung.“
Foucault. S. 395
Foucault zitiert den Strafreformer de Mably, der 1789 äußerte: „Die Strafe
soll, wenn ich so sagen darf, weniger den Körper treffen, als die Seele“
(Foucault, S. 26).
Foucault, S. 42
2.3.5.1. Die seele als Resultat Körperlicher Gewalt
Während Nietzsche vor allem den psychischen Aspekt dieser Transformation
schildert, erörtert Foucault die institutionell-rechtliche Seite des Phänomens.
Laut Foucault geht es bei der Milderung der Strafen seit dem Ende des
Feudalismus „weniger um Schwäche oder Grausamkeit als um eine
fehlerhafte Ökonomie der Macht“76 Foucault untersucht, wie die Gewalt,
die sich in feudaler Zeit in martialischen Strafen manifestierte, im modernen
Strafrecht ihre immer effizienteren Formen findet. Dieser „Ökonomie der
Macht“ sieht er dabei zunehmend die ganze Gesellschaft unterworfen und
nicht nur den Straftäter.
Foucault schildert diese Seele, ähnlich wie Nietzsche, als Resultat
körperlicher Gewalt, und zwar von körperlicher Gewalt als Mittel der
Machtausübung. Und Foucault lässt keinen Zweifel, dass auch einer auf die
„Seele“ abzielenden Bestrafung nichts anderes übrig bleibt, als am Körper
zu strafen: „Zweifellos lässt sich ein Gedanke festhalten: dass in unseren
Gesellschaften die Strafsysteme in eine bestimmte »politische Ökonomie«des
Körpers einzuordnen sind. Selbst wenn sie auf gewaltsame oder blutige
Züchtigungen verzichtet, selbst wenn sie die »milden« Methoden der
Einsperrung oder Besserung verwenden, geht es doch immer um den Körper,
um den Körper und seine Kräfte, um deren Nützlichkeit und Gelehrigkeit, um
deren Anordnung und Unterwerfung.“77 Für Nietzsche entwickelte sich die
»Seele« parallel zur allmählichen Eindämmung der körperlichen Grausamkeit
ganz allgemein. Die Seele aber ist wesentlich identisch mit dem Gefühl
der Schuld, Schuld wiederum ist gleichbedeutend mit der Wendung von
Grausamkeit »nach innen«.78
76 Foucault. S. 101
77 Foucault. S. 36.
78 „... dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in´s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich
entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.“
43
Anschließend an diese Gedanken möchte ich folgende Frage aufwerfen: ob
nicht die Seele, verstanden als kulturelles kollektives Phänomen insbesondere
sofern sie sich definiert über ihre Schuld, identisch ist mit einem kollektiven
körperlichen Trauma, das ursprünglich durch die grausamen öffentlichen
Bestrafungen der vorbürgerlichen Zeit verursacht wurde?
2.3.5.2. Körperliche Gewalt als SChuldursache bei kafka und Huxley
Im 20. Jahrhundert wurde an dieses Konzept vielfach angeknüpft. Einige
Beispiele: im Werk Franz Kafkas spielt ein diffuses Gefühl der Schuld eine
zentrale Rolle, beispielhaft in seinem Roman Der Prozeß.79
Die Hauptfigur des Romans, Josef K., versucht verzweifelt
herauszubekommen, wie eigentlich die Anklage gegen ihn lautet.
Von Anfang an ist K. bereit, seine Schuld zu akzeptieren, er möchte nur
wissen, worin sie besteht. Er kann es aber nicht herausfinden. Stattdessen
wird er eines Morgens von zwei Männern zur Hinrichtung abgeholt. Auch
dagegen wehrt er sich nicht. K. erscheint stets isoliert, die anderen Figuren
scheinen Teil einer bürokratischen Macht zu sein, von der sie selbst nur
wenig wissen. Die Existenz der tatsächlichen Macht bleibt im Unklaren. Einen
zweiten Fixpunkt bildet jedoch die Strafe. Sie wird so lapidar wir möglich
geschildert und erscheint auch K. als vollkommen selbstverständlich.
Eine der wesentlichen Aussagen des Romans scheint zu sein:
Körperliche Gewalt bringt das Gefühl der Schuld erst hervor. Je unklarer der
Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe, desto unabweisbarer erscheint
die Schuld. Die Schuld wäre somit das verdrängte Gedächtnis des Körpers, die
Strafe selbst erscheint deshalb auch als Lösung/Erlösung, weil die Unklarheit
des Schuldgefühls endlich aufgelöst wird und klar wird, was eigentlich hinter
der Schuld steht: körperliche Gewalt, die übermächtig ist.
Aldous Huxley schildert in seinem Roman „Schöne neue Welt“, wie zukünftige
Industriearbeitern als Säuglingen eine Abneigung gegen Natur und Pflanzen
anerzogen wird, und zwar indem man sie zuerst mit Blumen spielen lässt
und ihnen anschließend Elektroschocks gibt.80 Vor dem Hintergrund dieser
Überlegungen scheinen alle Konzepte, die die „Seele“ oder den „Geist“
irgendwie mit etwas Höherem als dem Körper verbinden wollen aufs
Nietzsche, 5, S. 325
79 Franz Kafka. Gesammelte Werke in acht Bänden. Herausgegeben von Max Brod. Frankfurt am Main 1983.
80 Aldous Huxley. Schöne neue Welt. Deutsch von Herberth. E. Herlitschka. Hamburg 1953. S. 32
44 Noch krasser bringt Kafka den Zusammenhang
zwischen Schuld und körperlicher Strafe in seiner
Erzählung „In der Strafkolonie“ zum Ausdruck. Hier
werden die Verurteilten hingerichtet, indem ihnen eine
Maschine das übertretene Gebot so oft eintätowiert, bis
der Tod eintritt. Die Schuld auf begrifflicher, juristischer
Ebene, als juristischer Terminus erscheint hier identisch
mit der körperlich vernichtenden Strafe:
„Kennt er sein Urteil?“(...)“Es wäre nutzlos, es ihm zu
verkünden. Er erfährt es ja am Leibe.“
Kafka, Erzählungen, S.155)
Abb. 49 : Santiago Sierra. Linie von 250 cm auf sechs
bezahlte Personen tätowiert. Sechs arbeitslose
junge Männer aus der Altsadt von Havanna ließen
sich gegen Bezahlung von dreißig US-Dollar
tätovieren. Sierra bedient sich hierder Macht, die
er zu kritisieren scheint. Die Strafe der Armut wird
nicht nur dem Körpergedächtnis dieser Männer
eintätoviert, sondern auch underem kollektiven
Gedächtnis.
Schwerste diskreditiert. Unter anderem erweist sich jedes Konzept einer
Erziehung „zum Guten“ als illusionär, weil ihr Hauptmittel, die körperliche
Strafe, nichts erzeugt, außer schlechtem Gewissen, das schlechte Gewissen
wiederum ist nichts anderes als eine Erinnerung an körperliche Strafe, die
jedoch schon soweit verzerrt ist, als der Bestrafte die Schuld für die Strafe bei
sich selbst sucht.
„Die Hauptperson bei den Marterzermonien ist das Volk, dessen wirkliche und
unmittelbare Gegenwart zu ihrer Durchführung erfordert wird.“81
„Will man aber, dass die Bestrafung ohne Schwierigkeiten im Geiste
gegenwärtig werde, wenn man an Verbrechen denkt, so muß die Verbindung
zwischen beiden so unmittelbar sein wie nur möglich: eine Verbindung von
Gleichheit, Analogie, Ähnlichkeit...Wer in seinem Verbrechen gewalttätig
war, wird körperliche Schmerzen erleiden; der Taugenichst wird zu einer
mühevollen Arbeit gezwungen werden; der Niederträchtige wird eine
entehrende Strafe erleiden.“ 82
81 Michel Foucault. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Deutsch von Walter Seitter. Frankfurt
1976. S. 75.
82 Foucault, S. 135
45
Körper, erinnere dich nicht nur daran,
C.Körper - Gedächtnis in der Kunst
wie oft du geliebt wurdest,
Nicht nur an die Betten, in denen du lagst,
Sondern auch an jenes Verlangen nach dir,
Das aus offenen Augen strahlte,
Das Gedächtnis ist der Fundus des Künstlers. Hier liegt das Basismaterial für
seine Ideen. Sie entstehen immer aus Erinnerung. Also könnte man sagen,
dass Kunst materialisierte Erinnerung ist oder auch kollektives Gedächtnis
in einer persönlichen Verarbeitung. Jede Kunst entsteht aus der Erinnerung
des Urhebers und stellt somit immer eine Imagination der eigenen
Wahrnehmung dar.
Ist das Werk für andere von Nutzen, bekommt also eine Allgemeingültigkeit
und spricht die Erinnerung Vieler an, geht es, wenn sie zur richtigen Zeit
wahrgenommen wird, als Bedeutungsträger ihrerseits ins kollektive
Gedächtnis ein und wird vielleicht von Anderen aufs Neue in einen aktuellen
Kontext gestellt. Das Körpergedächtnis spielt dabei eine große Rolle.
An das Zittern der Stimmen – und wie
Ein zufälliges Hindernis es vereitelte.
Jetzt, da alles der Vergangenheit angehört,
Scheint es fast, als ob du dich auch
Jenem Verlangen hingabst – wie es strahlte,
Erinnere dich, aus Augen,
die auf dich gerichtet waren,
Wie die Stimmen nach dir zitterten,
erinnere dich, Körper.
Konstantinos Kavafis, Das Gesamtwerk Aus dem
Griechischen übersetzt und herausgegeben von
Robert Elsie. Frankfurt a.M., 1999. Orginalausgabe
1918. S. 106 f.
Unter Körpergedächtnis verstehe ich sublimale, also unter der
Bewusstseinsgrenze liegende Informationen, die durch bestimmte Reize an
die Oberfläche gelangen. Interessant wird es, wenn sie in diesem Moment
auch bewusst werden, und reflektiert werden können, um sie dann in neue
Zusammenhänge zu stellen. Wie oben schon beschrieben, verändert jede
Erfahrung die Strukturen der Gene.
Ich stelle im Folgenden Künstler vor, deren Impulse nicht nur aus dem
Körpergedächtnis kamen, sondern deren Werke sie auch ein Stück weit
widerspiegeln. Wie wir gesehen haben, spielt Körpererinnerung im Grunde
für jede Form des Ausdrucks eine Rolle.
Es gab und gibt immer wieder Künstlerinnen und Künstler, die
Körpererinnerung zum Thema machen. Spontan fällt mir an dieser Stelle
Giacometti ein, dem es darum ging, die Persönlichkeit seiner Modelle in der
Totalität des Individuums zu erfassen und ihre Lebendigkeit darzustellen.
Wenn ich davon ausgehe, dass wir durch Spiegel-Neuronen fähig sind unsere
Empathie zu steigern und, dass wir dadurch Eigenschaften von anderen
Personen imitieren können, hatte Giacometti diese Fähigkeit weit entwickelt.
Künstler, deren Körpererinnerung so in ihre Arbeit einfließt, dass sie in
gewisser Weise noch am Werk ersichtlich ist, sind mir leider nur sehr wenige
untergekommen.
46 Abb. 50 : Alberto Giacometti, 1961
Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1913-1927) war natürlich eines der Werke, die das Thema Erinnerung für die
Literaturwissenschaften bedeutsam machte. In der berühmten und viel zitierte Passage beschreibt der Autor, wie ihm beim
Genuss eines in Tee getauchten Gebäcks unvermittelt eine längst vergessene und damit verloren geglaubte Kindheitsszene
wieder lebendig wird:
Sie [Mutter des Erzählers] ließ darauf eines jener dicken
ovalen Sandtörtchen holen, die man ‚Madeleine‘ nennt
und die aussehen, als habe man als Form dafür die
gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt.
Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag
und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel
Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine
darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit
dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen
Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie
gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir
vollzog.
Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein
bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte
mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die
Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen
zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem
bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich
damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig
aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt:
oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern
ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig,
zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.
Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte,
daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens
in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von
ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was
bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen
zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im
ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger
davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn
die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen.
Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche,
nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt,
aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte
Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage
wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß
und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm
herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung
haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus
zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich
meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch
wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist
sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die
dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das
ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn
hat. ... Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in
Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung
sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun
versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. ... Mit großer
Anstrengung versucht er die Erinnerung zu greifen, die nur
schwach erkennbar, in einem gestaltlosen Lichtschein,
in Begleitung eines unzertrennlichen Gefährten, des
Geschmacks auftritt. ...
Und dann mit einem Male war die Erinnerung da.
Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am
Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage
vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich
ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante
Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder
Lindenblütentee getaucht hatte.
In Swans Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. 1964. S.63 ff
47
Meine Auswahl an künstlerischen Positionen richtet sich an meiner
Argumentationslinie aus, die ich im Bezug zu meiner eigenen künstlerischen
Arbeit aufzeichne. Sie haben zwar nicht direkt auf meine Entscheidungen
eingewirkt, doch beeinflussen sie natürlich indirekt, eben durch das kollektive
Gedächtnis meine kulturelle Identität.
Als Beispiel für Kunst als Erinnerung schien mir Luise Bourgeois gut geeignet.
Sie gilt als Vertreterin einer Kunst, die aus der biographischen Erinnerung
entwickelt ist.
Eine Arbeit von Pipilotti Rist möchte ich im Abschnitt Kindheit und
Erinnerung vorstellen.
Anhand der Arbeiten von Lygia Clark werde ich das Thema Tradition und
Erinnerung veransschaulichen.
Die Künstlergruppe Gelatin werde ich im Abschnitt über Partizipation und
Körpererinnerung vorstellen.
Einige Positionen entdeckte ich erst im Laufe der Recherche zu dieser
Arbeit und andere konnte ich in der Auseinandersetzung mit meiner
Themenstellung in Verbindung bringen.
Auch die Literatur ist eine Kunst der Erinnerung, da im literarischen Text
etwas erinnert wird, das dann als Literatur selbst Gegenstand der Erinnerung
ist.
Das Gedächtnis ist aber im Grunde darauf angelegt Zukunft zu erzeugen
oder anders gesagt, Zukunft voraus zu ahnen um sich besser auf die
Gegebenheiten einstellen zu können und das Leben des Organismus zu
sichern83. Aus meiner Analyse der verschiedenen Gedächtnissysteme
heraus möchte ich über ihre Relevanz für den kunstgeschichtlichen Diskurs
sprechen, und ausgehend vom Körpergedächtnis, eine weitere Perspektive
beachten. Der Gedächtnis-Begriff, so stellt sich heraus, übernimmt im
jeweiligen Kontext anderer Funktionen.
So haben sich etwa die Künstler der Spurensicherung84 mit Gedächtnis
befasst. Zu ihnen gehört Nikolaus Lang mit einem ethnographisch
wissenschaftlich anmutenden Habitus und das Künstlerpaar Anne und
Patrick Poirer, die kollektive Erinnerung der Antike mit ihrem individuellen
Empfinden verarbeiten.
Joseph Beuys könnte mit seinem Enviroment Zeige deine Wunden ebenso
als ein Spurensicherer angesehen werden, der seine Materialien als Spuren
83 vgl Roth
84 Der Begriff der „Spurensicherung“ wurde von Günther Mertken geprägt.
48 Abb. 51: Nicolaus Lang. Für Frau G., Nachlass-Lebensmittelund religiöser Hort. 1981/82. Glas, Holz, Papier, Blech, 80 x
700 x 700 cm
Abb. 52 : Joseph Beuys .Zeige deine Wunde“ . Detail.
1974 / 75 München Lehnbachhaus..
Abb. 53 : Santiago Sierras Arbeit
in der Synagoge Stommel lässt
sich auch als Mahnmal gegen
die Banalisierung von Erinnerung
bezeichnen.
245 Kubikmeter
Autoabgase wurden 2006 von sechs
Autos, die in der Nachbarschaft
geparkt waren, in die Synagoge
geblasen.
Die Kohlenmonoxidgase ereicht eine tödliche Konzentration.
Ein Sicherheitsposten mit einer umluftunabhängigen
Schutzmaske begleitet die Besucher, die einzeln auf eigenes
Risiko mit Schutzmaske den Raum betreten konnten.
Die körperliche Betroffenheit spielt hier wie in Solidatität mit
den tätovierten Arbeitslosen und Prostituierteneine wichtige
Rolle. Sie wird ohne Gnade eingefordert,
seiner Erinnerung materialisiert. Er war einer der ersten Künstler, der in
einer sehr symbolischen Art und Weise dem Vergessen entgegenwirken
wollte. „Obwohl sich das Werk nicht konkret auf den Faschismus bezieht,
beinhaltet es doch grundlegende Gedanken zur Vergegenwärtigung von
Vergangenheit.“85 Er fordert dazu auf, den Schmerz nicht zu verstecken
sondern zu zeigen, als ersten Schritt auf dem Weg zur Heilung.
Die „Funktionalisierung“86 der Erinnerung durch das Denkmal verkürzt die
Sichtweise von Geschichte und lässt dem Betrachter nicht viel Raum für
eigene Assoziationen. Einige Künstler versuchten den Denkmalbegriff als
„staatlich verordnetes Gedenken“87 neu zu formulieren. Die Hilflosigkeit
in der Verarbeitung deutscher Vergangenheitsbewältigung löste ein
Überdenken der traditionellen Möglichkeiten aus. So hat Jochen Gerz in
seinem Mahnmal gegen den Faschismus den Passanten die Möglichkeit
gegeben ihre individuelle Erinnerung in den im Laufe der Zeit im Boden
versinkenden Monoliten zu ritzen. Olaf Metzels Skulpturen im öffentlichen
Raum konfrontieren unkommentiert mit Themen wie den Umgang mit
unliebsam gewordenen Gastarbeitern oder mit Gefangenen der RAF.
Künstlerinnen wie Sophie Calle und Iris Häusler verarbeiten fiktive Erinnerung,
indem sie Lebensräume von selbst entworfenen Persönlichkeiten zur
Grundlage ihrer Werke machen. Die Erkenntnis, dass
Vergangenheit immer erst durch die eigene Bewertung entsteht ist hier
verarbeitet.
Künstler wie Marcel Broodthaers, der aus wertlosen Artefakten ein fiktives
„Musée d’Art Moderne, Departement des Aigles“ konstruiert, Daniel Buren,
der mit seiner monotonen Streifenmalerei nicht auf die ästhetische Erfahrung
minimalistischer Grundstrukturen,“ abzielt, sondern kritisch und subversiv
das Beziehungsgeflecht zwischen Künstler, Kunstwerk und Präsentationsort
„mit seinen institutionellen Bedingungen“88 untersucht, oder Hans Haakes
sozio-ökonomischen Untersuchungen des Kunstsystems sind künstlerische
Ansätze, die mit ihren Arbeiten den Zweck der Institutionskritik89 verfolgen.
85 Cornelia Gockel. Zeige deine Wunden. Faschismusrezeption in der deutschen Gegenwartskunst. München 1998.
S.8
86 vgl.Cordula Meier
87 Cornelia Gockel in ihrem Skript zur Vorlesung Erinnern und Vergessen.
88 Johannes Meinhardt in DuMonts. Köln 2006.
89 Der Bergriff Institutionskritik tauchte erstmals bei Andrea Farser im Jahre 1985 in einem Text über Louise
Lawler. Sie schrieb über Künstler wie Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder Hans Haacke, sie seien zwar sehr
unterschiedlich, jedoch alle der „institutional critique“ verpflichtet. Der bekannte Kunsthistoriker Benjamin Buchloh
etablierte den Begriff mit der Überschrift seiner Abhandlung über die Konzeptkunst „From the Aesthetics of
49
Viele anderen Künstler haben sich im Zusammenhang mit Schrift als
Gedächtnissystem mit Erinnerung auseinandergesetzt, wie On Kawara,
Christof Boltanski, Hanne Darboven und Magdalena Jetelowá. Andere haben
sich am kollektiven Gedächtnis der Fotografie bedient wie Thomas Demand
und Mathias Wähner, der den räuberischen Moment, der dem Akt des
Fotografierens anhaftet in einem Akt der Aneignung historischer Momente
fortsetzt. Die individuelle Erinnerung wird so der kollektiven implantiert.
„Jede Fotografie ist eine Art memento mori.
Fotografieren bedeutet teilnehmen an der
Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit
anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch,
dass sie diesen einen moment herausgreifen und
erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das
unerbitterliche Verfliessen der Zeit.“
Susan Sonntag. Über Fotografie. Frankfurt am Main 1980. Org. New York
1977 S.21
1. Kunst als Erinnerung
„ Jede Kunst kommt aus der Erinnerung. „Mein früheres Leben ... durchdringt alles, was ich mache.
Man muss seine Geschichte erzählen, und man muss seine Geschichte vergessen.“ Wenn jede Kunst
aus der Erinnerung kommt, ist das Körpergedächtnis angesprochen. Das Körpergedächtnis ist ein
genetisches, ein biografisches, ein sich erinnerndes und ein kulturelles. Ein Künstler geht nicht
in die Erinnerung zurück, er holt sie in die Gegenwart. Das ist das Entscheidende: Die Erforschung
des Selbst aus einem Bewusstsein und Denken von Gegenwart.“
Rede zur Eröffnung des Hamburger Architektur Sommers 2006
1.1. Reflexion der Kindheit Bei Louise Bourgeois
Louise Bourgeois ist eine Künstlerin, die ihr gesamtes Werk aus der Reflexion
ihrer Kindheit heraus entwickelt hat. Die Kuratorin und Autorin Mary Jane
Jacob meint sogar, keine andere Künstlerin im 20.Jahrhundert habe mehr von
ihrem Leben als Quelle ihrer Kunst offenbart als Louise Bourgeois.90
Sie kehrte ihr Innerstes nach außen: „Ob etwas privat oder öffentlich ist,
spielt für mich keine Rolle, “doch „privates und Privatsphäre sind für mich
verschiedene Dinge.“91Sie arbeitete an ihren innersten Verletzungen und
machte sie zum Thema ihrer Kunst, griff freudianische Klischees auf um ihner
habhaft zu werden. „Ich bin eine Frau ohne Geheimnisse. Schon deshalb, weil
mein Leben Tag für Tag die Vergangenheit auslöscht.“
Louise Bourgeois kommt in ihrer Kunst auf Erkenntnisse, die die
Neurowissenschaften als selbst modifizierende Kräfte des Gedächtnisses
Administration to Institutional Critique“
90 Mary Jane Jacob. Papier Pleins – Pensées- Plumes – Paroles Privée. In: Louise Bourgeois. Galerie Karsten Greve.
Köln. Paris. Milano. St.Moritz 1999. S.126
91 Louise Bourgeois in einem Interview in: Christiane Meyer-Thoss,. Louise Bourgeois. Zürich 1992
50 Abb. 54: Louise Bourgois portraitiert von Robert
Mapplethorpe. 1982
bezeichnet. Sie ist überzeugt: „»Privates« ist niemals ein Risiko. Das Private
sollte verstanden, gelöst, verpackt und abgelegt werden.“
In ihren geräumigen Installationen, den Cells verarbeitet Louise Bourgeois
das Grundthema Schmerz. „Die Cells stellen verschiedene Sorten von
Schmerz dar: den physischen, emotionellen und physischen, mentalen
und intellektuellen Schmerz. ... Jede Zelle befasst sich mit der Angst.
Angst ist Schmerz. Oft wird sie nicht als Schmerz wahrgenommen, denn
sie tritt oft verkleidet auf.“ Die Metapher der Zelle weist direkt auf das ihr
eingeschriebene Körpergedächtnis hin. So materialisiert Bourgeois ihr
Körpergedächtnis in dieser Installationsserie.
Abb. 55 : Cell (Choisy). 1990 -3. Metal, glass and
marble. 302.3 x 368.3 x 304.8 cm. Collection: Ydessa
Hendeles Art Foundation.Toronto.
Abb. S6 : The Banquet – A Fashio Show of Body
Parts. 1978. Performance mit Louise Bourgeois und
Gert Schiff.
Doch hat sie auch einige Performances veranstaltet wie die Banquets, an
denen sie namhafte Vertreter der New Yorker Kunstszene beteiligte.
Die Performance ist hier mit der Installation Confrontation kombiniert. So
bewegt sich Bourgeois auf verschiedenen Ebenen, die zum einen durch die
Darstellung verschiedener Geschlechtsattribute, die nicht eindeutig dem
Männlichen oder Weiblichen zugeschrieben werden, „ eine Verschiebung und
Verwirrung von Geschlechterdefinitionen und parodiert damit das ‚uralte
Drama’ von Liebe, Leidenschaft und Tod. Zum anderen bringt sie die Vertreter
der etablierten New Yorker Kunstszene dazu, in ihren eigenen Särgen platz
zu nehmen, und verspottet so unter Einbeziehung autoritätskritischer
Ausdrucksformen wie Punk die Machthaber eines Systems, mit dessen
diskriminierenden Ausschlussverfahren sie selbst konfrontiert war.“
Natürlich verschränken sich, wie in jedem künstlerischen Werk verschiedene
Themen so auch bei Bourgeois, die man durchaus, im feministischen Diskurs
der performativen Geschlechtsidentität92 betrachten könnte. Doch möchte
ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, um den roten Faden nicht
noch mehr zu überspannen. Dieser kunsthistorische Interpretationsansatz
kann sicherlich auch an meinen Arbeiten zu interessanten Theorien führen.
Doch ist mein Fokus auf die Praxis gerichtet.
92 die von Judith Butlers Theorien maßgeblich geprägt ist. Vgl. Wenner Stefanie Hg. / Sasse Sylvia.Kollektivkörper.
Kunst und Politik von Verbindung. Bielefeld 2002
51
1.2. Take a Position in Relation to Your Works
Abb. 57 : take a position in relation to your works. war der Auftrag, den ich von meinem Partner im Projekt comutation.de erhielt. Dahinter steckte die Idee
die eigene künstlerische Arbeit in Frage zu stellen und sich selbst zu bewerten. Fotografien 40 x 40. München 2000.
So zeige ich in einigen Fotoarbeiten aus der Serie take a position in relation
to your works mich im Moment der Schwangerschaft in Beziehung gesetzt
zu älteren Arbeiten. Ich stelle mich zu meinen früheren Werken in den
Positionen, die meiner Interpretation nach den Zusammenhang am
deutlichsten aufdecken. Die körperliche Positionierung entspricht meiner
Erinnerung an die Situation der Werkherstellung. Die Arbeiten sind mit
Selbstauslöser fotografiert. Die Spiegelung der Szenerie in den Atelierfenstern
ersetzte mir einen Spiegel. Die Handlungsabläufe waren präzise kontrolliert.
Auch eine meiner jüngeren Arbeiten beschäftigt sich
ganz direkt mit dem weiblichen Körper der Mutter.
In der Form der russischen Holzpuppen ist diese Figur in
Gips gezogen.
Sie wurde bisher nur als Modell gezeigt. Die Größe ist so
gewählt, dass eine erwachsene Person darin Platz findet.
Demnächst wird die Matrioschka als begehbare Figur in
einer Installation gezeigt werden. Hierbei geht es mir in
der Untersuchung unter vielen anderen Aspekten um
die Wahrnehmung des sehr beengten Innenraums.
52 Abb. 58 Matrioschka. Gips 1,85 x 0,95m München
2006 Akademiegalerie-Galerie,. Polymeregips 2005.
2.Kindheit und Erinnerung
Der Geschmack der Madeleine in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit beschwört unzähligen Details der Kindheit der Hauptperson
herauf. Proust richtet seine Aufmerksamkeit in der Beschreibung des
Erinnerns auf die Erkenntnis, dass die sinnliche Erfahrung den Auslöser seiner
zeitlichen Wahrnehmungsdimensionen ausmacht, und damit liefert er eine
detailreiche poetische Darstellung eines Körpergedächtnisses mit seinen
sensorischen und neurologischen Abläufen. Erinnerung ereignet sich nicht
ontologisch, sondern in einer Wiederherstellung zahlreicher sensorisch
wahrnehmbarer Faktoren. Genau diese Phänomene möchte ich in ihrer
künstlerischen Verarbeitung im Folgenden untersuchen.
Abb. 59 : Pipilotti Rist. Das Zimmer. 1994/2000 Video
Installation rTelevision Monitor, 10 Pipichannels,
crossbar, sofa (red), armchair, lamp, pictures,remote
control,(all larger than lifesize, exept television.)
Abb. 60 : Kinderwagen x 1.7. Edelstahl, Gummi, Holz,
Schaumstoff. Diplomausstellung der Akademie der
Bildenden Künste München 2006.
2.1. Pipilotti Rist
Die 1962 in der Schweiz geborene Video- und Computerkünstlerin Pipilotti
Rist macht in ihren Videos und Installationen oft den Körper zum Thema. Die
verzerrten und gestörten Bilder werden meist in einer extra geschaffenen
Umgebung ausgestrahlt.
Eindrücke verdauen ist eine Arbeit, die sich im Titel an eine Redewendung
anlehnt. Hier wird wie so oft eine Weisheit aufgedeckt, die jedem Körper in
seinem zweiten Gedächtnis innewohnt. Pipilotti Rist zeigt hier die Aufnahme
einer Magenendoskopie auf einem Bildschirm, der sich in einem gelben
Badeanzug befindet.
Grenzüberschreitungen und Provokation gehören zu ihrem Programm.
Wie sie in der Thematisierung der, für westliches Empfinden intimsten
aller Situationen beschreibt: „ Bei meiner Arbeit Closet Circuit (2000) ist
eine Infrarotkamera unter der WC-Schüssel installiert. Sie filmt durch einen
Glasboden und spielt die Bilder in Direktübertragung auf einen Monitor vor
dem WC. Die Besucherinnen und Besucher erneuern und generieren selber
das Bild: ob sie sitzen, sich erleichtern oder spülen.“93 Hier geht es Rist um
öffentliche Videokunst, dessen Quellenmaterial sich ändert und um eine, zu
einem gewissen Grad erweiterte oder geteilte Autorenschaft.
Von der Videoinstallation Das Zimmer, in der sie dem Besucher eine
Perspektive aufzwingt, die ihn auf Kindesgröße schrumpfen lässt, wurde
93 Aus einem Interview von Tim Zulauf mit Pipilotti Rist, geführt, am 22. Juni und 2. September 2005. http://www.
stadtkunst.ch/0/5/22/82/ 2007.
53
mir berichtet, als ich über den Bau des überdimensionierten Kinderwagens
nachdachte. Die 1995 im Hamburger Kunstverein vorgestellte Installation
mit den überdimensionierten Möbeln wird von einer integrierten
Überwachungskamera gefilmt und zugleich auf den Monitor gespiegelt und
versetzt den Besucher so in eine rätselhafte Realitätswahrnehmung.
Die Installation wirkt durch die Maßstabsverschiebung, die den Betrachter
physiologisch in eine seiner Kindheit ähnliche Situation versetzt, sicherlich
auch auf die Erinnerungsfähigkeit. Doch geht es der Künstlerin hier, wie
sie selbst betont, vor allem um die Idee „Museumsräume als erweiterte,
übergreifende und kollektivierte Privaträume.“94zu nutzen.
Im Gegensatz zu meiner Arbeit Luftlinie, in der ich von der Wahrnehmung
eines Säuglings ausging, um zu untersuchen in wie weit sie beim Betrachter
Erinnerungen an diese Zeit hervorruft.
.. Körper ist für mich ein vielschichtiges Symbol. ...
Klar bin ich Feministin im realpolitischen Sinne,
aber für mich bezieht sich das Werkzeug Körper
nicht nur auf die Genderdiskussion. Dieses
zwanghafte Systmologisieren ist eine Eigenschaft
der Wissenschaft. Ich empfinde meine Arbeit
kastriert, wenn sie auf die Genderfrage reduziert
wird. ...
Der Körper mit seinen Fähigkeiten ist immer das
Grösste, das Zentrum.
Pipilotti Rist in einem Interview mit Alexander Pühringer:.2001, S.58
2.2. Das Kunstwerk in Kommunikation Bei Margarete Hentze
Zum Thema Kindheit und Erinnerung habe ich einige Arbeiten entwickelt.
Aktuell arbeite ich gerade an großformatigen Papierreliefs, die die
Projektionsfläche für Diaprojektionen bilden. Die Aufnahmen entstehen aus
der Perspektive eines Kleinkinds und sind in der Projektion hochvergrößert,
so dass der erwachsene Betrachter im Größenverhältnis zum Stilleben dem
Kleinkind entspricht. Die abgebildeten Gegenstände und die Situationen
sind dem Alltag entnommen und haben Symbolcharakter. Bewegt sich der
Rezipient in den Lichtkegel der Projektion und verdeckt mit seinem Schatten
das Bild, erscheint an dieser Stelle das reine Papierrelief. Je nach Abstand
zwischen Projektor und Relief wird der Schatten größer oder kleiner.
Durch seine physische Präsenz, die sich durch seinen Schatten im Bild
materialisiert, hat der Betrachter direkten Anteil am Kunstwerk. Es entstehen
vielfältige Ebenen, von denen aus die Gesamtsituation wahrgenommen
werden kann.
Abb. 61 : Margarete Hentze. Diaprojektion
auf Papierrelief. 1,50 x 2,00 München 2007.
94 Ibidem Rist 2005.
54 3. Tradition und Gedächtnis
Beine und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen.
Marcel Proust
„In meiner Arbeit wird das Körpergedächtnis
sichtbar; es handelt sich nicht um ein virtuelles
Leben sondern vielmehr um konkretes Empfinden.
Die Empfindungen werden durch das l’objet
relationnel verursacht, neu belebt und
transformiert oder durch direkte Berührung der
Hände. Wenn es mit dem Körper in Kontakt ist, lässt
das das l’objet relationnel durch seine physischen
Qualitäten das affective Gedächtnis auftauchen,
das Erfahrungen verborgen halten kann, die die
verbale Erinnerung nicht aufdecken kann.“
Lygia Clark über das L’objet relationnel. Memoir de corps. Aus: Lygia
Clark. Barcelona 1998. übers. M. Hentze S.326
Das Gedächtnis erfindet das Selbst in jedem Moment neu, indem es
unterscheidet, was für die Zukunft weiterhin bedeutsam sein könnte und
verwirft, was nicht.
Das Gedächtnis erinnert und vergisst also gleichzeitig. Um dem Vergessen
entgegen zu wirken, bilden menschlichen Kulturen immer aufs Neue Denkund Handlungsmuster in Sitten und Gebräuchen aus, die als Tradition von
einer Generation zu nächsten weitergegeben werden. Diese Überlieferungen
können in mündlicher oder schriftlicher Form religiöse, ethische,
wissenschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Inhalte haben, die
heute meist über komplizierte Bildungssysteme vermittelt werden. So lässt
sich Tradition also als gemeinschaftliches Gedächtnis definieren.
Die folgende Künstlerin habe ich ausgesucht, da ihr Werk explizit darauf
ausgerichtet ist, das Körpergedächtnis des Betrachters zu animieren. Doch
ist ihre Herangehensweise selbstverständlich durch ihren kulturellen Kontext
geprägt, der sich auf ihr gesamtes Werk auswirkt.
3.1. Lygia Clarks körpertherapeutischer Ansatz
Abb. 62 Lygia Clark: Baba antropofágica 1973. Die
Teilnehmer überspannen die am Boden liegende
Person mit Fäden, die sie sich aus dem Mund ziehen.
Mit einm Spinnennetz gleich wird die ‚Beute‘ ins
Kollektiv geholt.
Lydia Clark (*1920-1988 in Rio de Janeiro) ist eine brasilianische Künstlerin,
deren Frühwerk in den 50er Jahren konstruktivistisch von ihren Lehrern Arpad
Szènes und Fernand Léger beeinflusst ist.
Ihr kultureller Hintergrund, der von einer Europäisierung lateinamerikanischer
Mischkultur geprägt war, in der sich die verschiedenen Einflüsse vorkolonialer
afrikanischer und indianischer Einflüsse der Tupi-Stämme95 mit der durch die
Koloisierung geprägten Traditionen überkreuzen, wurde in ihrem Spätwerk zu
einem wichtigen Bezugspunkt.
In den 70er Jahren begann sie gleichzeitig mit ihrer Lehrtätigkeit an der
Sorbonne in Paris, Fragen nach dem Raum des kollektiven und nach
kulturellem Austausch performativ zu verarbeiten.
Mit ihrer Performances Baba antropofágica und Canibalismo, die sie
1973 in Paris und São Paulo inszenierte, untersuchte sie in körper- und
95 Die Anthropophagie der portugiesischen Sprache propagierte Oswald de Andrade, der in Anspielung auf die
Tupi-Sprache der Indios den berühmten Satz prägte: „Tupi or not tupi, that is the question“. Mit dem Manifesto
Antropófago wird ein revolutionäres Programm verfasst, das europäische Technologie und Wissen kanibalisch
assimiliert. Revista de Antropofagia, Ano 1, No. 1, maio de 1928
55
sinnesbezogenen Handlungen unter den Teilnehmern Kollektivbildung.
Dabei griff sie auf den Topos des Kannibalismus zurück.
In dieser Performance ist ein reglos am Boden liegender Körper mit
exotischen Früchten bedeckt, die nach und nach von den ringsum sitzenden
Teilnehmern mit verbundenen Augen verspeist werden.
Dieses Ritual der gemeinsamen Nahrungsaufnahme erinnert an
gemeinschaftsbildende Traditionen im totemischen Mahl oder im christlichen
Abendmahl, das den Zweck hat einen Kollektivkörper zu formen.
„ Die kannibalische Metapher des Verschlingens als Ausdruck für
Kommunikation,wird gewissermaßen wörtlich genommen und in eine
Inszenierung überführt, die das Körpergedächtnis aktiviert.“96
In der Performance L’Objet Relationnel verfolgt Lygia Clark die Absicht durch
das Berühren des Körpers mit den l’objets relationnels, die Körpererinnerung
des Teilnhmers zu wecken. Ende der 50er Jahre beginnt Lygia Clark schon
Objekte zu bauen, die den Betrachter mit einbeziehen.
Ihr Interesse an therapeutischen Möglichkeiten von Kunst ist offensichtlich.
Die späten interaktiven Arbeiten enthalten zwar Elemente von Happening
und Performance, sind aber wohl eher Versuche, sich entlang der feinen
Trennungslinie zwischen zeitlich und räumlich fixierter Kunst einerseits
und Psychotherapie andererseits zu bewegen. Seit 1978 widmete sie sich
ausschließlich ihrer psychoanalytischen Praxis.97
Abb. 63: Lygia Clark: Canibalismo 1973 in:
Ausstellungskatalog Lygia Clark: Fundació Antoni
Tàpies. Barcelona 1997. 302.
„.. unser Augenmerk muss sich von der Botschaft, als
4. Partizipation und Körpererinnerung
Auf die Entwicklung von partizipatorischen Praktiken in der Kunst möchte ich
im Folgenden kurz eingehen, um mir einen Überblick in einem praktischen
Bereich zu verschaffen.
4.1. Die Veränderung der Wahrnehmung durch eine
Beteiligung am Kunstwerk ist nachzuvollziehen, wenn man die lange
Tradition bedenkt, in der sich Künstler wie auch Rezipienten bewegen.
Interaktion, Partizipation und Kommunikation sind zentrale Begriffe und
Konzepte in der Kunst des 20. Jahrhunderts, die Werk, Rezipienten und den
Künstler in ein bis dahin ungewohntes kommunikatives Verhältnis setzen.
96 Inge Baxmann in Sylvia Sasse/ Stefanie Wenner Hg. Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung. Bielefeld
2002. S,61
97 http://www.universes-in-universe.de/doc/clark/d_clark4.htm
56 einem objektiven System möglicher Informationen,
auf die kommunikative Beziehung
Botschaft
und
Empfänger
zwischen
verlagern: eine
Beziehung, bei der die interpretative Entscheidung
des Empfängers den effektiven Wert der möglichen
Information
konstruiert...Will
man
aber
die
Bedeutungsmöglichkeiten einer kommunikativen
Struktur untersuchen, so kann man vom Pol
»Empfänger« nicht absehen. Sich in diesem Sinne
mit dem psychologischen Pol zu beschäftigen,
bedeutet
die
Anerkennung
der..
formalen
Möglichkeit, dass eine Botschaft vielleicht nur Sinn
hat, sofern sie durch eine gegebene Situation (eine
psychologische und damit geschichtliche, soziale,
anthropologische im weitesten Sinne) interpretiert
wird.“ Eco. Das offene Kunstwerk S.132 f
Das offene Kunstwerk
Umberto Eco kommentiert sein Offenes Kunstwerk
in der 2.Auflage als eine Aufsatzsammlung nicht
allein über theoretische Ästhetik sondern auch über
Kulturgeschichte – genauer: über die Geschichte der
Poetiken wobei er unter »Poetik« die Untersuchung
der sprachlichen Strukturen eines literarischen Werkes
versteht sowie auf alle Kunstgattungen übertragen die
Untersuchung des künstlerischen Tuns ... der Modalität
jenes Produktionsaktes, der ein Objekt in Hinblick auf
einen Konsumtionsakt konstituieren möchte. (S.10)
Abb. 64 : El Lissitzky. Prounenraum, 1923. reconstructie
1971. Prounenraum, 1923 reconstructie 1971. 320 x 364 x
364 cm
Astrid Wege erzählt in dem Artikel über Partizipation
eine Anekdote über Duchamp, der 1919 seiner
Scxhwester ein Geometriebuch gab, das sie an
einem Faden auf dem Balkon aufhängen sollte, so
dass der Wind „ das Buch durchblättern, sich seine
eigenen Probleme aussuchen, die Seiten umwenden
und herausreißen“ könnte. Duchamp nannte es ein
Ready-made malheureux“, Wie auch bei den anderen
Ready-mades sind die Grenzen zwischen Produktion
und Rezeption durchlässig.. Orginal und Autorenschaft
treten in den Hintergrund zu Gunsten der Beteiligung des
Betrachters am Kunstwerk..100
Der Weg führt weg vom abgeschlossenen Werk hin zum »offenen Kunstwerk«,
vom statischen Objekt zum dynamischen Prozess, von der kontemplativen
Rezeption hin zur aktiven Partizipation. Mitte des 20. Jahrhunderts wird
Prozesskunst als das offene Kunstwerk zum Programm der Avantgarde, die
nun die Partizipation des Betrachters in der Rezeption eines jeden Kunstwerks
voraussetzt.
4.1.1. Mallarme: Idee einer prozessualen Kunst
Der französische Dichter und Mitbegründer des Symbolismus Stéphane
Mallarmé verwendet schon Ende des 19. Jahrhunderts permutative,
aleatorische Elemente, um der Idee einer prozessualen Kunst Ausdruck zu
verschaffen, die den Leser in die Werkgestaltung mit einbezieht98.
4.1.2. El Lissitzkys Demonstrationsräume
Die Anfänge der Partizipation als Methode der Avantgarde, dem Publikum
die Kunst näher zu bringen, beginnen wohl mit Dada sowie dem russischen
Konstruktivismus und Produktivismus
El Lissitzky beschreibt 1926 die Absicht seiner Demonstrationsräume: „so
soll unsere Gestaltung den Mann aktiv machen. Dies sollte der Zweck des
Raumes sein. ... Bei jeder Bewegung des Beschauers im Raume ändert sich die
Wirkung der Wände. ... Er ist physisch gezwungen, sich mit den ausgestellten
Gegenständen auseinanderzusetzen.“ Die bewusste physische Aktivierung
des Betrachters zur Vervollständigung der Arbeit ist „Lissitzkys eigentliche
Neuerung ... - sowohl jener der Ausstellung wie des Werks. Ohne das zeitliche,
an die Bewegung gebundene Moment bleibt die Konstruktion unvollständig,
ohne den Menschen, der sich physisch einbringt und sozusagen an der
Ausstellung ‚arbeitet’, verschwindet das Werk.“99
4.1.3. Duchamp: Reardy-mades gelten als prägend für Entwicklungen des
Fluxus und Conceptual Art, da die Grenzen zwischen Produktion, Autor und
Rezipient durchlässig sind und „können auch als entfernte Vorläufer eines
partizipativen Ansatzes bezeichnet werden.“100
Die rein visuellen Erfahrungen beim Betrachten von Kunst wird durch
98 Kindlers
99 Sotirios Bahtsetzis nach Birnholz 1980, S. 98. http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2006/1305/pdf/bahtsetzis_
sotirios.pdf 2007
100 Astrid Wege. Partizipation. in: Hubertus Butin hg. DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln
2002. S.236-240.
57
Dynamik und Wechselseitigkeit abgelöst. Je nachdem, wie die Präsentation
strukturiert ist, verhält sich auch der Betrachter distanziert oder beteiligt.
Der Unterschied zwischen Autor und Publikum löst sich langsam auf.
Oft treten die Künstler mit einer ideologischen Ambition auf Veränderung an
den Betrachter heran. Buchloh bezeichnet ihre Intentionen als revolutionär
motiviert mit dem Ziel der „Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis“, oder
als reformatorisch zur „Demokratisierung der Kunst oder auch spielerisch,
didaktisch, wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernd motiviert.“101
4.1.4. Die Cage Schule
Mit dem 2. Weltkrieg brechen diese Entwicklungen abrupt ab und
gehen nach Beendigung der Nazidiktatur anfänglich in den USA weiter.
Partizipatorische Methoden tauchen besonders im Zusammenhang mit
der Cage-Schule auf. Die 1950 entstandenen offenen Partituren von John
Cage, die unterschiedliche Ausführung der Musikstücke erlauben, sind in
der Kunstszene wegweisend. Rauschenberg stellte mit den White Paintings
(1951) seine Autorenschaft in den Hintergrund und bot dem Schatten
des Betrachters und seiner Umgebung auf der Leinwand Platz. Ein Jahr
später führte John Cage seine berühmte Komposition 4’33“ auf, die der
andauernden „Stille“ als »Aggregatszustand des Realen« Raum gab, der von
den Geräuschen der Zuschauer gefüllt wurde. Das Publikum produziert zwar
diese Geräusche, ist aber noch nicht wirklich aktiv.
4.1.5. Happenings und Fluxnusbewegung
Viele weitere Künstler der Fluxusbewegung und des Happenings bedienten
sich in der Folge partizipatorischer Praktiken, wie Rauschenberg, der 1961
Besucher dazu einlud in seinem Black Market Alltagsgegenstände aus
einem Koffer zu tauschen und um damit die Grenze zwischen Kunst und
Leben aufzuheben, oder Robert Watts, George Brecht und Allan Kaprow,
die 1957 einen Förderantrag zum Project in Multiple Dimensions stellten,
das die Interaktion zwischen, Wissenschaften und künstlerischen Ideen, als
Formulierung der tactilen und olfaktorischen Spektren beinhaltete.102
Kaprow definierte ästhetische Erfahrung als Partizipation. Handeln wird zur
Bedingung von Erfahrung für ein Zustandekommen des Happenings. Die
101 Christian Kravagna. Arbeit an der Gemeinschaft Modelle partizipatorischer Praxis. 1998 in: Marius Babias/
Achim Kšnneke Hg. Die Kunst des Öffentlichen. Dresden 1998. Zitiert nach Benjamin Buchloh, „Von der Faktur zur
Faktografie“, Durch, 6/7, 1990, S. 9.
102 Vgl. Lars Blunck. Between Objects & Events. Weimar 2003.
58 Als »Kunstwerk« definiert Eco einen Gegenstand
mit bestimmten strukturellen Eigenschaften ... , die
den Zugang der Interpretation, die Verschiebung der
Perspektiven, zugleich ermöglichen und koordinieren.
Ecos Begriff »Offenes Kunstwerk« meint ein hypothetisches
Modell, das zwar an Hand zahlreicher konkreter Analysen
ausgearbeitet wurde, aber eben doch nur dazu dient, mit
einer bequemen Formel eine Richtung der modernen
Kunst zu bezeichnen. (S.12)
In der Beziehung Produktion-Werk-Konsumtion stellt
Eco dann ein konstantes Modell des offenen Kunstwerks auf,
das die Struktur der Rezeptionsbeziehung sowie die
mehrdeutige Konsumierung interpretiert, und diese
Beschreibung der kommunikativen Strukturen nur der
erste unumgängliche Schritt für jede Untersuchung
sein kann, die diese Strukturen dann in Bezug zu
dem weiteren Hintergrund des in der Geschichte
eingefügten Werkes setzen will. S.19
Eco definiert also Offenes Kunstwerk als Vorschlag eines
»Feldes« interpretativer Möglichkeiten, als Konfiguration von mit
substantieller Indeterminiertheit begabter Reizen, so dass der
Perzipierende zu einer Reihe stets veränderlicher »Lektüren« vernlaßt
wird; Struktur schließlich als »Konstellation« von Elementen, die in
wechselseitiger Relationen eintreten können.
Eco überarbeitete die Ausgabe von1962 in der er, wie
er selber sagt, sich „noch in einem praesemiotischen
Umfeld“ bewegte mit dessen Begriffsinstrumentarium
er arbeitete wie zum Beispiel der Informationsthorie,
der Richardsche Semantik, Piagets, MerleauPontys, und dertransaktionalen Psychologie. In der
Überarbeitung 1967 fließen Begifflichkeiten von
Jakobson, den russischen Formalisten, Barthes und
dem französischen Stukturalismus mit ein.
Eco. Grenzen der Interpretation. S.33
Handlungen sind meist der alltäglichen Praxis entnommen, und bekommen
im kollektiven Ausagieren spielerische, ästhetische Qualitäten.
4.1.6. Die Funktion Der Kritik in der partizipatorischen Praxis
Oft geht es in den Postulaten um eine Selbstkritik der Kunst, um die
Infragestellung des Autors oder um eine Kritik an der Distanz der Kunst zum
Leben und der Gesellschaft.
In den 60er und 70er Jahren setzten Künstlerinnen wie Yoko Ono mit Cut
Piece (1964) oder Valie Export mit Tapp- und Tastkino (1968) und Marina
Abramovic mit Rythm 0 (1974) ihren Körper in Verbindung mir feministischen
Fragestellungen ein. Zahlreiche bedeutende Künstler wendeten diese
partizipatorischen Mittel an, wie die die Künstler im Umfeld der Wiener
Aktionisten, solche die institutionskritische Ansätze wie oben schon erwähnt
verfolgen und viele, die den öffentlichen Raum mit einbeziehen wie das New
Yorker KünstlerInnenkollektiv und viele andere, die auf politische und soziale
Fragestellungen einwirken.
4.2. gelatin: Eine persönliche Angelegenheit
Ich beschränke mich nun darauf, den spielerischen Ansatz der
österreichischen Künstlergruppe Gelatin näher zu beschreiben. „Freud-voll
taktiert das Kollektiv in guter Wiener Aktionismus-Tradition orgiastisch und
einfallsreich Tabus und gesellschaftliche Konventionen, “doch kommt es „ganz
ohne das ‚Provokationsgetöse’ (Birgit Sonna)“103 ihrer Vorgänger aus. Ihre
Herangehensweise erinnert an das Aushecken jugendlicher Streiche, die mit
viel Spaß und in wagemutigen Aktionen alle nur erdenklichen Phantasien in
die Tat umsetzen.
So haben Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban seit
1995 zahlreiche ungewöhnliche, sinnliche, und surreale Installationen und
Performances veranstaltet. Vor kurzem änderten sie ihren Namen in gelitin,
aus dem einfachen Grund eines Druckfehlers auf einem Stempel.
Einer der Künstler kündigte die bevorstehende Installation 2001 im Münchner
Marstall als „eine extrem intime persönliche Angelegenheit [an], die immer
nur von einer Person pro Durchlauf benutzbar ist“, denn sie „saugt, schluckt,
quetscht und drückt und macht Liebe mit dir“.104
Unter dem Titel Schlund, hatten die Besucher frisch geduscht, geölt und in
103 KUB Programm 06.02. Kunsthaus Bregenz.2006
104 Alberto Saviello. http://www.kunstmarkt.com/pagesmag/kunst/_id28851-/news_detail.html?_q=%20
59
Badehosen die Gelegenheit sich durch einen zehn Meter langen Kanal aus
entkleideten fettleibigen, weichen, glitschigen Leibern gleiten zu lassen. „Also
Augen zu, Arme über den Kopf und fallen lassen - in die menschliche Röhre
hinein, die einen nach unten durchpresst wie durch einen Geburtskanal.
... Doch vierzig Sekunden Preisgabe an anonyme, gleichzeitig intime, öligschweißige Berührungen wirken offensichtlich befreiend. ...“105
„Augen zu und durch! Selten hat sich ein freundschaftlicher
Ratschlag so bewährt, wie in diesem düstren, ziemlich
»aussichtslosen« Moment. ... Drei bis fünf Minuten gleitet
man, die Füße voran und mit hochgestreckten Armen,
durch den Schlund. Es ist warm, es ist soft, es ist schlüpfrig,
und es wirkt natürlich irgendwie euphorisierend. Selbst der
anfängliche Ekel verschwindelt wie durch ein Wunder und
kehrt nur für einen desillusonierenden Moment zurück.
Unverzeihlich, dass man für eine Sekunde die Augen
Das Weltwunder In Between war ein Projekt auf der EXPO 2000 in Hannover.
Die Besucher mussten in ein in der Wiese eingelassenes Becken springen
und durch ein geflutetes Rohr tauchen um in eine unterirdische Kammer zu
gelangen.
Um mit der einmaligen Erfahrung „seiner Lust an der Angst und
Erleichterung über den glücklichen Ausgang“ belohnt zu werden muss sich
der Ausstellungsbesucher „körperlich engagieren und sich vor allem den
technischen Konstruktionen sowie der Verlässlichkeit der beteiligten Akteure
überantworten. Das Risiko des Gelingens liegt dabei nicht allein auf Seiten
der Besucher. Nur wenn die Fantasien der Künstler so einladend sind, dass
die Besucher ihre Wunschwelten teilen möchten, entsteht jene Magie des
Augenblicks, die uns Dinge tun lässt, von denen wir Stunden vorher nicht
glaubten, sie einmal zu durchleben.“106
geöffnet hat.“
4.3. Körperliches ENgagement gegen Die Hemmschwelle
Die Hemmschwelle zu überschreiten und sich auf eine scheinbar unbekannte
Situation einzulassen, scheint mir bei gelitin weitaus spektakulärer zu sein
als in meinen aus dem Alltag entnommenen Situationen. Im Gegensatz zu
der dort zu Überwindenden Hemmung, versuche ich mit subtileren Mitteln
wie der Verschiebung von Perspektiven die Neugierde an der Situation zu
wecken, die dann die eigene Wahrnehmung und Erinnerung der Person in
den Vordergrund rückt. Die Aktivierung des Körpers als Ausgangspunkt von
Beteiligung ist mir sehr wichtig.
Als Einstimmung auf das eigentliche Kunsterlebnis habe ich in meiner
Diplomarbeit Erwachsene Tür die Türklinke zum Akademieatelierraum so weit
105 Eva Karcher. tagesspiegel. Kultur. 28.03.2001.
106 https://interhost.siemens.de/artsprogram/projekte/bildende_kunst/archiv/2002/gelatin/index.php?PHPSESSID
=a8212f430f9c85d7377b69efaeeb96fc#top 2007
60 Birgit Sonna . SZ Münchner Kultur 19.3. 2001
Abb. 65 : Schlund Marstall, München 2001.
nach oben versetzt, dass sich ein Erwachsener wie ein Kind strecken musste,
um die Tür zu öffnen.
Der Besucher trat nun in einen Raum, der der kleinen Handlung beim
Türöffnen entsprach. Im dahinter liegenden Raum befand sich ein
überdimensionierter Kinderwagen, vor dem der Betrachter kindhaft
klein erschien. Auch die Raumgestaltung war auf diese Wahrnehmung
ausgerichtet.
Abb. 66 Erwachsene Tür. Diplomausstellung der
Akademie der Bildenden Künste München 2006. Die
Tür war die Barriere zum dahinter liegenden Raum.
Der Betrachter wurde sozusagen körperlich auf
die folgende Situation eingestimmt. Die „kindliche
Neugier“ kann nur mit einer kleinen eigenen
Anstrengung befriedigt werden.
In mehreren Aktionen kam es zur tatsächlichen Benutzung des Kinderwagens.
Es gab Spazierfahrten im Rahmen mehrerer Ausstellungen.
Es ergaben sich durch die Konstellation von Geschobenem und Schiebenden
unterschiedliche Beziehungen und damit auch Rezeptionsansätze.
Besonders ergiebig war: erwachsene Tochter schiebt Mutter und umgekehrt
- Ehefrau schiebt Ehemann und umgekehrt - Mutter mit Kleinkind wird
geschoben. Zu den Momenten der Erfahrung von Körpererinnerung kommen
die der Reflexion, der eigenen Positionierung und der Gesellschaftskritik.
Für 2007 sind Spazierfahrten im Stadtzentrum, eine Benutzung öffentlicher
Verkehrsmittel, Tageswanderungen und kleinere Reisen geplant. Bislang
gab es nur Fahrten, bei denen Freunde und Bekannte beteiligt waren.
Herauszufinden gilt es nun in welchem Rahmen fremde Personen beteiligt
werden können.
Abb. 67 :Als das Kind Kind war. Spazierfahrten in der Fussgängerzone Landshut und im Englischen Garten München 2006
61
D.Resumée: Was ich mit meiner Kunst will
Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Gedächtnis und die
Untersuchung der einzelnen Auffassungen im Laufe der Geschichte haben
meine Vermutungen und Überzeugungen, dass eben diese Nachwirkungen
für jeden einzelnen in unterschiedlichem Ausmaß relevant sind, immer
wieder bestätigt. Mir war zu Beginn dieser theoretischen Arbeit wichtig
mich auf den Spuren meiner eigenen Erinnerung auch im Detail mit den
Entwicklungen zu beschäftigen, um sie mir einerseits in der hier geordneten
Form als künstliches Gedächtnis und damit als erweiterten Fundus für
meine zukünftigen Arbeiten nutzbar zu machen und zum anderen um
zu zeigen, wie sehr unser individuelles Gedächtnis durch das kulturelle
Umfeld beeinflusst ist. Trotzdem wird Gegenwart in unserem Bewusstsein
immer reflektiv wahrgenommen. Das bedeutet, dass wir jede Situation
im Rückbezug auf schon Bekanntes untersuchen und bewerten, um
uns eine optimale Zukunftsprognose zu erstellen. Erinnerung ließe sich
also als das Nachwirken von Vergangenheit in der Gegenwart mit einem
vorausschauenden Blick in die Zukunft definieren.
Für mich bedeutet Erinnerung die Wiederherstellung einer vergangenen
Lebenstotalität. Das kann nur durch Kunst geleistet werden.
Wissenschaftliche, soziologische oder psychologische Herangehensweisen
interessieren mich sehr, können aber die Wiederherstellung von
Lebenstotalität gerade nicht bewirken, weil sie analytisch immer nur
Teilaspekte bearbeiten und nicht das Ziel haben, ein momentanes
Gesamtbild zu erzeugen. Genau darum geht es mir aber.
Ich arbeite an Themen, die vielseitige Perspektiven alltäglicher Dinge und
Situationen behandeln. Diese Themenstellungen sind nur mit angewandten
künstlerischen Mitteln zu beantworten. Ich bezeichne einige meiner Arbeiten
als angewandte Kunst, weil der Betrachter die Objekte anwenden und für
sich nutzbar machen kann. Durch die physiologische Partizipation des
»Betrachters«, der auch als Anwender oder Nutzer bezeichnet werden könnte,
ist eine unmittelbar körperliche Erfahrung möglich, die dann modifizierend
auf das Gedächtnis einwirkt.
Jean-Christophe Ammann formuliert: „Künstler arbeiten an ihrem genuinen
Auftrag, die unbewusste kollektive Biographie ins kollektive Bewusstsein zu
62 Kunst und Wissenschaft erscheinen als komplementäre
Versuche, die Bedingungen der Welt zu ergründen,
die verschiedener nicht sein könnten. Künstler
erforschen ihr innerstes Erleben, suchen Ausdruck für
das Erkannte und fügen damit dem Vorgefundenen
neue Wirklichkeiten hinzu, - Wissenschaftler sammeln
und beschreiben das Vorgefundene, ordnen durch
Trennen und Verbinden, decken Regelmäßigkeiten auf
und formulieren Gesetze, lassen nur gelten, was durch
Reproduzierbarkeit beweisbar ist, was funktioniert,
oder zumindest für alle gleichermaßen nachvollziehbar
ist, die sich an vereinbarte Regeln für die Beobachtung
und Ordnung der Phänomene halten. Die einen geben
Auskunft über ihre höchst private, also subjektive
Welterfahrung, die anderen nehmen für sich in
Anspruch, sie zeichneten ein objektives Bild der Welt.
Und doch ist, was beide tun, so verschieden nicht. ...
gemeinsam ist beiden, das - oft leidenschaftliche Verlangen, diese Beziehungen erfahrbar zu machen,
Beschreibungen für das Unsichtbare, mit den Sinnen
nicht unmittelbar Faßbare zu finden, gemeinsam ist
beiden auch, ... die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen oder
zu erfinden... Freilich kommen diese Kunstsprachen
in Verkleidungen daher, die sie trotz ähnlicher
Tiefenstrukturen unverwandt erscheinen lassen.
Vermutlich verdankt sich das Aufdecken verborgener
Bezüge,... immer den gleichen kognitiven Prozessen,
einer Leistung unseres Gehirns, die wir als Kreativität
ansprechen. ...
Und so erzeugt die Suche nach dem Unsichtbaren
neue Wirklichkeiten, die zum Vorwurf für weitere
Forschung mutieren. Weder Wissenschaft noch Kunst
können deshalb jemals am Ende sein, und weil sie die
gleiche Welt zu ergründen suchen, tun sie gut daran,
die Vorschläge des je anderen zur Kenntnis zu nehmen
- ... .
Wolf Singer. Kunst oder Wissenschaft.
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und Kunst. Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin. MartinGropius-Bau Berlin 10.12.2000 - 4.3.2001. Henschel. Berlin 2000. S. 40-41
heben. Diese kollektive Biographie ist dem unbewussten Körpergedächtnis
jedes Menschen eingeschrieben als Summe unserer genetischen,
biographischen (sozialisierten), bewussten und kulturellen Erinnerungen.“107
Das Einbeziehen des Betrachters in das Kunstwerk selbst interessiert mich
insofern, als es sich dabei um eine Kontextverschiebung handelt. Die aus dem
Alltag entnommenen Situationen integrieren den Betrachter und machen ihn
zum Teil des Ganzen. Er kann also das Kunstwerk nicht mehr nur distanziert
genießen, sondern wird selbst zum Autor und kann sich damit das Werk mit
den für ihn bedeutsamen Facetten aneignen.
Es entstehen vielfältige Deutungsmöglichkeiten, die sowohl psychologische
wie auch soziale, kommunikative und politische Momente beinhalten
können. Aus einer neuen Perspektive betrachtet, können bislang unbeachtete
Phänomene aufgedeckt werden.
107 Jean-Christophe Ammann, Ein Plädoyer für die Kultur, Sieben Thesen in: Kulturwirtschaft in Hessen,1.
Hessischer Kulturwirtschaftsbericht, Wiesbaden 2003
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SZ Magazin. München 3. 19. 2001
tagesspiegel. Kultur. 28.03.2001.
Technology Review. Die Renaissance der Phrenologie. Von Edda Grabar. 11/2006
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Sieben Thesen in: Kulturwirtschaft in Hessen,1. Hessischer Kulturwirtschaftsbericht, Wiesbaden 2003
Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 9 (2000), H. 2: Inszenierungen des Erinnerns, S. 191–214.
Seiten aus dem internet: http://de.wikipedia.org
http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2006/1305/pdf/bahtsetzis_sotirios.pdf 2007
Descartes: http://www.textlog.de/35517.html ; 2007
Platon: http://www.opera-platonis.de/Phaidros.html ; 2005
Unbekanntes Wesen Gehirn: http://www.ebn24.com/?page=61&buch_id=1 ; 2007
Wolfgang Ullrich: http://www.ideenfreiheit.de/index.php ;2001
Interview G.Roth zitiert nach Stefan Weber 2001 in: Ist die Quantentheorie des Bewusstseins Humbug? http://www.heise.de/tvp/r4/artikel/4/4853/1.html 2007
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Abbildungsnachweis:
Abb. 1.: Margarete Hentze. Luftlinie_ein Spaziergang. Jahresausstellung der Akademie der Bildenden Künste München 2002. Foto: Julie Goll.
Abb. 2 : Musen. The Mansell Collection, London. Aus: D.M. Field, Die Mythologie der Griechen und Römer, deutsche Übersetzung und Ausgabe, Zollikon
/Schweiz 1977, S. 40. Bilderklärung: C. Gizewski.
Abb. 3 : Bildnis eines Menschen an einem Gedächtnisort. Holzschnitt Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533.
Abb. 4 : Die Sphären des Universums als Gedächtnissystem. Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533.
Abb. 5 : Summa contra Gentiles de Saint Thomas d’Aquin. Florence; 1521. (TH 89/28) http://www.bm-lyon.fr/expo/virtuelles/jesuite/piliers2.htm
Abb. 6 Die Weisheit Thomas von Aquins. Fresko von Andres da Firenze. Spanische Kapelle in Santa Maria Novella. Florenz. Aus:Yates.
Abb. 7 Die Leiter des Aufstiegs und Abstiegs. Aus Raimundus Lullus, Liber de ascensu et descensu intellectus. Ausgabe Valencia 1512.
Abb. 8 : Das „A“-Diagramm. aus: Raimund Lullus, Ars brevis. Opera, Staßburg 1617.
Abb. 9 : Gedächtnissystem mit Abtei. Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533.
Abb. 10: Bildalphabethe Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533.
Abb. 11 Die Buße Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533
Abb. 12 : Die Hölle als künstliches Gedächtnis.. Aus Cosma Rossellius. Thesaurus Artificiosae Memoriae. Ausgabe Venedig 1579
Abb. 13 : Das Paradies als künstliches Gedächtnis.. ibidem
Abb. 14 : Gedächtnissystem nach Giordano Bruno, De umbris idearum – Von den Schatten der Ideen. Paris 1582. aus: Yates
Abb. 15 : Camille Flammarion, L‘Atmosphere: Météorologie Populaire Paris 1888.
Abb. 16 : Das Gedächtnistheater des Giulio Camillo Delminio. Reconstruktion von Yates.
Abb. 17 : Sebastian Brandt. Das Narrenschiff. Holzschnitt aus der Orginalausgabe. Hamburg und Berlin 1958.
Abb. 18 : Armillarsphäre mit allegorischen Figuren. Aus: Theoricarum novarum. Georgij Purbachij. 1515
Abb. 19 : R.Fludds Buch De natura simia seu Technica macrocosmi historia in partes undecim divisa. Über den Affen der Natur oder technische Geschichte
des Makrokosmos in 11 Teilen. Oppenheim 1618.
Abb. 20 Internetforum: http://www.akademie.de/grundlagen-computer-internet/recherche/tipps/internet-recherche/index.html
Abb. 21 : comutation.de. lothringer_13 halle.. München 2001. Foto: Clemens Büntig.
Abb. 22 : www.comutation.de./dialogue./margarete_smike. 09.2000.
Abb. 23 : Albertus Magnus www.pc.rhul.ac.uk
Abb. 24 Die Vier-Säfte-Lehre. M. Hentze
Abb. 25,26: Andreas Vesalius , Franz Gall, Phrenometer www.pc.rhul.ac.uk/.../ PS2080/L4/PS2080_4.htm
Abb. 27 : Diagramm der Vermögenspsxchologie. Nachgezeichnet nach eiem Diagramm in: Johannes Rombrech, Congestorium artificiose memorie
Abb. 28 : Gall. Aus: Alexander R. Luija.
Abb. 29 : Phrenometer. http://www.neurolabor.de/script4-Planung/script.htm
Abb. 30 : Phrenologische Karten Aus: Alexander R. Luija.
Abb. 31 : Luigi Galvani www.pc.rhul.ac.uk/.../ PS2080/L4/PS2080_4.htm
Abb. 32 : Das Broca-Areal. http://www.neurolabor.de/script4-Planung/script.htm
Abb. 33 : Pawlowbox. http://www.neurolabor.de/script4-Planung/script.htm
Abb. 34 : Diagramm. Aus:Damasio
Abb. 35 : Die serotonerge Bahnen .Myers,David G.. Psychologie. Heidelberg 2005.
Abb. 36 : Am Gedächtnis beteiligte Hirnstruktur. Myers,David G.. Psychologie. Heidelberg 2005.
Abb. 37 : Kommunikation von Nervenzellen. Grafik:Margarete Hentze. nach Myers.
Abb. 38 : Das vegetative Nervensystem. http://www.onmeda.de/lexika/anatomie/vegetatives_nervensystem_anatomie.html
Abb. 39 : Was wird vergessen? M.Hentze nach Myers. S.402
Abb. 40 : Vergessenskurve nach Ebbinghaus. M.Hentze nach Myers. S.398
Abb. 41 : Die funktionelle Zweiteilung des vegetativen Nervensystems. M.Hentze nach Myers
Abb. 42 : Das enterische Nervensystem (ENS) M.Hentze nach Grafik des Geomagazins. http://www.geo.de/GEO/mensch/medizin/686.html?t=img&p=4
Abb. 43 : Der Körper glaubt, was das Hirn ihm vorsiegelt. Aus: SZ Magazin 3. 19.1.2001
Abb. 44 Das Höhlengleichnis. M.Hentze nach einer Grafik von: www.platon42.de/ caveanalogy.html
Abb. 45 : Weih- oder Opfergabe. http://www.ebn24.com/?page=59&kapitel=33
Abb. 46: René Descartes Illustration des Dualismus. .http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Descartes_mind_and_body.gif
66 Abb. 47 : Fritz Kahn. Das Leben des Menschen. Stuttgart 1929.
Abb. 48 : Ausschnitt. Die Schule von Athen. Raffael 1509, Fresko, Stanza della Segnatura, Vatikan http://de.wikipedia.org/wiki/
Abb. 49 : Santiago Sierra. Espacio Agultinador, Havanna, Dezember 1999 Aus:Santiago Serra. 300 Tons and previous Works. Köln 2004
Abb. 50 : Alberto Giacometti, 1961. Henri Cartier-Bresson/ Magnum Photos
Abb. 51 Nicolaus Lang. http://www.freunde-der-nationalgalerie.de/website/mainset.php?page=http://www.freunde-der-nationalgalerie.de/ankaeufe/
galerie/lang.html
Abb. 52. Details aus „Zeige deine Wunde“ 1974 / 75. Fotos: Dietmar Tanterl. Joseph Beuys - Martin-Gropius-Bau Berlin. http://www.inger.de/verbindungen/
unterkuenfte/beuys/zeige_deine_wunde.html
Abb. 53 : Santiago Sierras Arbeit in der Synagoge Stomme. Foto: Federico Gambarini dpa/lnw +++(c) dpa - Bildfunk+++
Abb. 54 : Louise Bourgois portraitiert von Robert Mapplethorpe. 1982 Aus:L.B. Subversonen des Körpers. Andrea Jahn. Berlin: Reimer 1999.
Abb. 55 : Cell (Choisy). Aus: Louise Bourgoise. Deconstruction of the Father Reconstruction of the Father. Writing and Interviews 1923 -1997. London 2001
Abb. 56 : The Banquet. Aus:L.B. Subversonen des Körpers. Andrea Jahn. Berlin:Reimer 1999.
Abb. 57 : take a position in relation to your works. Fotogrfien 40 x 40. Margarete Hentze. München 2000.
Abb. 58 Matrioschka. Gips, Akademiegalerie-Galerie. Foto: Susanne Wagner und Polymeregips 1,85 x 0,95 m Foto:Stefan George 2005
Abb. 59 : Das Zimmer. Aus: Pipilotti Rist, New York 2001
Abb. 60 : Kinderwagen x 1.7. Diplom 2006. Foto: Margarete Hentze.
Abb. 61: Diaprojektion auf Papierrelief. 1,50 x 2,00 München 2007. Foto: Margarete Hentze.
Abb 63: Lygia Clark: Canibalismo 1973 in: Ausstellungskatalog Lygia Clark: Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997. 302.
Abb. 64 : Lygia Clark: Baba antropofágica (1973) in: Kollektivkörper, Bielefeld, 2002in: Ausstellungskatalog Lygia Clark: Fundació Antoni Tàpies. Barcelona
1997. 296.
Abb. 64 : El Lissitzky. Prounenraum.. www.museumserver.nl/.../ 300/abbe-0056.jpg
Abb. 65 : Schlund Marstall, München 2001. Aus: KUB Programm 06.02. Kunsthaus Bregenz
Abb. 66 Erwachsene Tür. Diplom München 2006. Foto: Margarete Hentze.
Abb. 67 :Als das Kind Kind war. München 2007. Foto:Jakob Hentze, Constanze Penninger.
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Lied vom Kindsein
Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß, der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war,
alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins.
Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit, saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand, hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.
Als das Kind Kind war, war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war, und daß einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?
Als das Kind Kind war, würgte es am Spinat, an den Erbsen,
am Milchreis, und am gedünsteten Blumenkohl.
und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not.
Als das Kind Kind war, erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder, erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall, stellte es sich klar ein Paradies
vor und kann es jetzt höchstens ahnen, konnte es sich Nichts
nicht denken und schaudert heute davor.
Als das Kind Kind war, spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.
Als das Kind Kind war, genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.
Als das Kind Kind war, fielen ihm die Beeren wie nur Beeren
in die Hand und jetzt immer noch, machten ihm die frischen
Walnüsse eine rauhe Zunge und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg die Sehnsucht nach dem immer
höheren Berg, und in jeden Stadt die Sehnsucht nach der noch
größeren Stadt, und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach dem Kirschen in einem
Hochgefühl wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee, und wartet so immer noch.
Als das Kind Kind war, warf es einen Stock als Lanze gegen den
Baum, und sie zittert da heute noch.
Peter Handke
68 Hiermit bestätige ich, dass ich diese Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe geschrieben habe. Margarete Hentze.. März 2006.
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