Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen

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Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen
Eine Handreichung für die Praxis auf der
Grundlage der aktuellen Gesetzgebung
Limiting life-prolonging treatments:
a practical guidance reflecting the current legislation in Germany
Autoren
G. Marckmann 1 G. Sandberger 2 U. Wiesing 1
Institut
1 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen
2 Juristische Fakultät, Universität Tübingen,
Ethik
Einleitung
5
Schlüsselwörter
Ethik
Sterbehilfe
Therapiebegrenzung
Nutzlosigkeit
Patientenverfügung
Gesetzgebung
q
q
q
q
q
q
Keywords
ethics
end-of-life care
futility
advance directives
legislation
q
q
q
q
q
eingereicht 5.8.2009
akzeptiert 24.1.2010
Bibliografie
DOI 10.1055/s-0030-1249217
Dtsch Med Wochenschr 2010;
135: 570–574 · © Georg
Thieme Verlag KG Stuttgart ·
New York · ISSN 0012-0472
Korrespondenz
Prof. Dr. med.
Georg Marckmann, MPH
Institut für Ethik und
Geschichte der Medizin
Universität Tübingen
Gartenstr. 47
72074 Tübingen
Tel. 07071/2978032
Fax 07071/295190
eMail georg.marckmann@
uni-tuebingen.de
Entscheidungen zum Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen gehören zu
den großen ethischen Herausforderungen der
modernen Medizin: Wann soll man das Sterben
zulassen, obwohl es medizinisch noch möglich
wäre, das Leben des Patienten zu verlängern?
Besondere Schwierigkeiten bereitet die Entscheidungsfindung, wenn der Patient seine Behandlungswünsche nicht mehr selbst äußern kann.
Hier bestanden in den letzten Jahren bei Ärzten,
Angehörigen und gesetzlichen Stellvertretern sowie auch Vormundschaftsrichtern häufig Unsicherheiten über die Verbindlichkeit und Reichweite von zuvor geäußerten und möglicherweise
in einer Patientenverfügung schriftlich festgelegten Patientenwünschen. Mit dem dritten Gesetz
zur Änderung des Betreuungsrechts, das am
1.9.2009 in Kraft trat, wurde die Verbindlichkeit
schriftlicher Patientenverfügungen, mündlich
geäußerter Behandlungswünsche und des mutmaßlichen Patientenwillens gesetzlich geregelt
(BGBl. 2009, Teil I Nr. 48, S. 2286).
Der vorliegende Beitrag möchte den Entscheidungsträgern in der Praxis eine Orientierung
bieten, wie unter Berücksichtigung der aktuellen
Gesetzgebung eine ethisch gut begründete Entscheidung zur Begrenzung lebenserhaltender
Therapien ablaufen kann. Er folgt dabei bewusst
nicht den einzelnen Paragraphen des Gesetzes,
sondern der inneren Logik der Entscheidungsfindung. Nach einer Klärung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe wird zunächst erläutert, unter welchen Voraussetzungen eine medizinische
Maßnahme überhaupt durchgeführt werden
darf. Daraus lässt sich dann ableiten, wann es gerechtfertigt ist, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Schwierigkeiten bereitet insbesondere die Frage, wann medizinische Maßnahmen nutzlos sind und wie man stellvertretend für einen nicht mehr einwilligungsfähigen
Patienten entscheiden kann. Diskutiert wird dabei auch, wie Konflikten zwischen Wohlergehen
und Wille des Patienten angemessen begegnet
werden kann.
Formen der Sterbehilfe
5
Die begriffliche Unterscheidung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe führt immer wieder
zu Unsicherheiten, wann eine lebenserhaltende
Maßnahme abgebrochen werden darf. Vor allem
für die rechtliche Beurteilung ist die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe
aber nach wie vor maßgeblich [2].
Unter passiver Sterbehilfe versteht man das Unterlassen oder Abbrechen lebensverlängernder
Behandlungsmaßnahmen. Dieses „passive“ Geschehenlassen des Sterbens kann auch in einem
„aktiven“ Handeln bestehen, zum Beispiel beim
Abstellen eines Beatmungsgeräts. Wann diese
Begrenzung lebensverlängernder Behandlungsmaßnahmen ethisch und rechtlich zulässig bzw.
geboten ist, ist Gegenstand dieser Handreichung.
Von einer indirekten (aktiven) Sterbehilfe spricht
man, wenn die Lebensverkürzung nicht intendiert,
sondern als unbeabsichtigte Nebenfolge einer
medizinisch notwendigen Behandlung – z.B. einer hoch dosierten Schmerztherapie oder einer
Sedierung – in Kauf genommen wird. Die Durchführung leidenslindernder Maßnahmen ist bei
entsprechender medizinischer Indikation ethisch
wie rechtlich gleichermaßen geboten.
Die (direkte) aktive Sterbehilfe bezeichnet das
„aktive“ Eingreifen in den Sterbeprozess – z.B.
durch die Gabe eines hochdosierten Medikamentes oder Giftes – mit der Zielsetzung, den Patienten auf seinen Wunsch hin zu töten. Diese
Tötung auf Verlangen verbietet in Deutschland
das Strafgesetzbuch (§216 StGB).
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Da diese Bezeichnungen häufig zu Missverständnissen führen,
schlagen wir – in Übereinstimmung z.B. mit dem Nationalen
Ethikrat [4] – folgende begriffliche Unterscheidung vor.
Formen der Sterbehilfe:
3 Das Sterbenlassen eines Patienten durch Verzicht auf eine
lebensverlängernde Behandlungsmaßnahme
(passive Sterbehilfe)
3 Durchführung indizierter Therapien am Lebensende
die möglicherweise den Sterbeprozess beschleunigen
(indirekte Sterbehilfe)
3 Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe)
Ethische Voraussetzungen medizinischer Maßnahmen
5
Die Frage der Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen
steht in engem Zusammenhang mit der allgemeineren Frage, unter welchen Bedingungen es überhaupt ethisch – wie auch rechtlich – zulässig ist, eine diagnostische oder therapeutische Maßnahme durchzuführen. Rechtfertigungsbedürftig ist nämlich
nicht erst der Abbruch, sondern bereits die Durchführung einer
medizinischen Maßnahme. Drei Bedingungen sind hier zu nennen, die sich von den ethischen Grundprinzipien ärztlichen Handelns ableiten:
1. Die Maßnahme muss medizinisch indiziert sein: Sie sollte
dem Patienten insgesamt mehr nutzen als schaden, d.h. einen
Netto-Nutzen bieten.
2. Der Patient muss nach entsprechender Aufklärung in die
Durchführung der Maßnahme eingewilligt haben, von Ausnahmen abgesehen (z.B. bewusstloser Patient oder Zwangsbehandlung in der Psychiatrie).
3. Die Maßnahme muss „lege artis“, d.h. dem aktuellen medizinischen Wissens- und Methodenstand entsprechend ausgeführt werden.
Wann sollte nun eine (lebensverlängernde) Maßnahme abgebrochen oder gar nicht erst aufgenommen werden? Genau
dann, wenn zumindest eine der ersten beiden Legitimationsvoraussetzungen nicht erfüllt ist: Wenn die Maßnahme für den Patienten keinen Nutzen (oder insgesamt mehr Schaden als Nutzen) bietet oder wenn der Patient die Einwilligung in die Durchführung der Maßnahme verweigert. Probleme ergeben sich in
der Praxis insbesondere bei der Bestimmung der Nutzlosigkeit
( „Nutzlosigkeit medizinischer Maßnahmen“) und bei fehlender Einwilligungsfähigkeit des Patienten ( „Stellvertretende
Entscheidung“). Darüber hinaus können sich Konflikte zwischen
Wohl und Wille des Patienten ergeben ( „Konflikte zwischen
Wille und Wohl des Patienten“).
kurzgefasst
Ethische Voraussetzungen medizinischer Maßnahmen:
3 Nutzen für den Patienten
3 Einwilligung des Patienten nach Aufklärung
3 Durchführung „lege artis“
Medizinische Maßnahmen sind zu unterlassen oder abzubrechen, wenn sie dem Patienten keinen Nutzengewinn
mehr bieten oder seinem Willen widersprechen.
Nutzlosigkeit medizinischer Maßnahmen
5
Bei der Frage, ob eine medizinische Maßnahme noch einen Nutzen für den Patienten bietet, ist zunächst zwischen Wirksamkeit
und Nutzen zu unterscheiden. Allgemein liegt eine Wirksamkeit
vor, wenn die Maßnahme den beabsichtigten physiologischen
oder psychologischen Effekt beim Patienten erzielt. Diese Wirkung hat aber nur dann einen Nutzen für den Patienten, wenn
damit ein für den Patienten erstrebenswertes Behandlungsziel
(„Nutzen wofür?“) erreicht werden kann. Eine assistierte Beatmung kann z.B. physiologisch wirksam sein, indem sie das Blut
des Patienten ausreichend oxigeniert, hat aber für den Patienten
möglicherweise keinen Nutzen mehr, wenn dieser das Bewusstsein irreversibel verloren hat oder wenn die Beatmung einen
leidvollen Sterbeprozess nur verlängert. Für die Rechtfertigung
einer Therapie ist nicht die Wirksamkeit, sondern allein der
Nutzen entscheidend. Ärzte sind nicht verpflichtet, eine physiologische Wirkung im Körper eines Patienten zu erzielen.
In der Regel setzt der Nutzen aber die Wirksamkeit voraus. Insofern sollte der Arzt zunächst prüfen, ob die Behandlungsmaßnahme im Hinblick auf die angestrebten Behandlungsziele wirksam ist. Dies kann der Arzt allein auf der Grundlage seiner medizinisch-fachlichen Expertise entscheiden; eine einseitige ärztliche Entscheidung zum Abbruch wirkungsloser Maßnahmen ist
nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten. Ob die erreichbaren
Behandlungsziele auch für den Patienten erstrebenswert sind,
ergibt sich nicht aus dem medizinischen Fachwissen. Die hierfür
erforderlichen Bewertungen u.a. der Lebensqualität sollten sich
an den individuellen Wertmaßstäben und Präferenzen des Patienten selbst orientieren. Der Arzt sollte deshalb gemeinsam mit
dem Patienten besprechen, welche Behandlungsziele für diesen
(noch) erstrebenswert sind. Im nächsten Abschnitt wird erläutert, wie die Präferenzen eines nicht mehr einwilligungsfähigen
Patienten zu berücksichtigen sind.
Lässt sich der Nutzen einer Behandlung prospektiv nicht abschätzen, so kann es sinnvoll sein, die Behandlung zunächst probatorisch zu beginnen, nach einer gewissen Beobachtungszeit
den Nutzen erneut zu überprüfen und dann über die Fortsetzung der Behandlung zu entscheiden. Der Abbruch einer lebenserhaltenden Therapie wird emotional häufig belastender erlebt
als der primäre Verzicht, da der dann einsetzende Sterbeprozess
ursächlich mit dem eigenen Handeln in Verbindung gebracht
wird. In ethischer Hinsicht kann der Abbruch gegenüber dem
primären Unterlassen zu bevorzugen sein, wenn die Entscheidung hinsichtlich der prognostischen Nutzenabschätzung eine
geringere Unsicherheit aufweist.
Stellvertretende Entscheidung
5
Ist der Patient einwilligungsfähig?
Ob ein Patient einwilligungsfähig ist, muss der behandelnde
Arzt feststellen. Allgemein ist ein Patient dann einwilligungsfähig, wenn er die erforderliche Einsichts- und Entschlussfähigkeit besitzt, um Art und Konsequenzen seiner Erkrankung sowie
die Vor- und Nachteile möglicher Therapien zu erfassen und seinen Willen danach auszurichten. Die Einwilligungsfähigkeit ist
von der Geschäftsfähigkeit zu unterscheiden: Ein nicht mehr geschäftsfähiger Patient kann im Hinblick auf bestimmte Behandlungsentscheidungen durchaus noch einwilligungsfähig sein.
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Auch Minderjährige können einwilligungsfähig sein, wenn sie
die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzen, um
Tragweite und Bedeutung des medizinischen Eingriffs einschätzen zu können. Wenn ein Patient nicht einwilligungsfähig ist,
ergeben sich zwei Fragen: 1. Wer soll stellvertretend für den Patient entscheiden? 2. Woran soll sich die stellvertretende Entscheidung inhaltlich orientieren?
Ist der Patient
einwilligungsfähig?
ja
Patient entscheidet
nach Aufklärung
Woran soll sich die stellvertretende Entscheidung
inhaltlich orientieren?
Auch wenn Patienten nicht mehr entscheidungsfähig sind, ist
ihr Selbstbestimmungsrecht zu wahren. Behandlungsentscheidungen sollten sich folglich weiterhin an den individuellen Präferenzen des Patienten orientieren. Hier sieht die aktuelle
Rechtslage ein mehrstufiges Vorgehen vor (q Abb. 1):
1. Zunächst sind die in einer Patientenverfügung vorab schriftlich festgelegten Wünsche des Patienten zu berücksichtigen,
soweit sie auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation
zutreffen.
2. Wenn keine Patientenverfügung vorliegt, ist die Entscheidung
auf der Grundlage von früher geäußerten Behandlungswünschen oder nach dem mutmaßlichen Patientenwillen zu treffen.
3. Falls sich dafür keine Anhaltspunkte z.B. durch die Befragung
von nahestehenden Personen finden, kann sich die Entscheidung nur an allgemeinen Wertvorstellungen, d.h. am „objektiven“ Wohl des Patienten orientieren.
Vorausverfügter Patientenwille (Patientenverfügung) Das dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts, das am 1.9.2009 in
Kraft trat, knüpft an die bisherige Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes an [1, 5]. In einer Patientenverfügung kann ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festlegen, ob und in welchem Umfang er in einer
Existiert eine
Patientenverfügung?
ja
Nach vorausverfügtem
Patientenwillen
entscheiden
Wer soll stellvertretend entscheiden?
Bei fehlender Einwilligungsfähigkeit eines volljährigen Patienten kann entweder ein Bevollmächtigter oder ein Betreuer stellvertretend die Interessen eines Patienten wahrnehmen. Ein Bevollmächtigter ist eine Person, die vom Patienten selbst im Rahmen einer Vorsorgevollmacht beauftragt ist, in Gesundheitsangelegenheiten stellvertretend Entscheidungen mit bindender
Wirkung zu treffen. Ein Betreuer ist ein vom Betreuungsgericht
(früher: Vormundschaftsgericht) bestellter Vertreter, der dann
erforderlich wird, wenn der Patient seine Angelegenheiten ganz
oder teilweise nicht mehr selbst besorgen kann und kein Bevollmächtigter für die persönlichen Angelegenheiten (Personensorge) vorhanden ist. Bei einer voraussichtlich nur vorübergehenden Einwilligungsunfähigkeit (bis zu 4 Tage) ist die Einrichtung
einer Betreuung nicht erforderlich. In einer Betreuungsverfügung können Patienten dem Betreuungsgericht Vorschläge zur
Person des Betreuers und Wünsche zu inhaltlichen Ausgestaltung der Betreuung unterbreiten (§1901c BGB). Betreuer und
Bevollmächtigter sind an das Wohlergehen und den Willen des
Patienten gebunden. Dabei fordert die neue Gesetzgebung explizit, was ohnehin praktiziert werden sollte: Arzt und Betreuer
bzw. Bevollmächtigter erörtern gemeinsam in einem Gespräch,
ob unter Berücksichtigung des Patientenwillens die lebensverlängernden Maßnahmen fortgesetzt oder abgebrochen werden
sollen (§1901b, Abs. 1 BGB). Dabei soll auch nahen Angehörigen
und sonstigen Vertrauenspersonen des Betreuten Gelegenheit
zur Äußerung gegeben werden.
nein
nein
Sind die
Präferenzen des
Patienten bekannt?
ja
Nach mutmaßlichem
Patientenwillen
entscheiden
Abb. 1
im Zweifel
Nach „objektivem“
Wohl des Patienten
entscheiden
Mehrstufiges Vorgehen bei fehlender Einwilligungsfähigkeit [3].
bestimmten Krankheitssituation behandelt werden möchte. Der
in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachte Wille ist für
den Arzt rechtlich verbindlich, sofern er auf die aktuell vorliegende Lebens- und Behandlungssituation des Patienten zutrifft
(§1901a, Abs. 1 BGB) [6]. Das Gesetz betont explizit, dass die Festlegungen unabhängig von der Art und dem Stadium der Erkrankung des Patienten zu berücksichtigen sind, ggf. auch schon bevor
die Erkrankung einen unumkehrbar tödlichen Verlauf genommen
oder der Sterbeprozess begonnen hat (§1901a, Abs. 3 BGB).
Eine notarielle Beurkundung ist nicht erforderlich. Obwohl es
für die Bindungswirkung einer Patientenverfügung nicht zwingend erforderlich ist, erscheint eine regelmäßige Aktualisierung
sinnvoll. Dringend zu empfehlen ist darüber hinaus, sich bei der
Abfassung einer Patientenverfügung von einem Arzt seines Vertrauens beraten zu lassen, um für eine Entscheidung über den
Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen gut informiert zu
sein. Der einwilligungsfähige Patient kann seine Vorausverfügung jederzeit auch mündlich vor und während einer Behandlung formlos widerrufen. In jedem Fall empfiehlt es sich, dies zu
dokumentieren ( „Dokumentation“). Falls der Patient nicht
von sich aus eine Patientenverfügung vorlegt, sollte er bei Aufnahme auf der Station danach gefragt werden. Niemand kann
aber zur Abfassung einer Patientenverfügung verpflichtet werden. Die Erstellung oder Vorlage einer Patientenverfügung darf
auch nicht zur Bedingung einer Behandlung gemacht werden
(§1901a Abs. 4 BGB).
Mutmaßlicher Patientenwille Wenn keine Patientenverfügung
vorliegt oder diese nicht auf die aktuelle medizinische Situation
zutrifft, ist zunächst auf mündlich geäußerte Behandlungswünsche des Patienten zurückzugreifen. Sofern sich der Patient nie
zu der vorliegenden Situation geäußert hat, ist aus früheren
mündlichen oder schriftlichen Äußerungen sowie den persönlichen Werthaltungen und Lebenseinstellungen des Patienten der
mutmaßliche Patientenwillen zu ermitteln (§1901a, Abs. 2
BGB). Dabei überlegt man, wie der Patient selbst in der vorliegenden Situation wohl entscheiden würde, wenn er dazu in der
Lage wäre. Hierzu sollen nahe Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen des Patienten gehört werden; auch eine Patientenverfügung, die nicht auf die aktuelle Situation zutrifft, kann Hinweise auf die Wertvorstellungen des Patienten liefern. Da der
Wille des Patienten aber nur „vermutet“ werden kann, ist er mit
einer erhöhten Irrtumsgefahr verbunden und dem in einer Patientenverfügung schriftlich erklärten Willen untergeordnet.
Dtsch Med Wochenschr 2010; 135: 570–574 · G. Marckmann et al., MPH, Begrenzung lebenserhaltender Behandlungsmaßnahmen: …
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„Objektives“ Wohl des Patienten Falls die Präferenzen des Patienten nicht oder nicht sicher zu ermitteln sind, muss man bei
der Entscheidung über lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen auf allgemeine Wertvorstellungen zurückgreifen und
sich am „objektiven“ Wohl des Patienten orientieren. Auf der
Grundlage einer sorgfältigen Abschätzung von Nutzen und Risiken gilt es abzuwägen, ob die Fortsetzung der lebensverlängernden Maßnahmen als legitimationsbedürftiger Eingriff noch im
Interesse des betroffenen Patienten ist. Es erscheint sinnvoll,
mehrere Personen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen,
um verschiedene Perspektiven auf das Patientenwohl zu berücksichtigen und die Gefahr einseitiger Bewertung zu verringern. Besonders in diesem Fall kann die Durchführung einer klinisch-ethischen Beratung sinnvoll sein.
kurzgefasst
Orientierungspunkte bei der stellvertretenden
Entscheidung:
3 Schriftlich vorausverfügter Patientenwille
(Patientenverfügung)
3 Mündlich geäußerte Behandlungswünsche, mutmaßlicher
Patientenwille
3 „Objektives“ Wohl des Patienten
Zur Rolle der Angehörigen bei der Entscheidungsfindung
Bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten wird man in der
Regel Angehörige oder andere nahestehende Personen in die
Entscheidungsfindung einbeziehen. Diese können aber nicht
selbst die Entscheidung treffen, sondern nur Informationen
über frühere Äußerungen, Überzeugungen und Werthaltungen
des Patienten liefern, aus denen sich der mutmaßliche Wille des
Patienten rekonstruieren lässt. Ob die lebensverlängernden
Maßnahmen dann fortgesetzt oder abgebrochen werden, bleibt
in der Verantwortung des Arztes, der die Entscheidung über die
ärztlich indizierte Maßnahme nach Erörterung mit dem Bevollmächtigten oder Betreuer und den Angehörigen nach Maßgabe
des in der Patientenverfügung vorausverfügten oder des mutmaßlichen Patientenwillens trifft (§1901b BGB).
Wann ist eine Genehmigung durch das Betreuungsgericht erforderlich?
Die neue gesetzliche Regelung bestätigt die bisherige
höchstrichterliche Rechtsprechung: Wenn zwischen Arzt und
Betreuer bzw. Bevollmächtigtem Einvernehmen besteht, dass
der Verzicht auf eine lebensverlängernde Maßnahme dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht, ist keine Genehmigung durch das Betreuungsgericht erforderlich
(§1904 Abs. 4 BGB). Nur im Konfliktfall, wenn sich Arzt und Betreuer oder ein zur Entscheidung über den Behandlungsabbruch
befugter Bevollmächtigter nicht einigen können, ob der Abbruch
oder die Fortsetzung einer medizinisch angezeigten lebensverlängernden Therapie dem Willen des Patienten entspricht, ist
eine Genehmigung durch das Betreuungsgericht einzuholen.
Zuvor sollten die Beteiligten versuchen, im Rahmen einer klinisch-ethischen Beratung Einvernehmen zu erzielen, welches
Vorgehen dem Willen des Patienten entspricht. An dieser Stelle
sei noch einmal ausdrücklich betont, dass die Möglichkeit, das
Leben des Patienten zu verlängern, für sich genommen keine
hinreichende Rechtfertigung für die Durchführung einer medi-
zinischen Maßnahme darstellt. Die erreichbare Lebensverlängerung muss dem Wohlergehen des Patienten dienen und seinem
Willen entsprechen.
Konflikte zwischen Wille und Wohl des Patienten
5
Bei der Therapieverweigerung ist eine klare Abwägung vorgegeben: Der Wille des Patienten hat Vorrang vor seinem Wohl. Der
entscheidungsfähige und vollständig aufgeklärte Patient hat das
Recht, auch eine für ihn nützliche oder lebensrettende Behandlung abzulehnen. Im Einzelfall stellt sich aber dennoch häufig
die Frage, mit welcher Intensität man versuchen soll, den Patienten von der Nützlichkeit der infrage stehenden Maßnahme zu
überzeugen. Je größer der zu erwartende Nutzen für den Patienten durch die abgelehnte Behandlungsmaßnahme wäre, desto
sorgfältiger sollte man überprüfen, ob es sich tatsächlich um
eine wohlüberlegte, durch klare Präferenzen begründete Entscheidung des Patienten handelt. Zunächst gilt es sicher zu stellen, dass der Patient seine Situation richtig versteht und in der
Lage ist, eine informierte Entscheidung zu fällen. Man sollte versuchen, sich in die Perspektive des Patienten hineinzuversetzen
um zu ergründen, was ihn in seiner Situation am meisten bewegt, welche Sorgen, Ängste und Befürchtungen hinter der Therapieverweigerung stehen. So lassen sich am ehesten die eigenen Überlegungen des Patienten unterstützen. Möglicherweise
gelingt es den Patienten von den Vorteilen der Therapie zu
überzeugen. Bei Verdacht auf eine Depression ist es sinnvoll, ein
psychiatrisches Konsil einzuholen. Sofern sich keine Einigung
erzielen lässt, sollte man die Entscheidung des Patienten respektieren, ihn auf seinem Weg begleiten und ihn auffordern,
bei Rückfragen oder einer Meinungsänderung auch bei weiter
fortgeschrittener Erkrankung wieder Kontakt mit seinem Arzt
aufzunehmen.
Manchmal tritt aber auch die entgegengesetzte Konfliktsituation
auf, wenn ein Patient auf der Durchführung einer nach ärztlichem Ermessen nutzlosen Maßnahme besteht. Auch in diesem
Fall erscheint es sinnvoll, sich zunächst in die Sichtweise des Patienten hineinzudenken und seine Erwartungen an die Behandlung
zu klären. Man sollte dann den Patienten noch einmal sehr
gründlich über die gewünschte Maßnahme informieren, Chancen
und Risiken vor dem Hintergrund seiner persönlichen Wertüberzeugungen bewerten und versuchen, ein für alle Beteiligten akzeptables Vorgehen auszuhandeln. In manchen Fällen kann es
sinnvoll sein, eine zweite Meinung einzuholen: Dies kann sowohl
für das Team als auch für den Patienten neue Gesichtspunkte ergeben oder aber auch dem Patienten helfen, die professionelle
Einschätzung seiner Situation zu akzeptieren. Sofern auf diesem
Wege kein Einvernehmen zu erzielen ist, sollte man prüfen, auf
welcher Ebene der Konflikt begründet liegt: Sofern der Behandlungswunsch des Patienten auf einer unrealistischen Einschätzung der medizinischen Situation oder der Wirksamkeit der
Maßnahme beruht, erscheint es nach entsprechenden Gesprächen vertretbar, dem Patienten die gewünschte Behandlung vorzuenthalten, da der Arzt nicht verpflichtet ist, eine der Situation
medizinisch nicht angemessene oder wirkungslose Therapie
durchzuführen. Der Verzicht auf weitere, häufig nebenwirkungsreiche lebensverlängernde Maßnahmen bietet dabei auch Chancen für die Patienten, da er es ihnen oft ermöglicht, die verbleibende Zeit vor dem Tod in einer besseren Lebensqualität zu verbringen. Wenn es sich aber um unterschiedliche Bewertungen
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handelt (z.B. von Chancen und Risken einer Behandlung oder ob
ein Behandlungsziel erstrebenswert ist), sollte man dem Wunsch
des Patienten nach einer lebensverlängernden Therapie folgen,
sofern es sich dabei um eine wohlüberlegte und reflektierte Präferenz des gut informierten Patienten handelt. Der Patient sollte
selbst darüber bestimmen dürfen, welche Belastungen er auch
bei einer schlechten Prognose noch bereit ist, auf sich zu nehmen
bzw. welches Behandlungsziel für ihn erstrebenswert ist.
Besondere Schwierigkeiten bereiten Konflikte zwischen Wohlergehen und Wille bei nicht einwilligungsfähigen Patienten,
wenn sich der z.B. in einer Patientenverfügung niedergelegte
Wille gegen eine aus ärztlicher Sicht nützliche Maßnahme richtet. In dieser Situation gewinnt das in §1901b BGB geforderte
Gespräch zwischen Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigtem
sowie den Angehörigen und anderen Vertrauenspersonen zur
Feststellung des Patientenwillens eine besondere Bedeutung:
Unter Rückgriff auf frühere Äußerungen und Lebenseinstellungen des Patienten ist zu prüfen, wie „valide“ der schriftlich dokumentierte Patientenwillen ist und wie er im Hinblick auf die
konkret vorliegende Behandlungssituation zu interpretieren ist.
Je konkreter und verlässlicher sich der erklärte oder mutmaßliche Patientenwillen gegen eine lebensverlängernde Maßnahme
richtet, desto mehr Gewicht sollte er in der Abwägung zwischen
Autonomie- und Fürsorgeverpflichtungen erhalten.
Dokumentation
5
Jede Entscheidung zur Therapieziel-Änderung mit einem Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen sollte
entsprechend dokumentiert werden. Festzuhalten sind dabei
insbesondere
3 die medizinische Situation (u.a. Diagnose, gewählte
Behandlungsoptionen),
3 die ärztliche Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit des
Patienten,
3 wesentliche Elemente bzw. Ergebnisse der Gespräche mit
dem Patienten, dem Betreuer oder Bevollmächtigten und
den Angehörigen sowie
3 die Art der Willensäußerung, auf die sich das geplante
Vorgehen stützt (aktueller, vorausverfügter oder mutmaßlicher Wille).
Darüber hinaus sollten alle an der Versorgung des Patienten beteiligten Personen über die Entscheidung informiert werden.
kurzgefasst
Empfehlungen bei Konflikten mit dem Patientenwillen:
3Sich in die Perspektive des Patienten hineinversetzen
3Erwartungen und Befürchtungen des Patienten ermitteln
3Psychosoziale Probleme berücksichtigen
3Patient sorgfältig über die Maßnahmen informieren
3Nutzen und Risiken der Maßnahmen anhand der
Wertvorstellungen des Patienten bewerten
3Entscheidungsprozess des Patienten unterstützen
3evtl. eine Zweitmeinung einholen
Konsequenz für Klinik und Praxis
3Eine lebensverlängernde Maßnahme ist zu unterlassen,
wenn sie dem Patienten keinen Nutzen bietet oder wenn
der Patient die Einwilligung zur Maßnahme verweigert.
3Ist der Patient nicht (mehr) einwilligungsfähig, ist der Patientenwille in einem gemeinsamen Gespräch zwischen dem Arzt
und dem Betreuer bzw. Bevollmächtigten des Patienten zu
ermitteln. Soweit möglich, sollten Angehörige oder sonstige
Vertrauenspersonen hinzugezogen werden.
3Eine auf die aktuelle Behandlungssituation zutreffende
Patientenverfügung ist unabhängig von Art und Stadium
der Erkrankung verbindlich.
3Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen deren
Festlegungen nicht auf die aktuelle medizinische Situation
zu, muss sich die Entscheidung an früher geäußerten
Behandlungswünschen oder am mutmaßlichen Willen
des Patienten orientieren.
3Nur wenn sich Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigter
über die Fortführung medizinisch indizierter Behandlungen
nicht einigen können, ist beim Betreuungsgericht eine
Genehmigung für den Verzicht auf lebensverlängernde
Maßnahmen einzuholen.
Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen Verbindungen mit einer Firma haben, deren Produkt in
dem Artikel eine wichtige Rolle spielt (oder mit einer Firma, die
ein Konkurrenzprodukt vertreibt).
Danksagung: Die Autoren danken den Mitgliedern des klinischen Ethikkomitees am Universitätsklinikum Tübingen für
wertvolle Anregungen bei der Erstellung dieser Handreichung.
Literatur
1 Borasio GD, Heßler H-J, Wiesing U. Patientenverfügungsgesetz: Umsetzung in der klinischen Praxis. Dtsch Ärztebl 2009; 106: A 1952–
1957
2 Bundesärztekammer. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Dtsch Ärztebl 2004; 101: A 1298–1299
3 Marckmann G. Lebensverlängerung um jeden Preis? Ethische Entscheidungskonflikte bei der passiven Sterbehilfe. Ärztebl BadenWürttemb 2004; 59: 379–382
4 Nationaler Ethikrat. Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Berlin: Juli 2006
5 Vetter P, Marckmann G. Gesetzliche Regelung der Patientenverfügung: Was ändert sich für die Praxis? Ärztebl Baden-Württemb
2009; 64: 370–374
6 Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin (Zentrale Ethikkommission). Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in
der ärztlichen Praxis. Dtsch Ärztebl 2007; 104: A–891–896
Dtsch Med Wochenschr 2010; 135: 570–574 · G. Marckmann et al., MPH, Begrenzung lebenserhaltender Behandlungsmaßnahmen: …
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