Eine Genealogie des Erinnerns Eine Genealogie des Erinnerns von Margarete Hentze Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen »wie es denn eigentlich gewesen ist.« Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Walter Benjamin Eine Genealogie des Erinnerns A. AUF DER SUCHE NACH DER VERGRABENEN GESCHICHTE Archäologie als Methode 6 8 B. DEM GEDÄCHTNIS AUF DER SPUR 13 1. Die Mnemotechniken von der Antike bis zur Aufklärung 10 1.1. Das künstliche Gedächtnis in der Antike 1.2. Die Gedächtniskunst hinter den kulissen im Mittelalter 1.3. Die äussere Form des Gedächtnisses in der Renaissance 1.4. Das enzyklopädische Gedächtnis in Barock und Aufklärung 1.5. zeitgenössische Tendenzen des künstlichen Gedächtnisses 11 13 18 21 22 2. Gedächtnis als gesellschaftliches System 23 24 2.1. Kollektive Erinnerung und kulturelles Gedächtnis 2.2. Die naturwissenschaftliche Sicht auf das Gedächtnis 2.2.1. Eine kleine Geschichte der Gedächtnisforschung 26 2.2.2. Die neurologische Gedächtnisforschung 29 2.2.3. Die Entwicklung der psychologischen Auffassung über das Gedächtnis 31 2.2.4. Die psychologische Sicht auf das Gedächtnis 33 26 2.3. geisteswissenschaftliche Erklärungsansätze 2.3.1. Platons Anamnesis 37 2.3.2. Aristoteles Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung 38 2.3.3. Descartes Körper -Geist- Teilung 39 2.3.4. Nietzsches »grosse Vernunft« 41 2.3.5. Foucault und die Strafe als Memonik 43 2.3.5.1. Die Seele als Resultat Körperlicher Gewalt 2.3.5.2. Körperliche Gewalt als Schuldursache bei Kafka und Huxley 43 44 37 C.KÖRPER – GEDÄCHTNIS IN DER KUNST 46 1. Kunst als Erinnerung 50 1.1. Reflexion der Kindheit: Louise Bourgeoise 1.2. Take a Position in Relation to Your Works 51 52 2. Kindheit und Erinnerung 2.1. Pipilotti Rist 2.2. Das Kunstwerk in Kommunikation Bei Margarete Hentze 53 53 54 3. Tradition und Gedächtnis 3.1. Lygia Clarks körpertherapeutischer Ansatz 55 55 4. Partizipation und Körpererinnerung 56 4.1. Die Veränderung der Wahrnehmung durch eine Beteiligung am Kunstwerk 56 4.1.1. Mallarmé: Idee einer prozessualen Kunst 4.1.2. El Lissitzkys Demonstrationsräume 4.1.3. Duchamp: Reardy-mades 4.1.4. John Cage und Rauschenberg 4.1.5. Happenings und Fluxnusbewegung 4.1.6. Die Funktion Der Kritik in der partizipatorischen Praxis 57 4.2. gelatin: Eine persönliche Angelegenheit 4.3. Körperliches ENgagement gegen Die Hemmschwelle 59 D.Resumee: WAS ICH MIT MEINER KUNST WILL Bibliographie Abbildungsnachweis 57 57 58 58 59 60 62 64 66 I read your body, like you read my mind. - Mountain Erzähle mir die Vergangenheit und ich werde die Zukunft erkennen. Konfuzius A. Auf der suche nach der vergrabenen geschichte Erinnerung ist nicht nur ein mentaler sondern auch ein physischer Vorgang. Was alles zum Gedächtnis gehört und wie wir Erinnerung herstellen, sind Fragen mit denen sich verschiedenste Disziplinen befassen und auf deren Antworten ich im Laufe dieser Arbeit eingehen werde. Die Thematik Körper-Erinnerung ist für meine künstlerische Arbeit schon seit längerem wichtig und durch die Recherchen zum Thema der vorliegenden Arbeit haben sich weitere Zusammenhänge ergeben. Und dass das Körpergedächtnis einen bedeutenden Teil unseres gesamten Erinnerungsvermögens ausmacht, und damit nehme ich meine Hauptthese gleich vorweg, ist eine Erkenntnis, die von wissenschaftlichen Disziplinen noch kaum erforscht ist, die aber zum Hauptinteresse meiner künstlerischen Arbeit geworden ist. Um jetzt gleich einen möglichst direkten Zugang zu dieser These zu gewinnen, beginne ich mit einem Beispiel aus meiner eigenen Tätigkeit. In der Arbeit Luftlinie – ein Spaziergang von 2001 ging ich von der Wahrnehmung eines Säuglings aus, der im Kinderwagen spazieren gefahren wird. Diese Erfahrung wollte ich dem Betrachter möglichst ungefiltert zugänglich machen. Ich filmte also den Spaziergang aus der Perspektive des Säuglings mit Hilfe einer im Kinderwagen montierten Videokamera. Den so entstandene Film projizierte ich dann an die Decke des Ausstellungsraumes. Unter die Projektion stellte ich eine Liege, auf der sich der Besucher liegend den Film ansehen konnte. Der Ton bestand aus alltäglichen Straßengeräuschen. Viele Betrachter sagten mir, dass das Ansehen des Filmes im Liegen für sie eine ganz besondere neue Erfahrung sei und dass sie tatsächlich meinten, sich dadurch an ihre früheste Kindheit wieder zu erinnern. Diese Erinnerungen bestanden anfänglich meist in einem bestimmten Körpergefühl und in Bewegungen, durch die sich dann weitere Empfindungen und Reflexionen anschlossen. Der Körper scheint also Erinnerung ebenso zu bewahren, wie das Gedächtnis im eher konventionell visuellen Verständnis. Abb. 1.: Margarete Hentze. Luftlinie_ein Spaziergang. Jahresausstellung der Akademie der Bildenden Künste München 2002. Der Regisseur Karl Dreyer hatte in seinem Film Vampyr von 1931 einen ähnlichen Einfall, indem er eine Beerdigung aus Sicht des Toten durch einen gläsernen Sargdeckel filmte. Dreyer war für die Suggestivkraft seiner Bilder bekannt. Ich lernte den Film allerdings erst nach dem Entstehen meiner Arbeit kennen. Obstsalat als Metapher – ein kleiner Exkurs aus den Tiefen und Nöten einer Studentin im 3. Semester. Im zweiten Jahr meiner Akademiezeit bekam ich von dem Assistenten meines damaligen Professors abfällig zu hören, meine Arbeiten seien wie Obstsalat. Er fragte, wo denn zwischen dieser und den vorangegangenen Arbeiten der Zusammenhang sei. Ich dachte kleinlaut, ich. Ihm fehlte eine einheitliche Sprache und Materialität, die den Betrachter schnell auf meine Fährte locken sollte – eine Art Fingerabdruck war gefordert, der den Studienarbeiten das Siegel des Kunstwerks aufdrücken sollten. War die Experimentierfreude nichts? Und die vitale Durchsetzung des Projekts gegen alle erdenklichen Steine, die uns in den Weg gelegt wurden – nichts? Und was war mit der Präzision in der Vielfalt der künstlerischen Mittel - nichts bemerkt? Es herrschte reine Überforderung, vielleicht lag das an mir? Ja – die Haltung bei der Präsentation ist entscheidend. Oder vielleicht lag es an einer sehr engen Sichtweise, die sich im Formalismus beschränkt? Ich war also irritiert, auf ein so absolutes Unverständnis zu stoßen und wie so oft nicht schlagfertig, sofort zu kontern – die Argumente kamen dann hinterher, als alles vorbei war. Alles nochmal durchgegangen, hinund hergewendet und schliesslich widerleg. Die Überzeugung, dass Obstsalat eine meiner Leibspeisen ist, wuchs. Auch war mir klar, die Wahl Außer der Philosophie haben sich im zwanzigsten Jahrhundert verschiedene andere Disziplinen darum bemüht zu erklären, wie das Gedächtnis den Bezug zur Vergangenheit herstellt. Und jede der Disziplinen stößt dabei auf andere Probleme. Die Soziologie steht vor dem Problem zu erklären, wie ein kollektives Gedächtnis entsteht, das durch gemeinsame Erinnerungen geprägt ist, obwohl das Bewusstsein der Einzelindividuen nicht aufgedeckt wird. Die Neurobiologie stellt sich die Frage, wie Erinnerung zu Stande kommt, obwohl das menschliche Gehirn nicht als Speicher funktioniert. In der Physik wird gemutmaßt, dass Bewusstsein durch einen Übergang von der Quantenwelt in die klassische Welt hergestellt wird. Der Kulturwissenschaft ist die Thematik insofern besonders nahe, da jede Kunst Gedächtnis ausdrückt. Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, mich aus verschiedenen Richtungen dem Thema meiner künstlerischen Arbeit durch Reflexionen über das Gedächtnis zu nähern. Der Zeitpunkt Studienende scheint mir für diesen Rückblick gut geeignet. Ich betrachte die theoretische Auseinandersetzung mit meiner Kunst als Gelegenheit, meine Ausdrucksweise zu hinterfragen, sie zu begründen und durch Erinnern auf vergrabene Einflüsse zu untersuchen. So geht es mir jetzt darum, das Fundament meines scheinbar intuitiven Ansatzes freizulegen, und aus meiner jetztigen Perspektive nicht nur für mich persönlich zu analysieren, sondern auch in eine von außen nachvollziehbare Form zu bringen. Ich gehe also zurück zu den Quellen meines Wissens, um einerseits die Zusammenhänge zwischen meiner Arbeit und meinem historischen, kulturellen und sozialen Umfelds aufzudecken und andererseits meine Sicht einer zukünftigen Positionierung und meinem weiteren Vorgehen zu klären. Während der Recherche zu den Wurzeln meiner künstlerischen Intention stieß ich auf vergrabenes Wissen, das sich in Glaubenssätzen und Überzeugungen kleidet, und so getarnt meine Arbeitsweise mitsteuert. Doch wenn ich versuche sie zu demaskieren, zeigt sich ein Konglomerat, das sich aus religiös, geistesgeschichtlich,wissenschaftlich und handwerklich tradiertem Denken zusammensetzt, und deren Ursprung ich in der mir zu Teil gewordenden Erziehung, Bildung und in der handwerklichen Ausbildung finden kann. In Kombination mit weiten Feldern, die nicht leicht zu orten sind, wie meine persönlichen Lebenserfahrung hat sich daraus eine schwer entschlüsselbaren Gemisch ergeben. Wie dies alles meine Arbeitsweise beeinflusst, versuche ich also im Folgenden zu ergründen. Dass ich hierzu weit zurück in meine Kindheit und Jugend greifen muss, wurde mir erst im Laufe der Recherche klar. Das interdisziplinäre Vorgehen ergab sich aus meinen weit gestreuten Interessen. Im Laufe der Beschäftigung zeigte sich allerdings, dass sich dahinter immer das gleiche Thema verbarg. Ich erhebe hierbei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wichtig ist mir zu zeigen, welche Beziehungen ich in der Reflexion zu meiner Arbeit ergeben. Trotzdem versuche ich die historische Entwicklung in der Auffassung von Gedächtnis in wesentlichen Aspekten nachzuzeichnen. Ausserdem werde ich meine eigene Arbeit in den Kontext dieser Entwicklung stellen. Ich möchte, anhand einiger Beispiele aus der Kunstgeschichte zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter, aber auch zwischen Kunstwerk und Künstler entwickelt hat. Die ursprünglich getrennten Positionen von Werk, Macher und Rezipienten nähern sich im Lauf der Zeit immer weiter einander an. Schließlich möchte ich dann versuchen, die beiden Hauptpunkte in einem auf meine Kunst bezogenen Fazit zu verbinden, um so ein besseres Verständnis meiner künstlerichen Arbeit zu ermöglichen. Archäologie als methode Meine Vorgehensweise könnte man als eine archäologische bezeichnen. Ich untersuche alte Erzählungen und Kunstwerke, die mir den Vorgang des Erinnerns und Vergessens veranschaulichen. Ich verwende für meine Erklärungen einzelne Steine aus dem grossen Steinbruch der Erinnerung, wie es der französische Historiker und Philosophe Michel Foucault anbietet. In meiner archäologischen Vorgehensweise zeigen sich Parallelen zu Foucaults‘ Formulierung, in der er seine eigene Theorie der Diskursanalyse als Steinbruch bezeichnet, aus dem sich andere Wissenschaftler einzelne Steine zu ihren Zwecken herausbrechen können. Mein Vorgehen würde ich vorzuggsweise als diskursanalytisch bezeichnen. Foucault: 1991, S.11 f. meiner Zutaten nach meinem Geschmack auszuwählen und mich nicht davon abbringen zu lassen, die vielversprechenden Kombinationsmöglichkeiten auszuprobieren. Ich war nicht gewillt mein Bild von einer Akademie, nach dem mir alle erdenklichen Möglichkeiten offen zu stehen schienen, aufzugeben. Die Werkstatt wurde zum Zufluchtsort vor Destruktion. Nach langen Entscheidungskämpfen folgte der Klassenwechsel als Befreiungsschlag. Mein Resumée zur Studienzeit lautet: - Der künstlerische Obstalat wird immer nur aus den reifen Früchten des Gedächtnisses zubereitet. B. Dem Gedächtnis auf der Spur Sokrates erzählt in Platons Werk dem Phaidros die Geschichte wie der ägyptische Dämon mit Namen Theut, der „zuerst Zahl und Rechnung erfunden [habe], und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. ... [Theuth kam zu Thamus, der König von Theben war] und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe? .... Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst ... frei heraus gesagt haben, .... Als er aber an den Buchstaben war, sagte der Theuth: Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen, denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden. Thamus aber erwiderte: O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die sie gebrauchen werden...So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel hören sind dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise.“ Die wissenschaftliche Sicht auf das Gedächtnis, und somit auch die Sicht auf das Denken und Fühlen, auf Erinnern, Vergessen, Wahrnehmen und Handeln hat sich im Lauf der Zeit durch neue Erkenntnisse der Gehirnforschung immer wieder gewandelt. Das Gedächtnis wurde lange Zeit für ein untrügliches Archiv gehalten, eine Art Computer, in dem Erlebnisse und Ereignisse gespeichert werden, die es nur abzurufen gilt. Dass es sich hierbei um einen Irrtum handelt, beweist die Existenz multipler Gedächtnissysteme, die von unterschiedlichen Orten des Gehirns aus eine Vielzahl an Verbindungen zwischen den Nervenzellen aufbauen und auf diese Weise miteinander kommunizieren. Das Gedächtnis weiß nicht nur mehr, als uns bewusst ist, sondern es ist zudem auch noch erfinderisch. Die Bedeutung der emotionalen Rückkopplung des Denkens an den Körper wurde lange Zeit in der Wahrnehmung wie auch in der Forschung vernachlässigt. Das ist mit Sicherheit der bedeutsamste Aspekt, da wir ohne diese emotionale Bewertung nicht in der Lage wären, Entscheidungen zu treffen. Das wird deutlich, wenn wir verbale und non-verbale Kommunikation auf ihre Wirksamkeit hin betrachten. Denn Gefühle lassen sich verstärken, wenn sie durch die passende Mimik ergänzt werden, wie Darwin 1872 feststellte, denn „wer seinen gewalttätigen Gesten freien Lauf lässt, wird seine Wut verstärken.“ Aber ein Gesichtsausdruck verstärkt nicht nur das Gefühl, er kann das Gefühl auch erst auslösen, was Mitte der 70er Jahre bewiesen wurde. Trotz der frühen Erkenntnisse Darvins waren die Auswirkungen des cartesianischen Menschenbilds die letzten dreihundert Jahre auf das wissenschaftliche Denken wirksam und zeigen sich heute noch. Die lange Tradition in der Beschäftigung mit dem Gedächtnis erscheint mir für das Nachzeichnen der Gedankengänge so aufschlussreich, dass ich hier, die mir wichtig erscheinenden Inhalte, anführen werde: Gedächtnis und Medien gelten beide als Erinnerungsträger. Platon, Phaidros 274C - 275B. Nach Yates S.42 f. vgl. Antonio R. Damasio. Ich fühle also bin ich. München 2002. Darvin nach David G. Myers.Psychologie. Heidelberg 2005. S.549 Das wird schon in der doppelten Bedeutung des lateinischen memoria als Erinnerung und Gedenkschrift deutlich. Von Anfang an, das heißt, seit der Erfindung der Wachstafel,„wird menschliches Erinnern und Vergessen in Begriffen beschrieben, die man künstlichen Gedächtnissen entliehen hat.“ Die erste mir bekannte Quelle über das Gedächtnis ist Platons Dialog über Erkenntnis und Wahrheit, in dem Sokrates zu dem jungen Theaitet über die Beschaffenheit des individuellen Erinnerungsvermögens spricht. Er vergleicht das Gedächtnis mit einer Wachsmasse, die je nach Konsistenz und Reinheit des Materials mehr oder weniger fähig ist, die Abdrücke der Dinge aufzunehmen. Dieser Wachsblock, sagt Sokrates (um 470-399v.Chr.), hat die Mutter der Musen den Menschen als Geschenk in die Seele gelegt. Obwohl Platon über Erinnern und Vergessen schreibt, erwähnt er die Gedächtniskunst nicht. „Und woran immer wir uns erinnern wollen, von dem, was wir gesehen, oder gehört oder auch selbst gedacht haben, das drücken wir in dieses Wachs ab, indem wir es unter die Wahrnehmungen und Gedanken halten, wie beim Siegel den Ring. Was sich nun abdrückt, daran erinnern wir uns und wissen es, solange sein Abbild vorhanden ist. Wurde dies aber gelöscht oder konnte es auch gar nicht eingedrückt werden, so vergessen wir die Sache und wissen sie nicht.“ Platon (427-347v.Chr.) im Theaitet. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Frankfurt 1979. S.110 -123. 1. Die Mnemotechniken von der Antike bis zur Aufklärung Die Begriffe Mnemotechniken und Mnemotik sind von Mnemosyne, der Mutter der neun Musen und Göttin des Gedächtnisses abgeleitet und werden als übergeordnete Termini für jede Form der Gedächtniskunst gebraucht. Sie ist eine fast vergessene Tradition, mit deren Hilfe das Erinnerungsvermögen gesteigert werden kann. Mit Regeln, Kniffen und Tricks, wie den uns bekannten Eselsbrücken wird das Gedächtnis unterstützt und leistungsfähiger gemacht. Wie viele andere Künste auch, wurden die Mnemotechniken von den Griechen überliefert und von den Römern weitervermittelt. Von Rom aus nahmen sie dann ihren Weg durch die europäische Geistesgeschichte. Frances A. Yates beschreibt diese Entwicklung in ihrem Buch Gedächtnis und Erinnern sehr ausführlich. Mnemotechnik ist ein aus dem griech. mném und téchn - Erinnerung und Kunst zusammengesetztes Kunstwort, das seit dem 19. Jahrhundert für ars memoriae und ars reminiscentiae Gedächtniskunst benutzt wird. Im 18. Jh. wurde meist Mnemonik verwendet, das vom griechischen mnëmonikë – das Gedächtnis betreffend – kommt und ebenfalls die Kunst meint, mit geeigneten Mitteln wie durch Assoziationen das Gedächtnis zu schulen Douwe Draaisma. Die Metaphermaschiene. Darmstadt 1999. S.33 Frances Amalia Yates. Gedächtnis und Erinnerung. Mnemotechniken von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin und Weinheim, 1990. S.37. Eigene Anmerkung: Das hängt wahrscheinlich mit der negativen Einstellung Platons den griechischen Rednernund und Sophisten zusammen, die er beschimpft, da sie alle ethischen Kathegorien relativierten, das Recht des Stärkeren predigten und Schüler durch Schmeicheleien anlockten. Durch die Kritik Platons wurde „Sophist“ später oft als Schimpfwort gebraucht. Vgl. Einleitung zu Cicero. De Oratore. Erato, die Muse der Liebesdichtung, der Lyrik,des Gesangs und des Tanzes; Euterpe, die Muse der Tonkunst, der lyrischen Dichtung und des Flötenspiels; Kalliope, die Muse des Epos Wissenschaft und Elegie; Kilo, die Muse der Heldendichtung und Geschichtsschreibung; Melpomene, die Muse der tragischen Dichtung und des Trauergesangs; Polyhymnia, die Muse der Hymnendichtung, des Tanzes, der Pantomime und der Geometrie; Terpsichore, die Muse der Chorlyrik und des Tanzes; Thalia auch eine der drei Grazien und Muse der kosmischen Dichtung und der Unterhaltung; Urania, die Muse der Sternkunde. 10 Abb. 2 : Die Neun Musen. auf einem römischen Sarkophag. 2./3. Jht. n. Chr. „...vielleicht ist sogar nichts unheimlicher an der 1.1. Das künstliche Gedächtnis in der Antike ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“ – das ist ein Hauptsatz aus der aller ältesten (leider auch allerlängsten Psychologie auf Erden“ Nietzsche. 5. S. 295 Abb. 3 : Bildnis eines Menschen an einem Gedächtnisort. Holzschnitt . Die zum memorieren ausgewählten Orte sollen den menschlichen Proportionen entsprechen. Diese Regel entspricht den klassischen Empfehlungen für die loci , die nach dem Ad Herennium hell, und nicht zu groß und .nicht zu klein sein sollen. „Diese Regel entwickelte sich aus dem künstlerischen Gefühl für Raum , Licht, Entfernung, das vielleicht Giottos gemalte loci beeinflußt haben könnte.“ Yates S. 111 Im vorsokratischen Zeitalter lebte ein, wegen seiner besonderen Bildsprache bewunderter, lyrischer Dichter namens Simonides von Keos. Der griechische Dichter Simonides war beauftragt bei einem Gastmahl zu Ehren des Gastgebers Skopas ein Gedicht vorzutragen. Da aber auch der Ruhm der beiden Zwillingssöhne des Zeus Kastor und Pollux besungen wurde, weigerte sich der Faustkämpfer Skopas, den vereinbarten Preis für das Loblied zu bezahlen. Er bezahlte die Hälfte und verwies den Dichter an die Zwillingsgötter, die den Rest begleichen sollten. Simonides wurde wenig später die Nachricht gebracht, draußen warteten zwei junge Männer auf ihn. Als er vor die Tür trat, war niemand zu sehen. Im selben Augenblick brach hinter ihm das Dach des Festsaals ein und begrub die gesamte Gesellschaft unter sich. Doch hätte sich Simonides nicht daran erinnert, wie die Gäste bei Tisch gesessen hatten, wären die verunstalteten Leichen nicht von ihren Angehörigen zu identifizieren gewesen. So führte Simonides nicht nur die Bezahlung von Dichtkunst ein, und brachte seinem Beruf mehr Achtung und Ansehen ein, sondern formierte auch die Technik der Gedächtniskunst. Die Ars memoriae galt Jahrhunderte lang mit ihren komplexen Methoden und Inhalten als Mittel zu Steigerung des Erinnerungsvermögens. Die Geschichte, wie Simonides Gedächtniskunst erfand, wird in Ciceros berühmten Werk De oratore erzählt. Im zweiten Buch seiner Rhetorik behandelt er das Gedächtnis und leitet mit dieser Geschichte eine kurze Beschreibung der Mnemonik ein. Römische Redner, Anwälte und Senatoren nutzten diese Technik, ihre langen und komplexen Vorträge im Gedächtnis zu behalten. Sie trainierten die Fähigkeiten ihres Gedächtnisses, indem sie eine Reihenfolge von Orte (loci) visualisierten, wie beispielsweise eine Abfolge von Zimmern in einem Haus. In der gewünschten Reihenfolge wurden dann die zu behaltenden Inhalte als Bilder den Räumen zugeodnet. Mit dieser sogenannten Gebäude-Metapher oder auch Loci-Methode ist der Sprechende im Stande, das in Bildern gespeicherte Faktengedächtnis wieder zu beleben, indem er die Räume in Gedanken abgeht und an jedem Cicero. De Oratore. Stuttgart 2003. II, 352 ibidem II, 351-354 11 eingeprägten Ort das entsprechende Pfand einfordert. Auf diese Weise kann er sein Sachwissen im richtigen Augenblick anbringen. Um das Wortgedächtnis zu erweitern, wird diese Technik in komplexerer Ausführung angewandt. Als Bilder sollen menschlichen Gestalten, imagines agentes mit auffälligen und ungewöhnlichen Zügen ausgesucht werden, die gleichzeitig eine Klangähnlichkeit zum einzuprägenden Wort aufweisen sollten. Dieses Prinzip erinnert an die uns gebräuchliche Eselsbrücke, bei der uns völlig absurde zufällige Assoziationen auf die Sprünge helfen können. Die klassische Form ist eine Systematisierung dieses Vorgangs. Auf dem Höhepunkt der Rhetorik zwischen erstem Jahrhundert vor und erstem Jahrhundert nach Christus entstanden die drei wichtigsten uns überlieferten Quellen zur antiken Gedächtniskunst, nämlich De oratore von Cicero, die Institutio oratoria des Quintilian und die Rhetorica Ad Herennium eines unbekannten Autors, die bis ins 15. Jahrhundert fälschlich Cicero zugeschrieben wurde. Diese rhetorischen Texte wurden als Lehrbücher in Rhetorikschulen verwendet. Die antiken Redner waren darin geübt, das visuelle Gedächtnis, in dem sich die Malerei und Plastik wieder fand, mit Sach- und Wortgedächtnis zu verbinden. Das interessante für mich ist dabei, dass die Rhetoriklehrer der Antike die Funktionen des Gedächtnisses mit imaginierten Bildern verbesserten, was der heutigen neurologischen Sichtweise nahe kommt. Es wird von Engrammen gesprochen, die Gedächtnisinhalte repräsentieren, Außerdem war die Bedeutung der Körpersprache als Überzeugungsmittel beim Referieren bewusst. Heute, im digitalen Zeitalter sind wir nicht mehr ausschließlich auf ein trainiertes Gedächtnis angewiesen. Es gibt nur mehr wenige Redner, die im Stande sind einen Vortrag völlig frei zu halten. Meist wird vom Skript abgelesen, vielleicht auch mal Blickkontakt mit dem Publikum aufgenommen, wenn es sich um einen geübten Referenten handelt, wird schon mal eine Anekdote frei erzählt. Ausformulierte Reden, PowerPoint-Präsentationen und digitale Bibliotheken übernehmen die Funktion des Gedächtnisses. Quintilian erwähnt in seiner Rhetorik einen gewissen Metrodorus von Skepsis mit einem „beinahe übermenschlichen“10 Gedächtnis11, der seine vgl. Cicero. De oratoe. 10 Yates S.26 11 Von seinem Werk sind nur Fragmente überliefert. Wegen des uns dank Cicero erhaltenen Anfangs seiner Schrift 12 Das Ad Hernnium ist die einzige vollständige lateinische Abhandlung über das künstliche Gedächtnis, für die der unbekannte Autor wahrscheinlich verloren gegangene griechische Quellen zur Gedächtnislehre heranzog. Jede weitere Abhandlung der ars memorativa folgt in ihrem Aufbau, im Inhalt und oft sogar im genauen Wortlaut den Regeln für Orte (loci), für Bilder (imagines), bei der Erörterung des Sachgedächtnisses und des Wortgedächtnisses diesem Hauptwerk. Die loci werden mit Wachstäfelchen verglichen, die bestehen bleiben auch, wenn das geschriebene gelöscht wird. Es wird empfohlen sich als Gedächtnisorte wenig besuchte Gebäude zu suchen, deren loci einen angemessenen Abstand von einander haben sollten, denn wie das äußere Auge so ist auch das innere Auge des Denkens schwächer, wenn der Gegenstand der Betrachtung zu nahe oder zu weit weg ist. Es gibt zwei Arten von Bildern, eine für Dinge (res) und eine andere für Wörter (verba). Das bedeutet, dass das Sachgedächtnis Bilder schafft, die an Behauptungen, an Vorstellungen oder ein Ding erinnern, das Wortgedächtnis aber muss Bilder finden, die an jedes einzelne Wort erinnern. Die Ausführung, wie man dabei vorgehen sollte, würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sind aber im Detail bei Yates (S.14 ff ) zu finden. Gedächtniskunst auf den Zodiakus, den Tierkreis begründete und damit die „kosmische Wirkung“ mit dem Gedächtnis verband. Sein auf die Astronomie begründetes Gedächtnis wurde im Verlauf der Geschichte mehrfach wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Abb. 4 : Die Sphären des Universums als Gedächtnissystem. Es sind verschiedene Sphären dargestellt, und zwar die der Elemente, der Planeten, der Fixsterne und darüber die himmlischen Sphären und die der neun Ordnungen der Engel. „Unmittelbar bevor im Umbruch der antiken Welt jede organisierte Bildung zusammenbrach“, beschrieb Martianus Capella die sieben freien Künste allegorisch in weiblicher Personifikation und bewahrte auf die Weise das antike Bildungssystem.„Bei der „Hochzeit zwischen Philologie und Merkur“12 erhält die Braut als Hochzeitsgeschenk die sieben freien Künste in weiblichen Personifikationen. Die Grammatik war eine strenge alte Frau, die ein Messer und eine Feile trug, um damit die grammatikalischen Fehler der Kinder zu entfernen. Die Rhetorik war eine hoch gewachsene schöne Frau, die ein reich mit Redefiguren geschmücktes Gewand trug sowie Waffen, mit denen sie ihre Gegner verwunden konnte. Die Personifikationen der freien Künste entsprechen erstaunlich genau den Regeln des künstlichen Gedächtnisses – auffallend hässlich, oder schön, mit sekundären Bildern,“ die durch diese Attribute an ihre Aufgaben erinnern. Mit dem Niedergang des römischen Westreiches im fünften bis sechsten Jahrhundert verschwand auch das Bildungssystem, das auf den sieben freien Künsten beruhte. So hatte die Rhetorik und mit ihr auch die Gedächtniskunst ihre Anwendung verloren. 1.2. Die Gedächtniskunst hinter den kulissen im Mittelalter Die Stimmen der Redner verstummten, als sie von den ‚Barbaren’ von der Straße vertrieben worden waren und die Gelehrten zogen sich in die Klöster zurück. Karl der Große führte das, auf die sieben freien Künste beruhende antike Bildungssystem im neuen Römischen Reich ein, zu dessen Kaiser er im Jahre 800 von Papst Leo III. gekrönt wurde und leitete damit die karolingischen Renaissance ein. Auf seinen Ruf hin kamen einige bedeutende Gelehrte Peri physeos (Über die Natur) wird er gelegentlich als Wegbereiter der Pyrrhonischen Skepsis angesehen: „niemand unter uns weiß etwas, nicht einmal eben das, ob wir wissen oder nicht wissen.“ http://de.wikipedia.org/wiki/ Metrodoros_von_Chios 12 In Martianus’ Werk über die sieben freien Künste – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – werden sie in romantisch allegorischer Form dargestellt. Yates S. 59 13 seiner Zeit an seinen Hof. Unter ihnen Alcuin, der einen anschaulichen Dialog schrieb, in dem Karl der Große ihn über die fünf Teile der Rhetorik und über das Gedächtnis befragt, das er „für den edelsten Teil der Rhetorik“ hielt. Doch Alcuin kannte scheinbar nur dürftig die Quellen zum künstlichen Gedächtnis und empfahl für seine Verbesserung außer „Übung beim Auswendiglernen, Praxis beim Studium“ nur noch „das Meiden von Trunkenheit.“ Doch das Hauptziel der karolingischen Bildungsreform war nicht allein die Wissenssteigerung. Die sieben freien Künste stellten für Karl den Großen die sieben Stufen zu seinem großen Ziel eines Gottesstaates, dem imperium christianum dar, einem Reich, das den Glanz des alten Athen, Rom und Jerusalem bündeln und noch überstrahlen sollte. Ein halbes Jahrhundert später trugen gebildete Dominikanermönche, wie Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin wesentlich zur Erneuerung und Wiederbelebung der Gedächtniskunst bei. Die Bedeutung der Scholastiker „markiert einen wichtigen Punkt in ihrer Geschichte, einen Höhepunkt in ihrer Wirkungsgeschichte.“13 Der mittelalterliche Theologe und Philosoph Thomas von Aquin führt die Verschmelzung der Lehren Ciceros mit der aristotelischen Theorie seines Lehrers fort und systematisierte die aristotelische Philosophie derart, dass sie für Theologie und Philosophie für Jahrhunderte nutzbar wurde.14 Er machte die Gedächtniskunst für die Religionsausübung anwendbar. Die vormals von einer kleinen Gruppe von Politikern und Juristen angewandte Kunst, wird nun von Mönchen und Theologen verwendet, und wird auf diese Weise mit der Liturgie verbunden. Thomas von Aquin soll für Papst Urban IV. einen Kommentar der vier Evangelien aus dem Gedächtnis herunter geschrieben haben. Die Texte, die er dazu benötigte, hatte er während seines Aufenthalts in anderen Klöstern gelesen und auswendig gelernt. Einige seiner Klosterbrüder hatten während des lange andauernden Heiligsprechungsprozess erzählt, er wäre durch sein immenses Erinnerungsvermögen im Stande gewesen, vier Sekretären gleichzeitig unterschiedliche Texte zu diktieren, „auswendig und ohne zu suchen: ‚Er schien seinem Gedächtnis schlichtweg aufzutragen, seine Schätze herausströmen zu lassen.’ Traf er ein Problem, wandte er sich im Gebet nach innen, um nach seiner Rückkehr an den Schreibtisch zu bemerken, dass seine 13 Yates, S.75 14 Meyers 14 Abb. 5 : Summa contra gentile de Saint Thomas d’Aquin. Florence 1521. Thomas v. Aquin (1225-1274) entwickelte in seinem Hauptwerk Summa Theologica als Höhepunkt der Scholastik, eine globale Synthese von Glauben und Wissen, Offenbarung und Vernunft, Gnade und Natur- bzw. Schöpfungsordnung, Übernatur und Natur, Theologie und Philosophie. Nachdem seine Lehre mehr als 30 Jahre verboten war, wurde sie 1309 zur Ordensdoktrin des Dominikanerordens. Die Heiligsprechung (1323) und seine Erhebung zum Kirchenlehrer (1567) steigerte die Wirkung seiner Lehre auch institutionell. Meyers. Grosses Universal Lexikon . Mannheim 1985 Gedanken so klar vor seinem Geist standen, ‚als nähme das Wissen in deiner Seele immer zu. Wie sich beim Schreiben eines Buches Seite zu Seite fügt.’“15 In seiner memoria unterscheidet Thomas Wiedererinnerung nicht im intellektuellen Teil und das Gedächtnis im sinnlichen Teil der Seele, sondern schreibt beides der Seele zu. Er begründet dies in ähnlicher Weise wie Aristoteles, der die Verbesserung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens durch körperhafte Sensibilisierung betont.16 Der niederländische Psychologiehistoriker Douwe Draaisma nennt Thomas von Aquin den Hohenpriester des Hermetismus17, der die Mnemotechniken der Antike zur religiösen Erbauung nutzte, indem er sie neu systematisierte und in hoch ikonologischer Sprache auf die Gleichnishaftigkeit der Heiligen Schrift anwendet. In seiner ersten Regel bezieht sich Thomas auf das Ad Herennium, doch aus den dort erwähnten auszuwählenden ungewöhnlichen und auffallenden Bildern macht er „körperhafte Gleichnisse“, die in Verbindung mit Bildern verhindern sollen, daß„geistige und einfache Intentionen der Seele leicht entgleiten.“ Er weist ausdrücklich darauf hin, daß die Gleichnisse nicht zu vertraut sein sollten, „denn wir erstaunen mehr über unvertraute Dinge.“ Interessant scheint mir auch seine Formulierung im folgenden, dass „die Seele von ihnen stärker und heftiger festgehalten“, - nicht wir halten die Dinge fest sondern die Seele wird von ihnen gebunden – „deshalb erinnern wir uns auch besser an Dinge, die wir in der Kindheit gesehen haben.“ Vgl. die vier Vorschriften des Gedächtnisses von Th. v. Aquin im Anhang. Yates S. 72, 73 Abb. 6 : Die Weisheit .Thomas von Aquins. Fresko von Andres da Firenze. Florenz. Das Fresco wird auch als Triumpf des Thomas von Aquin bezeichnet, der in mitten von vierzehn Figuren sitzt, die sein gewaltiges Wissen als „Bildvorstellungen, den sieben freien Künsten“ und sieben weiteren verkörpern. Yates bringt die Darstellung mit der Gedächtniskunst in Verbindung und vermutet, dass das Fresco auch auf Thomas‘ „Methode des Memorierens anspielt“. Yates S.114 15 Douwe Draaisma. Die Metaphermaschiene. Darmstadt 1999. S.41 16 Yates S.39 17 Der Hermetismus geht nach einem mittelalterlichen Mythos auf das Corpus Hermeticum, das Werk eines ägyptischen Priesters Hermes Trismegitos zurück, das eine Sammlung griechischer Schriften aus der Zeit zw. 100 und 300 n.Chr. beinhaltet. 15 Die mittelalterliche Anwendung des Memorierens zielte also auf die persönlichen Erbauung und das »Heilwerden« durch eine moralisch angewandte Gedächtnissteigerung. Sie ging also nach innen, während die antike Gedächtniskunst in die Öffentlichkeit gerichtet war. Eine ganz andere Anwendung der Mnemonik ist das System des Ramon Lullus. Sie kommt nicht aus der klassischen rhetorischen sondern aus der philosophischen Tradition. Er begründet seine Kunst auf die Namen und Attribute Gottes gemeinsamer religiöser Begriffe aus Christentum, Judentum und Islam. Diese »mystisch-occulte« Anwendung war in der Renaissance sehr populär. Interessant ist für mich hier das Bedürfnis, die gesamte Welt in einem abstrahierten System zu fassen und für das Gedächtnis nutzbar machen zu wollen. Abb. 7 : Die Leiter des Aufstiegs und Abstiegs. Mit Hilfe der lullischen Methode sollte man bis zur Trinität an der Spitze auf der Leiter der Schöpfung durch jede Ebene bis zur Weisheit aufsteigen können. Kombinationsfigur. Die einzelnen Abb. 8 : A) Das „A“-Diagramm. Es handelt sich hier B) um eine mystische Figur der ars combinatoria Buchstabenkreise sollen auf drehbaren in ihrer einfachsten Form bestehend aus den Segmenten angeordnet sein. geometrischen Figuren Kreis, Dreieck und Quadrat in ihrer kosmischen Bedeutung Elemente, Himmel und Göttlichkeit. Die Buchstaben B bis K entsprechen den astrahierten Attributen Gottes: bonitas magnitudo, eternitas, potestas sapientia voluntas virtus veritas gloria Von nun an ersetzen die Medien immer mehr das künstliche Gedächtnis. Buchillustrationen, Zeichnungen, Emblemen und Bilder dienen dazu, das Gedächtnis für den Zweck der Frömmigkeit zu schulen. Der deutsche Dominikaner Johannes Romberch sammelte Anfang des 16.Jahrhunderts in seinem kleinformatigen Buch Congestorium artifisciose memorie 18 allerlei sonderbares Material zum künstlichen Gedächtnis, das er nach 18 Johannes Romberch. Congestorium artifisciose memorie. 1533. Romberch verwendet für sein Buch die drei klassischen 16 „Lullus war kein Scholastiker er war ein Platoniker, und in seinem Versuch, das Gedächtnis auf die göttlichen Namen zu gründen, die dem nahe kommen, was er sich unter platonischen Ideen vorstellte, steht er der Renaissance näher als dem Mittelalter.“ Yates S.164 ff In der Renaissance setzte sich der „Lullismus als der modischen Philosophie zugehörig durch und wird den verschiedenen Aspekten der hermetischkabbalistischen Tradition assimiliert.“ In Verbindung mit der Astrologie ergibt sich aus der Kombinatorik „eine Art menschenfreundliche Astralmedizin“, diese »Lullische Medizin« gilt laut Giordano Bruno als Grundlage für die Medizin des Paracelsus. Yates S.163 ff. drei verschiedenen Orts-typi gliedert. Für den ersten Typus steht die Metapher des Kosmos. Als zweiten Typus schlägt Romberch das metrodorische System der Zodiakalorte als leicht zu memorierende Reihung von Orten vor. (Abb.3) Der dritte beschreibt die klassische loci-Methode in Verbindung mit der alphabethischen Reihung. (Abb.3) Abb. 9 : Gedächtnissystem mit Abtei. . Diese Abtei mit Nebengebäuden sollten als Gedächtnisorte gebraucht werden. Hier konnte das zu memorierende Material, wie Psalmen oder liturgische Formeln assoziiert werden. „Im 12. und 13.Jahrundert bildete sich neben der monastischen eine scholastische Tradition heraus.“19 Die Spannung zwischen dem Anfang eines organisierten Bildungssystems und der mittelalterlichen Rechtsprechung mit ihren unvorstellbar grausamen körperlichen Strafen und ihren traumatisierenden Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis ist es, was ich an dieser Stelle kurz streifen möchte. Besonders interessant ist hier der Abb. 11 : Die Buße als Gedächtnisbild Vergleich der Höllendarstellung als war dazu gedacht sich die Sünden, die Gedächtnisbild mit Dantes Inferno, das als auf die Bänder der Geißel geschrieben poetische Umsetzung einer Verbildlichung sind, besser zu merken. der Hölle mittels des künstlichen Gedächtnisses angesehen werden kann. Als loci sind die Höllenkreise gewählt, in denen die Sünder ihre gerechten Strafen erhalten. Sie erinnern den Gläubigen auf eine körperlich eindringliche Art, welche Strafen ihm blühen, wenn er sich nicht an die göttlichen Gesetze hält. Abb. 10 : Diese Bildalphabethe sollten in dem Gedächtnissystem mit Abtei verwendet werden. Aus Ordnungsgründen ist über jedem fünften Bild eine Hand und bei jedem zehnten ein Kreuz gezeichnet. Die Gegenstände stehen mit den Orten in Verbindung.. Die Göttliche Komödie (1307-21) des mittelalterlichen Staatsmanns, Philosophen und Dichters Dante Aligheri gilt als größtes christliches Weltgedicht. Es verknüpft Geschichte mit Transzendenz, Zeitlichkeit mit Zeitlosigkeit und wird als „Summa“ des Mittelalters bezeichnet. In hundert Quellen: Ad Herennium, De Oratore und Quincilian. Die Basis seiner Systematisierung geht auf „Formulierungen der Summa von Thomas von Aquin und dem Aristoteles-Kommentar“ zurück. „Das Buch hat vier Teile: einen ersten einleitenden, einen zweiten über Orte, einen dritten über Bilder und einen vierten Teil, der ein enzyklopädisches Gedächtnissystem umreißt.“ Yates S.109 19 Daarisma. S.45 17 Gesängen es schildert gleichnishaft die Wanderung der Seele auf dem Weg der Unwissenheit und Sünde über Reue und Erkenntnis zum Heil. Die menschliche Erfahrung gipfelt in der mystischen Erfahrung der Gottesvision. Die Bestrafung entsprach im Mittelalter den begangenen Verbrechen, die den Ständen entsprechen ausfielen. Sie wurden als Teile des Gemeinschaftskörpers angesehen. So wurde ein Adeliger, der metaphorisch als Haupt des Gemeinwesens angesehen wurde, geköpft. Das Volk jedoch, das den Körper symbolisiert, wurde am Körper bestraft. Die Frage, welche Spuren körperlichen Strafen der vorbürgerlichen Zeit im kollektiv-kulturellen Gedächtnis hinterlassen haben, wird im Rahmen des philosophisch betrachteten Gedächtnisses noch einmal auftauchen. Im Wesentlichen ist die Veränderung des künstlichen Gedächtnisses zwischen Mittelalter und Renaissance durch eine Veräußerlichung der einst imaginierten Bilder und Orte gekennzeichnet. In den Klöstern entstehen Bibliotheken und die Mönche kopieren und illustrieren kunstvoll Bücher. Die Befruchtung der bildenden Künste durch die in der Mnemonik angewendete Bildimagination zeigt sich hier erstmals. Abb. 12 : Die Hölle als künstliches Gedächtnis ist in elf Orte geteilt. In der Mitte steht ein Feuerbrunnen zu dem drei Stufen hinaufführen, auf denen Ketzer, jüdische Ungläubige, Götzenanbeter und Heuchler ihre Strafen erleiden. Ringsum die Stufen befinden sich sieben weitere Orte entsprechend den sieben Todsünden:. superbia - Hochmut, avaritia -Geiz, invidia - Neid, ira - Zorn, luxuria - Wollust, gula Völlerei, acedia - Trägheit.Dantes Inferno ist die literarische Veranschaulichung dieses künstlichen Gedächtnisses.. 1.3. Die äussere Form des Gedächtnisses in der Renaissance In der Renaissance entstand, im Unterschied zum Mittelalter, ein diesseitsbezogenes Welt- und Menschenbild. Zahlreiche wichtige Erfindungen wie etwa der Buchdruck von Gutenberg, der 1456 die erste gedruckte Bibel heraus gab, brachten weit reichende Veränderungen mit sich. Philosophen und Mystiker wie Guillo Camillo, Giordano Bruno oder Pierre de la Ramèe versuchen mit Hilfe der mnemonischen Ordnungsregeln enzyklopädisches Weltwissen zu speichern, das sich in dem von Gott geschaffenen Universum widerspiegelt. Diese Enzyklopädien sollten die von Gott gegebene Bedeutung der Natur erfassen. „Die Mnemotechniken der Renaissance sind nicht mehr bloß Werkzeuge, sondern verstehen sich als kosmische Weisheit, als organische imago mundi.“ 20 Gleichzeitig tauchten „moderne Strömungen in der humanistischen Gelehrsamkeit und Erziehung“ auf, die der Gedächtniskunst feindselig 20 Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München & Wien 1992, S. 85. 18 Abb. 13 : Das Paradies als künstliches Gedächtnis. ist von einer mit Edelsteinen besetzten Mauer umgeben. Im Zentrum steht der Thron der Apostel, Patriarchen, Propheten, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen, der Heiligen. Abb. 14 : Gedächtnissystem nach Giordano Bruno, Auf Brunos sich drehenden Scheiben sind die Kreise sind in 30 Hauptsegmente mit jeweils fünf Abschnitten eingeteilt. 150 Erfinder werden genannt unter ihnen auch Simonides und Philolaus, auf den „in Brunos Werk als auf einen Vorläufer des Kopernikus ständig verwiesen“ wird (Yates S.203). Die Inschriften sind kaum lesbar. Das macht aber nichts, meint auch Yates, „denn wir werden diese Sache im einzelnen nie verstehen. Der Plan soll nur eine Vorstellung von der allgemeinen Anordnug des Systems vermitteln, und auch von seiner abschreckenden Komplexität.“ Yates S.195 gegenüber standen. Der führende humanistische Denker Erasmus von Rotterdam vergleicht die entartete Tradition mit Spinnweben, die den Mönchen aus den Köpfen gekehrt werden sollte. Die Regeln wurden immer detaillierter, alphabetische Listen und Bildalphabete wurden zunehmend trivial eingesetzt. Yates gewinnt beim Studium der Traktate „oft den Eindruck, die Gedächtniskunst sei zu einer Art Kreuzworträtsel als Zeitvertreib für die langen Stunden im Kloster verkommen. ... Buchstaben und Bilder werden zu einem kindischen Spielzeug. “21 Doch die Neuplatoniker der Renaissance teilten die ablehnende Haltung mancher Humanisten dem Mittelalter gegenüber nicht. Genauso, wie die von Aristoteles beeinflussten Scholastiker des Mittelalters die mnemonischen Traditionen wieder aufgriffen, tat es jetzt die neuplatonische Philosophie mit ihrem Hermetismus. Giordano Brunos Gedächtnissystem gilt trotz seiner Erläuterungen als eines der unergründlichsten der Mnemonik. Es beinhaltet das gesamte Universum als Mikro und Makrokosmos und funktioniert durch Magie. Brunos Kombination der klassischen Gedächtniskunst mit dem Lullismus sollte, wie Yates es annahm, als magisch-mechanische „Denkmaschine“ funktionieren. Hatte Bruno (* 1548 † 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen in Rom) die Absicht mit Hilfe sich ständig verändernder Kombinationen der Astralbilder, mit einer „Art Alchemie der Vorstellungskraft,“ einen innerseelischen „Stein der Weisen“ zu bilden, um „die ganze Geschichte des Menschen“ und „alle seine Entdeckungen, Gedanken [und] Philosophien“22 zu erinnern? Brunos Annahme, die Astralkräfte, die die äußere Welt regieren, seien auch im Inneren wirksam und könnten dort zur Aufrechterhaltung eines magisch-mechanischen Gedächtnisses reproduziert oder eingefangen werden, erinnert... an eine Denkmaschine, die mit mechanischen Mitteln weitgehend die Arbeit des menschlichen Gehirns verrichten kann.“ Yates S. 205 „Die Renaissance-Vorstellung von einem animistischen, durch Magie funktionierenden Universum“ hat der Überzeugung von einem „mechanisch, mathematisch“ funktionierendem Universum den Weg bereitet.23 . Giordano Bruno wagte sich weit vor in die Unendlichkeit des Universums und bezahlte dies mit seinem Leben. Abb. 15 : Holzschnit Atmosphäre. 21 Yates S.115 f. 22 Yates S.204 f. 23 Yates S.205 19 Giulio Camillos Gedächtnistheater war ein aussichtsloser Versuch, dieses enzyklopädische Weltwissen räumlich zu speichern und anwendbar zu machen. Doch ist das Vorhaben, die Mnemonik zu einer Enzyklopädie, also zu einem kosmologischen Abbild der Wirklichkeit zu machen, unermesslich ja sogar utopisch. Diesem hohen Anspruch konnte auch Camillo nicht gerecht werden. Denn dann müsste „auf der Inhaltsebene der ganze Bau des Kosmos stehen und auf der Ausdrucksebene ein korrespondierendes Labyrinth von loca und Bildern. Obgleich bleibt diese globale Kompetenz, obwohl sie vorausgesetzt wird immer nur virtuell.“24 Wigle von Aytta (Vigilius Zuichemus) schrieb an Erasmus ein gewisser Camillo sei in aller Munde und habe ein Theater von wunderbaren Fähigkeiten errichte, „dass jeder, der als Zuschauer eingelassen wird, über jedes Thema nicht weniger gewandt disputieren kann als Cicero. ... man sagt, dieser Architekt habe an bestimmten Orten gesammelt, was immer über jedweden Gegenstand bei Cicero gefunden werden kann. ... bestimmte Ordnungen und Stufen sind eingerichtet... mit erstaunlicher Mühe und göttlicher Geschicklichkeit.“ Wigle besuchte das geheimnisvolle Theater in Venedig und berichtete von seinen Eindrücken in dem hölzernen Amphitheater und dass die vielen Bilder, Ornamente, Figuren und kleine Kästchen in „Ordnungen und Zonen“ gegliedert sind und „eine solche Menge Papier, daß ich, obwohl ich immer gehört hatte, dass Cicero die Quelle der reichsten Beredsamkeit sei, wohl kaum gedacht hätte, daß in einem Autor so viel enthalten sei. ... Er gibt vor, daß alles, was der menschliche Geist erfassen kann und was wir mit dem körperlichen Auge nicht sehen können, nachdem es durch sorgfältige Meditation gesammelt sei, durch gewisse körperliche Zeichen in einer solchen Weise zum Ausdruck gebracht werden könne, daß der Betrachter mit seinen Augen sogleich alles begreifen kann, was sonst in den Tiefen des menschlichen Geistes verborgen ist. Und wegen dieser körperlichen Anschauung nennt er es Theater.“ Erasmus Epistulae, P.S.Allen Hg. IX S.479 nach Yates S.123 f. Durch den Buchdruck steigert sich die Verfügbarkeit von Büchern und damit wurden auch Bilder immer mehr verbreitet. Zwischen 1500 und 1600 verdoppelte sich die Bevölkerung und die Buchproduktion wurde verzehnfacht. Das Pergament wurde vom Papier abgelöst und das Buch wurde nach und nach zum Gebrauchsgegenstand. Die Metapher des Buches als Gedächtnis und Sinnbild für das Beständige verändert sich. Es wird jetzt mit „Vergeblichkeit und Nichtigkeit des Irdischen“ „zum Vanitassymbol“25 Schon 50 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks verspottete Sebastian Brandt in seinem Roman „Das Narrenschiff“ das Sammeln Von ungenützten Büchern, die ein eitler Narr zum Prahlen zu Hause angesammelt hat. Allmählich verblasste die Ehrfurcht vor dem geschriebenen Wort, dessen Ausdruck im Mittelalter noch hoch ikonologisch war. Daarisma spricht von einem „Prestigeniedergang“ der Anfang des 17.Jh. vollzogen war. „’Wir haben bereits ein enormes Chaos an Büchern. Wir werden darunter 24 Eco 1992. S.84 25 Daarisma S.47 20 Abb. 16 : Das Gedächtnistheater des Giulio Camillo Delminio. Reconstruktion von Yates. The Seven Pillars or Solomon´s House of Wisdom Hier sind nach Sitte der antiken Theatern die unteren Sitze gemäß der wichtigsten Leute „den sieben wesentlichen Maßeinheiten zugedacht, nämlich den sieben Planeten. Hat man diese einmal organisch erfasst und mit ihren Bildern und Symbolen demGedächtnis eingeprägt, kann sich der Geist von dieser mittleren himmlischen Welt in jede Richtung bewegen.“ Yates S.130 Abb. 17 : Es führt der Narr den Vortanz aus, der viele Bücher hat zu Haus und liest sie nicht, versteht nichts draus. Sebastian Brandt. Das Narrenschiff. Holzschnitt. 1.4. Das enzyklopädische Gedächtnis in Barock und Aufklärung Abb. 18 : Armillarsphäre mit allegorischen Figuren. Leibniz als Philosop hatte die Absicht den Glauben mit der mechanistischen Naturerklärung Descartes’ zu verbinden und führte anstelle von toten Atomen einfache lebendige Einheiten ein, die sogenannten Monaden, in der sich das Weltgeschehen in Unterschiedlicher Form abspielt. Brockhaaus Philosophie. So ist die Barockpoetik im Grunde eine Reaktion auf das neue Weltbild, das die kopernikanische Umwälzung mit sich brachte, und dass dies fast bildlich zum Ausdruck kommt in der Entdeckung der elliptischen Form der Planetenbahnen durch Kepler- einer Entdeckung, die die Vorzugsstellung des Kreises als klassisches Symbol kosmischer Vollkommenheit in Frage stellt. Und so wie die Multiperspektivität des barocken Bauwerks den Einfluß dieser- nicht mehr geozentrischen und damit nicht mehr anthropozentrischen – Konzeption eines in Richtung auf das Unendliche erweiterten Universums verspüren läßt. Eco 1977. S.163 begraben, unsere Augen schmerzen, vom Lesen, unsere Finger vom Blättern’, schrieb Robert Burton in seiner Anatomy of Melancholy (1621).“ 26 Im 17.-19. Jahrhundert war von Abkehr von Autorität und Tradition, Hinwendung zum Subjekt und zur vernünftigen Erkenntnis gekennzeichnet. Das neue kopernikanische Weltbild hatte sich etabliert und veränderte das Denken. Die Enzyklopädisten wie Diderot, d’Alembert, Montesquieu und Voltaire versuchten das Weltwissen zu speichern um es für jedermann zugänglich zu machen. Gottfried Wilhelm Leibniz war ein universaler Mensch im Sinne der Renaissance. Er war auch mit der Gedächtnistradition sehr gut vertraut, kannte die Gedächtnistraktate und wendete nicht nur die klassischen Regeln an, sonder verfeinerte sie. Sein auf „Adaptionen des Lullismus begründetes Werk, De arte combinatoria“.. ist der Versuch „ein universales Kalkül zu erfinden, bei dem Kombinationen von signifikanten Zeichen oder Symbolen verwendet werden.“ Dieser Versuch ist „zweifellos in der historischen Abstammungslehre von jenen Renaissance-Bemühungen“27 eines Giordano Bruno zu sehen. Doch Leibniz setzt für die Symbole mathematische Zeichen in logischer Kombination ein fand zwar das universales Kalkül nicht, aber dafür erfand er das Infinitesimalkalkül. Die Caracteristica sollte mehr als eine Universalsprache, sie sollte ein „universales Kalkül“ sein mit dem sich alle erdenklichen Probleme lösen ließen. Wenn alle bekannten Künste und Wissenschaften in einer Enzyklopädie enthalten wären, könnte das Kalkül auf alle Bereiche des menschlichen Denkens angewendet werden, sogar religiöse Probleme: „War man zum Beispiel über das Konzil in Trient nicht einig, würde man nicht mehr Krieg führen, sondern sich zusammensetzen und sagen, ‚wir wollen es berechnen’.“28 Der englische Arzt Robert Fludd verband rosenkreuzerischen Mystizismus mit einer bemerkenswerten technischen Begabung.29 26 Ibidem S.47 27 Yates S.344 ff. 28 Ibidem S.347 29 Heckmann. S.188 21 Er ging von der pythagoräischen Vorstellung aus, dass die Verhältnisse, nach denen die Welt gebaut ist, die musikalischen Intervalle sind, der hielt gar den Kosmos selbst für ein Instrument, dessen Griffbrett die Intervalle zwischen den himmlischen Heerscharen, den Fixsternen, den Planeten und den Elementen besitze. 1.5. zeitgenössische Tendenzen des künstlichen Gedächtnisses Zusammenfassend lässt sich das künstliche Gedächtnis auf einem Weg der Veräußerlichung verfolgen. Von der methodischen Anwendung in Rom, führt er über die religiöse Funktionalisierung und die gründlichen Christianisierung aller Gedächtnissysteme30 im Mittelalter hin zur Mechanisierung in der Renaissance ist bis zur Elektronisierung heute.31 Das antike Griechenland und Rom waren fast ausschließlich mündliche Kulturen mit der Wachs- oder Tontafel als Gedächtnisstütze. Heute hat sich das Verhältnis komplett umgedreht. Fax, Videotext, Email sind sogar auf traditionell mündlichen Gebieten, wie Politik und Rechtssprechung offizielle Kommunikationsträger geworden. Es stehen uns extern gespeicherten Informationen in überwältigender Menge zu Verfügung, die sich über Netzwerke und computerisierte Suchverfahren abrufen lassenSo hat sich das künstliche Gedächtnis mit der Verfügbarkeit von Medien verändert und sie werden auch die zukünftige Entwicklung weiter beeinflussen. Doch wie haben die einzelnen Gedächtnismetaphern auf unser Denken gewirkt? Um das Gedächtnis nicht unnötig zu belasten, empfahlen die meisten Gedächtnistraktate vertraute Gebäude als Ortsmetaphern zu wählen. Dadurch wurde das Gedächtnis zum „Spiegel“ einer antiken, einer romanischen und byzantinischen, dann zu einer gothischen und schließlich zu einer Renaissance-Architektur. Und da die Bilder den alltäglichen Dingen der jeweiligen Zeit entsprachen, übermittelten sie uns heute einen Eindruck der dort herrschenden Lebensumstände und ihrer materiellen Welt. Auf diese Weise wurden die bedeutsamen Dinge im kulturellen Gedächtnis gespeichert, und wirken so auf unser Bewusstsein. Wie sich auch Giulio Camillo in seinem Vorhaben ein Gedächtnistheater zu 30 Daarisma S.50 31 Jochen Berns / Hg. Wolfgang Neuber. Mnemonik zwischen Renaissance und Aufklärung. Ein Ausblick. in: Ars Memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1700. Tübingen 1993. S. 373-385. 22 Abb. 19 : R.Fludd. Orgel . „Ziel der Mnemotechniken hätte sein sollen, das Universum der Kunstgriffe auf der Ausdrucksseite ebenso wie das der zu erinnernden Sachen auf eine sehr ökonomische Kombinatorik und eine elementare und unmittelbar einleuchtende Korrelationsregel zu reduzieren. Statt dessen aber waren die Mnemotechniken der Renaissance und des Barock beherrscht vom Dämon der hermetischen Semiose. Wenn es stimmt, dass es darum geht, eine Form der loca und der Bilder mit der Form und der Möblierung der Welt dadurch zu korrelieren, dass man Ketten homologer Beziehungen festlegt, dann scheint die Mnemotechnik nicht geeignet zu sein, eine Logik dieser Ketten zu erarbeiten, und bringt vielmehr eine Hermetik der Interpretation ins Spiel, für die, weil alles zur Signatur von allem werden kann, das Spiel der Korrespondenzen proteisch wird.“ Eco 1992. S.97 Abb. 20 : Im Internetforum: Ich habe einen Text. Der Text ist als Hyperlink eingerichtet. In der Menüleiste definiere ich unter „Modifizieren“ > „Seiteneigenschaften“ eine Farbe für den Hyperlink. Dann lege ich 2 andere Farben für „Besuchte Hyperlinks“ und „Aktive Hyperlinks“ fest. Dann sehe ich mir das Ganze in „Vorschau in iexplore“ (F12) an. - Funktioniert tadellos. Dann gehe ich zurück zur Entwurfsansicht und bastle vielleicht noch etwas herum und sehe mir das Ergebnis neuerlich unter „Vorschau in iexplore“ an. - Alles da, aber der Farbstatus des besagten Links verharrt noch immer in der „Besuchte Hyperlinks“-Farbe möchte aber gerne den „jungfräulichen“ Farbstatus. Wie mache ich das bitte? errichten in der Komplexität verloren hat, so ging es mir zeitweise auch bei meinem Vorhaben die Geschichte der Entwicklung der Gedächtnisforschung zu erfassen. Die schwer überschaubare Flut an Informationen, die aber durch die digitalen Datenspeicher so leicht verfügbar und nutzbar scheinen, sowie die ständige Präsenz der abgebildeten Welt über die etablierten Massenmedien, erfordert ein ständiges Selektieren. Die eigentliche Aufgabe scheint mir heute nicht mehr das mentale Erinnerungsvermögen zu steigern, sondern das Konzentrationsvermögen auf das individuell Wesentliche. Das ist aber nur möglich, wenn der gesamte Organismus daran beteiligt ist. „Wenn in der Medientheorie zu Recht vom Auflösen oder Verschwinden der Wirklichkeit gesprochen wird, dann wird die Sehnsucht und das Festhalten an authentischem Erfahrenen und Erinnertem zu wichtigen kulturellen Phänomenen.“32 Was ich jedoch erreichen wollte, war, ein positives unbewusstes des Wissens zu enthüllen: jene Ebene, die dem Bewusstsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschsftlichen Diskurses ist – anstatt über seinen Wert zu streiten und seine wissenschaftliche Qualität zu verringern zu suchen. – Foucault 2. Gedächtnis als gesellschaftliches System Die naturwissenschaftliche Erklärung von Gedächtnis, die geisteswissenschaft-lichen Aussagen darüber als auch mit solchen, die aus einer persönlichen Lebenserfahrung heraus formuliert werden, stehen im folgenden unbewertet nebeneinander. Damit will ich sagen, dass ich keine der Aussagen einer anderen vor ziehen werde. Jede einzelne versucht die Fragen aus ihrer Perspektive zu erklären. Der Unterschied besteht allein darin, dass die Wissenschaft sie, anhand oft mehrfach wiederholter Experimente und mit ihrer etablierten Terminologie beschreibt. Jeder versucht sich daran mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und wahrscheinlicht trifft keiner den Kern absolut. 32 Cordula Meier. Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher. München 2002. S.13. Cordula Meier weist in diesem Zusammenhang auf die Theorie einer Destabilisierung von Wahrnehmungsfeldern hin, die es dem Menschen möglich macht, sich in Raum und Zeit zu orientieren. Die Dynamisierung der Lebens- und Produktionsverhältnisse tragen demnach dazu bei, dass grundlegende Fähigkeiten des Gedächtnisses und des Raumbewusstseins verkümmern, da der Mensch den extreme schnellen Wechsel von Eindrücken nicht verarbeiten kann. Vgl. Paul Virilo. Ästetik des Verschwindens. Berlin 1986, ders.: Der negative Horizont. Bewebung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. München/Wien 1989. 23 2.1. Kollektive Erinnerung und kulturelles Gedächtnis Das Gedächtnis als gesellschaftliches System aufzufassen ist eine Sichtweise, die der französische Soziologe Maurice Halbwachs in den 20er Jahren geprägt hat. Er stellt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Modulatoren von Erinnerung fest. Kollektive Erinnerung entsteht demnach durch eine Prägung, die durch gegenseitiges Erinnern hervorgerufene wird. Die Vielfalt der Medienlandschaften im digitalen Zeitalter hat eine ebenso nachhaltige Wirkung auf unsere Denkprozesse, wie die Erfindung des Buchdrucks für den Renaissance-Menschen. Cordula Meier nennt Vilém Flussers Theorie, in der er einen wichtigen Aspekt veränderter kognitiver Prozesse nennt und ihn mit dem „Wechsel vom linearen Denken zum Hypertext“ begründet. Wie schon mehrfach festgestellt, beeinflusst „jegliche Art der neuen Medien nicht nur das individuelle Gedächtnis, sondern [auch] die Vorstellungen vom kollektiven Gedächtnis ... Zudem gehen individuelle Erinnerungen und kollektive Erinnerungen eine komplexe Verflechtung ein.“33 Zum Thema kollektives Gedächtnis entstand 2000 eine Projekt auf der Basis der Redewendung Die Ideen sind frei. Eine Gruppe von vier Münchner Künstlern kommunizierten mehrere Monate auf comutation.de über das WorldWideWeb mit ihren unbekannten Partnern. Jeder einzelne Künstler stellte seinem Partner eine Idee zur Verfügung, die er mit seinen eigenen künstlerischen Mitteln verarbeiten sollte. Die so entstandenen Arbeiten wurden dann aus dem virtuellen Raum des Internets in den Realraum der Ausstellung überführt. Warum ich diese Arbeit hier in diesem Zusammenhang nenne, ist die Tatsache, dass sich in meiner Erfahrung immer wieder kollektive Themen zeigen, die an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig bearbeitet werden. Auch Kunsthistoriker Wolfgang Ulrich griff mit seiner Internetseite ideenfreiheit.de das Thema auf. Seine Seite ist „zum Austausch und Sammeln von Argumenten zu Themen aus Ethik, Politik, Wirtschaft und Kultur“34 gedacht. Die kulturell vermittelten Überlieferungen, die in künstlichen Gedächtnissen gespeichert sind und die wir aus dem kollektiven Gedächtnis erben, sind Teil unserer Erinnerungsbilder. 33 Cordula Meier. Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher. München 2002. S.24 34 http://www.ideenfreiheit.de/index.php ;2001 24 Abb. 21 : comutation.de. lothringer_13 halle.. München 2001. Abb.22 : Dialogseite von Margarete Hentze, geb. Drum und Smike Käszner. comutation.de. 09.2000. Die Kommunikation derr vier Partner konnte im Internet und später in der Ausstellung mitverfolgt und kommentiert werden. Ausgehend von einem Ideentausch, der in Form eines Auftrags an den Partner weitergegeben wurde, entwickelten sich unterschiedliche Arbeitsstrukturen unter den Paaren. Das Internet als Kommunikationswerkzeug wurde in diesem Projekt genutzt, um einerseits die vielfälitgen Verarbeitungsmöglichkeiten von Ideen mit künstlerischen Mitteln zu untersuchen und andererseits um die Möglichkeiten einer künstlerischen Zusammenarbeit an konkreten Themen mit konstruktiver Kritik unter bildenden Künstlern zu erproben. Die Internetseite wurde nach etwa einem Jahr wieder aus dem Netz genommen. . „Kein Mensch kennt diese real existierende, menschenunabhängige, aber dem Menschen zugängliche Wirklichkeit - wir kennen nur Ausschnitte und handeln entsprechend’, definiert Watzlawick.“G.Roth Der Gedächtnisdiskurs läuft auch 10 Jahre nach Assmanns Erklärungen zum kulturellen Gedächtnis nicht aus. Im Gegenteil – die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung tauchen in regelmäßigen Abständen in der Tagespresse auf. Die neuen Sichtweisen, die sich aus der Weiterentwicklung der Neurowissenschaften und der gesamten Biologie letzten Jahren ergeben, sind so immens, dass es schwierig ist, einen Überblick zu bekommen. Obwohl das Feld für einen Laien kaum zu überblicken ist, versuche ich mich daran, aus dem Wirrwahr Informationen und Namen für meine Arbeit wesentlichen Punkte herauszufiltern. Dabei versuche ich mich auf die Erkenntnisse zu konzentrieren, die zum einen grundlegende Veränderungen für die menschliche Bewusstseinsbildung mit sich bringen, und zum anderen auf die Einsichten, die eine Verbindung der physischen und psychischen Funktionen des Gehirns in Abhängigkeit zum Körper annehmen. „Das neue biologische Weltbild ermöglicht neue Theorien über das menschliche Gehirn, die Sinne, die Wahrnehmung und die Wirklichkeit.“35 Roth bezeichnet die Wirklichkeit nur noch als Konstrukt. Trotzdem versuchen Wissenschaftler, Philosophen und Künstler auf ihre Weise einer Allgemeingültigkeit von Wirklichkeit immer näher zu kommen. 35 Varela, Maturana, Watzlawick, von Glasersfeld, Roth, Damasio, Lurija und viele andere Wissenschaftler haben mit ihren Forschungen das „biologisches Weltbild“ verändert, um nur einige Namen aus der einschlägigen Literatur zu nennen.. So beantwortet der Neurologe Gerhard Roth die Frage, was sich hinter dem veränderten „biologischen Weltbild“verbirgt in einem Interview mit dem „Trendforscher“ Peter Diehl. in; Geist, Gehirn, Gedankenwelten, connection Sonderheft, herausgegeben von Lutz Berger, Johannes Holler und Micky Remann.. 25 In sozialen Gesellschaften wird die individuelle Interpretation der Wirklichkeit durch Traditionen ausgeglichen, die gemeinsame Werte der Erinnerungen evozieren. Die Wissenschaft versucht nur das mit ihren Mitteln zu beweisen, was die Menschen schon seit Jahrhunderten kennen. 2.2. Die naturwissenschaftliche Sicht auf das Gedächtnis So resumiert die Neurologin Hanna Monyer in etwa unser Gespräch über Körpererinnerung: 2.2.1. eine kleine Geschichte der Gedächtnisforschung36 Bis in die Antike gibt es Belege für Entschlüsselungsversuche der Gehirnfunktionen. Die experimentelle Hirnforschung begann mit den grausamen Vivisektionen 500 v. Chr. in Griechenland und reicht bis zu den schmerzfreien Tomographien der Gegenwart. Besonder Erkenntnisgewinne sind in der Renaissance oder im 20. Jahrhundert zu verzeichnen. Die späte Einsicht der Naturwissenschaften, dass Körper und Geist immer als Einheitzu betrachten ist, interessiert mich hier besonders. Was zu dieser Entwicklung beigetragen hat möchte ich im Folgenden untersuchen. Sicherlich waren hierfür auch von Erfindungen Beobachtungs- und Messgeräten für »objektive Beweiseführung« der Wissenschaften fördernd. Der Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio macht für die lange medizinische Vernachlässigung und Nichtbeachtung der Einheit von Körper und Geist ein verstümmeltes Humanitätsverständnis verantwortlich, das durch das cartesianische Denken geprägt war.37 Doch denke ich, dass die Wurzeln dieser Anschauungen schon in der Antike zu finden sind. Hippokrates gilt als Begründer der Medizin als Erfahrungswissenschaft. Seine Erinnerung steht bis heute mit einem rational-natürliches Verständnis von Krankheit und einem hohen ethischen Verantwortungsbewusstsein in Verbindung. Durch unbefangene Beobachtungen und Beschreibungen der Krankheitssymtome und einer „kritischen und spekulationslosen Diagnostik“ vertrat er schon vor fast 2500 Jahren einen „organischen Körper- im-GeistAnsatz,“38 der bis in die Renaissance vorherrschte. Hippokrates war der Meinung, dass alle Sinnesempfindungen nur dem Gehirn zuzuordnen sei. Es vermittle dem Verstand, das Medium des Denkens sei nicht das Gehirn selbst. 36 Alexander R. Luija. Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Reinbeck bei Hamburg 1992. Org.1973. S.15 37 Antonio R. Damasio. Descartes’ Irrtum. 2004 Org.1994 38 Damasio S.332 26 Abb. 23 : Albertus Magnus lokalisiert 1260 Empfindung, Vernunft und Gedächtnis in drei Ventrikeln, Holzschnitt aus Albertus Magnus. Philosophia naturalis Im Spätmittelalter definierte man oft bis zu zehn verschiedene Fakultäten im Kopf. Diese Lokaliierung der Fähigkeiten in den Hohlräumen des Gehirns geht auf die Pneuma-Theorie zurück und hielt sich bis ins 18. Jahrhundert. uiniker Sang Luft alt e Feu r Erde z hwar e Galle Sc nkoliker Mela Choleriker Gehirn k n ke Schleim Phlegmatiker Wasser Leber Blut Denkfähigkeit und Einsicht entsteht, wenn der Mensch durch die Nase Luft in das Gehirn einziehe. Diese so genannte Pneuma-Theorie prägt die Leib-SeeleProblematik für viele Jahrhunderte. feu c ht wa rm Gelbe Galle Herz tro c Milz Abb. 24 Die Vier-Säfte-Lehre wird von Galen auf seelische Vorgänge angewendet. Sie stellte den Zusammenhang mit den vier Grundqualitäten her, die das Weltganze symbolisieren. Ist diefür jeden Menschen spezifischen Mischung im Ungleichgewicht (Dyskrasie), dann wird der Mensch krank. Die Aufgabe des Arztes ist es, die natürliche Heilkraft durch Diätetik, Pharmakotherapie und/ oder durch Chirurgie anzuregen. Der griechische Arzt Claudius Galenos (um 129 Pergamon - 200 Rom) war der bedeutendste Arzt der Antike nach Hippokrates. Er kanonisierte als Syntese die hippokratische Medizin, die auf einen rein analytischen Ansatz begründet war, mit der dogmatischen alexandrinischen Tradition, die den körperlichen Symtomen anatomische Veränderungen zuschrieb. Damit wurde die Lehre Galens39 bis ins 19. Jahrhundert. zum medizinischen Fundament des Abendlandes. Nach dem Untergang Roms entwickelten arabische Ärzte wie Avicenna die Elementenlehre weiter. Durch die Kreuzzüge kam das Wissen wieder zurück nach Europa und beeinflusste die Medizin des Mittelalters erheblich. In Spätmittelalter und Renaissance erlebte die Elementenlehre ihre letzte Hochblüte. 1543 erstellte der berühmte Anatom und Chirurg Andreas Vesalius in seinem Atlas der Anatomie eine exakte Illustration des Gehirns. Auch der Universalgelehrte Leonardo Da Vinci bestätigte anhand seiner anatomischen Studien (ab 1472 ) die auf Aristoteles zurückgehende Lehre vom Sitz der Abb. 26 : Andreas Vesalius beschreibt in seinem Buch De Humani Corporis Fabrica, (1543) die schnelle Entwicklung der anatomischen Techniken innerhalb rweniger Jahrzehnte. Abb. 25 : Andreas Vesalius vertrat gegen die allgemeine Überzeugung die Einstellung, allein die menschliche Leiche sei als zuverlässiger Weg zur Erkenntnis des Körperbaus zulässig und erkannte als Erster, dass sich Galens anatomische Arbeiten auf Tiere bezogen.. Abb. 27 : Diagramm der Vermögenspsychologie. Von Johannes Romberch 1533 Seele in den Hohlräumen des Gehirns. Diese Ansicht das Herz sei der Sitz des Willens, der Intelligenz und des Gefühls bis ins 17.Jahrhundert. Im 18. Jhdt. konnte durch die Erfindung des Lichtmikroskops die Anatomie des Nervensystems erforscht werden. 39 In seiner philosophischen Abhandlung Über die Aufgaben der Körperteile des Menschen verfolgte Galenos die Vorstellung, die Ziele Gottes seien durch die Untersuchung der Natur erkennbar. Die Lehre Galenos von den vier Kardinalsäften und den zugehörigen Kardinalorganen in Beziehung zu dem Kosmos wurden in seinem Wrk Corpus Hippocraticum publiziert. 27 Abb. 28 : Franz Joseph Galls Auffassung des Gehirns als der Sitz mentaler Activität. Seine Karten dienten zur Lokalisierung psychischer Vermögen, deren besondere Ausprägung, wie er meinte, durch Erhebungen an der Schädeldecke zu erkennen sei. Abb. 29 : Dieser Phrenometer war bis 1907 in Betrieb.. In Amerika war eine vereinfachte Form der Phrenologie populär und wurde von den Brüdern Fowler zu einem überaus lukrativen Geschäft, das auch in Europa florierte Der bekannte Anatom Franz Gall (1758-1828) ordnete voller Zuversicht die menschlichen Fähigkeiten bestimmten Gehirnarealen zu. „Galls Phrenologische Karten waren jedoch hilflose Versuche, ohne viel empirische Rechtfertigung, die damals modische Vermögenspsychologie auf das Gehirn zu projizieren. “ 40 Die Ansicht vom Gehirn als Drüse mit seinen Flüssigkeiten wurde erst 1791 widerlegt, als der italienische Mediziner Luigi Galvani in seinem berühmten Versuch einen gerade getöteten Frosch an einen Blitzableiter anschloss und auf diese Weise nachwies, dass Nervenprozesse elektrisch funktionieren. Was Wissenschaftler auf die Fährte der heute anerkannten Theorien führte, war der beobachtete Zusammenhang zwischen Kopfverletzungen mit körperlichen Folgen. Die erste Erwähnung über eine derartige Beziehung wurde in einer Papyrusrolle von 3700 v.Chr entdeckt41. Auch in der uns näheren Vergangenheit gab es frühe klinische Beobachtungen derartiger Verletzungen, wie zum Beispiel eine Läsion des motorischen Kortex, die Lähmungserscheinungen der kontralateralen Gliedmassen, also der Glieder der gegenüberliegenden Körperseite zur Folge hatte. 40 Lurija S.14 41 Museum Mensch und Natur. München. Die älteste schriftliche Darstellung des Begriffes Gehirn finden sich in Hieroglyphen aus dem Papyrus Smith (17. Jahrhundert v. Chr). Die Daten des Papyrus könnten nach Art der Darstellung auch viel älter sein, d. h. ursprünglich etwa 2500 v. Chr. aufgezeichnet. 28 Abb. 30 : Phrenologische Karten : Gall bezeichnet die Areale als einzeln von einander abgegrenzten Organe z.B. als: Das Organ: des Geschlechtstriebes 1, der Kinder- und Jugendliebe 2, des Kunstsinns 11, des Raufsinns13, des Mordsinns 14, der Ruhmsucht und Eitelkeit 18, des vergleichenden Scharfsinns 20 oder als das Organ des Witz 22. Welch verherende Ausmaße derartige Theorieen annehmen können, zeigt sich wenn versucht wird sie straftechtliche anzuwenden wie Ceasare Lombroso, der im Jahr 1890 die erste empirische Studie darüber veröffentlichte, nach der Verbrecher durch körperlichen Merkmale vom harmlosen Nachbarn unterschieden könne. Die Renaissance der Phrenologie . Von Edda Grabar in. Technology Review11/20069 Abb. 31 : Luigi Galvani demonstriert an Froschschenkeln Muskelkontraktionen durch die elektrische Stimulation von Nerven. 2.2.2. Die neurologische GedächtnisForschung Lujia datiert den eigentlichen Beginn der wissenschaftlichen Forschung auf das Jahr 1861, als der französiche Anatom Paul Broca (1824-1880) schließlich den Nachweis für die Lokalisation der sprachlichen Funktion in der linken Gehirnhälfte lieferte. Abb. 32 : Das Broca-Areal ist im Gehirn an der motorischen Erzeugung von Sprache beteiligt; während das Wernicke-Areal (1874 von Carl Wernicke entdeckt ) an dem Verstehen von Sprache beteiligt ist. Abb. 33 : I. Pavlows Konditionierungsexperiment, das einen Hund während dem Fressen an den Klang eines Glöckchens gewöhnte, so dass ihm nach der Konditionierung sofort beim Erklingen der Glocke das Wasser im Maul zusammenlief, war die Grundlage für viele weitere Forschungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die experimentelle Gedächtnisforschung, die sich bis in die fünfziger Jahre auf die behavioristischen Verfahren des Reiz-Reaktions-Experiments beschränkte. „Die Entdeckung, dass komplexe Formen psychischer Tätigkeit als Funktionen (Bewegung und Empfindung) in umschriebenen Regionen der Hirnrinde lokalisiert werden konnten, entfachte in der Neurologie einen beispiellosen Enthusiasmus.“ Im Eifer der Lokalisierungen wurden verschiedenste Zentren für bestimmte Funktionen bestimmt und ähnlich wie bei Galls phrenologischen Karten wurden aufs neue funktionale Karten des Kortex erstellt, mit denen „die Frage des funktionalen Aufbaus des Gehirns als des Organs psychischer Tätigkeit endgültig beantwortet“42 sein sollte, doch „die Skepsis gegen die Anwendbarkeit der strengen Lokalisation auf die zerebralen Mechanismen der komplexen psychischen Tätigkeiten“43 verfestigte sich. Der Neurowissenschaftlers Antonio R. Damasio, behauptet das cartesianische Denken habe die westliche Biologie und Medizin nachhaltige beeinflusst und damit die Forschung aufgehalten. Diese These ist für mich sehr schlüssig, wenn ich beobachte, welche Bereiche die Forschung anfangs für bedeutend hielt. Durch das Ausklammern des Gefühls von den Denkprozessen musste sich eine Konzentration auf strukturelle Beobachtungen ergeben. Das würde auch erklären, warum die wissenschaftliche Erforschung von psychischen Prozessen erst so spät einsetzte.Damasio beschreibt in seinem Buch Descates’ Irrtum ein besonderes Phänomen: werden bestimmte Bereiche im Gehirn geschädigt, die für die Emotionsverarbeitungzuständig sind, können rationale Entscheidungen nicht mehr getroffen werden. Der „zielorientierte Denkprozeß, den wir Schlussfolgern oder Urteilen nennen“ als auch „die Reaktionsselektion, die wir als Entscheidungsfindung bezeichnen“ nicht möglich wären. 42 Lurija. S.18 43 ibidem S.20 29 Die Methoden der Hirnforschung44 konvergieren in ihren Ansichten mit zunehmender Erkenntnis: Die ältesten Methoden der Hirnforschung sind biologische und psychologische Verhaltensbeobachtung, die in letzter Zeit mit anderen Untersuchungsmethoden kombiniert in Laborexperimenten oder Feldforschung betrieben werden. Die anatomischen Methoden sind in neuerer Zeit so weit ausgereift, dass das „Schneiden im Mikrometerbereich und das Anfärben des Hirngewebes“ mit fluoreszierenden Fabstoffen in seinen einzelnen Kleinstteilen wie Zellkörper oder Axone differenziert zulässt. Es werden dreidimensionale Hirnatlanten erstellt. Die Läsionsmethode besteht in der Untersuchung von Verhaltensänderungen nach Beschädigung von Hirngewebe durch Infarkt, Tumore, Infekte, Hirntraumata, Epilepsie, Drogenmißbrauch usw. Die Hirnreizung und Hirnselbstreizung durch transkraniale Magnetstimulation lässt sich therapeutisch einsetzen. Elektrophysiologische Methoden durch Elektroencephalogramm (EEG) oder neuerding mittels Magnetencephalographie werden zur Messung der Hirnströme eingesetzt.Das Bildgebende Verfahren (neuroimaging) erfolgt mittels Computertomographie (CT), Kernspinoder Magnetresonaztomographie (MRT), sowie die funktionell bildgebenden Methoden, wie die Positronnen-Emissions-Tomographie (PET), der Single Photonen -Emissions - Computed – Tomographie (SPECT) und der funktionellen Kernspinttomographie (fMRI). Vorläufer der Computertomographie waren Röntgenbilder, die der funktionellen Verfahren, waren 2-DeoxydGlukose-Technik, die mittels radioaktiver Substanz in die Blutbahn injiziert wird, das Gehirn des toten Tiers wird scheibenweise mit radioaktivem Filmmaterial aufgenommen um aktivere Gehirnregionen von weniger aktiven abzugrenzen. Eine ganze Reihe etablierter und experimenteller Neuropsychologische Verfahren stehen zur Verfügung um kognitiv-intelektuelle wie auch emotionale, die Persönlichkeit betreffende und basale Funktionen zu untersuchen. Die mnestrische Leidstungen können nur analysiert werden, wenn alle Faktoren wie Intelligenz, Sprach- und Sprechfähigkeiten, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, Befindlichkeit sowie exekutive Funktionen wie Problemlösefähigkeit, kognitive Flexibilität und Konzeptbildungsfähigkeit innerhalb ihrer Gedächtnisdimensionen getrennt voneinander angeschaut werden und aufeinander bezogen interpretiert werden. Die neuen präzisen Messtechniken machen es möglich Reaktionen am lebenden Gehirn bildlich darzustellen. Einige Forscher sind der Meinung, dass komplexe kogntive Prozesse wie Bedeutung oder kathegoriales Verhalten vom gesamten Gehirn gesteuert werden und nicht nur von lokalen Bereichen aus. 44 Markowitsch. S.76-82 30 Abb. 34 : Diagramm der Regionen, deren Schädigung sowohl die Denkfähigkeit als auch die Emotionsverarbeitung beeinträchtigt. Aufgrund seiner Untersuchung zahlreicher Fälle von Läsionen des präfrontalen und ventromedialen Cortex und der Amygdala, denen er die Funktionen Gefühl/ Empfinden und Denken/Entscheidungsfindung zuordnet, stellte er fest, dass diese Funktionen besonders„im persönlichen und sozialen Bereich“ gemindert werden. Auch die Schädigung eines Komplexes, der die somantischen Rindenfelder der rechten Hemisphäre zieht ausser diesen Folgen auch noch die Störung grundlegender Körpersignale nach sich. Ein dritter Bereich, der durch Verletzung Denken und Entscheidungsfindung nach sich zieht, ist „eine Region im präfrontalen Cortex jenseits des ventromedialen Abschnitts.“ Abb. 35 : Die serotonerge Bahnen . Die verschiedenen chemischen Botenstoffe sind auf eigenen Bahnen im Gehirn organisiert. Dieses Neurotransmitter steuern Stimmungen, Hunger Schlaf und Erregung. 2.2.3. Die Entwicklung der psychologischen Auffassung über das Gedächtnis »Humoraler Mechanismus« Hydéns Veröffentlichungen (1960,62,64) über „die Speicherung von Gedächtnisspuren vergangender Erregungen mit einer dauernden Veränderung der Struktur der Ribonucleinsäure (RNS)...“ sowie die Feststellung eines bleibenden Anstiegs „ des Ribonuclein- und Desoxyribonucleingehalts (RNS/ DNS-Gehalt) in Zellkernen, die intensiverer Erregung ausgesetzt worden waren, bildeten die Grundlage für eine intensivierte Forschung. Eine Folgerung daraus, war, „dass einzelne in einem Individuum gespeicherte Informationen über einen humoralen Mechanismus auf ein zweites Individuum übertragen werden.“ Lurija S.285 f. „Das Erste, was Säuglinge an kommunikativem Verhalten zeigen, ist der Versuch, mütterliche Gesichtsausdrücke und den Klang der Stimme zu »spiegeln«, siehe dazu Kap.6.“ Die Entdeckung der Spiegel-Nervenzellen wurde von einer italienischen Forschergruppe um Giaccomo Rizzolatti und M. Alessandra Umiltà gemacht. J.Bauer. 2004. Abb. 36 : Am Gedächtnis beteiligte Hirnstruktur. Diese vereinfachte Abbildung zeigt die wichtigsten Strukturen des Gehirns, die an Aufbau, Speicherung und Abruf von Gedächtnisinhalten beteiligt sind. Henri Bergson (1896) ging Ende des 19 Jh. noch davon aus, dass es ein räumliches und ein geistiges Gedächtnis gibt. Das räumliche bezeichnet er als Naturphänomen, mit der »universellen Eigenschaft« Materie als Engramme zu speichern. Das geistige Gedächtnis verstand er als Sitz des freien Willens, der dazu fähig ist mittels Anstrengung vergangene Erfahrungen zu erinnern.45 Erst in den 60er Jahren gelang es die Grundlagen der physiologischen Gedächtnisforschung zu schaffen, die sogar den genetischen Zusammenhang von Gedächtnisaktivitäten aufdeckten. Die Vorstellung, dass die Übertragung von Informationen von einem Individuum über einen humoralen Mechanismus laufen könnte, würde der Vorstellung von Gedankenübertragung nahe kommen. Joachim Bauer46 erwähnt in diesem Zusammenhang die Entdeckung der so genannten Spiegel-Neuronen, durch die wir im Stande sind Verhaltensweisen, die wir bei anderen Menschen beobachtet haben, uns so einzuprägen, dass wir sie selbst fühlen und sie dadurch auch gut nachahmen können. Wie sich hier schon zeigte, kamen neue Erkenntnisse meist in der interdisziplinären Zusammenarbeit zustande. Trotzdem kommt es bisweilen immer noch vor, dass sich einzelne Disziplinen strikt von einander abgrenzen. Die Frage nach den Hirnregionen, die tatsächlich an der Erinnerungsbildung beteiligt sind und welche Aspekte in die Zuständigkeit der einzelnen Bereiche fallen, sollte jetzt unter einer psycho-neurologischen Gesamtansicht untersucht werden. Die Komplexität der neuronalen Funktionen und deren Auswirkung auf unser Verhalten, die immer deutlicher werdenden Zusammenhänge zwischen psychischer neuronaler Prozesse führten zur Fusion der beiden Disziplinen, der Neuropsychologie.47 45 Die Frage nach dem freien Willen ist sicherlich eine der interessantesten in diesem Zusammenhang. Trotzdem möchte ich hier nicht weiter auf Erklärungsansätze eingehen, bis auf den Hinweis, dass auf diesen philosophischen Diskurs, inwieweit der Mensch determiniert ist und in wieweit nach der funktionalen Bestimmung chemischer Botenstoffe noch von Willensfreiheit gesprochen werden kann, ausführlich von Gerhard Roth in seinem Buch Fühlen ,Denken, Handeln (S.494-564) eingegangen wird. 46 Prof. Dr. Joachim Bauer ist Leiter der Ambulanz der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapeutie der Universitätsklinik Freiburg sowie Universitäts- Professor für Psychoneuroimmunologie. In seinem Buch Das Gedächtnis des Körpers. 47 Lurija. S.11f Alexander R. Lurija war der begründete diesen neuen Wissenschaftszweig in den 70er Jahren. 31 Die Mathematiker Roger Penrose und Stuart Hameroff stellten 2001 die Quantenphysik in den Mittelpunkt des Luzerner Symposiums Das Rätsel des Bewusstseins48 Die Hypothese, dass sich Bewusstsein möglicherweise quantenmechanisch erklären lässt, hat frischen Wind in den Gedächtnis-Diskurs gebracht. Doch die Absage der Neurologen folgte auf dem Fuß: „Es gibt nicht den geringsten Hinweis dafür, dass Quantenprozesse im Gehirn auf der Ebene, die für die Funktionen des Gehirns im Zusammenhang mit Wahrnehmung, Kognition, Emotion und Motorik wichtig sind, eine Rolle spielen. Bei diesen Funktionen sind immer Millionen, wenn nicht Milliarden von Nervenzellen und Milliarden von Synapsen aktiv, und das Ganze ist ein klar makrophysikalisches Geschehen. Die einzigen ‚Ansatzorte‘, an denen überhaupt Quantenprozesse eine Rolle spielen könnten, wären der Ausstoß von Transmitter-Molekülen an der erwähnten Synapse und das genaue zeitliche Auftreten eines singulären Aktionspotentials. Beide physiologischen Prozesse ... liegen um mindestens eine Größenordnung über quantenphysikalischen Geschehnissen.“ Gerhard Roth Präsynaptisches Neuron Postsynaptisches Neuron 1.Elektrische Impulse als Aktionspotential axionale Endigung synaptischer Spalt 3. Wiederaufnahme der Transmittermoleküle 2. Aussschüttung der Neurotransmitter Neurotransmitter Abb. 37 : Kommunikation von Nervenzellen: 1.elektrische Impulse (Aktionspotential) wandern über die Synapse von einem Neuron zum anderen. 2. Hat das Aktionspotential eine axonale Endigung erreicht, werden Neurotransmitter ausgeschüttet, die den synaptischen Spalt überqueren. Atome werden freigesetzt, die ein Aktionspotential bewirken oder verhindern. 3. Das präsynaptische Neuron nimmt die Transmittermoleküle wieder auf. Gerade in den Fragen nach Geist und Bewusstsein zeigt sich das interdisziplinäre Interesse an gemeinsamen Lösungsansätzen. Vielleicht wird das in der Zukunft einmal dazu führen, dass die disziplinären Grenzen noch durchlässiger werden. Dass es immer von neuem nötig wird, das eigene Fach von den anderen abzugrenzen und die eigene Bedeutung hervorzuheben, scheint mir letztlich an materiellen Forschungsmitteln zu liegen, die oft nach 48 „Das zur Schweizer Biennale zu Wissenschaft, Technik + Ästhetik mutierte gleichnamige Luzerner Symposion wird 10 Jahre alt. Die neue Ausgabe knüpft an das Symposion von 2001 «Das Rätsel des Bewusstseins» an.“ Es ist ein interdisziplinäres Symposium mit Vertretern aus der (Natur)Wissenschaft (S.Hameroff, D.J.Bierman, J.D.Pettigrew, G.Guttmann) Philosophie (J.Mitterer, G.J.Lischka), Kunst und Ästhetik (J.Scott, O.Wiener, P.Weibel). http://h2hobel.phl. univie.ac.at/mahr‘svierteljahrs/20050103.html 32 Abb. 38 : Das vegetative Nervensystem steuert Vitalfunktionen wie Atmung, Verdauung, Stoffwechse. Das somatisches Nervensystem unterliegt größtenteils der willkürlichen Kontrolle und koordiniert die Motorik. Einzelne Nervenzellen lassen sich vor allem im Gehirn, nicht mehr eindeutig voneinander abgrenzen. In der Peripherie des Körpers, also außerhalb des Gehirns, kann man beide Nervensysteme voneinander klar trennen. Zimbardo und Gerrig definieren das Gedächtnis als mentale Fähigkeit, Informationen zu enkodieren, zu speichern und abzurufen. Eine wichtige Funktion besteht im eigenen, als auch im kollektiven Erinnern, eine weitere Aufgabe ist das Herstellen von „Kontinuität der Erfahrungen von einem Tag auf den anderen.“ Viele Gedächtnisleistungen spielen sich außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung ab. Die Psychologie schreibt sie dem implizine Gedächtnis zu, das uns ohne Anstrengung Informationen bereitstellt. Das explizite Gedächtnis bedienen wir durch bewusste Anstrengung. Im deklarierten Gedächtnis werden Fakten und Ereignisse verarbeitet und mit dem prozedualen Gedächtnis meint die Psychologie das „gewusst wie“ „perzeptuelle, kognitive und motorische Fähigkeiten erworben, aufrechterhalten und angewendet werden. Ein „Gedächtnisprozess zur momentanen Aufrechterhaltung zerrinnender Eindrücke“ wird als sensorisches Gedächtnis bezeichnet. Es beinhaltet die Verarbeitung visueller od. ikonischer, auditive od. echoische, und wahrscheinlich auch olfaktorischer Reize. Das ikonische Gedächtnis ist die Bezeichnung des sensorischen Gedächtnisses für den visuellen Bereich. Es ermöglicht die Speicherung großer Informationsmengen für eine kurze Dauer. Zimbardo/ wirtschaftlichen kurzzeitig erfolgreichen und nicht nach auf lange Sicht grundlegenden Interessen vergeben werden. So scheint es immer noch nötig, wie sich in einem Artikel der Zeitschrift Gehirn & Geist zeigte, dass führende deutsche Psychologen die bedeutsame Position der Psychologie im 21.Jahrhundert im Verhältnis zu ihren Nachbardisziplinen, wie Genetik, der Hirnforschung und der Evolutionstheorie und Philosophie bestimmen müssen. Sie betonen die „Grundfragen der Psychologie“ , zu denen gehören: „Wie funktioniert menschliches Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Urteilen, Problemlösen und Handeln? Welchen Prinzipien und Entwicklungen unterliegt es? Welche Entwicklungspotentiale weisen bestimmte psychische Leistungen auf? Was befähigt uns zur Sprache und zur Fantasie? Wie werden Traumata verarbeitet? In welcher Weise wird unsere soziale Identität dadurch bestimmt, dass wir uns sozialen Gruppen zuordnen? Die Liste solcher Fragen lässt sich beliebig fortsetzen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich auf psychische Phänomene und Leistungen beziehen; sie sind somit genuine Fragen der Psychologie.“ Diese Grundfragen lassen sich aber „nur beantworten, wenn wir die Prinzipien besser verstehen, auf deren Grundlage unser Gehirn all die komplexen psychischen Phänomene und Leistungen hervorbringt.“ Die Psychologie ist aber prädestiniert dafür, „den Dialog mit Nachbardisziplinen aufzunehmen.“49 Gerrig 2004. S.295ff Sensorisches Gedächtnis Die Sinne registrieren einEreignis im Augenblick des Geschehens Kurzzeitgedächtnis Einige Items werden bewust wahrgenommen und enkodiert Langzeitspeicher Manche Items werden verändert und gehen verloren Abruf aus dem Langzeitgedächtnis Je nach Interferenz, Abrufhilfe, Stimmung und Motivationkönnen manche Dinge abgerufen werden, andere dagegen nicht. Abb. 39 : ‚Was wird vergessen? Es kann in jeder Phase des Prozessesetwas verolren gehen. „’Die Psychologie besitzt eine lange Vergangenheit aber einer nur kurze Geschichte,’ schrieb Hermann Ebbinghaus (1908).“ Zimbardo/Gerrig 2004. 2.2.4. Die psychologische Sicht auf das Gedächtnis Die psychologische Sicht auf das Gedächtnis geht wie ein Grossteil der Neurowissenschaftler von einem dynamischen Begriff von Gedächtnis aus, also davon, dass die gespeicherten Informationen bei Bedarf modifiziert werden können. Jede gespeicherte Information wird auf die aktuelle Situation hin angepasst und aktualisiert. Daraus folgt jedoch, dass die Zuverlässigkeit der Erinnerungen in Frage gestellt ist. Jeder von uns kennt die Situation, dass wir uns mit einem Freund über gemeinsame Erinnerungen austauschen, und dass der andere eine komplett abweichende Version der zusammen erlebten Situation beschreibt, als man es selbst vor Augen hat. Für die Entwicklung der modernen Psychologie gingen entscheidende Impulse von Sigmund Freud aus. Von zentraler Bedeutung ist seine 49 Gehirn & Geist 7-8/05 Brennpunkt, S.56 33 Einschätzung des Unbewussten als eigentlichem Ausgangspunkt allen menschlichen Handelns, gesellschaftlich wie individuell. Das Unbewusste sind für Freud die Triebe, wobei dem Sexualtrieb die Hauptrolle zufällt. Freud beschrieb die kindliche Sexualentwicklung ausführlich und unterschied verschiedene Phasen dieser Entwicklung. Neurosen, die im Laufe des Lebens auftreten haben gemäß Freud ihre Ursache fast ausschließlich in Störungen der sexuellen Entwicklung in der frühen Kindheit. Sein Konzept des selektiven »Verdrängens« ist aber bis heute nicht eindeutig empirisch bewiesen.50 Mit seiner Methode der Traumdeutung legte er das Fundament der Psychoanalyse. Er versuchte die »allnächtliche Verrücktheit« der Träume, in denen sich mächtige, unbewusste und unterdrückte Wünsche zeigen, zu deuten und sah darin den Königsweg zum Unbewußten. „Man muß dann zugestehen, dass man im Traum etwas gewusst und erinnert hat, was der Erinnerungsfähigkeit im Wachen entzogen war.“51 Das Krankheitsbild der Neurose ist für Freud ein Versuch des Ich, mit den übermächtigen Trieben fertig zu werden, das heist, sie zu verdrängen, was jedoch nur unter Inkaufnahme einer psychischen Störung möglich ist. Man könnte die Neurose also auch als ein verhindertes Körpergedächtnis sehen. Freud erkannte einerseits die Bedeutung des Körperlichen in Form des Triebhaften an. Andererseits beschäftigte er sich aber eben mit der Psyche, die er als „Apparat“ sah, Körperlichkeit oder Triebhaftigkeit zu verarbeiten. Sein Augenmerk liegt auf der Art und Weise dieser Verarbeitung, nicht auf dem Körperlichen, Triebhaften selbst, entsprechend spielt der Begriff „Körpergedächtnis“ bei ihm keine Rolle, obwohl er sicherlich entscheidende Impulse dazu gegeben hat, die Bedeutung und Verbindung des Körperlichen mit der Psyche anzuerkennen und sich mit ihr zu beschäftigen. Anfang des Jahrhunderts deckte Ebbinghaus als erster die Gesetzmässigkeiten des Vergessens auf. Seine Forschungsergebnisse zeigen einen Informationsverlust auf der Zeitachse einer logarithmisch abfallenden Funktion das heißt, dass „Fakten die kurz vor der Prüfung gepaukt werden, verschwinden bald wieder, wenn sie nicht auf früheren Lernprozessen aufbauen, und danach hinreichend überdacht werden.“ Ein Pioneer der anatomischen Erforschung des Gehirns war Karl Lashley. Er zeigte ebenfalls in der ersten Jahrhunderthälfte, dass sich die Funktionen unseres Gedächtnisses nicht in einem einzigen Gehirnteil abspielen, 50 Thomas Knecht. IRRUNGEN UND WIRRUNGEN. Schweiz Med Forum. Münsterlingen 2005. 5:1083–1087 S. 1084 51 Siegmund Freud. Die Traumdeutung. Frankfurt am Main 1996. S.28 34 „Die Neurosen sind durchweg, man möchte sagen, entweder Ersatzbefriedigungen irgendeines sexuellen Strebens oder Massnahmen zu ihrer Verhinderung.“ Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt am Main 1953. S. 43. Prozentsatz des errinnertem Stoffs % 60 50 40 30 20 10 0 12345 10 15 20 25 30 Verstrichene Zeit in Tagen, seit dem Erlernen Abb. 40 : Vergessenskurve nach Ebbinghaus. Durch Selbstversuch fand er 1885 heraus, dass die Behaltensleistung anfangs schnell nachlässt und sich später einpendelt. SYMPATHIKUS erreged Erweitert die Pupille Beschleunigt den Herzschlag Gehirn PARASYMPATHIKUS berruhigend verengt die Pupille verlangsamt den Herzschlag Rückenmark Hemmt die Veraduung Stimuliert die Glükoseausschüttung durch die Leber und die Ausschüttung von Adrenalin und Neoadrenalin Entspannt die Blase Regt die Verdauung an Stimuliert die Gallenblase Kontrahiert die Blase Steuert die Blutzufuhr zu den Genetalien beim Mann Abb. 41 : DieStimuliert funktionelle Zweiteilung des die Ejakulation vegetativen Nervensystems in Sympathikus und Parasympathikus. Der sympatische Teil sorgt durch Erregung für die optimale Nutzung der Energie in Stresssituationen. Der Parasympathikus sorgt führ Beruhigung und ermöglicht so dem Körper neue Energie zu tanken. sondern dass die Informationen den sensitiven Reizen entsprechend als Engramme also als physikalische „Gedächtnisspur“ in verschiedenen Hirnstrukturen eingespeichert werden. Diese Ausdrucksweise erinnert an die Wachstafelmetapher der alten Griechen. Für das Phänomen der dissoziativen Amnesie52versucht das Freudsche Verdrängungskonzept, und „auch die Schule der Jungschen analytischen Psychologie Erklärungsmodelle zu finden. Mit »body memory« sind präverbale oder averbale Gedächtnisspuren gemeint, die „in der Tiefe der Eingeweide oder anderer Körpergewebe gefühlt werden und sich dann in Haltung und Bewegung manifestieren sollen.“53 Der Begriff Körpererinnerung tauch vor allem im Zusammenhang mit alternativen Heilmethoden54 auf, die oft genau an Punkten ansetzen, an denen sich Erinnerung zeigt. Die »neuesten Erkenntnisse« der Wissenschaft besagen, was unser gesunde Menschenverstand ohnedies längst weiß: Wir denken nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch. Von einem Nervengeflecht im Bauch werden nach Erkenntnissen mehrerer Forschungsteams Gefühl und Intuition mitgesteuert. Das so genannte Bauchhirn besitze mehr Nervenzellen als das Rückenmark. Sie umhüllen den Verdauungstrakt, sagt der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Gershon, Chef des Departments für Anatomie und Zellbiologie der Columbia University in New York und bezeichnet den Darm als unser „zweites Gehirn“.55 Das Bauchhirn entwickele seine eigenen „Neurosen“, sagt Michael Gershon. Und noch viel mehr. Erst vor kurzem stellten Forscher fest, dass weitaus mehr Nervenstränge vom Bauch in das Gehirn führen als umgekehrt: 90 Prozent der Verbindungen verlaufen von unten nach oben. Der deutsche Neurologe Emeran Mayer hat mit seinen Experimenten an Reizdarm-Patienten gezeigt, dass „im Vergleich zu gesunden Menschen beim Auftreten von 52 Dissoziative Amnesie bezeichnet die „Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Erfahrungen zu erinnern; hervorgerufen durch psychische Faktoren ohne organische Grundlagen.“ (Zimbardo/Gerrig) „Pierre Janet hat schon um 1900 eine «Bewusstseinsspaltung» als Traumareaktion postulierte, dem zufolge erst durch das traumatische Erlebnis via Dissoziation ein unbewusstes Subsystem in der Psyche entsteht, das als Speicher für solche verdrängten Erfahrungen dient. Thomas Knecht. S. 1085 53 Thomas Knecht ist Leitender Arzt Psychiatrische Klinik, Münsterlingen in der Schweiz. 54 Hier die wichtigsten mir bekannten Verfahren, die mit Körpererinnerung arbeiten: die biodynamische Psychologie (Gerda Boyesen), die traditionelle indische Medizin (Ayurveda in Verbindung mit Yoga), sowie die Traditionellen chinesischen Medizin (Akupunktur, Akupressur, Meridianmassagen und Bewegung in Qi Gong und Tai Chi) ; die Kraniosakraltherapie (Teilbereich der Osteopathie) und die Homöopathie. 55 Magazin GEO.11. Nr. 11/00 Wie der Bauch den Kopf bestimmt. Entscheidungen aus dem Bauch heraus. 35 unangenehmen Gefühlen unter anderem eine erhöhte Aktivität in Regionen des limbischen Systems“ festzustellen ist. „Kein Kollege lacht heute mehr, wenn Emeram Mayer, der Neurogastroenterologe und Professor für Physiologie, in den so überraschend umfangreichen Nervenfasern, die das kleine mit dem großen Gehirn von unten nach oben verbinden, quasi das biologische Korrelat menschlicher „Bauchgefühle“ sieht - und der Intuition. Sie entsteht aus der Wechselwirkung der zwei intim verschalteten Gehirne.“ „Es hat seinen biologischen Sinn“, sagt Mayer, „dass sehr starke Gefühle ins Bewusstsein dringen.“ Je besser Menschen Angst erinnern, um so besser können sie das nächste Mal entscheiden. Unsere Evolution sei deshalb so erfolgreich, weil Emotionen - ob negativ oder positiv - uns erlauben, bessere Entscheidungen zu treffen. Je stärker die emotionale Erfahrung, um so besser“ arbeiten die ‚somatischen Marker’ aus der Vergangenheit.56Könnte nicht angesichts dieser Erkenntnisse „der Bauch auch ein Teil der biologischen Matrix für das große Unbewusste sein“? Diese psychische Innenwelt des Menschen ist bis heute realtiv unerforscht. Der Hirnforscher Vilayanur Ramachandran erforscht das Gehirn mit „so einfachen Experimenten, dass sie jeder nachmachen kann.“57 So brachte er beispielsweise den Phantomschmerz bei arm- oder beinamputierten Patienten zum Verschwinden. Nur mit Hilfe der Spiegelung der gesunden Gliedmaße, auf die amputierte Seite wird dem Gehirn vorgegaukelt, „der amputierte Körperteil sei wieder da und alles sei in Ordnung. Damit fehlt der Auslöser für den Schmerz. Erstaunlicher Weise genügt diese Illusion, das Schmerzempfinden für immer zu löschen.“ Damasio deckt Descartes’ Irrtum, der Geist sei vom Körper getrennt, auf, indem er die Abhängigkeit kognitiver Prozesse in einer GehirnKörper-Wechselwirkung beschreibt: „Das Gehirn konstruiert immer neue Repräsentanten des Körpers, während dieser sich unter chemischen und neuronalen Einflüssen verändert. Während einige dieser Repräsentanten unbewußt bleiben, gelangen andere ins Bewußtsein. Gleichzeitig fliessen fortwährend Signale vom Gehirn zum Körper, einige willkürlich und andere automatisch … Infolgedessen verändert sich der Körper abermals, der davon gewonnenen Vorstellung, entsprechend.“58 56 ibidem 57 SZ Magazin. Fast jeder kann mit einem Tisch verschmelzen. 3. 19.1.2001 58 Damasio S.304 ff 36 Abb. 42 : Das enterische Nervensystem (ENS) arbeitet ohne Hilfe des Gehirns. Das Gehirn sendet nur wenige Informationen an die Därme. Abb. 43 : Der Körper glaubt, was das Hirn ihm vorsiegelt: zum Beispiel, dass dieser Gummiarm zu ihm gehört ... Ein ganz ähnliches Kunststück des Gehirns suggeriert Liebenden, mit dem Partner zu verschmelzen... Dies ist mehr als eine Metapher – es ist die Wirklichkeit. ... Die beiden Gehirnhälften habe unterschiedliche Aufgaben: Die linke ist ein Geschichtenerzähler. Sie ist unter anderem damit beschäftigt fortwährend Theorien über die Welt zu erfinden. Das ist nützlich, weil wir oft nicht genügend Informationen haben, um Entscheidungen zu treffen. So legt sich die linke Hemisphäre den Rest einfach zurecht und konstruiert eine Story, die schlüssig scheint. Die rechte Hälfte hingegen überprüft diese Ideen anhand der Wirklichkeit. ... Untersuchungen haben gezeigt, dass wir chronisch optimistisch sind. 90% der amerikanischen Bevölkerung halten sich für überdurchschnittlich intelligent. Wie ist das möglich? Durch nette Schmeicheleien der linken Hirnhälfte. ...Wir werden erforschen, was bei Hypnose und Yoga im Gehirn geschieht. Die westliche Medizin hat solche Phänomene viel zu lange vernachlässigt. ... Was uns antreibt ist kein Ich, sondern ein wildes Sammelsurium unter der Schädeldecke.... Trotzdem ist das Ich Einbildung – ein flüchtiges oft tragisches Konstrukt des Gehirns dasselbe behaupteten die Weisen Indiens schon vor Jahrtausenden. Denen zu folge leidet der Mensch unter dem Irrglauben, eine individuelle Seele zu haben. Der Weg zur Erleuchtung besteht darin, den falschen Zauber des Ichs zu durchschauen und seine Einheit mit dem Kosmos zu erkennen. Ganz genau. Lange hielt ich diese Überlieferungen für Blödsinn. ... erst 15 Jahre Hirnforschung haben mich zur Überzeugung gebracht, dass an diesen Lehren auch was dran sein könnte. .... Vilayanur S.Rachandran, 49, ist Professor für eurowissenschaften und Psychologie an der University of California, San Diego. SZ Magazin 3. München 2001 Damasio beklagt, dass Vernachlässigung des Geistes in der westlichen Biologie und Medizin eine Verzögerung der Forschung zur Folge habe. Er vermutet den Erfolg „alternativer« Heilmethoden, besonders jener, die sich aus der traditionellen Medizin nicht-westlicher Länder herleiten, [als] eine kompensatorische Reaktion auf das Problem.“59 Der menschliche Geist würde in die Obhut der Philosophie, Theologie gelegt. Es dauerte lange, bis sich die Psychologie seiner annahm und nun schließlich Hand in Hand mit den Neurowissenschaften gearbeitet wird. 2.3. geisteswissenschaftliche ERKLÄRUNGSANSÄTZE Wie in der Philosophie das »Gedächtnis« gewichtet wird, habe ich schon mit dem philosophischen Diskurs angedeutet, der in der Antike mit der Rhetorik begann. »Das Körper-Geist-Phänomen« steht mit großen Differenzen im philosophischen Diskurs. Welche Auffassungen daraus die gesamte wissenschaftliche Forschung gewonnen hat, interessiert mich hier besonders. 2.3.1. Platons Anamnesis (*427v.Chr. † 348/349 v.Chr.) Abb. 44 Das Höhlengleichnis stellt den Aufstieg zu den Ideen dar: Platon vergleicht das irdische Dasein mit einer unterirdischen Höhlenexisitenz, in der die Menschen so gefesselt sind, daß sie nur an die Wand der Höhle blicken können. Auf diese werden durch ein für sie unsichtbares Feuer im Hintergrund Schatten von künstlichen Gegenständen projiziert. Diese Schattenbilder, die nichts anderes sind, als die sinnliche Erscheinung irdischer Dinge, halten die Gefesselten für die Realität. Die Gegenstnäde selbst, die den Schatten geworfen haben, kann nur der erkennen, der sich von seinen Fesseln befreit hat; er erkennt, dass die Schatten Platons Schriften sind selbst ein Gedächtnis, in dem die Reden seines Lehrers Sokrates († 399 v.Chr.) aufbewahrt werden. Im Phaidon schildert er im Dialog den letzten Tag seines Lehrers, der als Philosoph den Tod nicht zu fürchten braucht, da er dem Ziel, der vernünftigen Erkenntnis des wahrhaft Seienden näher kommt, „das die Trennung der Seele vom Körper voraussetzt und ihren Aufstieg zu den Ideen erfordert.“ 60 Nur ohne die trügerischen Sinneswahrnehmungen können die reinen unvergänglichen Urbilder erkannt werden. Die unsterbliche Seele strebt ihrer Befreiung vom Körper und seinen Bedürfnissen und Begierden entgegen, um sich den ihr ursprünglich verwandten Ideen zuzuwenden. Platon glaubte im Unterschied zu Aristoteles, dass es ein Wissen gibt, dass nicht von den Sinneseindrücken abgeleitet ist, sondern dass in unserem Gedächtnis latent vorhandene Formen oder Modelle der Ideen jener Wirklichkeiten existieren, die die Seele wie in einer Wachstafel eingeprägt »von oben« mitbrachte. Mit seiner Erklärung der menschlichen Erkenntnis, die die Wahrheit aus einem Wiedererinnern (Anámnesis) heraus erkennt, war er wegbereitend für „den hermetisch beeinflussten Renaissance-Menschen, der sich im Besitz göttlicher 59 ibidem S. 339 60 Der Brockhaus. Philosophie. Hamburg 2004 37 Kräfte“ glaubte. 61 Platons Auffassung von den trügerischen Sinneseindrücken entspricht einerseits unserem heutigen Verständnis von Wahrnehmung, die immer individuell interpretiert ist, andererseits aber ist seine Vorstellung, der Mensch verfüge über ein erfahrungsunabhängiges Wissen, mit einem wissenschaftlichen Denken unvereinbar. Es würde nicht als Wissen, sondern als Instinkt oder Anlage bezeichnet werden. nur Abbilder dieser Dinge sind. Wenn der Mensch nun noch aus der Höhle entkommen kann, blendet ihn zuerst das Tageslicht, das Licht der Außenwelt und er wird zuerst Schatten und Widerspiegelungen erkennen; in einem Gewöhnungsprozeß dann aber die Dinge selbst und zuletzt die Sonne sehen und erkennen, dass sie die Ursache allen Seins ist. 2.3.2. Aristoteles Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung Aristoteles begründet eine Theorie des Gedächtnisses und der Erinnerung auf seiner Erkenntnistheorie, die er im letzten Teil der Physica seiner Naturphilosophie Über die Seele verfasst. Er unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung, was das Wiedererlangen einer Erkenntnis oder Empfindung durch die Anstrengung, mit Hilfe von geordneter Assotiationen seinen Weg durch die Gedächtnisinhalte zu finden, bedeutet.62 Die Einbildungskraft vermittelt zwischen Wahrnehmungskraft und Denken, das die Aussenwelt mit Hilfe des Imaginationsvermögens reflektiert verarbeitet. Erst hier entsteht Denken. ‚Die Seele denkt niemals ohne ein Vorstellungsbild.’63 Und auch das Gedächtnis „gehört zum selben Teil der Seele wie die Imagination“ doch kommt hier noch das Zeitelement hinzu, denn die Bilder stammen nicht aus der momentanen Wahrnehmung sondern aus einer vergangenen. Auch Tiere können sich erinnern, doch intellektuelle Fähigkeit besitzt nur der Mensch, wie Aristoteles in seiner Seelenlehre beschreibt:Die Bewegungsursachen der Seele sind als Formursache oder als Prinzip des Wirklichseins des „organischen Leibes“ zu sehen, „der nur potentiell Leben hat“.64 Aus den verschiedenen Tätigkeiten der Seele schließt Aristoteles auf ihre Vermögen: Der Mensche ist mit drei Bewegungsprinzipien ausgestattet, nämlich dem vegetativen, sensitiven und dem intelektuellen. Das Tier hat zwei Bewegungsprinzipien das vegetative Vermögen und das sensitive, während die Pflanze nur das vegetative inne hat, das Fortpflanzung und Stoffwechsel anregt. Er betont die Verbesserung des menschlichen 61 Yates. S. 159 Dieser wollte mit seinem magischen Gedächt-nis die Welt wieder spiegeln, „indem er den göttlichen Makrokosmos im Mikrokosmos“ mit Hilfe der Rede- und Dichtkunst, als auch in den vollkommenen Proportionen der Kunst und Architektur ausdrückte. 62 Vgl. Yates 63 Aristoteles De animna. 427b 18-22 (übers. V. Hett).nach Yates S.38 64 Aristoteles. De anima. II 1, 2 38 Abb. 45 : Weih- oder Opfergabe, die in einem Asklepios-Heiligtum im 4. Jahrhundert v. Chr. aufbewahrt wurde. Bei entferntem Schädeldach zeigen sich deutlich die Hirnwindungen, die wir heute als Gyri und Sulci bezeichnen. „Manche Menschen haben trotz eines heftigen Anreizes au Grund von Krankheit oder Alter kein Gedächtnis, wie… ein Siegel fliessendem Wasser aufgedrückt würde….Deshalb haben die ganz Jungen und die Alten schlechte Gedächtnisse; sie befinden sich in einem Zustand steter Veränderung, die Jungen wegen ihres Wachstums, die Alten wegen ihres Verfalls. Aus einem ähnlichn Grund scheinen auch weder die sehr Schnellen noch die Langsamen gute Gedächtnisse zu haben; die ersteren sind feuchter, als sie sein sollten, und die letteren härter; bei den ersteren hat das Bild keinen Bestand, bei den letzteren hinterlässt es keinen Eindruck.“ De memoria et reminiscentia. 452b 31 (als eine der Prosa naturalia von W.S. Hett in dem angegebenen Loeb Band übersetzt „Das Gehirn ist es, das die Wahrnehmungen des Hörens, Sehens und Riechens gestattet, aus diesem entstehen Gedächtnis und Vorstellung, aus Gedächtnis und Vorstellung aber, wenn sie sich gesetzt haben und zur Ruhe gekommen sind, bildet sich das Wissen“ formulierte der griechische Gehirnforscher Alkmaion schon im 6. Jahrhundert v. Chr. (Capelle, 1940).. Descartes trennte den Geist von der Materie, aber seine Aufteilung war eine rationale. Dies ist nicht die geeignete Methode, um die Unterscheidung zu treffen.. Der Mensch ist eine Gesamtheit, ein Organismus; er muss diesen Begriff entwickeln und sich nicht auf den Verstand reduzieren. Duchamp 1958. Interviews und Statements. Serge Stauffer. Stuttgart 1991 S.66 f Wahrnehmungsvermögens durch körperhafte Sensibilisierung. Ausserdem ist ihm aufgefallen, dass das Wiedererinnern angeregt wird, wenn sich, die Menschen bei der Bestrebung sich zu erinnern, an den Kopf schlagen und ihren Körper in Bewegung setzen. 65Dieses Phänomen werden in Zusammenhang mit nonverbaler Kommunikation, insbesonder mit deren Rückwirkung auf die menschlichen Emotione untersucht.66 Damit die Vernunft von potentieller zu aktueller Erkenntnis gelangen kann, also alle Objekte geistig wahrnehmen kann, wirkt in ihr ein aktives, sowie ein passives Prinzip, wobei das letztere vergänglich ist. Das aktive Prinzip hingegen ist an kein Körperorgan gebunden und deshalb unvergänglich.67 Die drei Bewegungsprinzipien des Aristoteles könnte man in Verbindung mit der heutigen Sicht des Gedächtnisses so interpretieren, dass die drei Bewegungsprinzipien im Zusammenspiel der Körper – Gedächtnis – Funktion zu finden ist. Aristoteles ist also mit seiner Auffassung in der Tradition des Hippokrates, der die Konstitutionen des Menschen durch die Säfte erklärte.68 Damasio nennt es einen „organischen Geist-im-Körper-Ansatz“ und fragt sich, wie ärgerlich wohl Aristoteles auf Descartes gewesen wäre, hätte er ihn gekannt.69 2.3.3. Descartes´ Körper-Geist-Teilung Descartes nimmt wie Sokrates und Platon die Körper-Geist-Teilung an und gilt damit als Begründer des Rationalismus und der neuzeitlichen abendländischen Philosophie, auf die sich bis zu Kant alle berufen werden. Mit seinem berühmten Ausspruch Cogito ergo sum postuliert er die Unabhängigkeit des Denkens. Alles kann bezweifelt werden nur das Denken nicht. Er unterscheidet die determinierte Materie als Res extensa vom Geist, der sich frei in den Res cogitans entfalten kann. Mit dem vielleicht berühmtesten Satz der Philosophiegeschichte, dem Cogito ergo sum – ich denke also bin ich – ist er über jeden Zweifel erhaben. Seine absolute Erkenntnis besteht darin, dass die denkende Substanz die Res cogitans allem anderen selbstständig voraus geht und abgetrennt von 65 Yates S.39, S.71 Abb.46 : René Descartes Illustration des Dualismus. Reize werden von den Sinnesorganen weitergeleitet, erreichen die Epiphyse im Gehirn und wirken dort auf den immateriellen Geist ein. 66 Vgl. Ekman P. & Friesen W.V., Myers.. S. 543 ff 67 Aristoteles III 4/5 68 Aristoteles bezieh sich auf die Temperamente des Hippokrates laut Philosophischem Wörterbuch: http://www. textlog.de/5216.html 2007 69 Damasio. S.332 39 den Res extensa – der ausgedehnten Substanz, also unabhängig von der Außenwelt existiert. Descartes hatte die Absicht seinen Satz logisch zu begründen und meinte ihn damit unwiderlegbar zu machen. Was hätte er wohl zu den neuronalen Forschungsergebnissen und über den untrennbaren Zusammenhang der körperlichen und geistigen Funktionen gesagt? Er war sich jedenfalls sicher, „daß die Wahrheit ‚ich denke, also bin ich’ so fest und sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, annehmen“.70 Genauer formuliert er weiter: „Ich erkannte daraus, daß ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, so daß dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist.“ „Darin liegt Descartes’ Irrtum: in der abgrundtiefen Trennung von Körper und Geist, von greifbarem, ausgedehntem, mechanisch arbeitendem, unendlich teilbarem Körperstoff auf der einen Seite und dem ungreifbaren, ausdehnungslosen, nicht zu stoßenden und zu ziehenden, unteilbaren Geiststoff auf der anderen: in der Behauptung, dass Denken, moralisches Urteil, das Leiden, das aus körperlichem Schmerz oder seelischer Pein entsteht, unabhängig vom Körper existieren. Vor allem: in der Trennung der höchsten geistigen Tätigkeiten vom Aufbau und der Arbeitsweise des biologischen Organismus.“71 Damasio rechnet hier mit Descartes ab wie er sagt, und „nicht mit Platon, dessen Ansichten über Körper und Geist noch viel ärgerlicher wären“, weil Descartes’ Denkansatz noch heute seinen verheerenden Einfluss auf das kollektive Körperbewusstsein ausübt. So gibt es sogar heute noch Neurowissenschaftler, die allen Ernstes davon ausgehen, dass Geist sich ausschließlich durch Gehirnaktivitäten erklären lassen. Die Tatsache, „daß der Geist aus dem Gehirn erwächst“ streitet Damasio nicht ab, besteht aber auf einer Erweiterung und stellt die Frage nach den Gründen, 70 René Descartes. Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung. Übersetzung: Kuno Fischer, 1863 (Org. 1637) IV. Dasein Gottes und der menschlichen Seele als Grundlage der Metaphysik. »Cogito, ergo sum« als das erste Prinzip der Philosophie. 71 Damasio S.330 f 40 Descartes’ Dualismus zwischen Denken Res cogitans und dem Ausgedehnten Res extensa zeigt sich in seiner Beschreibung vom Tier als Automaten: „Gäbe es dagegen Geschöpfe, die mit unserem Körper Ähnlichkeit hätten, und unsere Handlungen so sehr nachahmten, als es moralisch möglich wäre, so hätten wir doch stets zwei recht gewisse Mittel, um zu erkennen, daß die darum noch nicht wahre Menschen wären. Das erste ist, daß sie niemals sich der Worte oder anderer Zeichen bedienen könnten, um sie so zusammen zu setzen, wie wir es tun, um anderen unsere Gedanken zu vermitteln....Während nämlich die Vernunft ein allgemeines Werkzeug ist, das bei aller Art von Fällen dienen kann, bedürfen diese Organe für jede besondere Tätigkeit einer besonderen Anlage. So kommt es, daß es moralisch unmöglich ist, daß es in einer Maschine genügend..Organe gibt, um sie ...ebenso handeln zu lassen, wie unsere Vernunft uns handeln lässt.“ In Discours de la Méthode (1637):Aus: Die andere Schöpfung. Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Herbert Heckmann. Hier wird die Computeranalogie zum Gedächtnis vorweggenommen, die heute noch weit verbreitet ist und das Gehirn als Hardware betrachtet, die die Grundlagen für den Geist als Software bereitstellt. Abb. 47 : Das Gehirn als Schaltzentrale. Fritz Kahn. 1929 „Leib bin ich und Seele – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: „warum sich die Hirnneuronen so vernünftig verhalten.“ Eine mögliche Erklärung haben wir in der Erkenntnis unseres zweiten Gehirns im Bauch erhalten. Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit 2.3.4. Nietzsches »grosse Vernunft« Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug des Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werkund Spielzeug deiner grossen Vernunft. ...“ Abb. 48: Ausschnitt. Die Schule von Athen. Raffael 1509, Fresko, Stanza della Segnatura, Vatikan. Im Vordergrund Ptolemäus, Hintergrund Zarathustra „Ich“ sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das gössere ist, woran du nicht glauben willst, dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht ich aber, thut ich. Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchte dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie. Werkzeuge und Spielzeuge sind Sinn und Geist – hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra.Von den Verächtern des Leibes. KSA 4 Der bedeutende doch auch kontrovers diskutierte Philosoph Friedrich Nietzsche (* Röcken 1844 – 1900 Weimar) nimmt die Körper-Geist-Teilung nicht hin und geht in seinen Schriften radikal gegen sie an. In seiner Philosophischen Dichtung Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle und Keinen wendet er sich den Menschen in der Person des Priesters und Propheten zum Zweck der Überwindung der Moral zu. Doch „als seine Botschaft von der Menge in der Stadt zurückgewiesen wird, beschließt er, nur noch zu einzelnen zu sprechen, um sie für seinen Plan zu gewinnen.“72 Also sprach Zarathustra, wie hier zitiert, auch von den Verächtern des Leibes, die er abweichend von den im Zeitgeist vorherrschenden Meinungen über den tatsächlichen Sitz der Vernunft unterichtet, die nämlich nicht, wie allgemein angenommen, unabhängiges und „allgemeines Werkzeug ist, das bei aller Art von Fällen dienen kann“73, sondern eben ein „Werkzeug des Leibes“. Es ist, als ob Zarathustra hier Descartes persönlich anspricht:„Auch deine kleine Vernunft, mein Bruder die du ‚Geist’ nennst,“ ist nur „ein kleines Werkund Spielzeug deiner grossen Vernunft.“. Nietzsche deklariert hier in Gestalt des Propheten, dessen historisches Pseudonym den Anfang des moralischen Bewusstseins verkörpert, nun das Ende der moralischen Geschichtsepoche. Die grosse Vernunft ortet Nietzsche im Leib, und auch die Weisheit liegt im Körper. Sie schöpft allerdings immer aus seinem Gedächtnis, denn der Wissende hat erkannt, dass seinem Leib eine Vielheit mit einem Sinn, innewohnt, der als Hirte die Herde bewacht. Darin sehe ich eine Analogie zur körperlichen Intelligenz, die sich in den Genen manifestiert. Dass sich in der Zellsubstanz Intelligenz befindet, beweist die Gentechnologie mit ihren kontrovers diskutierten Experimenten, wenn etwa aus reinem Zellgewebe Leben geklont wird. Der genetische Code ist also die kleinste bisher bekannte physische 72 Kindlers Neues Literaturlexikon. München 1988 73 vgl. Descartes oben 41 Einheit des Menschen. „Die Beweise für den Einfluss der Gene auf die menschliche Intelligenz sind überwältigend und es zeigt sich: Intelligenz ist das am stärksten erbliche Persönlichkeitsmerkmal überhaupt.“74 Auf diese Weise kann ich Nietzsches gleichnishafte Philosophie in meiner Intention interpretieren und anwenden. Nietzsche schildert in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral die Seele als ein Produkt von Gewalt und zwar von körperlicher Gewalt. Laut Nietzsche entstand die europäische Seele nur durch die Verinnerlichung von Gewalt, während die ältere Menschheit ihre aggressiven Triebe auslebte und in entsprechend bildreichen Überlieferungen festhielt, in denen psychische Introspektion praktisch nicht vorkommt, sondern durch Metaphern in eine äußere Welt verlegt wird. Hieran sieht man, wie weit Nietzsche bereit war theoretisch zu gehen, um dem Instinktiven - Körperlichen den Primat gegenüber dem Seelisch - Geistigen zusprechen zu können. Die Seele definiert sich für Nietzsche rein defizitär, sie ist nichts, außer dem Bild, das das unterdrückte Individuum sich von sich selbst und seiner nicht verstandenen Unterdrückung und ihren Mechanismen macht. Ziel der Kultur sei es, „ein Tier heranzuzüchten, das Versprechen darf“75 Dies wird erreicht durch eine Form der Mnemotechnik, die kein anderes Mittel kennt und kennen kann, als den körperlichen Schmerz. Der Mensch als krankes Tier muss sich von der Abwertung seiner Sinnlichkeit durch Religion und Philosophie erst wieder befreien. Eine wichtige Rolle spielt in diesen Überlegungen das Phänomen der öffentlichen Hinrichtung unter Folter im vorbürgerlichen Zeitalter. Eine solche Hinrichtung musste öffentlich sein, ein Hinweis auf den beabsichtigten erzieherischen Effekt. Entscheidend ist hierbei, dass die Strafe, als beabsichtigte Mnemotechnik wie eine natürliche Folge des Vergehens erscheint. Einerseits sollten solche Hinrichtungen vor Vergehen abgeschrecken und damit auch Verinnerlichung und Gewissen erzeugen, andererseits dienten sie der Befriedigung der unterdrückten Triebe ganz allgemein. Gemäß Nietzsches Anthropologie lässt sich die „natürliche“ Grausamkeit des Menschen nicht beseitigen, sondern nur transformieren. „Sie geniessen die Freiheit(...) als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewicht davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder etwas zu Singen und zu Rühmen haben.“ Nietzsche. 5. S.275 „Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit scheint in der That ausserordentlich und fast plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder Zehn-Millionen der Übercultur hinter sich hat; und ich für meine Person zweifle nicht, dass, gegen Eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen.“ Nietzsche. 5. S.303. 74 Plonim, Robert, Genforscher und Leiter des Social, Genetic and Developmental Psychiatry Center am Institut für Psychiatrie in London; in: Profil, Nr. 48, vom 27. November 2000, 31. Jg., S. 146. 75 Nietzsche. 5. S. 291 42 2.3.5. Foucault und die Strafe als Memonik „Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine „Seele“ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber Stück der Herrschaft ist, welche Macht über den Körper ausübt.“ „In dem Masse, in dem die Medizin, die Psychologie, die Erziehung, die Fürsorge, die Sozialarbeit immer mehr Kontrolle – und Sanktionsgewalten übernehmen, kann sich der Justizapparat seinerseits zunehmend medizinisieren, psychologisieren, pädagogisieren; und in eben diesem Masse verliert das Scharnier an Nützlichkeit, welches das Gefängnis darstellte, als es durch die Kluft zwischen seinem Besserungsdiskurs uns seiner Wirkung als Delinquenzkonsolidierung die Strafgewalt mit der Disziplinargewalt verknüpfte. Inmitten dieser Normalisierungsnetze verliert das Gefängnis an Bedeutung.“ Foucault. S. 395 Foucault zitiert den Strafreformer de Mably, der 1789 äußerte: „Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, weniger den Körper treffen, als die Seele“ (Foucault, S. 26). Foucault, S. 42 2.3.5.1. Die seele als Resultat Körperlicher Gewalt Während Nietzsche vor allem den psychischen Aspekt dieser Transformation schildert, erörtert Foucault die institutionell-rechtliche Seite des Phänomens. Laut Foucault geht es bei der Milderung der Strafen seit dem Ende des Feudalismus „weniger um Schwäche oder Grausamkeit als um eine fehlerhafte Ökonomie der Macht“76 Foucault untersucht, wie die Gewalt, die sich in feudaler Zeit in martialischen Strafen manifestierte, im modernen Strafrecht ihre immer effizienteren Formen findet. Dieser „Ökonomie der Macht“ sieht er dabei zunehmend die ganze Gesellschaft unterworfen und nicht nur den Straftäter. Foucault schildert diese Seele, ähnlich wie Nietzsche, als Resultat körperlicher Gewalt, und zwar von körperlicher Gewalt als Mittel der Machtausübung. Und Foucault lässt keinen Zweifel, dass auch einer auf die „Seele“ abzielenden Bestrafung nichts anderes übrig bleibt, als am Körper zu strafen: „Zweifellos lässt sich ein Gedanke festhalten: dass in unseren Gesellschaften die Strafsysteme in eine bestimmte »politische Ökonomie«des Körpers einzuordnen sind. Selbst wenn sie auf gewaltsame oder blutige Züchtigungen verzichtet, selbst wenn sie die »milden« Methoden der Einsperrung oder Besserung verwenden, geht es doch immer um den Körper, um den Körper und seine Kräfte, um deren Nützlichkeit und Gelehrigkeit, um deren Anordnung und Unterwerfung.“77 Für Nietzsche entwickelte sich die »Seele« parallel zur allmählichen Eindämmung der körperlichen Grausamkeit ganz allgemein. Die Seele aber ist wesentlich identisch mit dem Gefühl der Schuld, Schuld wiederum ist gleichbedeutend mit der Wendung von Grausamkeit »nach innen«.78 76 Foucault. S. 101 77 Foucault. S. 36. 78 „... dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in´s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.“ 43 Anschließend an diese Gedanken möchte ich folgende Frage aufwerfen: ob nicht die Seele, verstanden als kulturelles kollektives Phänomen insbesondere sofern sie sich definiert über ihre Schuld, identisch ist mit einem kollektiven körperlichen Trauma, das ursprünglich durch die grausamen öffentlichen Bestrafungen der vorbürgerlichen Zeit verursacht wurde? 2.3.5.2. Körperliche Gewalt als SChuldursache bei kafka und Huxley Im 20. Jahrhundert wurde an dieses Konzept vielfach angeknüpft. Einige Beispiele: im Werk Franz Kafkas spielt ein diffuses Gefühl der Schuld eine zentrale Rolle, beispielhaft in seinem Roman Der Prozeß.79 Die Hauptfigur des Romans, Josef K., versucht verzweifelt herauszubekommen, wie eigentlich die Anklage gegen ihn lautet. Von Anfang an ist K. bereit, seine Schuld zu akzeptieren, er möchte nur wissen, worin sie besteht. Er kann es aber nicht herausfinden. Stattdessen wird er eines Morgens von zwei Männern zur Hinrichtung abgeholt. Auch dagegen wehrt er sich nicht. K. erscheint stets isoliert, die anderen Figuren scheinen Teil einer bürokratischen Macht zu sein, von der sie selbst nur wenig wissen. Die Existenz der tatsächlichen Macht bleibt im Unklaren. Einen zweiten Fixpunkt bildet jedoch die Strafe. Sie wird so lapidar wir möglich geschildert und erscheint auch K. als vollkommen selbstverständlich. Eine der wesentlichen Aussagen des Romans scheint zu sein: Körperliche Gewalt bringt das Gefühl der Schuld erst hervor. Je unklarer der Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe, desto unabweisbarer erscheint die Schuld. Die Schuld wäre somit das verdrängte Gedächtnis des Körpers, die Strafe selbst erscheint deshalb auch als Lösung/Erlösung, weil die Unklarheit des Schuldgefühls endlich aufgelöst wird und klar wird, was eigentlich hinter der Schuld steht: körperliche Gewalt, die übermächtig ist. Aldous Huxley schildert in seinem Roman „Schöne neue Welt“, wie zukünftige Industriearbeitern als Säuglingen eine Abneigung gegen Natur und Pflanzen anerzogen wird, und zwar indem man sie zuerst mit Blumen spielen lässt und ihnen anschließend Elektroschocks gibt.80 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheinen alle Konzepte, die die „Seele“ oder den „Geist“ irgendwie mit etwas Höherem als dem Körper verbinden wollen aufs Nietzsche, 5, S. 325 79 Franz Kafka. Gesammelte Werke in acht Bänden. Herausgegeben von Max Brod. Frankfurt am Main 1983. 80 Aldous Huxley. Schöne neue Welt. Deutsch von Herberth. E. Herlitschka. Hamburg 1953. S. 32 44 Noch krasser bringt Kafka den Zusammenhang zwischen Schuld und körperlicher Strafe in seiner Erzählung „In der Strafkolonie“ zum Ausdruck. Hier werden die Verurteilten hingerichtet, indem ihnen eine Maschine das übertretene Gebot so oft eintätowiert, bis der Tod eintritt. Die Schuld auf begrifflicher, juristischer Ebene, als juristischer Terminus erscheint hier identisch mit der körperlich vernichtenden Strafe: „Kennt er sein Urteil?“(...)“Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja am Leibe.“ Kafka, Erzählungen, S.155) Abb. 49 : Santiago Sierra. Linie von 250 cm auf sechs bezahlte Personen tätowiert. Sechs arbeitslose junge Männer aus der Altsadt von Havanna ließen sich gegen Bezahlung von dreißig US-Dollar tätovieren. Sierra bedient sich hierder Macht, die er zu kritisieren scheint. Die Strafe der Armut wird nicht nur dem Körpergedächtnis dieser Männer eintätoviert, sondern auch underem kollektiven Gedächtnis. Schwerste diskreditiert. Unter anderem erweist sich jedes Konzept einer Erziehung „zum Guten“ als illusionär, weil ihr Hauptmittel, die körperliche Strafe, nichts erzeugt, außer schlechtem Gewissen, das schlechte Gewissen wiederum ist nichts anderes als eine Erinnerung an körperliche Strafe, die jedoch schon soweit verzerrt ist, als der Bestrafte die Schuld für die Strafe bei sich selbst sucht. „Die Hauptperson bei den Marterzermonien ist das Volk, dessen wirkliche und unmittelbare Gegenwart zu ihrer Durchführung erfordert wird.“81 „Will man aber, dass die Bestrafung ohne Schwierigkeiten im Geiste gegenwärtig werde, wenn man an Verbrechen denkt, so muß die Verbindung zwischen beiden so unmittelbar sein wie nur möglich: eine Verbindung von Gleichheit, Analogie, Ähnlichkeit...Wer in seinem Verbrechen gewalttätig war, wird körperliche Schmerzen erleiden; der Taugenichst wird zu einer mühevollen Arbeit gezwungen werden; der Niederträchtige wird eine entehrende Strafe erleiden.“ 82 81 Michel Foucault. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Deutsch von Walter Seitter. Frankfurt 1976. S. 75. 82 Foucault, S. 135 45 Körper, erinnere dich nicht nur daran, C.Körper - Gedächtnis in der Kunst wie oft du geliebt wurdest, Nicht nur an die Betten, in denen du lagst, Sondern auch an jenes Verlangen nach dir, Das aus offenen Augen strahlte, Das Gedächtnis ist der Fundus des Künstlers. Hier liegt das Basismaterial für seine Ideen. Sie entstehen immer aus Erinnerung. Also könnte man sagen, dass Kunst materialisierte Erinnerung ist oder auch kollektives Gedächtnis in einer persönlichen Verarbeitung. Jede Kunst entsteht aus der Erinnerung des Urhebers und stellt somit immer eine Imagination der eigenen Wahrnehmung dar. Ist das Werk für andere von Nutzen, bekommt also eine Allgemeingültigkeit und spricht die Erinnerung Vieler an, geht es, wenn sie zur richtigen Zeit wahrgenommen wird, als Bedeutungsträger ihrerseits ins kollektive Gedächtnis ein und wird vielleicht von Anderen aufs Neue in einen aktuellen Kontext gestellt. Das Körpergedächtnis spielt dabei eine große Rolle. An das Zittern der Stimmen – und wie Ein zufälliges Hindernis es vereitelte. Jetzt, da alles der Vergangenheit angehört, Scheint es fast, als ob du dich auch Jenem Verlangen hingabst – wie es strahlte, Erinnere dich, aus Augen, die auf dich gerichtet waren, Wie die Stimmen nach dir zitterten, erinnere dich, Körper. Konstantinos Kavafis, Das Gesamtwerk Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Robert Elsie. Frankfurt a.M., 1999. Orginalausgabe 1918. S. 106 f. Unter Körpergedächtnis verstehe ich sublimale, also unter der Bewusstseinsgrenze liegende Informationen, die durch bestimmte Reize an die Oberfläche gelangen. Interessant wird es, wenn sie in diesem Moment auch bewusst werden, und reflektiert werden können, um sie dann in neue Zusammenhänge zu stellen. Wie oben schon beschrieben, verändert jede Erfahrung die Strukturen der Gene. Ich stelle im Folgenden Künstler vor, deren Impulse nicht nur aus dem Körpergedächtnis kamen, sondern deren Werke sie auch ein Stück weit widerspiegeln. Wie wir gesehen haben, spielt Körpererinnerung im Grunde für jede Form des Ausdrucks eine Rolle. Es gab und gibt immer wieder Künstlerinnen und Künstler, die Körpererinnerung zum Thema machen. Spontan fällt mir an dieser Stelle Giacometti ein, dem es darum ging, die Persönlichkeit seiner Modelle in der Totalität des Individuums zu erfassen und ihre Lebendigkeit darzustellen. Wenn ich davon ausgehe, dass wir durch Spiegel-Neuronen fähig sind unsere Empathie zu steigern und, dass wir dadurch Eigenschaften von anderen Personen imitieren können, hatte Giacometti diese Fähigkeit weit entwickelt. Künstler, deren Körpererinnerung so in ihre Arbeit einfließt, dass sie in gewisser Weise noch am Werk ersichtlich ist, sind mir leider nur sehr wenige untergekommen. 46 Abb. 50 : Alberto Giacometti, 1961 Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1913-1927) war natürlich eines der Werke, die das Thema Erinnerung für die Literaturwissenschaften bedeutsam machte. In der berühmten und viel zitierte Passage beschreibt der Autor, wie ihm beim Genuss eines in Tee getauchten Gebäcks unvermittelt eine längst vergessene und damit verloren geglaubte Kindheitsszene wieder lebendig wird: Sie [Mutter des Erzählers] ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man ‚Madeleine‘ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. ... Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. ... Mit großer Anstrengung versucht er die Erinnerung zu greifen, die nur schwach erkennbar, in einem gestaltlosen Lichtschein, in Begleitung eines unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks auftritt. ... Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. In Swans Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. 1964. S.63 ff 47 Meine Auswahl an künstlerischen Positionen richtet sich an meiner Argumentationslinie aus, die ich im Bezug zu meiner eigenen künstlerischen Arbeit aufzeichne. Sie haben zwar nicht direkt auf meine Entscheidungen eingewirkt, doch beeinflussen sie natürlich indirekt, eben durch das kollektive Gedächtnis meine kulturelle Identität. Als Beispiel für Kunst als Erinnerung schien mir Luise Bourgeois gut geeignet. Sie gilt als Vertreterin einer Kunst, die aus der biographischen Erinnerung entwickelt ist. Eine Arbeit von Pipilotti Rist möchte ich im Abschnitt Kindheit und Erinnerung vorstellen. Anhand der Arbeiten von Lygia Clark werde ich das Thema Tradition und Erinnerung veransschaulichen. Die Künstlergruppe Gelatin werde ich im Abschnitt über Partizipation und Körpererinnerung vorstellen. Einige Positionen entdeckte ich erst im Laufe der Recherche zu dieser Arbeit und andere konnte ich in der Auseinandersetzung mit meiner Themenstellung in Verbindung bringen. Auch die Literatur ist eine Kunst der Erinnerung, da im literarischen Text etwas erinnert wird, das dann als Literatur selbst Gegenstand der Erinnerung ist. Das Gedächtnis ist aber im Grunde darauf angelegt Zukunft zu erzeugen oder anders gesagt, Zukunft voraus zu ahnen um sich besser auf die Gegebenheiten einstellen zu können und das Leben des Organismus zu sichern83. Aus meiner Analyse der verschiedenen Gedächtnissysteme heraus möchte ich über ihre Relevanz für den kunstgeschichtlichen Diskurs sprechen, und ausgehend vom Körpergedächtnis, eine weitere Perspektive beachten. Der Gedächtnis-Begriff, so stellt sich heraus, übernimmt im jeweiligen Kontext anderer Funktionen. So haben sich etwa die Künstler der Spurensicherung84 mit Gedächtnis befasst. Zu ihnen gehört Nikolaus Lang mit einem ethnographisch wissenschaftlich anmutenden Habitus und das Künstlerpaar Anne und Patrick Poirer, die kollektive Erinnerung der Antike mit ihrem individuellen Empfinden verarbeiten. Joseph Beuys könnte mit seinem Enviroment Zeige deine Wunden ebenso als ein Spurensicherer angesehen werden, der seine Materialien als Spuren 83 vgl Roth 84 Der Begriff der „Spurensicherung“ wurde von Günther Mertken geprägt. 48 Abb. 51: Nicolaus Lang. Für Frau G., Nachlass-Lebensmittelund religiöser Hort. 1981/82. Glas, Holz, Papier, Blech, 80 x 700 x 700 cm Abb. 52 : Joseph Beuys .Zeige deine Wunde“ . Detail. 1974 / 75 München Lehnbachhaus.. Abb. 53 : Santiago Sierras Arbeit in der Synagoge Stommel lässt sich auch als Mahnmal gegen die Banalisierung von Erinnerung bezeichnen. 245 Kubikmeter Autoabgase wurden 2006 von sechs Autos, die in der Nachbarschaft geparkt waren, in die Synagoge geblasen. Die Kohlenmonoxidgase ereicht eine tödliche Konzentration. Ein Sicherheitsposten mit einer umluftunabhängigen Schutzmaske begleitet die Besucher, die einzeln auf eigenes Risiko mit Schutzmaske den Raum betreten konnten. Die körperliche Betroffenheit spielt hier wie in Solidatität mit den tätovierten Arbeitslosen und Prostituierteneine wichtige Rolle. Sie wird ohne Gnade eingefordert, seiner Erinnerung materialisiert. Er war einer der ersten Künstler, der in einer sehr symbolischen Art und Weise dem Vergessen entgegenwirken wollte. „Obwohl sich das Werk nicht konkret auf den Faschismus bezieht, beinhaltet es doch grundlegende Gedanken zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit.“85 Er fordert dazu auf, den Schmerz nicht zu verstecken sondern zu zeigen, als ersten Schritt auf dem Weg zur Heilung. Die „Funktionalisierung“86 der Erinnerung durch das Denkmal verkürzt die Sichtweise von Geschichte und lässt dem Betrachter nicht viel Raum für eigene Assoziationen. Einige Künstler versuchten den Denkmalbegriff als „staatlich verordnetes Gedenken“87 neu zu formulieren. Die Hilflosigkeit in der Verarbeitung deutscher Vergangenheitsbewältigung löste ein Überdenken der traditionellen Möglichkeiten aus. So hat Jochen Gerz in seinem Mahnmal gegen den Faschismus den Passanten die Möglichkeit gegeben ihre individuelle Erinnerung in den im Laufe der Zeit im Boden versinkenden Monoliten zu ritzen. Olaf Metzels Skulpturen im öffentlichen Raum konfrontieren unkommentiert mit Themen wie den Umgang mit unliebsam gewordenen Gastarbeitern oder mit Gefangenen der RAF. Künstlerinnen wie Sophie Calle und Iris Häusler verarbeiten fiktive Erinnerung, indem sie Lebensräume von selbst entworfenen Persönlichkeiten zur Grundlage ihrer Werke machen. Die Erkenntnis, dass Vergangenheit immer erst durch die eigene Bewertung entsteht ist hier verarbeitet. Künstler wie Marcel Broodthaers, der aus wertlosen Artefakten ein fiktives „Musée d’Art Moderne, Departement des Aigles“ konstruiert, Daniel Buren, der mit seiner monotonen Streifenmalerei nicht auf die ästhetische Erfahrung minimalistischer Grundstrukturen,“ abzielt, sondern kritisch und subversiv das Beziehungsgeflecht zwischen Künstler, Kunstwerk und Präsentationsort „mit seinen institutionellen Bedingungen“88 untersucht, oder Hans Haakes sozio-ökonomischen Untersuchungen des Kunstsystems sind künstlerische Ansätze, die mit ihren Arbeiten den Zweck der Institutionskritik89 verfolgen. 85 Cornelia Gockel. Zeige deine Wunden. Faschismusrezeption in der deutschen Gegenwartskunst. München 1998. S.8 86 vgl.Cordula Meier 87 Cornelia Gockel in ihrem Skript zur Vorlesung Erinnern und Vergessen. 88 Johannes Meinhardt in DuMonts. Köln 2006. 89 Der Bergriff Institutionskritik tauchte erstmals bei Andrea Farser im Jahre 1985 in einem Text über Louise Lawler. Sie schrieb über Künstler wie Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder Hans Haacke, sie seien zwar sehr unterschiedlich, jedoch alle der „institutional critique“ verpflichtet. Der bekannte Kunsthistoriker Benjamin Buchloh etablierte den Begriff mit der Überschrift seiner Abhandlung über die Konzeptkunst „From the Aesthetics of 49 Viele anderen Künstler haben sich im Zusammenhang mit Schrift als Gedächtnissystem mit Erinnerung auseinandergesetzt, wie On Kawara, Christof Boltanski, Hanne Darboven und Magdalena Jetelowá. Andere haben sich am kollektiven Gedächtnis der Fotografie bedient wie Thomas Demand und Mathias Wähner, der den räuberischen Moment, der dem Akt des Fotografierens anhaftet in einem Akt der Aneignung historischer Momente fortsetzt. Die individuelle Erinnerung wird so der kollektiven implantiert. „Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbitterliche Verfliessen der Zeit.“ Susan Sonntag. Über Fotografie. Frankfurt am Main 1980. Org. New York 1977 S.21 1. Kunst als Erinnerung „ Jede Kunst kommt aus der Erinnerung. „Mein früheres Leben ... durchdringt alles, was ich mache. Man muss seine Geschichte erzählen, und man muss seine Geschichte vergessen.“ Wenn jede Kunst aus der Erinnerung kommt, ist das Körpergedächtnis angesprochen. Das Körpergedächtnis ist ein genetisches, ein biografisches, ein sich erinnerndes und ein kulturelles. Ein Künstler geht nicht in die Erinnerung zurück, er holt sie in die Gegenwart. Das ist das Entscheidende: Die Erforschung des Selbst aus einem Bewusstsein und Denken von Gegenwart.“ Rede zur Eröffnung des Hamburger Architektur Sommers 2006 1.1. Reflexion der Kindheit Bei Louise Bourgeois Louise Bourgeois ist eine Künstlerin, die ihr gesamtes Werk aus der Reflexion ihrer Kindheit heraus entwickelt hat. Die Kuratorin und Autorin Mary Jane Jacob meint sogar, keine andere Künstlerin im 20.Jahrhundert habe mehr von ihrem Leben als Quelle ihrer Kunst offenbart als Louise Bourgeois.90 Sie kehrte ihr Innerstes nach außen: „Ob etwas privat oder öffentlich ist, spielt für mich keine Rolle, “doch „privates und Privatsphäre sind für mich verschiedene Dinge.“91Sie arbeitete an ihren innersten Verletzungen und machte sie zum Thema ihrer Kunst, griff freudianische Klischees auf um ihner habhaft zu werden. „Ich bin eine Frau ohne Geheimnisse. Schon deshalb, weil mein Leben Tag für Tag die Vergangenheit auslöscht.“ Louise Bourgeois kommt in ihrer Kunst auf Erkenntnisse, die die Neurowissenschaften als selbst modifizierende Kräfte des Gedächtnisses Administration to Institutional Critique“ 90 Mary Jane Jacob. Papier Pleins – Pensées- Plumes – Paroles Privée. In: Louise Bourgeois. Galerie Karsten Greve. Köln. Paris. Milano. St.Moritz 1999. S.126 91 Louise Bourgeois in einem Interview in: Christiane Meyer-Thoss,. Louise Bourgeois. Zürich 1992 50 Abb. 54: Louise Bourgois portraitiert von Robert Mapplethorpe. 1982 bezeichnet. Sie ist überzeugt: „»Privates« ist niemals ein Risiko. Das Private sollte verstanden, gelöst, verpackt und abgelegt werden.“ In ihren geräumigen Installationen, den Cells verarbeitet Louise Bourgeois das Grundthema Schmerz. „Die Cells stellen verschiedene Sorten von Schmerz dar: den physischen, emotionellen und physischen, mentalen und intellektuellen Schmerz. ... Jede Zelle befasst sich mit der Angst. Angst ist Schmerz. Oft wird sie nicht als Schmerz wahrgenommen, denn sie tritt oft verkleidet auf.“ Die Metapher der Zelle weist direkt auf das ihr eingeschriebene Körpergedächtnis hin. So materialisiert Bourgeois ihr Körpergedächtnis in dieser Installationsserie. Abb. 55 : Cell (Choisy). 1990 -3. Metal, glass and marble. 302.3 x 368.3 x 304.8 cm. Collection: Ydessa Hendeles Art Foundation.Toronto. Abb. S6 : The Banquet – A Fashio Show of Body Parts. 1978. Performance mit Louise Bourgeois und Gert Schiff. Doch hat sie auch einige Performances veranstaltet wie die Banquets, an denen sie namhafte Vertreter der New Yorker Kunstszene beteiligte. Die Performance ist hier mit der Installation Confrontation kombiniert. So bewegt sich Bourgeois auf verschiedenen Ebenen, die zum einen durch die Darstellung verschiedener Geschlechtsattribute, die nicht eindeutig dem Männlichen oder Weiblichen zugeschrieben werden, „ eine Verschiebung und Verwirrung von Geschlechterdefinitionen und parodiert damit das ‚uralte Drama’ von Liebe, Leidenschaft und Tod. Zum anderen bringt sie die Vertreter der etablierten New Yorker Kunstszene dazu, in ihren eigenen Särgen platz zu nehmen, und verspottet so unter Einbeziehung autoritätskritischer Ausdrucksformen wie Punk die Machthaber eines Systems, mit dessen diskriminierenden Ausschlussverfahren sie selbst konfrontiert war.“ Natürlich verschränken sich, wie in jedem künstlerischen Werk verschiedene Themen so auch bei Bourgeois, die man durchaus, im feministischen Diskurs der performativen Geschlechtsidentität92 betrachten könnte. Doch möchte ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, um den roten Faden nicht noch mehr zu überspannen. Dieser kunsthistorische Interpretationsansatz kann sicherlich auch an meinen Arbeiten zu interessanten Theorien führen. Doch ist mein Fokus auf die Praxis gerichtet. 92 die von Judith Butlers Theorien maßgeblich geprägt ist. Vgl. Wenner Stefanie Hg. / Sasse Sylvia.Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung. Bielefeld 2002 51 1.2. Take a Position in Relation to Your Works Abb. 57 : take a position in relation to your works. war der Auftrag, den ich von meinem Partner im Projekt comutation.de erhielt. Dahinter steckte die Idee die eigene künstlerische Arbeit in Frage zu stellen und sich selbst zu bewerten. Fotografien 40 x 40. München 2000. So zeige ich in einigen Fotoarbeiten aus der Serie take a position in relation to your works mich im Moment der Schwangerschaft in Beziehung gesetzt zu älteren Arbeiten. Ich stelle mich zu meinen früheren Werken in den Positionen, die meiner Interpretation nach den Zusammenhang am deutlichsten aufdecken. Die körperliche Positionierung entspricht meiner Erinnerung an die Situation der Werkherstellung. Die Arbeiten sind mit Selbstauslöser fotografiert. Die Spiegelung der Szenerie in den Atelierfenstern ersetzte mir einen Spiegel. Die Handlungsabläufe waren präzise kontrolliert. Auch eine meiner jüngeren Arbeiten beschäftigt sich ganz direkt mit dem weiblichen Körper der Mutter. In der Form der russischen Holzpuppen ist diese Figur in Gips gezogen. Sie wurde bisher nur als Modell gezeigt. Die Größe ist so gewählt, dass eine erwachsene Person darin Platz findet. Demnächst wird die Matrioschka als begehbare Figur in einer Installation gezeigt werden. Hierbei geht es mir in der Untersuchung unter vielen anderen Aspekten um die Wahrnehmung des sehr beengten Innenraums. 52 Abb. 58 Matrioschka. Gips 1,85 x 0,95m München 2006 Akademiegalerie-Galerie,. Polymeregips 2005. 2.Kindheit und Erinnerung Der Geschmack der Madeleine in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschwört unzähligen Details der Kindheit der Hauptperson herauf. Proust richtet seine Aufmerksamkeit in der Beschreibung des Erinnerns auf die Erkenntnis, dass die sinnliche Erfahrung den Auslöser seiner zeitlichen Wahrnehmungsdimensionen ausmacht, und damit liefert er eine detailreiche poetische Darstellung eines Körpergedächtnisses mit seinen sensorischen und neurologischen Abläufen. Erinnerung ereignet sich nicht ontologisch, sondern in einer Wiederherstellung zahlreicher sensorisch wahrnehmbarer Faktoren. Genau diese Phänomene möchte ich in ihrer künstlerischen Verarbeitung im Folgenden untersuchen. Abb. 59 : Pipilotti Rist. Das Zimmer. 1994/2000 Video Installation rTelevision Monitor, 10 Pipichannels, crossbar, sofa (red), armchair, lamp, pictures,remote control,(all larger than lifesize, exept television.) Abb. 60 : Kinderwagen x 1.7. Edelstahl, Gummi, Holz, Schaumstoff. Diplomausstellung der Akademie der Bildenden Künste München 2006. 2.1. Pipilotti Rist Die 1962 in der Schweiz geborene Video- und Computerkünstlerin Pipilotti Rist macht in ihren Videos und Installationen oft den Körper zum Thema. Die verzerrten und gestörten Bilder werden meist in einer extra geschaffenen Umgebung ausgestrahlt. Eindrücke verdauen ist eine Arbeit, die sich im Titel an eine Redewendung anlehnt. Hier wird wie so oft eine Weisheit aufgedeckt, die jedem Körper in seinem zweiten Gedächtnis innewohnt. Pipilotti Rist zeigt hier die Aufnahme einer Magenendoskopie auf einem Bildschirm, der sich in einem gelben Badeanzug befindet. Grenzüberschreitungen und Provokation gehören zu ihrem Programm. Wie sie in der Thematisierung der, für westliches Empfinden intimsten aller Situationen beschreibt: „ Bei meiner Arbeit Closet Circuit (2000) ist eine Infrarotkamera unter der WC-Schüssel installiert. Sie filmt durch einen Glasboden und spielt die Bilder in Direktübertragung auf einen Monitor vor dem WC. Die Besucherinnen und Besucher erneuern und generieren selber das Bild: ob sie sitzen, sich erleichtern oder spülen.“93 Hier geht es Rist um öffentliche Videokunst, dessen Quellenmaterial sich ändert und um eine, zu einem gewissen Grad erweiterte oder geteilte Autorenschaft. Von der Videoinstallation Das Zimmer, in der sie dem Besucher eine Perspektive aufzwingt, die ihn auf Kindesgröße schrumpfen lässt, wurde 93 Aus einem Interview von Tim Zulauf mit Pipilotti Rist, geführt, am 22. Juni und 2. September 2005. http://www. stadtkunst.ch/0/5/22/82/ 2007. 53 mir berichtet, als ich über den Bau des überdimensionierten Kinderwagens nachdachte. Die 1995 im Hamburger Kunstverein vorgestellte Installation mit den überdimensionierten Möbeln wird von einer integrierten Überwachungskamera gefilmt und zugleich auf den Monitor gespiegelt und versetzt den Besucher so in eine rätselhafte Realitätswahrnehmung. Die Installation wirkt durch die Maßstabsverschiebung, die den Betrachter physiologisch in eine seiner Kindheit ähnliche Situation versetzt, sicherlich auch auf die Erinnerungsfähigkeit. Doch geht es der Künstlerin hier, wie sie selbst betont, vor allem um die Idee „Museumsräume als erweiterte, übergreifende und kollektivierte Privaträume.“94zu nutzen. Im Gegensatz zu meiner Arbeit Luftlinie, in der ich von der Wahrnehmung eines Säuglings ausging, um zu untersuchen in wie weit sie beim Betrachter Erinnerungen an diese Zeit hervorruft. .. Körper ist für mich ein vielschichtiges Symbol. ... Klar bin ich Feministin im realpolitischen Sinne, aber für mich bezieht sich das Werkzeug Körper nicht nur auf die Genderdiskussion. Dieses zwanghafte Systmologisieren ist eine Eigenschaft der Wissenschaft. Ich empfinde meine Arbeit kastriert, wenn sie auf die Genderfrage reduziert wird. ... Der Körper mit seinen Fähigkeiten ist immer das Grösste, das Zentrum. Pipilotti Rist in einem Interview mit Alexander Pühringer:.2001, S.58 2.2. Das Kunstwerk in Kommunikation Bei Margarete Hentze Zum Thema Kindheit und Erinnerung habe ich einige Arbeiten entwickelt. Aktuell arbeite ich gerade an großformatigen Papierreliefs, die die Projektionsfläche für Diaprojektionen bilden. Die Aufnahmen entstehen aus der Perspektive eines Kleinkinds und sind in der Projektion hochvergrößert, so dass der erwachsene Betrachter im Größenverhältnis zum Stilleben dem Kleinkind entspricht. Die abgebildeten Gegenstände und die Situationen sind dem Alltag entnommen und haben Symbolcharakter. Bewegt sich der Rezipient in den Lichtkegel der Projektion und verdeckt mit seinem Schatten das Bild, erscheint an dieser Stelle das reine Papierrelief. Je nach Abstand zwischen Projektor und Relief wird der Schatten größer oder kleiner. Durch seine physische Präsenz, die sich durch seinen Schatten im Bild materialisiert, hat der Betrachter direkten Anteil am Kunstwerk. Es entstehen vielfältige Ebenen, von denen aus die Gesamtsituation wahrgenommen werden kann. Abb. 61 : Margarete Hentze. Diaprojektion auf Papierrelief. 1,50 x 2,00 München 2007. 94 Ibidem Rist 2005. 54 3. Tradition und Gedächtnis Beine und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen. Marcel Proust „In meiner Arbeit wird das Körpergedächtnis sichtbar; es handelt sich nicht um ein virtuelles Leben sondern vielmehr um konkretes Empfinden. Die Empfindungen werden durch das l’objet relationnel verursacht, neu belebt und transformiert oder durch direkte Berührung der Hände. Wenn es mit dem Körper in Kontakt ist, lässt das das l’objet relationnel durch seine physischen Qualitäten das affective Gedächtnis auftauchen, das Erfahrungen verborgen halten kann, die die verbale Erinnerung nicht aufdecken kann.“ Lygia Clark über das L’objet relationnel. Memoir de corps. Aus: Lygia Clark. Barcelona 1998. übers. M. Hentze S.326 Das Gedächtnis erfindet das Selbst in jedem Moment neu, indem es unterscheidet, was für die Zukunft weiterhin bedeutsam sein könnte und verwirft, was nicht. Das Gedächtnis erinnert und vergisst also gleichzeitig. Um dem Vergessen entgegen zu wirken, bilden menschlichen Kulturen immer aufs Neue Denkund Handlungsmuster in Sitten und Gebräuchen aus, die als Tradition von einer Generation zu nächsten weitergegeben werden. Diese Überlieferungen können in mündlicher oder schriftlicher Form religiöse, ethische, wissenschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Inhalte haben, die heute meist über komplizierte Bildungssysteme vermittelt werden. So lässt sich Tradition also als gemeinschaftliches Gedächtnis definieren. Die folgende Künstlerin habe ich ausgesucht, da ihr Werk explizit darauf ausgerichtet ist, das Körpergedächtnis des Betrachters zu animieren. Doch ist ihre Herangehensweise selbstverständlich durch ihren kulturellen Kontext geprägt, der sich auf ihr gesamtes Werk auswirkt. 3.1. Lygia Clarks körpertherapeutischer Ansatz Abb. 62 Lygia Clark: Baba antropofágica 1973. Die Teilnehmer überspannen die am Boden liegende Person mit Fäden, die sie sich aus dem Mund ziehen. Mit einm Spinnennetz gleich wird die ‚Beute‘ ins Kollektiv geholt. Lydia Clark (*1920-1988 in Rio de Janeiro) ist eine brasilianische Künstlerin, deren Frühwerk in den 50er Jahren konstruktivistisch von ihren Lehrern Arpad Szènes und Fernand Léger beeinflusst ist. Ihr kultureller Hintergrund, der von einer Europäisierung lateinamerikanischer Mischkultur geprägt war, in der sich die verschiedenen Einflüsse vorkolonialer afrikanischer und indianischer Einflüsse der Tupi-Stämme95 mit der durch die Koloisierung geprägten Traditionen überkreuzen, wurde in ihrem Spätwerk zu einem wichtigen Bezugspunkt. In den 70er Jahren begann sie gleichzeitig mit ihrer Lehrtätigkeit an der Sorbonne in Paris, Fragen nach dem Raum des kollektiven und nach kulturellem Austausch performativ zu verarbeiten. Mit ihrer Performances Baba antropofágica und Canibalismo, die sie 1973 in Paris und São Paulo inszenierte, untersuchte sie in körper- und 95 Die Anthropophagie der portugiesischen Sprache propagierte Oswald de Andrade, der in Anspielung auf die Tupi-Sprache der Indios den berühmten Satz prägte: „Tupi or not tupi, that is the question“. Mit dem Manifesto Antropófago wird ein revolutionäres Programm verfasst, das europäische Technologie und Wissen kanibalisch assimiliert. Revista de Antropofagia, Ano 1, No. 1, maio de 1928 55 sinnesbezogenen Handlungen unter den Teilnehmern Kollektivbildung. Dabei griff sie auf den Topos des Kannibalismus zurück. In dieser Performance ist ein reglos am Boden liegender Körper mit exotischen Früchten bedeckt, die nach und nach von den ringsum sitzenden Teilnehmern mit verbundenen Augen verspeist werden. Dieses Ritual der gemeinsamen Nahrungsaufnahme erinnert an gemeinschaftsbildende Traditionen im totemischen Mahl oder im christlichen Abendmahl, das den Zweck hat einen Kollektivkörper zu formen. „ Die kannibalische Metapher des Verschlingens als Ausdruck für Kommunikation,wird gewissermaßen wörtlich genommen und in eine Inszenierung überführt, die das Körpergedächtnis aktiviert.“96 In der Performance L’Objet Relationnel verfolgt Lygia Clark die Absicht durch das Berühren des Körpers mit den l’objets relationnels, die Körpererinnerung des Teilnhmers zu wecken. Ende der 50er Jahre beginnt Lygia Clark schon Objekte zu bauen, die den Betrachter mit einbeziehen. Ihr Interesse an therapeutischen Möglichkeiten von Kunst ist offensichtlich. Die späten interaktiven Arbeiten enthalten zwar Elemente von Happening und Performance, sind aber wohl eher Versuche, sich entlang der feinen Trennungslinie zwischen zeitlich und räumlich fixierter Kunst einerseits und Psychotherapie andererseits zu bewegen. Seit 1978 widmete sie sich ausschließlich ihrer psychoanalytischen Praxis.97 Abb. 63: Lygia Clark: Canibalismo 1973 in: Ausstellungskatalog Lygia Clark: Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997. 302. „.. unser Augenmerk muss sich von der Botschaft, als 4. Partizipation und Körpererinnerung Auf die Entwicklung von partizipatorischen Praktiken in der Kunst möchte ich im Folgenden kurz eingehen, um mir einen Überblick in einem praktischen Bereich zu verschaffen. 4.1. Die Veränderung der Wahrnehmung durch eine Beteiligung am Kunstwerk ist nachzuvollziehen, wenn man die lange Tradition bedenkt, in der sich Künstler wie auch Rezipienten bewegen. Interaktion, Partizipation und Kommunikation sind zentrale Begriffe und Konzepte in der Kunst des 20. Jahrhunderts, die Werk, Rezipienten und den Künstler in ein bis dahin ungewohntes kommunikatives Verhältnis setzen. 96 Inge Baxmann in Sylvia Sasse/ Stefanie Wenner Hg. Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung. Bielefeld 2002. S,61 97 http://www.universes-in-universe.de/doc/clark/d_clark4.htm 56 einem objektiven System möglicher Informationen, auf die kommunikative Beziehung Botschaft und Empfänger zwischen verlagern: eine Beziehung, bei der die interpretative Entscheidung des Empfängers den effektiven Wert der möglichen Information konstruiert...Will man aber die Bedeutungsmöglichkeiten einer kommunikativen Struktur untersuchen, so kann man vom Pol »Empfänger« nicht absehen. Sich in diesem Sinne mit dem psychologischen Pol zu beschäftigen, bedeutet die Anerkennung der.. formalen Möglichkeit, dass eine Botschaft vielleicht nur Sinn hat, sofern sie durch eine gegebene Situation (eine psychologische und damit geschichtliche, soziale, anthropologische im weitesten Sinne) interpretiert wird.“ Eco. Das offene Kunstwerk S.132 f Das offene Kunstwerk Umberto Eco kommentiert sein Offenes Kunstwerk in der 2.Auflage als eine Aufsatzsammlung nicht allein über theoretische Ästhetik sondern auch über Kulturgeschichte – genauer: über die Geschichte der Poetiken wobei er unter »Poetik« die Untersuchung der sprachlichen Strukturen eines literarischen Werkes versteht sowie auf alle Kunstgattungen übertragen die Untersuchung des künstlerischen Tuns ... der Modalität jenes Produktionsaktes, der ein Objekt in Hinblick auf einen Konsumtionsakt konstituieren möchte. (S.10) Abb. 64 : El Lissitzky. Prounenraum, 1923. reconstructie 1971. Prounenraum, 1923 reconstructie 1971. 320 x 364 x 364 cm Astrid Wege erzählt in dem Artikel über Partizipation eine Anekdote über Duchamp, der 1919 seiner Scxhwester ein Geometriebuch gab, das sie an einem Faden auf dem Balkon aufhängen sollte, so dass der Wind „ das Buch durchblättern, sich seine eigenen Probleme aussuchen, die Seiten umwenden und herausreißen“ könnte. Duchamp nannte es ein Ready-made malheureux“, Wie auch bei den anderen Ready-mades sind die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption durchlässig.. Orginal und Autorenschaft treten in den Hintergrund zu Gunsten der Beteiligung des Betrachters am Kunstwerk..100 Der Weg führt weg vom abgeschlossenen Werk hin zum »offenen Kunstwerk«, vom statischen Objekt zum dynamischen Prozess, von der kontemplativen Rezeption hin zur aktiven Partizipation. Mitte des 20. Jahrhunderts wird Prozesskunst als das offene Kunstwerk zum Programm der Avantgarde, die nun die Partizipation des Betrachters in der Rezeption eines jeden Kunstwerks voraussetzt. 4.1.1. Mallarme: Idee einer prozessualen Kunst Der französische Dichter und Mitbegründer des Symbolismus Stéphane Mallarmé verwendet schon Ende des 19. Jahrhunderts permutative, aleatorische Elemente, um der Idee einer prozessualen Kunst Ausdruck zu verschaffen, die den Leser in die Werkgestaltung mit einbezieht98. 4.1.2. El Lissitzkys Demonstrationsräume Die Anfänge der Partizipation als Methode der Avantgarde, dem Publikum die Kunst näher zu bringen, beginnen wohl mit Dada sowie dem russischen Konstruktivismus und Produktivismus El Lissitzky beschreibt 1926 die Absicht seiner Demonstrationsräume: „so soll unsere Gestaltung den Mann aktiv machen. Dies sollte der Zweck des Raumes sein. ... Bei jeder Bewegung des Beschauers im Raume ändert sich die Wirkung der Wände. ... Er ist physisch gezwungen, sich mit den ausgestellten Gegenständen auseinanderzusetzen.“ Die bewusste physische Aktivierung des Betrachters zur Vervollständigung der Arbeit ist „Lissitzkys eigentliche Neuerung ... - sowohl jener der Ausstellung wie des Werks. Ohne das zeitliche, an die Bewegung gebundene Moment bleibt die Konstruktion unvollständig, ohne den Menschen, der sich physisch einbringt und sozusagen an der Ausstellung ‚arbeitet’, verschwindet das Werk.“99 4.1.3. Duchamp: Reardy-mades gelten als prägend für Entwicklungen des Fluxus und Conceptual Art, da die Grenzen zwischen Produktion, Autor und Rezipient durchlässig sind und „können auch als entfernte Vorläufer eines partizipativen Ansatzes bezeichnet werden.“100 Die rein visuellen Erfahrungen beim Betrachten von Kunst wird durch 98 Kindlers 99 Sotirios Bahtsetzis nach Birnholz 1980, S. 98. http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2006/1305/pdf/bahtsetzis_ sotirios.pdf 2007 100 Astrid Wege. Partizipation. in: Hubertus Butin hg. DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln 2002. S.236-240. 57 Dynamik und Wechselseitigkeit abgelöst. Je nachdem, wie die Präsentation strukturiert ist, verhält sich auch der Betrachter distanziert oder beteiligt. Der Unterschied zwischen Autor und Publikum löst sich langsam auf. Oft treten die Künstler mit einer ideologischen Ambition auf Veränderung an den Betrachter heran. Buchloh bezeichnet ihre Intentionen als revolutionär motiviert mit dem Ziel der „Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis“, oder als reformatorisch zur „Demokratisierung der Kunst oder auch spielerisch, didaktisch, wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernd motiviert.“101 4.1.4. Die Cage Schule Mit dem 2. Weltkrieg brechen diese Entwicklungen abrupt ab und gehen nach Beendigung der Nazidiktatur anfänglich in den USA weiter. Partizipatorische Methoden tauchen besonders im Zusammenhang mit der Cage-Schule auf. Die 1950 entstandenen offenen Partituren von John Cage, die unterschiedliche Ausführung der Musikstücke erlauben, sind in der Kunstszene wegweisend. Rauschenberg stellte mit den White Paintings (1951) seine Autorenschaft in den Hintergrund und bot dem Schatten des Betrachters und seiner Umgebung auf der Leinwand Platz. Ein Jahr später führte John Cage seine berühmte Komposition 4’33“ auf, die der andauernden „Stille“ als »Aggregatszustand des Realen« Raum gab, der von den Geräuschen der Zuschauer gefüllt wurde. Das Publikum produziert zwar diese Geräusche, ist aber noch nicht wirklich aktiv. 4.1.5. Happenings und Fluxnusbewegung Viele weitere Künstler der Fluxusbewegung und des Happenings bedienten sich in der Folge partizipatorischer Praktiken, wie Rauschenberg, der 1961 Besucher dazu einlud in seinem Black Market Alltagsgegenstände aus einem Koffer zu tauschen und um damit die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, oder Robert Watts, George Brecht und Allan Kaprow, die 1957 einen Förderantrag zum Project in Multiple Dimensions stellten, das die Interaktion zwischen, Wissenschaften und künstlerischen Ideen, als Formulierung der tactilen und olfaktorischen Spektren beinhaltete.102 Kaprow definierte ästhetische Erfahrung als Partizipation. Handeln wird zur Bedingung von Erfahrung für ein Zustandekommen des Happenings. Die 101 Christian Kravagna. Arbeit an der Gemeinschaft Modelle partizipatorischer Praxis. 1998 in: Marius Babias/ Achim Kšnneke Hg. Die Kunst des Öffentlichen. Dresden 1998. Zitiert nach Benjamin Buchloh, „Von der Faktur zur Faktografie“, Durch, 6/7, 1990, S. 9. 102 Vgl. Lars Blunck. Between Objects & Events. Weimar 2003. 58 Als »Kunstwerk« definiert Eco einen Gegenstand mit bestimmten strukturellen Eigenschaften ... , die den Zugang der Interpretation, die Verschiebung der Perspektiven, zugleich ermöglichen und koordinieren. Ecos Begriff »Offenes Kunstwerk« meint ein hypothetisches Modell, das zwar an Hand zahlreicher konkreter Analysen ausgearbeitet wurde, aber eben doch nur dazu dient, mit einer bequemen Formel eine Richtung der modernen Kunst zu bezeichnen. (S.12) In der Beziehung Produktion-Werk-Konsumtion stellt Eco dann ein konstantes Modell des offenen Kunstwerks auf, das die Struktur der Rezeptionsbeziehung sowie die mehrdeutige Konsumierung interpretiert, und diese Beschreibung der kommunikativen Strukturen nur der erste unumgängliche Schritt für jede Untersuchung sein kann, die diese Strukturen dann in Bezug zu dem weiteren Hintergrund des in der Geschichte eingefügten Werkes setzen will. S.19 Eco definiert also Offenes Kunstwerk als Vorschlag eines »Feldes« interpretativer Möglichkeiten, als Konfiguration von mit substantieller Indeterminiertheit begabter Reizen, so dass der Perzipierende zu einer Reihe stets veränderlicher »Lektüren« vernlaßt wird; Struktur schließlich als »Konstellation« von Elementen, die in wechselseitiger Relationen eintreten können. Eco überarbeitete die Ausgabe von1962 in der er, wie er selber sagt, sich „noch in einem praesemiotischen Umfeld“ bewegte mit dessen Begriffsinstrumentarium er arbeitete wie zum Beispiel der Informationsthorie, der Richardsche Semantik, Piagets, MerleauPontys, und dertransaktionalen Psychologie. In der Überarbeitung 1967 fließen Begifflichkeiten von Jakobson, den russischen Formalisten, Barthes und dem französischen Stukturalismus mit ein. Eco. Grenzen der Interpretation. S.33 Handlungen sind meist der alltäglichen Praxis entnommen, und bekommen im kollektiven Ausagieren spielerische, ästhetische Qualitäten. 4.1.6. Die Funktion Der Kritik in der partizipatorischen Praxis Oft geht es in den Postulaten um eine Selbstkritik der Kunst, um die Infragestellung des Autors oder um eine Kritik an der Distanz der Kunst zum Leben und der Gesellschaft. In den 60er und 70er Jahren setzten Künstlerinnen wie Yoko Ono mit Cut Piece (1964) oder Valie Export mit Tapp- und Tastkino (1968) und Marina Abramovic mit Rythm 0 (1974) ihren Körper in Verbindung mir feministischen Fragestellungen ein. Zahlreiche bedeutende Künstler wendeten diese partizipatorischen Mittel an, wie die die Künstler im Umfeld der Wiener Aktionisten, solche die institutionskritische Ansätze wie oben schon erwähnt verfolgen und viele, die den öffentlichen Raum mit einbeziehen wie das New Yorker KünstlerInnenkollektiv und viele andere, die auf politische und soziale Fragestellungen einwirken. 4.2. gelatin: Eine persönliche Angelegenheit Ich beschränke mich nun darauf, den spielerischen Ansatz der österreichischen Künstlergruppe Gelatin näher zu beschreiben. „Freud-voll taktiert das Kollektiv in guter Wiener Aktionismus-Tradition orgiastisch und einfallsreich Tabus und gesellschaftliche Konventionen, “doch kommt es „ganz ohne das ‚Provokationsgetöse’ (Birgit Sonna)“103 ihrer Vorgänger aus. Ihre Herangehensweise erinnert an das Aushecken jugendlicher Streiche, die mit viel Spaß und in wagemutigen Aktionen alle nur erdenklichen Phantasien in die Tat umsetzen. So haben Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban seit 1995 zahlreiche ungewöhnliche, sinnliche, und surreale Installationen und Performances veranstaltet. Vor kurzem änderten sie ihren Namen in gelitin, aus dem einfachen Grund eines Druckfehlers auf einem Stempel. Einer der Künstler kündigte die bevorstehende Installation 2001 im Münchner Marstall als „eine extrem intime persönliche Angelegenheit [an], die immer nur von einer Person pro Durchlauf benutzbar ist“, denn sie „saugt, schluckt, quetscht und drückt und macht Liebe mit dir“.104 Unter dem Titel Schlund, hatten die Besucher frisch geduscht, geölt und in 103 KUB Programm 06.02. Kunsthaus Bregenz.2006 104 Alberto Saviello. http://www.kunstmarkt.com/pagesmag/kunst/_id28851-/news_detail.html?_q=%20 59 Badehosen die Gelegenheit sich durch einen zehn Meter langen Kanal aus entkleideten fettleibigen, weichen, glitschigen Leibern gleiten zu lassen. „Also Augen zu, Arme über den Kopf und fallen lassen - in die menschliche Röhre hinein, die einen nach unten durchpresst wie durch einen Geburtskanal. ... Doch vierzig Sekunden Preisgabe an anonyme, gleichzeitig intime, öligschweißige Berührungen wirken offensichtlich befreiend. ...“105 „Augen zu und durch! Selten hat sich ein freundschaftlicher Ratschlag so bewährt, wie in diesem düstren, ziemlich »aussichtslosen« Moment. ... Drei bis fünf Minuten gleitet man, die Füße voran und mit hochgestreckten Armen, durch den Schlund. Es ist warm, es ist soft, es ist schlüpfrig, und es wirkt natürlich irgendwie euphorisierend. Selbst der anfängliche Ekel verschwindelt wie durch ein Wunder und kehrt nur für einen desillusonierenden Moment zurück. Unverzeihlich, dass man für eine Sekunde die Augen Das Weltwunder In Between war ein Projekt auf der EXPO 2000 in Hannover. Die Besucher mussten in ein in der Wiese eingelassenes Becken springen und durch ein geflutetes Rohr tauchen um in eine unterirdische Kammer zu gelangen. Um mit der einmaligen Erfahrung „seiner Lust an der Angst und Erleichterung über den glücklichen Ausgang“ belohnt zu werden muss sich der Ausstellungsbesucher „körperlich engagieren und sich vor allem den technischen Konstruktionen sowie der Verlässlichkeit der beteiligten Akteure überantworten. Das Risiko des Gelingens liegt dabei nicht allein auf Seiten der Besucher. Nur wenn die Fantasien der Künstler so einladend sind, dass die Besucher ihre Wunschwelten teilen möchten, entsteht jene Magie des Augenblicks, die uns Dinge tun lässt, von denen wir Stunden vorher nicht glaubten, sie einmal zu durchleben.“106 geöffnet hat.“ 4.3. Körperliches ENgagement gegen Die Hemmschwelle Die Hemmschwelle zu überschreiten und sich auf eine scheinbar unbekannte Situation einzulassen, scheint mir bei gelitin weitaus spektakulärer zu sein als in meinen aus dem Alltag entnommenen Situationen. Im Gegensatz zu der dort zu Überwindenden Hemmung, versuche ich mit subtileren Mitteln wie der Verschiebung von Perspektiven die Neugierde an der Situation zu wecken, die dann die eigene Wahrnehmung und Erinnerung der Person in den Vordergrund rückt. Die Aktivierung des Körpers als Ausgangspunkt von Beteiligung ist mir sehr wichtig. Als Einstimmung auf das eigentliche Kunsterlebnis habe ich in meiner Diplomarbeit Erwachsene Tür die Türklinke zum Akademieatelierraum so weit 105 Eva Karcher. tagesspiegel. Kultur. 28.03.2001. 106 https://interhost.siemens.de/artsprogram/projekte/bildende_kunst/archiv/2002/gelatin/index.php?PHPSESSID =a8212f430f9c85d7377b69efaeeb96fc#top 2007 60 Birgit Sonna . SZ Münchner Kultur 19.3. 2001 Abb. 65 : Schlund Marstall, München 2001. nach oben versetzt, dass sich ein Erwachsener wie ein Kind strecken musste, um die Tür zu öffnen. Der Besucher trat nun in einen Raum, der der kleinen Handlung beim Türöffnen entsprach. Im dahinter liegenden Raum befand sich ein überdimensionierter Kinderwagen, vor dem der Betrachter kindhaft klein erschien. Auch die Raumgestaltung war auf diese Wahrnehmung ausgerichtet. Abb. 66 Erwachsene Tür. Diplomausstellung der Akademie der Bildenden Künste München 2006. Die Tür war die Barriere zum dahinter liegenden Raum. Der Betrachter wurde sozusagen körperlich auf die folgende Situation eingestimmt. Die „kindliche Neugier“ kann nur mit einer kleinen eigenen Anstrengung befriedigt werden. In mehreren Aktionen kam es zur tatsächlichen Benutzung des Kinderwagens. Es gab Spazierfahrten im Rahmen mehrerer Ausstellungen. Es ergaben sich durch die Konstellation von Geschobenem und Schiebenden unterschiedliche Beziehungen und damit auch Rezeptionsansätze. Besonders ergiebig war: erwachsene Tochter schiebt Mutter und umgekehrt - Ehefrau schiebt Ehemann und umgekehrt - Mutter mit Kleinkind wird geschoben. Zu den Momenten der Erfahrung von Körpererinnerung kommen die der Reflexion, der eigenen Positionierung und der Gesellschaftskritik. Für 2007 sind Spazierfahrten im Stadtzentrum, eine Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Tageswanderungen und kleinere Reisen geplant. Bislang gab es nur Fahrten, bei denen Freunde und Bekannte beteiligt waren. Herauszufinden gilt es nun in welchem Rahmen fremde Personen beteiligt werden können. Abb. 67 :Als das Kind Kind war. Spazierfahrten in der Fussgängerzone Landshut und im Englischen Garten München 2006 61 D.Resumée: Was ich mit meiner Kunst will Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Gedächtnis und die Untersuchung der einzelnen Auffassungen im Laufe der Geschichte haben meine Vermutungen und Überzeugungen, dass eben diese Nachwirkungen für jeden einzelnen in unterschiedlichem Ausmaß relevant sind, immer wieder bestätigt. Mir war zu Beginn dieser theoretischen Arbeit wichtig mich auf den Spuren meiner eigenen Erinnerung auch im Detail mit den Entwicklungen zu beschäftigen, um sie mir einerseits in der hier geordneten Form als künstliches Gedächtnis und damit als erweiterten Fundus für meine zukünftigen Arbeiten nutzbar zu machen und zum anderen um zu zeigen, wie sehr unser individuelles Gedächtnis durch das kulturelle Umfeld beeinflusst ist. Trotzdem wird Gegenwart in unserem Bewusstsein immer reflektiv wahrgenommen. Das bedeutet, dass wir jede Situation im Rückbezug auf schon Bekanntes untersuchen und bewerten, um uns eine optimale Zukunftsprognose zu erstellen. Erinnerung ließe sich also als das Nachwirken von Vergangenheit in der Gegenwart mit einem vorausschauenden Blick in die Zukunft definieren. Für mich bedeutet Erinnerung die Wiederherstellung einer vergangenen Lebenstotalität. Das kann nur durch Kunst geleistet werden. Wissenschaftliche, soziologische oder psychologische Herangehensweisen interessieren mich sehr, können aber die Wiederherstellung von Lebenstotalität gerade nicht bewirken, weil sie analytisch immer nur Teilaspekte bearbeiten und nicht das Ziel haben, ein momentanes Gesamtbild zu erzeugen. Genau darum geht es mir aber. Ich arbeite an Themen, die vielseitige Perspektiven alltäglicher Dinge und Situationen behandeln. Diese Themenstellungen sind nur mit angewandten künstlerischen Mitteln zu beantworten. Ich bezeichne einige meiner Arbeiten als angewandte Kunst, weil der Betrachter die Objekte anwenden und für sich nutzbar machen kann. Durch die physiologische Partizipation des »Betrachters«, der auch als Anwender oder Nutzer bezeichnet werden könnte, ist eine unmittelbar körperliche Erfahrung möglich, die dann modifizierend auf das Gedächtnis einwirkt. Jean-Christophe Ammann formuliert: „Künstler arbeiten an ihrem genuinen Auftrag, die unbewusste kollektive Biographie ins kollektive Bewusstsein zu 62 Kunst und Wissenschaft erscheinen als komplementäre Versuche, die Bedingungen der Welt zu ergründen, die verschiedener nicht sein könnten. Künstler erforschen ihr innerstes Erleben, suchen Ausdruck für das Erkannte und fügen damit dem Vorgefundenen neue Wirklichkeiten hinzu, - Wissenschaftler sammeln und beschreiben das Vorgefundene, ordnen durch Trennen und Verbinden, decken Regelmäßigkeiten auf und formulieren Gesetze, lassen nur gelten, was durch Reproduzierbarkeit beweisbar ist, was funktioniert, oder zumindest für alle gleichermaßen nachvollziehbar ist, die sich an vereinbarte Regeln für die Beobachtung und Ordnung der Phänomene halten. Die einen geben Auskunft über ihre höchst private, also subjektive Welterfahrung, die anderen nehmen für sich in Anspruch, sie zeichneten ein objektives Bild der Welt. Und doch ist, was beide tun, so verschieden nicht. ... gemeinsam ist beiden, das - oft leidenschaftliche Verlangen, diese Beziehungen erfahrbar zu machen, Beschreibungen für das Unsichtbare, mit den Sinnen nicht unmittelbar Faßbare zu finden, gemeinsam ist beiden auch, ... die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen oder zu erfinden... Freilich kommen diese Kunstsprachen in Verkleidungen daher, die sie trotz ähnlicher Tiefenstrukturen unverwandt erscheinen lassen. Vermutlich verdankt sich das Aufdecken verborgener Bezüge,... immer den gleichen kognitiven Prozessen, einer Leistung unseres Gehirns, die wir als Kreativität ansprechen. ... Und so erzeugt die Suche nach dem Unsichtbaren neue Wirklichkeiten, die zum Vorwurf für weitere Forschung mutieren. Weder Wissenschaft noch Kunst können deshalb jemals am Ende sein, und weil sie die gleiche Welt zu ergründen suchen, tun sie gut daran, die Vorschläge des je anderen zur Kenntnis zu nehmen - ... . Wolf Singer. Kunst oder Wissenschaft. In: Bredekamp, Horst und J. Brüning/ C. Weber Hg. Theater der Natur und Kunst. Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin. MartinGropius-Bau Berlin 10.12.2000 - 4.3.2001. Henschel. Berlin 2000. S. 40-41 heben. Diese kollektive Biographie ist dem unbewussten Körpergedächtnis jedes Menschen eingeschrieben als Summe unserer genetischen, biographischen (sozialisierten), bewussten und kulturellen Erinnerungen.“107 Das Einbeziehen des Betrachters in das Kunstwerk selbst interessiert mich insofern, als es sich dabei um eine Kontextverschiebung handelt. Die aus dem Alltag entnommenen Situationen integrieren den Betrachter und machen ihn zum Teil des Ganzen. Er kann also das Kunstwerk nicht mehr nur distanziert genießen, sondern wird selbst zum Autor und kann sich damit das Werk mit den für ihn bedeutsamen Facetten aneignen. Es entstehen vielfältige Deutungsmöglichkeiten, die sowohl psychologische wie auch soziale, kommunikative und politische Momente beinhalten können. Aus einer neuen Perspektive betrachtet, können bislang unbeachtete Phänomene aufgedeckt werden. 107 Jean-Christophe Ammann, Ein Plädoyer für die Kultur, Sieben Thesen in: Kulturwirtschaft in Hessen,1. Hessischer Kulturwirtschaftsbericht, Wiesbaden 2003 63 Bibliographie: Aristoteles. Rolfes, Eugen Hg. Kleine naturwissenschaftliche Schriften. Leipzig 1924. Bauer, Joachim. Das Gedächtnis des Körpers. München 2007. Benjamin, Walter. Gesammelte Schriften. Bd.I 2. Hg: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974. Blunck Lars. Between Objects & Events. Weimar 2003. Bourgeois, Louise. Thomas Kellein Hg. Zur Ausstellung: Louise Bourgeois. La famille. 12. März bis 5. Juni 2006 in der Kunsthalle Bielefeld. Köln 2006. Brockhaus. Philosophie. Hamburg 2004 Butin, Hubertus Hg. DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln 2002. Clark, Lygia. Barcelona 1998. Curruthers, Marry. The Book of Memory. Cambridge 1993 Cicero, Marcus Tullius. De oratore. 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Seiten aus dem internet: http://de.wikipedia.org http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2006/1305/pdf/bahtsetzis_sotirios.pdf 2007 Descartes: http://www.textlog.de/35517.html ; 2007 Platon: http://www.opera-platonis.de/Phaidros.html ; 2005 Unbekanntes Wesen Gehirn: http://www.ebn24.com/?page=61&buch_id=1 ; 2007 Wolfgang Ullrich: http://www.ideenfreiheit.de/index.php ;2001 Interview G.Roth zitiert nach Stefan Weber 2001 in: Ist die Quantentheorie des Bewusstseins Humbug? http://www.heise.de/tvp/r4/artikel/4/4853/1.html 2007 65 Abbildungsnachweis: Abb. 1.: Margarete Hentze. Luftlinie_ein Spaziergang. Jahresausstellung der Akademie der Bildenden Künste München 2002. Foto: Julie Goll. Abb. 2 : Musen. The Mansell Collection, London. Aus: D.M. Field, Die Mythologie der Griechen und Römer, deutsche Übersetzung und Ausgabe, Zollikon /Schweiz 1977, S. 40. Bilderklärung: C. Gizewski. Abb. 3 : Bildnis eines Menschen an einem Gedächtnisort. Holzschnitt Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533. Abb. 4 : Die Sphären des Universums als Gedächtnissystem. Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533. Abb. 5 : Summa contra Gentiles de Saint Thomas d’Aquin. Florence; 1521. (TH 89/28) http://www.bm-lyon.fr/expo/virtuelles/jesuite/piliers2.htm Abb. 6 Die Weisheit Thomas von Aquins. Fresko von Andres da Firenze. Spanische Kapelle in Santa Maria Novella. Florenz. Aus:Yates. Abb. 7 Die Leiter des Aufstiegs und Abstiegs. Aus Raimundus Lullus, Liber de ascensu et descensu intellectus. Ausgabe Valencia 1512. Abb. 8 : Das „A“-Diagramm. aus: Raimund Lullus, Ars brevis. Opera, Staßburg 1617. Abb. 9 : Gedächtnissystem mit Abtei. Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533. Abb. 10: Bildalphabethe Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533. Abb. 11 Die Buße Aus: Romberch. Congestorium artificiose memorie. 1533 Abb. 12 : Die Hölle als künstliches Gedächtnis.. Aus Cosma Rossellius. Thesaurus Artificiosae Memoriae. Ausgabe Venedig 1579 Abb. 13 : Das Paradies als künstliches Gedächtnis.. ibidem Abb. 14 : Gedächtnissystem nach Giordano Bruno, De umbris idearum – Von den Schatten der Ideen. Paris 1582. aus: Yates Abb. 15 : Camille Flammarion, L‘Atmosphere: Météorologie Populaire Paris 1888. Abb. 16 : Das Gedächtnistheater des Giulio Camillo Delminio. Reconstruktion von Yates. Abb. 17 : Sebastian Brandt. Das Narrenschiff. Holzschnitt aus der Orginalausgabe. Hamburg und Berlin 1958. Abb. 18 : Armillarsphäre mit allegorischen Figuren. Aus: Theoricarum novarum. Georgij Purbachij. 1515 Abb. 19 : R.Fludds Buch De natura simia seu Technica macrocosmi historia in partes undecim divisa. Über den Affen der Natur oder technische Geschichte des Makrokosmos in 11 Teilen. Oppenheim 1618. Abb. 20 Internetforum: http://www.akademie.de/grundlagen-computer-internet/recherche/tipps/internet-recherche/index.html Abb. 21 : comutation.de. lothringer_13 halle.. München 2001. Foto: Clemens Büntig. Abb. 22 : www.comutation.de./dialogue./margarete_smike. 09.2000. Abb. 23 : Albertus Magnus www.pc.rhul.ac.uk Abb. 24 Die Vier-Säfte-Lehre. M. Hentze Abb. 25,26: Andreas Vesalius , Franz Gall, Phrenometer www.pc.rhul.ac.uk/.../ PS2080/L4/PS2080_4.htm Abb. 27 : Diagramm der Vermögenspsxchologie. Nachgezeichnet nach eiem Diagramm in: Johannes Rombrech, Congestorium artificiose memorie Abb. 28 : Gall. Aus: Alexander R. Luija. Abb. 29 : Phrenometer. http://www.neurolabor.de/script4-Planung/script.htm Abb. 30 : Phrenologische Karten Aus: Alexander R. Luija. Abb. 31 : Luigi Galvani www.pc.rhul.ac.uk/.../ PS2080/L4/PS2080_4.htm Abb. 32 : Das Broca-Areal. http://www.neurolabor.de/script4-Planung/script.htm Abb. 33 : Pawlowbox. http://www.neurolabor.de/script4-Planung/script.htm Abb. 34 : Diagramm. Aus:Damasio Abb. 35 : Die serotonerge Bahnen .Myers,David G.. Psychologie. Heidelberg 2005. Abb. 36 : Am Gedächtnis beteiligte Hirnstruktur. Myers,David G.. Psychologie. Heidelberg 2005. Abb. 37 : Kommunikation von Nervenzellen. Grafik:Margarete Hentze. nach Myers. Abb. 38 : Das vegetative Nervensystem. http://www.onmeda.de/lexika/anatomie/vegetatives_nervensystem_anatomie.html Abb. 39 : Was wird vergessen? M.Hentze nach Myers. S.402 Abb. 40 : Vergessenskurve nach Ebbinghaus. M.Hentze nach Myers. S.398 Abb. 41 : Die funktionelle Zweiteilung des vegetativen Nervensystems. M.Hentze nach Myers Abb. 42 : Das enterische Nervensystem (ENS) M.Hentze nach Grafik des Geomagazins. http://www.geo.de/GEO/mensch/medizin/686.html?t=img&p=4 Abb. 43 : Der Körper glaubt, was das Hirn ihm vorsiegelt. Aus: SZ Magazin 3. 19.1.2001 Abb. 44 Das Höhlengleichnis. M.Hentze nach einer Grafik von: www.platon42.de/ caveanalogy.html Abb. 45 : Weih- oder Opfergabe. http://www.ebn24.com/?page=59&kapitel=33 Abb. 46: René Descartes Illustration des Dualismus. .http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Descartes_mind_and_body.gif 66 Abb. 47 : Fritz Kahn. Das Leben des Menschen. Stuttgart 1929. Abb. 48 : Ausschnitt. Die Schule von Athen. Raffael 1509, Fresko, Stanza della Segnatura, Vatikan http://de.wikipedia.org/wiki/ Abb. 49 : Santiago Sierra. Espacio Agultinador, Havanna, Dezember 1999 Aus:Santiago Serra. 300 Tons and previous Works. Köln 2004 Abb. 50 : Alberto Giacometti, 1961. Henri Cartier-Bresson/ Magnum Photos Abb. 51 Nicolaus Lang. http://www.freunde-der-nationalgalerie.de/website/mainset.php?page=http://www.freunde-der-nationalgalerie.de/ankaeufe/ galerie/lang.html Abb. 52. Details aus „Zeige deine Wunde“ 1974 / 75. Fotos: Dietmar Tanterl. Joseph Beuys - Martin-Gropius-Bau Berlin. http://www.inger.de/verbindungen/ unterkuenfte/beuys/zeige_deine_wunde.html Abb. 53 : Santiago Sierras Arbeit in der Synagoge Stomme. Foto: Federico Gambarini dpa/lnw +++(c) dpa - Bildfunk+++ Abb. 54 : Louise Bourgois portraitiert von Robert Mapplethorpe. 1982 Aus:L.B. Subversonen des Körpers. Andrea Jahn. Berlin: Reimer 1999. Abb. 55 : Cell (Choisy). Aus: Louise Bourgoise. Deconstruction of the Father Reconstruction of the Father. Writing and Interviews 1923 -1997. London 2001 Abb. 56 : The Banquet. Aus:L.B. Subversonen des Körpers. Andrea Jahn. Berlin:Reimer 1999. Abb. 57 : take a position in relation to your works. Fotogrfien 40 x 40. Margarete Hentze. München 2000. Abb. 58 Matrioschka. Gips, Akademiegalerie-Galerie. Foto: Susanne Wagner und Polymeregips 1,85 x 0,95 m Foto:Stefan George 2005 Abb. 59 : Das Zimmer. Aus: Pipilotti Rist, New York 2001 Abb. 60 : Kinderwagen x 1.7. Diplom 2006. Foto: Margarete Hentze. Abb. 61: Diaprojektion auf Papierrelief. 1,50 x 2,00 München 2007. Foto: Margarete Hentze. Abb 63: Lygia Clark: Canibalismo 1973 in: Ausstellungskatalog Lygia Clark: Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997. 302. Abb. 64 : Lygia Clark: Baba antropofágica (1973) in: Kollektivkörper, Bielefeld, 2002in: Ausstellungskatalog Lygia Clark: Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997. 296. Abb. 64 : El Lissitzky. Prounenraum.. www.museumserver.nl/.../ 300/abbe-0056.jpg Abb. 65 : Schlund Marstall, München 2001. Aus: KUB Programm 06.02. Kunsthaus Bregenz Abb. 66 Erwachsene Tür. Diplom München 2006. Foto: Margarete Hentze. Abb. 67 :Als das Kind Kind war. München 2007. Foto:Jakob Hentze, Constanze Penninger. . 67 Lied vom Kindsein Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen, wollte der Bach sei ein Fluß, der Fluß sei ein Strom, und diese Pfütze das Meer. Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war, alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins. Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung, hatte keine Gewohnheit, saß oft im Schneidersitz, lief aus dem Stand, hatte einen Wirbel im Haar und machte kein Gesicht beim fotografieren. Als das Kind Kind war, war es die Zeit der folgenden Fragen: Warum bin ich ich und warum nicht du? Warum bin ich hier und warum nicht dort? Wann begann die Zeit und wo endet der Raum? Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum? Ist was ich sehe und höre und rieche nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt? Gibt es tatsächlich das Böse und Leute, die wirklich die Bösen sind? Wie kann es sein, daß ich, der ich bin, bevor ich wurde, nicht war, und daß einmal ich, der ich bin, nicht mehr der ich bin, sein werde? Als das Kind Kind war, würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis, und am gedünsteten Blumenkohl. und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not. Als das Kind Kind war, erwachte es einmal in einem fremden Bett und jetzt immer wieder, erschienen ihm viele Menschen schön und jetzt nur noch im Glücksfall, stellte es sich klar ein Paradies vor und kann es jetzt höchstens ahnen, konnte es sich Nichts nicht denken und schaudert heute davor. Als das Kind Kind war, spielte es mit Begeisterung und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch, wenn diese Sache seine Arbeit ist. Als das Kind Kind war, genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot, und so ist es immer noch. Als das Kind Kind war, fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand und jetzt immer noch, machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge und jetzt immer noch, hatte es auf jedem Berg die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg, und in jeden Stadt die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt, und das ist immer noch so, griff im Wipfel eines Baums nach dem Kirschen in einem Hochgefühl wie auch heute noch, eine Scheu vor jedem Fremden und hat sie immer noch, wartete es auf den ersten Schnee, und wartet so immer noch. Als das Kind Kind war, warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum, und sie zittert da heute noch. Peter Handke 68 Hiermit bestätige ich, dass ich diese Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe geschrieben habe. Margarete Hentze.. März 2006. 69