Interview Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie 2004;14:303–305 Bob Liberman: Wie sieht die Zukunft der psychiatrischen Rehabilitation der Schizophrenie aus? Dr. med. Robert Paul Liberman ist Professor für Psychiatrie an der School of Medicine der University of California in Los Angeles (UCLA). Er hat mit seiner Forschungsgruppe viele Behandlungsansätze für die Rehabilitation von Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen entwickelt und evaluiert, z.B. soziales Kompetenztraining, verhaltensorientierte Familientherapie, einen Club für Arbeitssuchende, einen integrativen Behandlungsansatz für Patienten mit komorbider Abhängigkeitsstörung und Verfahren zur Remediation kognitiver Defizite. Diese Verfahren werden in zahlreichen klinischen Einrichtungen erfolgreich eingesetzt. Sie helfen Psychiatern, Klinischen Psychologen, Patienten und Angehörigen zu mehr Kompetenz im Umgang mit der Störung, und bieten Möglichkeiten, die Patienten wieder in die Gesellschaft zu integrieren und eine möglichst weit reichende Stabilisierung nach psychotischen Phasen zu erreichen. Bob Liberman hat zahlreiche Preise erhalten, unter anderem den Human Relations Award der Weltgesundheitsorganisation. – Das Interview führte Dr. Annette Schaub, Leiterin für Angewandte Klinische Psychologie an der Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie lernte Professor Liberman 1992 bei einem Forschungsaufenthalt an der UCLA und am dortigen Klinischen Forschungszentrum kennen. Die Übersetzung des Interviews erfolgte im Verlag. Bob Liberman: Ich habe 1964 während meiner psychiatrischen Ausbildung in Boston angefangen, mit lerntheoretisch fundierten Therapieverfahren zu arbeiten. Es war für mich offensichtlich, dass die psychodynamischen Ansätze, die ich meinen Supervisoren zufolge hätte anwenden sollen, bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen fast wirkungslos waren. Meine Unzufriedenheit mit «talking therapy» führte dazu, dass ich mich nach alternativen Ansätzen umschaute. Ich entdeckte sie an der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts. Dort traf ich B.F. Skinner, dessen ehemalige Studenten bei der Behandlung von psychisch schwer beeinträchtigten Patienten operante und soziale Lernprinzipien einsetzten. Als ich diese Prinzipien dann selbst anwendete, merkte ich schnell, dass meine Patienten gut darauf ansprachen. Auch Familien, die durch ein psychisch krankes Familienmitglied extrem belastet waren, konnten ihre Beziehungen, ihre Kommunikation und ihre Problemelösefertigkeiten verbessern, und das Interesse meiner Kollegen an Verhaltenstherapie nahm rapide zu. Innerhalb eines Jahres war ich der Verhaltenstherapeut im Großraum Boston © 2004 S. Karger GmbH, Freiburg Fax +49 761 4 52 07 14 E-mail [email protected] www.karger.com Accessible online at: www.karger.com/ver und leitete Workshops, hielt Vorlesungen und führte Behandlungsstudien durch. Die Bestätigung, die ich von meinen Patienten, aus der Lehre und aus der Forschung bekomme, hält meine Begeisterung aufrecht. Man kann wirklich optimistisch sein, was mögliche Verbesserungen bei psychiatrischen Patienten angeht. Wenn konkrete Therapieziele in kleine Zwischenziele aufgeteilt werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, diese zu erreichen. Das ist sehr befriedigend. Außerdem habe ich viel persönliche Anerkennung von Kollegen wie dir erhalten, die auch mit Patienten mit schizophrenen Erkrankungen arbeiten und mich ermutigen, die verhaltenstherapeutische Rehabilitation weiter zu verbessern und auch an andere Kulturen und Settings anzupassen. Ich weiß noch, als ich das erste Mal ins Camarillo State Hospital kam und man mir sagte, dass Tim Kuehnel eine Gruppe mit sehr schwer kranken Patienten machen sollte, – ich dachte, vergiss es, sie sind zu beeinträchtigt für eine Gruppe, aber er schaffte es. Ich war sehr beeindruckt. Was für Strategien hatten zum Erfolg geführt? Bob Liberman: Es gibt eine Reihe von Prinzipien und Strategien, um auch Menschen mit schweren psychischen Störungen soziale Dr. Annette Schaub Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München Nussbaumstr. 7, D-80336 München Tel. +48 89-5160-2779 E-mail [email protected] Downloaded by: 88.99.70.242 - 10/31/2017 5:51:55 PM Du hast fast dein ganzes Leben damit verbracht, Menschen mit schweren psychiatrischen Störungen, insbesondere Schizophrenie, zu helfen und neue Behandlungsformen für sie zu entwickeln. Wie kamst du dazu und was motivierte dich über all die Jahre? Du hast jahrelang im Bereich der psychiatrischen Rehabilitation und der Verhaltenstherapie gearbeitet und systematische Methoden eingesetzt, um die Lebensqualität und -fähigkeit von Patienten mit schizophrenen oder anderen Diagnosen zu verbessern. Wie schätzt du die Zukunft der Psychotherapie und psychosozialer Dienste in diesem Bereich ein? Bob Liberman: Die Verhaltenstherapie und die psychiatrische Rehabilitation werden sich mit Techniken zum «Gehirntraining» auf der Grundlage kognitiver Remediation auf das 21. Jahrhundert zubewegen. Es gibt bereits Hinweise, dass kognitive Verhaltenstherapie Stoffwechselprozesse und die Übertragung von Neurotransmittern in Gehirnarealen normalisieren kann, die bei Zwangsstörungen, Depressionen und Schizophrenien eine Rolle spielen. Ganz bestimmt werden wir erleben, dass sich mehr Personen von ihrer Störung erholen und ein normales Leben innerhalb der Gesellschaft führen können. Dies wird jedoch langfristige und evidenzbasierte Betreuung erfordern. Die nachwachsende Generation von Wissenschaftlern und Klinikern wird auch das Anwendungsgebiet von objektiven und quantitativen Verfahren der Therapieplanung, -steuerung und -evaluation erweitern. Die traditionelle Art und Weise der Dokumentation in der psychiatrischen Praxis muss aufgegeben werden. Dadurch wird unser Fach von seinem derzeitigen Vertrauen in narrative und subjektive Methoden der Veränderungsmessung befreit und reiht sich in die Medizin ein, in der validierte Verfahren der Veränderungsmessung längst Routine sind. Schließlich werden Forschungserkenntnisse künftig schneller in der Praxis umgesetzt durch kombinierte biobehaviorale Behandlungsansätze, computergestützte Verfahren und einen systematischen Ansatz der Verbreitung und Anwendung von Innovationen. Wo liegen deine aktuellen Forschungsschwerpunkte? Bob Liberman: Wir untersuchen Methoden, die neurokognitive Defizite bei Schizophrenie kompensieren können (z.B. fehlerfreies Lernen), die Generalisierung von erworbenen sozialen Kompetenzen und Fertigkeiten einer unabhängigen Lebensführung auf den Alltag bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen, Genesung 304 Verhaltenstherapie 2004;14:303–305 von einer Psychose, Prävention psychischer Störungen durch Interventionen für junge Risikopatienten und verbesserte Beschäftigungsverhältnisse bei psychiatrischen Patienten. Kannst du ein Beispiel geben, wie du den Behandlungsverlauf einer psychiatrischen Rehabilitation evaluierst? Bob Liberman: Therapie und Rehabilitation hängen untrennbar miteinander zusammen. Psychologen, die keine Medikamente verschreiben dürfen, versuchen psychosoziale Interventionen von medizinischen zu unterscheiden, indem sie erstere als «Rehabilitation» bezeichnen. Aber es handelt sich einfach um zwei Seiten einer Medaille. Sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sind biobehaviorale Therapien. Die Zunahme evidenzbasierten Vorgehens in den letzten 15 Jahren ist der deutlichste Hinweis, dass sich Forschung und klinische Praxis annähern. Sowohl Metaanalysen, Literaturübersichten und Experten-Konsensusberichte als auch randomisierte, kontrollierte klinische Studien versuchen, die Wirksamkeit und Effektivität von sozialem Kompetenztraining, betreuter Arbeit und Ausbildung, verhaltenstheoretischer Familientherapie, betreutem Wohnen oder kognitiver Verhaltenstherapie bei anhaltenden psychotischen Symptomen, integrative Angebote für Patienten mit Doppeldiagnosen und aufsuchende intensive Betreuung zu dokumentieren. Was empfiehlst du, um die Einführung von Trainingsprogrammen zur sozialen und unabhängigen Lebensführung für schizophrene Menschen in möglichst vielen Gesundheitseinrichtungen, unter Praktikern und in ambulanten Stellen zu erleichtern? Bob Liberman: Die organisatorische Umsetzung dieser Strategien sollte sichtbar, greifbar und anhaltend sein. Die Anwender dieser Strategien sollten dabei unterstützt und verstärkt werden. Es ist wichtig, dass diese Methoden von den Klinikern als bedeutsam wahrgenommen werden und sie merken, dass diese Verfahren ihnen helfen, Herausforderungen zu bewältigen, denen andere Methoden nicht gewachsen sind. Das Verfahren sollte durch klinisch glaubwürdige «Train the trainers» verbreitet werden, die den Wert des Verfahrens an konkreten Patienten der Einrichtung aufzeigen können. Weitere Aspekte sind fortlaufende, unregelmäßige Beratung und positives, korrigierendes Feedback sowie die Unterstützung von denen, die das Verfahren einführen. Es gibt einen oder mehrere Multiplikatoren oder Anwälte für den Einsatz der Methoden in der Gastorganisation. Das Verfahren ist benutzerfreundlich und erfordert kein aufwendiges Training, um es verantwortungsvoll durchzuführen. Die Durchführung von sozialen Kompetenztrainings erfordert jedoch Gelegenheiten, diese Methode auch klinisch sinnvoll und mit Gewinn zum Einsatz zu bringen, Ermutigung von Kollegen, Supervisoren und Vorgesetzten, Bestätigung durch messbare Erfolge sowie positive Rückmeldung von Patienten, ihren Bezugspersonen und Kollegen. In unserer Klinik haben wir oft Schwierigkeiten bei Patienten mit Doppeldiagnosen, also mit psychischen Störungen und Substanz- Interview Downloaded by: 88.99.70.242 - 10/31/2017 5:51:55 PM Kompetenzen zu vermitteln und ihnen ein möglichst unabhängiges Leben zu ermöglichen. Man muss das Vertrauen, die Aufmerksamkeit und die Motivation der Patienten durch Enthusiasmus und hoffnungsvolle Erwartungen gewinnen, selbst Modell sein, und die Gruppe muss einfach Spaß machen. Man muss realistische Verhaltensziele festsetzen, die für das Leben des Patienten außerhalb der Gruppe von Bedeutung sind. Man muss die ganze Bandbreite verhaltenstheoretischer Lernprinzipien anwenden: eindeutige Instruktionen, Aufteilen von Zielen in Unterziele, Coaching und Prompting, Rollenspiele, systematische Verstärkung und In-vivo-Übungen. Das ganze Gruppenprogramm muss so organisiert sein, dass es die psychischen und kognitiven Defizite der Patienten kompensiert. Außerdem müssen gruppendynamische Prinzipien berücksichtigt werden wie Kohäsion, direktive und strukturierte Leitung und Aufgabenorientierung. Bob Liberman: Es ist mittlerweile gut belegt, dass Patienten mit Substanzabhängigkeit und psychischen Störungen sich nur bessern in integrativen Therapieprogrammen mit kontinuierlicher Betreuung in einem langfristigen stationären und ambulanten Rahmen, der Rückfälle als Chancen für die Patienten und das Behandlungsteam versteht, ihre Anstrengungen zu optimieren, sowie auf behavioralen Lernprinzipien und Strategien zur Rückfallprävention basiert. Im West Los Angeles VA Medical Center gibt es eines der am längsten bestehenden und robustesten Programme. Es gibt dort eine stationäre Abteilung, eine Tagesklinik und eine Ambulanz, die eine kontinuierliche Betreuung durch dasselbe Personal gewährleisten und Prinzipien und Techniken anwenden, die sich als wirksam bei dieser Patientengruppe erwiesen haben. Darüber hinaus ist das «Modul zum Management von Substanzabhängigkeit», das speziell für Patienten mit Doppeldiagnosen entwickelt und validiert wurde, geeignet, viele Fertigkeiten zur Rückfallprävention zu vermitteln und dazu beizutragen, ungünstige angenehme Tätigkeiten durch «gesunde angenehme Tätigkeiten» zu ersetzen. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Wirksamkeit dieses Modells erhöht, wenn es um verschiedene Komponenten oder Behandlungselemente ergänzt wird. Wenn also Case Management, soziales Fertigkeitstraining, Arbeitsmöglichkeiten, spirituelle Erfahrungen und der Umgang mit Geld nach und nach in das Programm aufgenommen werden, verbessern sich parallel dazu systematisch die Abstinenz, die Symptome und die soziale Funktionsfähigkeit. Denkst du, dass ein soziales Fertigkeitstraining auch bei Personen mit Persönlichkeitsstörungen erfolgreich sein kann? Bob Liberman: Auch wenn es wenig Hinweise für den Wert und die Wirksamkeit von sozialen Fertigkeitstrainings bei Persönlichkeitsstörungen gibt, müssen wir uns bewusst sein, dass die Verhaltenstherapie sich ursprünglich darauf konzentrierte, Verhalten durch empirisch überprüfte Interventionen zu verändern. Auch Einzelfallstudien wurden benutzt, um die Wirkungen behavioraler Interventionen auf die verschiedensten Personen und Persönlichkeiten, auch solche mit Persönlichkeitsstörung, nachzuweisen. Ich habe zum Beispiel vor mehr als 20 Jahren die Ergebnisse einer kontrollierten, randomisierten klinischen Studie veröffentlicht, die Verhaltenstherapie, stützende Therapie und psychodynamisch fundierte Therapie bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und mehreren Suizidversuchen untersuchte. In einem Artikel in Archives of General Psychiatry haben wir gezeigt, dass soziales Fertigkeitstraining, Familienverträge für kontingentes Verhalten und Stress Management wirksam sind. Es ist interessant, dass erst vor kurzem gezeigt wurde, dass die gleiche Palette verhaltenstherapeutischer Interventionen, einschließlich sozialem Fertigkeitstraining, auch bei Individuen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung wirksam sind. Dieser neuere Ansatz heißt zwar dialektisch-beha- Interview viorale Therapie, aber soziales Fertigkeitstraining und Stressmanagement spielen darin eine große Rolle. Das ist sehr interessant. Was für Anpassungen werden in der derzeitigen Therapie und Forschung notwendig sein? Bob Liberman: Meine Forschungsgruppe hat erst kürzlich eine randomisierte Untersuchung des sozialen Fertigkeitstrainings bei schizotypen Highschool-Schülern abgeschlossen. Die Gruppe, die soziales Fertigkeitstraining erhielt, war signifikant besser als die Kontrollgruppe bzgl. etlicher Maße, die die soziale Funktionsfähigkeit und schizotype Persönlichkeitszüge erhoben. Da Persönlichkeitsstörungen stärker genetisch beeinflusst sind als Achse-IStörungen und aus überlernten, jahrzehntelang unregelmäßig verstärkten Verhaltensweisen bestehen, ist die wichtigste Anpassung des sozialen Fertigkeitstrainings und verwandter Interventionen eine verlängerte Behandlungsdauer. Besonders wichtig sind auch Techniken, die die Generalisierung bestimmter Reaktionen auf bestimmte Reize fördern, insbesondere durch Mobilisierung natürlicher Unterstützung und Verstärkung von Verbesserungen bei den relevanten Verhaltenszügen. Die Leser von Verhaltenstherapie wünschen sich oft eine Art Fazit. Was ist deine Hauptbotschaft? Bob Liberman: Wir haben lange Zeit nicht sehen wollen, wie wichtig eine kontinuierliche, lebenslange Behandlung für Patienten mit Achse-I- und Achse-II-Störungen ist, obwohl fast alle dieser Störungen chronisch sind und in Form von erhöhter Vulnerabilität, Rückfällen bei besonderen Belastungen oder dauerhaften Einschränkungen weiter bestehen. Wir müssen nur einmal auf unsere ärztlichen Kollegen schauen, die ähnliche, lebenslange Störungen (z.B. Diabetes, HIV/AIDS, Bluthochdruck, Schilddrüsenunterfunktionen etc.) ebenfalls ein Leben lang behandeln. Die Psychiatrie und verbundene Fächer sollten sich von der Vorstellung befreien, langfristige Remissionen durch kurzfristige Behandlungen erreichen zu können. Selbst bei Agoraphobie mit Panikattacken sprechen nur 50% der Betroffenen dauerhaft auf eine kognitive Verhaltenstherapie an, wenn diese 20 Stunden oder weniger dauert. Und die Patienten in den viel gerühmten Untersuchungen zur kognitiven Verhaltenstherapie von Panikstörungen haben fast immer weiterhin Symptome und Einschränkungen, selbst wenn es statistisch signifikante Unterschiede zugunsten der kognitiven Verhaltenstherapie gibt. Die beste Behandlung für den Einzelnen unterscheidet sich sehr von den Behandlungen, die in wissenschaftlichen Zeitschriften beschrieben werden. In unserer klinischen Arbeit benutzen wir keine genau definierte, begrenzte Therapie. In der tatsächlichen Arbeit benutzen wir alles, was zu den Schwächen und Stärken, Ressourcen, Symptomen, psychosozialen Funktionsfähigkeiten und persönlichen Zielen passt, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. Vielen Dank für dieses interessante Interview! Verhaltenstherapie 2004;14:303–305 305 Downloaded by: 88.99.70.242 - 10/31/2017 5:51:55 PM missbrauch oder -abhängigkeit. Was für Erfahrungen hast du mit solchen Patienten? Gibt es neue Erkenntnisse aus dem Doppeldiagnoseteam des West Los Angeles Veterans Affairs Medical Center?