„Vor-Läufiges“ und „Irr-Läufiges“ oder Max Stirner und das Nichts HORST TIWALD www.horst-tiwald.de 3. Mai 2003 MAX STIRNER ist ein mutiger und redlicher Denker, der in seinem Modell konsequent zum Ende hin denken kann. Er hat sich im Bereich des Soseins mit GOTT und der MENSCHHEIT befasst und sich dabei selbst als den konkreten und besonderen „EINZIGEN“ entdeckt, der in voller Selbst-Verantwortung sich mutig ‚wagen’ muss, wie ich, mit Blick auf PETER W UST1, ergänze. Auf den ersten Blick mag es, wenn einem die religiöse Dimension des Erlebens ein Anliegen ist, erschrecken, wenn man MAX STIRNERS Abrechnung mit der „Welt der manipulierenden Bekenntnisse“ liest. Kann man ihm aber „gelassen“ zuhören, dann wird man entdecken, dass viele soziale Orientierungen doch über das Verknüpfen mit ganz elementaren egozentrischen Ängsten und Erwartungen verinnerlicht werden, die letztlich, meist unbewusst, erst das Akzeptieren bewirken. Der mittelbare Bezug zur Gemeinschaft über Ideen ist daher nur eine „vor-läufige“ und letztlich meist „irr-läufige“ Beziehung. Es geht deshalb nicht darum, die Brücke zum Anderen in der „Landkarte“2 mit Ideen zu schlagen, sondern das Gemeinsame erlebens-konkret in sich selbst, im Ego zu 1 Vgl. PETER WUST: „Ungewissheit und Wagnis.“ Graz 1937. Mit ALFRED KORZYBSKI (1879-1950) wurden die Wörter ‚Landschaft’ und ‚Landkarte’ zu Termini der Semantik, die insbesondere in der auf KORZYBSKI zurückgehenden ‚Allgemeinen Semantik’ tradiert werden. KORZYBSKIS zentrale These war, dass die Sprache eine Art Landkarte der Landschaft (d. h. der Wirklichkeit) sei und dass sie sich (als ein sich isolierendes und sich selbst veränderndes System) einerseits von der Wirklichkeit entfernt, d.h. zu einer ungenauen und auch falschen Landkarte wird, andererseits aber auch von innen her vorurteilend über den Menschen verfügt, indem sie das Wahrnehmen des Menschen, sein Selbstbild und Handeln verformt und prägt. Vgl. HAYAKAWA: „Semantik im Denken und Handeln.“ Verlag Darmstädter Blätter 1967 und GÜNTHER SCHWARZ (Hrsg.): „Wort und Wirklichkeit I – Beiträge zur Allgemeinen Semantik.“ Darmstadt 1968 und GÜNTHER SCHWARZ (Hrsg.): „Wort und Wirklichkeit II – Beiträge zur Allgemeinen Semantik.“ Darmstadt 1974. 2 2 entdecken und sich dann unmittelbar zu öffnen und zu weiten, bzw. sein eigenes Zentrum in seiner Tiefe als „Weite“ zu erleben. Der unmittelbare Weg zur Gemeinschaft führt daher als konkrete Chance sehr wohl über das „Nadelöhr“ jener mutigen und verantwortungsvollen Zentrierung, die MAX STIRNER im Visier hat. Durch dieses „Nadelöhr“ muss man durch, trotz der Gefahr, in ihm stecken zu bleiben. Ich verwendet das Wort „Nichts“ in anderem Sinne als MAX STIRNER. Wenn MAX STIRNER schreibt: „Ich bin (nicht) Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“ dann würde dieser Gedanke in meiner Verwendung der Wörter „Nichts“ und „Leere“ so aussehen: „Ich bin in meinem Innersten nicht „Leere“ im Sinne eines „Nichts“, sondern die formlose „schöpferische Leere“, die „Fülle“, welche als Kraft Alles verbindet und erfüllt.“ Gedanklich bewege ich mich daher in einem anderen Modell3, welches das Dasein (die ‚Fülle’ als ‚formlose Leere’) als einen Aspekt einer „einigen Dreiheit“ auffasst. Hier folge ich MEISTER ECKHART, der die DREIEINIGKEIT als Einheit von drei Positionen auffasste: mit ihm unterscheide ich in der Einheit die GOTTHEIT (BRAHMA, ‚Leere’, Hl. GEIST), von GOTT (Natur, VATER) und dem „Fünklein“ (ATMAN, SOHN)), das als das in tätiger Freiheit „gründlich“ Vereinende, d.h. als das ‚unmittelbar Vermittelnde’ angesehen werden kann. MAX STIRNER sieht dies anders. Ich kann ihn aber, ihn in seinem „gewagten“ Denken bewundernd, sehr gut nacherlebend verstehen und seine Gedanken in meinem Modell auch weiter differenzieren. 3 zu meinem Denkmodell siehe: HORST TIWALD: „Im Sport zur kreativen Lebendigkeit – Bewegung und Wissenschaft“ Band 2 der „Schriftenreihe des Instituts für bewegungswissenschaftliche Anthropologie e. V.“ Hamburg 2002 ISBN 3-936212-01-5, zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Buchmanuskripte“, und meinen Beitrag: „Bewegung und Möglichkeit“ in: FRANK NEULAND (Hg.), „Bewegung und Möglichkeit – Akzente einer ganzheitlichen Bewegungswissenschaft“ Band 1 der „Schriftenreihe des Instituts für bewegungswissenschaftliche Anthropologie e. V.“ Hamburg 2002 ISBN 3936212-00-7, zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Philosophie und Religion“. 3 In seiner Schrift „Der Einzige und sein Eigentum“4 schrieb MAX STIRNER in der Einleitung: „Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf Sich. Stelle Ich denn meine Sache gleichfalls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem Andern, der Ich mein Alles, der Ich der Einzige bin. Hat Gott, hat die Menschheit, wie Ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich Alles in Allem zu sein; so spüre Ich, dass Ich über meine ‚Leerheit’ keine Klage zu führen haben werde. Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe. Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist!“ Verständlich, dass MAX STIRNER damit ins Fadenkreuz sowohl der THEOLOGISCHEN IDEALISTEN, die über Ideen „bekennende Brücken“ zur Gemeinschaft, zum „Leib Christi“ schlagen, als auch der MARXISTEN kam. MARX und ENGELS, die ich ebenfalls sehr schätze, haben sich an ihm, ihn kritisierend, hochgezogen. Ganz geheuer war ENGELS sein Umgang mit STIRNER aber anscheinend doch nicht, denn er schrieb, ohne zu sagen, dass er dies von STIRNER gelernt hat, „dass wir erst eine Sache zu unserer eigenen, egoistischen Sache machen müssen, ehe wir etwas dafür tun können.“ (MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 563) und auch LENIN konnte nicht umhin, STIRNERS Gedanken aufnehmend zu sagen „natürlich aber von sich innerhalb ihrer gegebenen historischen Bedingungen und Verhältnisse, nicht vom ‚reinen’ Individuum im Sinne der Ideologen“ (Werke, Bd. 31, S 285) MAX STIRNER schließt sein Buch mit dem Gedanken: „Das Ideal ‚der Mensch’ ist realisiert, wenn die christliche Anschauung umschlägt in den Satz: ‚Ich, dieser Einzige, bin der Mensch’. Die Begriffsfrage: ‚was ist der Mensch?’ – hat sich dann in die persönliche umgesetzt: ‚wer ist der Mensch?’ Bei ‚was’ sucht man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei ‚wer’ ist’s überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.“ 4 MAX STIRNER: „Der Einzige und sein Eigentum“, Leipzig 1845, eig. Oktober 1844) (Reclam Taschenbuch 3057). 4 „Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell’ Ich auf Mich, dem Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.“ Das „schöpferische Nichts“ bezeichne ich, wie schon erwähnt, in meinem GedankenModell entsprechend der buddhistischen Bedeutung mit dem Wort „Leere“. Ich verwende die Wörter „Nichts“ und „Leere“ also genau umgekehrt wie STIRNER. Aber es wird bei STIRNER ohnehin klar, was er mit seinen Wörtern meint, so dass sich sein Zitat leicht in meine Sprache übersetzen lässt. Der Gedanke von STIRNER: „Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist!“ verweist daher in meinen Augen auf keine Selbstsucht, sondern im Gegenteil. Es geht darum, das Gemeinsame nicht „halbherzig zu fördern“, sondern es zur „eigenen Sache“ zu machen. Aus meiner Kindheit war mir in Erinnerung, dass es in der Bibel heiße: "Liebe die Anderen wie Dich selbst!". Ich hatte dies immer so aufgefasst, dass man der Intensität nach die „Anderen“ so stark lieben solle wie sich selbst, um einer egozentrischen Selbstliebe zu entgehen. Ein paar Mal habe ich in den vergangenen Jahren das gleiche Zitat, aber mit den Worten "Liebe die anderen als Dich selbst" gelesen, zwar gestutzt, das Problem aber dann als ein grammatikalisches abgetan. Kürzlich habe ich es wieder gelesen und meine Auffassung kippte. Natürlich darf es im christlichen Sinne nicht "wie", sondern es muss "als" heißen. Im christlichen Sinne ist man ja in seinem innersten Kern die Menschheit und damit der alle Anderen umfassende "LEIB CHRISTI". Man liebt daher aus christlicher Sicht nur dann in seinem innersten Kern sich selbst, wenn man in Nächstenliebe die Anderen, die Gemeinschaft, liebt, die eben der LEIB CHRISTI sind. 5 Man liebt die Anderen als sich selbst, weil man sie in Liebe eben konkret nur in sich selbst findet. Man ist nicht in der sinnlich vermittelten „Landkarte“ mit ihnen eins, sondern in der „Landschaft“, in seinem alles verbindenden innersten Kern. Hierher passt auch der Gedanke von SIGMUND FEUERABENDT5, der in einer einleitenden Abhandlung über Yoga schreibt: „Schließlich möchte ich noch ein Wort erwähnen, welches zwar die meisten Christen ständig im Mund führen, ohne es aber ernst zu nehmen und zu ahnen, was sie da sagen. Ich meine das Wort ‚Barmherzigkeit’. Ich finde es im Vedischen als ‚brahma-carya’ wieder. Zerlegt ergibt es ‚Brahma’ und ‚carya’, wobei wiederum ‚Brahma’ in ‚bar’ und ‚man’ zerfällt, d.h. in den Gebär-Geist oder den Schöpfergott; und ‚carya’ ist die ‚Herzigkeit’, lateinisch ‚cor’ = ‚Herz’. Also ist ‚brahmacarya’ einfach unsere Barmherzigkeit.“ Man muss also durch das „Nadelöhr“ der eigenen Person hindurch, um einen unmittelbaren Bezug zur Welt zu bekommen. Die Vielfalt der so und anders seienden GÖTTER ist bloß ein Vorspiel des Religiösen, das über die Faszination die Aufmerksamkeit bindet und entweder über Demütigung, Furchteinflößung oder Glücksverheißung eine (oft unbewusst bleibende) letztlich doch egozentrische Beziehung aufbaut. Diese ist in der „Landkarte“ über Bilder und Wörter vermittelt. Es ist deswegen ein Fortschritt hin zum Religiösen, wenn ANGELUS SILESIUS aufruft, statt den außen wirkenden GÖTTERN oder dem außen wirkenden umfassenden GANZEN (dem GOTT) anzuhangen, sein Suchen in sich selbst nach innen zu richten. Er schrieb6 : „Die Über-Gottheit. Was man von Gott gesagt, das g’nüget mir noch nicht: Die Übergottheit ist mein Leben und mein Licht.“ (I/15) „Der Himmel ist in dir. Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir: Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“ (I/82) „In dir muss Gott geboren werden. Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir: Du bleibst ewiglich verloren.“ (I/61) „Ich bin so breit als Gott. Ich bin so breit als Gott, nichts ist in aller Welt, 5 vgl. SIGMUND FEUERABENDT: „Das Yoga Sutra – Die 196 Merksprüche des Ur-Yoga.“ München 1989. Seite 17. ISBN 3-442-10456-4. 6 ANGELUS SILESIUS: „Cherubinischer Wandersmann“ Jena 1914. Nach den Zitaten ist die Nummer des Buches und die des “Sinn- und Schlussreimes“. in Klammer gesetzt. Der schlesische Mystiker ANGELUS SILESIUS lebte von 1624 bis 1677. Sein eigentlicher Name war JOHANN SCHEFFLER. 6 Das Mich (0 Wunderding) in sich umschlossen hält.“ (86) „Es liegt alles im Menschen. Wie mag dich doch, o Mensch, nach etwas thun verlangen, Weil du in dir hälts Gott und alle Ding umfangen.“ (I/88) „Der Ein ist in dem Andern. Ich bin nicht außer Gott und Gott nicht außer mir, Ich bin sein Glanz und Licht, und er ist meine Zier.“ (I/106) „Die Gottheit ist ein Nichts. Die zarte Gottheit ist ein Nichts und Übernichts: Wer nichts in allem sieht, Mensch, glaube, dieser sichts.“ (I/111) „Durch die Menschheit zu der Gottheit. Willst du den Perlenthau der edlen Gottheit fangen, So musst du unverrückt an seiner Menschheit hangen.“ (I/121) Im letzten Spruch von ANGELUS SILESIUS ist deutlich darauf hingewiesen, dass der egozentrische Weg der Selbsterlösung oder der einer weltflüchtigen Selbstbeglückung (wie sie in HINDUISTISCHEN RELIGIONEN und im HINAYANA-BUDDHISMUS als Irr- Weg nahe liegt) von der Gefahr begleitet ist, im „Nadelöhr“ stecken zu bleiben. Dies auf zweifache Weise: • • entweder wird die „Enge“ des Nadelöhrs (die isolierende Einkerkerung und/oder schützende Panzerung) für einen habgierigen oder ängstlich verschreckten Egoismus prägend; oder man ignoriert, demütig Leid erduldend, die tatsächliche „Enge“ und genießt ebenfalls selbstsüchtig den distanzierten Blick auf das Licht und die „Weite“ jenseits des Tunnel-Endes. Im zweiten Fall wird der „außen wirkende GOTT der Wirklichkeit“ bloß durch eine „innen beglückende GOTTHEIT“ ersetzt. Der freie Blick auf die GOTTHEIT (von einer im „Nadelöhr“ noch gefangenen Position) ist dabei genau so „vor-läufig“ und meist auch „irr-läufig“ wie das über angsterzeugende oder glückverheißendende Bilder vermittelte Wirken von GÖTTERN, bzw. von GOTT. Es geht daher nicht darum, den „wirkenden GOTT“ durch eine innere Begegnung mit der „form- und wirkungslosen GOTTHEIT“ (mit der Kraft-Fülle) zu ersetzen oder bloß (etwa durch Hinzuziehen östlicher Versenkungspraktiken) die vorangegangene Einseitigkeit zu ergänzen, sondern man muss durch das „Nadelöhr“ durch und über diesen Durchgang wieder zur Welt kommen. Es geht dabei in einer Art Wieder- oder Neu-Geburt um einen neuen, d.h. „gründlichen“ Bezug zur Welt. Es geht darum, tätige Barmherzigkeit, Mitleid und Nächstenliebe zu entfalten, wie es beim Paradigma-Wechsel vom HINAYANA zum MAHAYANABUDDHISMUS geschah, zu einer Zeit, in der sich das Wirken JESU vorbereitete. 7 Es geht also darum, dass die GOTTHEIT nicht nur ehrfürchtig und demütig bestaunt und als Glück egoistisch konsumiert wird, sondern darum, dass die GOTTHEIT „Tatsächlich“ zur Welt kommt, eben im SOHN Fleisch wird, wie es der Grundgedanke der CHRISTLICHEN TRINITÄT ist. Aber nicht in allen fernöstlichen Versenkungspraktiken geht es um ein weltflüchtiges Wegtreten. Zum Beispiel im ZEN-BUDDHISMUS ist dies gerade nicht der Fall. Das sogenannte SATORI (das Befreiungs- bzw. Erleuchtungserlebnis im ZEN) ist kein sakrales Hinaustreten aus der Welt, sondern ein ganz profanes Hineintreten in die Welt. Es ist nicht ein Ergreifen eines formlosen "Inhalts" jenseits der Welt der "Formen", sondern gerade umgekehrt: Das SATORI ist das Ergreifen des formlosen "Inhalts" in der "Form". Es ist das Ergreifen der "Freiheit" in der "Ordnung" und das Erleben der Einheit von "Ordnung und "Freiheit"7. Im SATORI wird der Zustand der sog. "Leere" erreicht. Das Bewusstsein ist dann zwar "leer" an "Formen", aber es ist eine "Fülle" existenziellen Inhalts erlebbar. Dieser Zustand ist Grundlage einer unmittelbaren intutiven Beziehung zur Welt. In diesem Sinne forderte daher DAISETZ TAITARO SUZUKI: "Satori muss sich inmitten der Unterscheidung entfalten. Ebenso wie es Zeit und Raum und ihre Begrenzungen übersteigt, ist es auch in ihnen." "Das Satori steht fest auf der absoluten Gegenwart erbaut, auf dem Ewigen Jetzt, in dem Zeit und Raum zusammengewachsen sind und sich doch zu unterscheiden beginnen." "Satori wird erlangt, wenn die Ewigkeit in die Zeit eindringt oder in die Zeit eingreift."8 7 Vgl. HORST TIWALD: „Bewegen zum Selbst - Diesseits und jenseits des Gestaltkreises.“ Hamburg 1997, ISBN 3-9804972-3-2, zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Buchmanuskripte“. HORST TIWALD: „Die Kunst des Machens oder der Mut zum Unvollkommenen - Die Theorie der Leistungsfelder und der Gestaltkreis im Bewegenlernen.“ Hamburg 1996, ISBN 3-9804972-2-4, zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Buchmanuskripte“. 8 DAISETZT TEITARO SUZUKI: „Leben aus Zen.“ München-Planegg 1955. 8 Beim Erreichen des SATORI geht es um einen Durchbruch durch das „Nadelöhr“, das als „Nichts“ der Person die Grenzen setzt und sie beengt9. Es gilt dabei: • • • einerseits von diesem „scheinbar“ Halt gebenden Rahmen „loszulassen“; andererseits nicht am „erfüllenden“ Lichtblick der „Leere“ anzuhangen; sondern „erfüllt“ der konkreten Welt zu begegnen. Der Orientalist FRIEDRICH RÜCKERT10 , der eine auch literarisch sehr eindrucksvolle Zusammenschau östlichen Gedankengutes gab, hat dies treffend ausgedrückt: „Die Götter lieb’ ich nicht, die uns Sagen gaben, Die bald zuviel ein Aug und bald zuwenig haben. Die Gottheit lieb’ ich, die mich unsichtbar umfließt, Ein ew’ger Liebesblick der Schöpfung Blüt’ erschließt. Die Gottheit lieb’ ich, die allgegenwärtig waltet, Gestaltenlos, der Welt Gestalten umgestaltet. Und nimmt sie selbst Gestalt, und es soll mir nicht graun, So muss sie menschlich aus zwei Augen an mich schaun.“ Ich wollte mit dem bisher Gesagten deutlich machen: • • 9 ein „vor-läufiger“ Weg kann auch ein „irr-läufiger“ werden; in jedem Weg, ob „noch vorläufig“ oder „schon irr-läufig“ steckt im komplementären Sinne11 der jeweils andere Weg; Vgl. meinen Text „Gedanken zu Wahrheit und Wirklichkeit und Zen“ , zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Traditionelles chinesisches Denken“. 10 FRIEDRICH RÜCKERT: „Die Weisheit des Brahmanen – Ein Lehrgedicht“, Leipzig 18707. FRIEDRICH RÜCKERT (1788-1866) war Professor für Orientalische Sprachen an der Universität Erlangen. 11 Das Wort "komplementär" ist hier im Sinne von sich gegenseitig ergänzend gemeint. Das Ganze setzt sich zu einem Dualismus, zu einer gegensätzlichen Zweiheit, auseinander. Die so auseinandergesetzten Pole brauchen sich gegenseitig, obwohl sie einseitig erscheinen. Für sich alleine betrachtet ist das jeweils Auseinandergesetzte nicht absolut einseitig. Es besitzt in sich selbst eine neue Komplementarität und setzt sich ebenfalls wieder komplementär auseinander. Die Komplementarität kehrt auf allen Stufen, bzw. Ebenen des Auseinandersetzens wieder. Das chinesische Symbol für die gegenseitige "Verwindung" von YIN und YANG ("verwinden" im doppelten Sinn: sowohl im Sinne von "gegensinnig verdrehen", als auch im Sinne, wie man zum Beispiel "ein Leid verwindet") bringt das gut zum Ausdruck. Das YIN hat das gegensätzliche YANG nicht "überwunden", sondern bloß "verwunden". Das YIN ist zwar souverän, aber es steckt in ihm das bloß "verwundene" YANG. Und umgekehrt. 9 • • nie ist etwas schon endgültig gewonnen, aber auch nie endgültig verloren; in jedem „irr-läufigen“ Weg steckt auch ein erneut „vor-läufiger“ Weg; in jeder Gefahr stecken Chancen und in jeder Chance stecken Gefahren. Es gibt aber beim Ändern des einen Weges zum anderen ganz wesentliche Unterschiede: • der Wandel vom vor-läufigen Weg zum irr-läufigen erfolgt mehr oder weniger schleichend und unauffällig; man merkt kaum, dass er geschieht; unversehens hat sich das Blatt gewendet; diese Änderung ist fast evolutionär, sie ist rhythmisch intensivierend und fließend; • ganz anders ist der Wechsel vom irr-läufigen Weg zum erneut vorläufigen; dieses Ändern ist eruptiv, loslassend; es ist kreativ sprengend und revolutionär; aus den irr-läufigen Wegen gibt es keinen sanften Ausweg; hier ist eine „gewagte“ kreative Tat erforderlich, entweder im Tun und/oder im Loslassen. So berichten religiöse Menschen über ihr erlebtes Gott-Mensch-Verhältnis ganz unterschiedlich, je nach dem, auf welchem Weg sie sich befinden, bzw. ob sie sich im Prozess des Voranschreitens befinden oder sich in einen Zustand festgefahren haben und nicht loslassen können. Steckt jemand im „Nadelöhr“, dann liegt ihm das „Nichts“ als beengende Grenze hautnah an. Sein Blick auf das Licht vor ihm hinter dem Tunnel-Ende erscheint ihm daher distanziert, fern, jenseitig und beglückend. Sich selbst erlebt er dagegen als festgefahrenes und versklavtes „Nichts“, das in Demut sich vom Licht durchfluten lässt. Dementsprechend fällt dann auch sein Gottesbild und seine Religion aus. Es gibt keine harte Grenze zwischen YIN und YANG. Deshalb kann weder das eine noch das andere "definiert", d.h. begrenzt werden, ohne den immer wieder bloß "verwundenen" und deshalb zur Bewegung antreibenden Gegensatz, bzw. Widerspruch aufzuwerfen. Vergleiche auch den Begriff "Verwinden" bei MARTIN HEIDEGGER, wie ihn GIANNI VATTIMO herausarbeitet. GIANNI VATTIMO: „Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie". In WOLFGANG WELSCH (Hrsg): „Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion.“ Weinheim 1988. Einen besonderen Gewinn kann auch bringen das Studium der Schrift von ROMANO GUARDINI: „Der Gegensatz. Versuch zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten.“ Mainz 1985 (Original 1925). Vgl. auch HORST TIWALD: „Yin und Yang. Zur Komplementarität des leiblichen Bewegens.“ Immenhausen bei Kassel 2000, ISBN 3-934575-10-2, zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Buchmanuskripte“. 10 Schafft dagegen jemand das Loslassen von seiner Zentrierung auf sein im Nadelöhr „begrenztes“ Ich, dann ist auch die durch das Festhalten erlebbare Distanz weg. Es gerät alles in Bewegung. Sowohl das Durchfluten vom GRUNDE her, als auch die begrenzende W ELT erleben sich dann ganz anders. Das Gottesbild und die entsprechende Religion fallen dann ganz anders aus. Wie dieses „vor-läufige“ Bild auch immer ausfällt, letztlich kommt es darauf an, dass man im Sinne des „Erkenne Dich selbst!“ sich selbst auch selbst achtsam erkennt. Das heißt, dass man einerseits sich selbst zum Objekt seines Erkennens nimmt, es aber andererseits auch „wagen“ darf, dieses Erkennen als Subjekt auch selbst zu tun und sich nicht in seiner „Selbst-Beurteilung“ fremdes Wissen borgt und einredet. Aber auch das selbst geleistete Selbst-Erkennen ist wiederum nur ein „vor-läufiger“ Weg. Es kann einem auf diesem Weg aber klar und deutlich werden, dass das achtsame selbst-erkennende „Zur-Sprache-bringen“ des eigenen Erlebens zwar ein für den jeweils Einzelnen schwieriger, aber für die Gesamtheit der Menschen ein zwar „vor-läufiger“ aber trotzdem unentbehrlicher Weg ist. Alle Religionsstifter hatten deshalb Dreierlei getan: • • • sie haben selbst ihr Erleben bzw. ihr Erlebtes zur Sprache gebracht; sie haben etwas zur Sprache Gebrachtes mündlich oder schriftlich hinterlassen; sie haben eine Gemeinschaft bewirkt, die nach dem von ihnen zur Sprache Gebrachten „vor-läufig“ lebt, bzw. für die das „Zur-SpracheGebrachte“ als Sprache gleichsam das „Nervensystem“ ihres sozialen Organismus bildet. Aus diesem Grunde ist es daher wichtig, die tradierten Wörter, bzw. die Sprache durch achtsam konkretes Erleben immer wieder „richtig zu stellen“, d.h. achtsam mit erlebens-konkretem, klarem und deutlichem Sinn zu „füllen“12. Es geht daher darum, im Erleben immer wieder achtsam in jene „Ur-Sphäre“13 des „Schauens der Praxis“ vorzudringen, in der es im janusköpfigen „Hier und Jetzt“14 12 Vgl. meinen Text: „Unsicherheitsbedürfnis und Mut zum kreativen Wagnis“, zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner: „Philosophie und Religion“. 13 Zum Begriff „Ur-Sphäre“ vgl. EUGEN HERRIGEL: „Urstoff und Urform. Ein Beitrag zur philosophischen Strukturlehre“, Tübingen 1926 und EUGEN HERRIGEL: „Die Metaphysische Form. Eine Auseinandersetzung mit Kant“, Tübingen 1929. 11 noch keine relativ „träge“, durch das „Nadelöhr“ beengte, Blick-Richtung gibt, welche die „spiegelartige“ Achtsamkeit und ihr allseitige Pulsieren einschränkt bzw. „richtet“. Wird dies nicht geleistet, dann „schleicht“ sich der „vor-läufige“ Weg bald in einen „irr-läufigen“ Weg hinein. Dies hat FRIEDRICH NIETZSCHE15 seinen ZARATHUSTRA sagen lassen: „Also, durch viel Volk und vielerlei Städte langsam hindurchschreitend, ging Zarathustra auf Umwegen zurück zu seinem Gebirge und seiner Höhle. Und siehe, dabei kam er unversehens auch an das Stadttor der großen Stadt: hier aber sprang ein schäumender Narr mit ausgebreiteten Händen auf ihn zu und trat ihm in den Weg. Dies aber war derselbige Narr, welchen das Volk ‚den Affen Zarathustras’ hieß: denn er hatte ihm etwas vom Satz und Fall der Rede abgemerkt und borgte wohl auch gerne vom Schatze seiner Weisheit. Der Narr aber redete also zu Zarathustra: ‚0 Zarathustra, hier ist die große Stadt: hier hast du nichts zu suchen und alles zu verlieren. Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? Habe doch Mitleiden mit deinem Fuße! Speie lieber auf das Stadttor und - kehre um! Hier ist die Hölle für Einsiedler-Gedanken: hier werden große Gedanken lebendig gesotten und klein gekocht. Siehe auch: DAISETZ TEITARO SUZUKI: „Wesen und Sinn des Buddhismus – Ur-Erfahrung und Ur-Wissen“, Freiburg- Basel-Wien 1993. ISBN 3-45104920-1. Vergleiche auch den Begriff „höchste Urteilskraft“ bei NYOITI SAKURAZAWA (GEORGES OHSAWA): „Die fernöstliche Philosophie im nuklearen Zeitalter“, Hamburg 1978, und GEORGES OHSAWA: „Das Einzige Prinzip der Philosophie und der Wissenschaft des Fernen Ostens – Die Philosophie der Makrobiotik“, Holthausen/ü. Münster 1990. ISBN 3-924845-23-9 sowie GEORGES OHSAWA: „ Das Buch vom Judo“, Holthausen/ü. Münster 1988. ISBN 3924845-12-3. 14 Vgl. hierzu HORST TIWALD: „Talent im ‚Hier und Jetzt’ – Eine Zusammenschau von buddhistischen Sichtweisen mit abendländischem Denken mit dem Ziel, Gesichtspunkte östlicher und fernöstlicher Trainings-Praktiken in die Talententfaltung fördernd einzubringen“, Hamburg 2003, Band 11 der Schriftenreihe des Instituts für bewegungswissenschaftliche Anthropologie e.V. ISBN 393-6212-10-4. Zum kostenlosen Downloaden aus dem Internet www.tiwald.com unter den Downloads im Ordner „Buchmanuskripte“. 15 FRIEDRICH NIETZSCHE lebte von 1844 bis 1900. Er veröffentlichte sein Werk „Also sprach Zarathustra“ in der Zeit von 1883 bis 1885 in vier Bänden. 12 Hier verwesen alle großen Gefühle: hier dürfen nur klapperdürre Gefühlchen klappern! ' Riechst du nicht schon die Schlachthäuser und Garküchen des Geistes? Dampft nicht diese Stadt vom Dunst geschlachteten 'Geistes? Siehst du nicht die Seelen hängen wie schlaffe schmutzige Lumpen?Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen! Hörst du nicht, wie der Geist hier zum Wortspiel wurde? Widriges Wort-Spülicht bricht er heraus! Und sie machen noch Zeitungen aus diesem Wort-Spülicht. Sie hetzen einander und wissen nicht, wohin? Sie erhitzen einander und wissen nicht, warum? Sie klimpern mit ihrem Bleche, sie klingeln mit ihrem Golde. Sie sind kalt und suchen sich Wärme bei gebrannten Wassern: sie sind erhitzt und suchen Kühle bei gefrorenen Geistern; sie sind alle siech und süchtig an öffentlichen Meinungen. Alle Lüste und Laster sind hier zu Hause; aber es gibt hier auch Tugendhafte, es gibt viel anstellige angestellte Tugend: Viel anstellige Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und Wartefleische, gesegnet mit kleinen Bruststernen und ausgestopften steißlosen Töchtern. Es gibt hier auch viel Frömmigkeit und viel gläubige SpeichelLeckerei, Schmeichel-Bäckerei vor dem Gott der Heerscharen. ‚Von oben’ her träufelt ja der Stern und der gnädige Speichel; nach oben hin sehnt sich jeder sternenlose Busen. Der Mond hat seinen Hof und der Hof hat seine Mondkälber: zu allem aber, was vom Hofe kommt, betet das Bettel-Volk und alle anstellige Bettel-Tugend. ‚Ich diene, du dienst, wir dienen’ -. so betet alle anstellige Tugend hinauf zum Fürsten: dass der verdiente Stern sich endlich an den schmalen Busen hefte! Aber der Mond dreht sich noch um alles Irdische: so dreht sich auch der Fürst noch um das Aller-Irdischste: das aber ist das Gold der Krämer. Der Gott der Heerscharen ist kein Gott der Goldbarren: der Fürst denkt, aber der Krämer - lenkt! 13 Bei allem, was licht und stark und gut in dir ist, 0 Zarathustra! Speie auf diese Stadt der Krämer und kehre um! Hier fließt alles Blut faulicht und lauicht und schaumicht durch alle Adern: speie auf die große Stadt, welche der große Abraum ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt! Speie auf die Stadt der eingedrückten Seelen und schmalen Brüste, der spitzen Augen, der klebrigen Finger auf die Stadt der Aufdringlinge, der Unverschämten, der Schreib- und Schreihälse, der überheizten Ehrgeizigen: - wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düstere, Übermürbe, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt : - speie auf die große Stadt und kehre um!’ Hier aber unterbrach Zarathustra den schäumenden Narren und hielt ihm den Mund zu. ‚Höre endlich auf!’ rief Zarathustra, ‚mich ekelt lange schon deiner Rede und deiner Art! Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zur Kröte werden musstest? Fließt dir nicht selber nun ein faulichtes schaumichtes SumpfBlut durch die Adern, dass du also quaken und lästern lerntest? Warum gingst du nicht in den Wald? Oder pflügtest die Erde? Ist das Meer nicht voll von grünen Eilanden? Ich verachte dein Verachten; und wenn du mich warntest, warum warntest du dich nicht selber? Aus der Liebe allein soll mir mein Verachten und mein warnender Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe! Man heißt dich meinen Affen, du schäumender Narr: aber ich heiße dich mein Grunze-Schwein, durch Grunzen verdirbst du mir noch mein Lob der Narrheit. Was war es denn, was dich zuerst grunzen machte? Dass niemand dir genug geschmeichelt hat: - darum setztest du dich hin zu diesem Unrate, dass du Grund hättest viel zu grunzen, - dass du Grund hättest zu vieler Rache! Rache nämlich, du eitler Narr, ist all dein Schäumen, ich erriet dich wohl! Aber dein Narren-Wort tut mir Schaden, selbst wo du Recht hast! Und wenn Zarathustras Wort sogar hundertmal Recht hätte: du würdest mit meinem Wort immer - Unrecht tun!’ 14 Also sprach Zarathustra; und er blickte die große Stadt an, seufzte und schwieg lange. Endlich redete er also: ‚Mich ekelt auch dieser großen Stadt und nicht nur dieses Narren. Hier und dort ist nichts zu bessern, nichts zu bösern. Wehe dieser großen Stadt! - Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird! Denn solche Feuersäulen müssen dem großen Mittage vorangehn. Doch dies hat seine Zeit und sein eigenes Schicksal! Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man nicht mehr lieben kann, da soll man - vorübergehn!16 Ganz ähnlich beschrieb das „Vorübergehen“ der bedeutendste deutsche Humanist ERASMUS VON ROTTERDAM17 bereits im Jahre 1509: "Die Weisheit aber kann nur furchtsam und zaghaft machen; darum seht ihr auch, dass die Weisen sich stets mit Armut, Hunger und Wust herumplagen, dass sie verachtet, ruhmlos und angefeindet leben. Die Toren hingegen haben Überfluss an Geld, sitzen am Steuer des Staates, kurz, blühen und gedeihen in allem." (136) "Je größere Stümper sie sind, desto hervorragendere Leistungen glauben sie zu bringen, desto lauter verkünden sie aller Orten ihr Lob. Glaubet doch nicht, dass es diesen Hohlköpfen an Kohlköpfen mangele, die ihre Ansichten billigen; die plumpeste Dummheit, die absurdeste Verkehrtheit findet auf Erden bekanntlich die meisten Bewunderer und Liebhaber, weil eben, wie ich euch schon gesagt, fast alle Menschen der Torheit huldigen. Die Unwissenheit also hat zwei große Vorzüge: • einmal verträgt sie sich vollkommen mit der Eigenliebe, • fürs zweite genießt sie die Bewunderung der Menge. Wem aber eine wahrhaft philosophische Bildung lieber ist, • der muss sie erstens um einen hohen Preis erkaufen, • und dann bewirkt ein solches Wissen, dass alle Welt ihn meidet und er vor aller Welt flieht, bis er schließlich kaum noch jemanden findet, der seine Neigung zu teilen imstande wäre." (82-83) 16 FRIEDRICH NIETZSCHE: „Also sprach Zarathustra – Ein Buch für Alle und Keinen“, III. Teil, Kapitel: „Vom Vorübergehen“. 17 ERASMUS DESIDERIUS genannt ERASMUS VON ROTTERDAM lebte von 1466 (1469?) bis1536. Sein Buch: „Das Lob der Torheit“ erschien 1509. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Noch zu Lebzeiten des ERASMUS VON ROTTERDAM erschienen 27 Auflagen. Vgl. ERASMUS VON ROTTERDAM: „Das Lob der Torheit“, Stuttgart 1949. Die Zahlen in Klammern am Ende der Zitate beziehen sich auf die entsprechenden Seiten dieser Reclam-Ausgabe. (Reclam), 15 "Allein es gehört ja gar nicht zu meinem Thema, das Leben der Prälaten und Priester einer Prüfung zu unterziehen; sonst könnte es leicht den Anschein gewinnen, als wollte ich eine Satire schreiben und eine Lobrede halten, und als sei es meine Absicht, die guten Fürsten zu tadeln, indem ich die schlechten lobe. Ich habe diesen Gegenstand nur mit wenigen Worten berührt, um klar dazulegen, dass kein Mensch glücklich zu leben vermag, wenn er nicht in meine heiligen Geheimnisse eingeweiht und meiner Gunst teilhaftig ist." (135) Dies scheint mir zwar zutreffend zu sein, es klingt aber sehr pessimistisch. Deswegen einen etwas positiveren Schluss. Dieser soll zu den Gedanken des Begründers des „W IENER KREISES“, zu dem Philosophen MORITZ SCHLICK hinführen. Seine Gedanken schlagen wieder die Brücke zum „Wagnis“. MORITZ SCHLICK schrieb in einer Schrift aus seinem Nachlass18: „Geschichte ist ein notwendiges Übel Sie ist der Übergang aus einem Gleichgewichtszustand der Kultur in einen anderen, aus der instinktiven Vollkommenheit der Tiere in die vernünftige des freien Menschen. Der geschichtliche Mensch ist eine Brücke. Auf einer Brücke aber herrschen ganz andere Regeln als im freien Gelände. Sie hat Geländer, über die man nicht hinauskann, ohne in die Tiefe zu stürzen; sie erlaubt kein Ausruhen, weil man sonst den Verkehr stocken macht, man ist eingeengt, daher unfrei; das Gelände aber ist frei. du kannst die Straße verlassen, wo du willst, und rasten, wo es dir gefällt. Du brauchst keine Regeln des Verkehrs zu verletzen und so durch die Erfüllung deiner Wünsche andern lästig fallen, denn du kannst dem Verkehr und dem Treiben der anderen aus dem Wege gehen. Und nun, liebe Freunde, begeht Ihr alle den Fehler, Ihr Historiker und Politiker, die Regeln der Brücke für die Regeln des Lebens überhaupt zu halten. 18 Aus: MORITZ VON SCHLICK: „Natur und Kultur“, Wien 1952, Lizenzausgabe des ATLANTIS VERLAG Zürich in Vereinbarung mit dem HUMBOLDT VERLAG Wien, Sammlung „Die Universität“, Seite 46- 49. MORITZ SCHLICK (1882-1932) war Begründer des philosophischen "WIENER KREISES" (RUDOLF CARNAP, KURT GOEDEL, VIKTOR KRAFT, OTTO NEURATH, HANS REICHENBACH, FRIEDRICH WAISMANN u.a. ). MORITZ SCHLICK promovierter bei MAX PLANCK über ein Problem der Lichtreflexion und wurde danach als Professor für Naturphilosophie und Ethik 1922 übernahm er in der Nachfolge von ERNST MACH und LUDWIG BOLTZMANN in Wien den Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften. 16 Ihr dürft nicht sagen: ‚Wir sind nun einmal auf der Brücke über dem Strom - was gehen uns die Länder zu beiden Seiten des Stromes an!’ Denn wie man die Vorgänge auf einem kleinen Teil der Erdoberfläche nicht verstehen kann, ohne zu wissen, dass unser Planet rund ist, ja wie man dazu sogar manches über die Sterne und den Bau des großen Weltalls wissen muss - so lassen sich auch die für die Regeln der Brücke nötigen Begriffe nur bilden, wenn man imstande ist, hinüberzublicken nach dem anderen Ufer. Wo keine Geschichte mehr sein wird. Glaubt Ihr etwa, dass man auch drüben noch die Götzen verehrt, die Ihr als Heilige auf Eure Brücken aufstellet und denen Ihr so schöne Namen gegeben habt? Ehre, Freiheit und Größe! Es gibt nur eine Größe des Menschen: die sittliche. Größe setzt nämlich voraus, dass man eine ungeheure Verantwortung auf sich nimmt, und das ist eine rein moralische Angelegenheit. Denn wie könntest Du groß sein, ohne unablässig das Höchste zu wagen? Auf Deinem Wege wird nämlich dann alles zum Wagnis, was dem alltäglichen Menschen ungefährlich ist, für Dich bedeutet das geringste Nachlassen den Sturz, Du kannst nicht gemächlich Deines Weges rollen, denn um zu Deinem Ziel zu gelangen, bedarfst Du so großer Kraft und Geschicklichkeit, dass die kleinste falsche Wendung des Steuers Dich für immer aus der Bahn wirft. Prachtvoll sagt es KIERKEGAARD: ‚Du bist in dem Grad ein bedeutender Mensch, dass auch das geringste Versehen gestraft wird, als wäre es das himmelschreiendste Verbrechen. Dass es so streng zugeht, bedeutet, da Du ein äußerst wichtiger Mensch bist.’ Unsere Freiheit besteht darin, dass wir in allen wichtigen Lebenslagen viele Zielvorstellungen gegenwärtig haben, zwischen denen unsere Aufmerksamkeit hin und her wandert, so dass es nur von dem Gesetz unserer eigenen Persönlichkeit abhängt, für welche Handlung wir uns entscheiden. Das Tier ist unfrei, weil es in jedem Augenblick fast immer auf ein Ziel allein beschränkt ist, und die verschiedenen zu gleicher Zeit möglichen Ziele sich nur wenig voneinander unterscheiden. Echte Kultur macht uns freier und freier, weil sie unablässig neue Ziele erfindet und alle Möglichkeiten verfeinert, indem sie die Unterschiede zwischen ihnen vergrößert. Der Machtstaat wirkt genau in der entgegengesetzten Richtung: durch Suggestion (Propaganda) und unausgesetzte Drohungen hält er wenige bestimmte Vorstellungen im Vordergrund des Bewusstseins der Untertanen und schreckt die anderen von vornherein vom Eintritt zurück. So wird der ‚einheitliche Volkswille’ geschaffen. Aber so etwas verdient nicht mehr den Namen "Wille". 17 Auch die wilde Natur ist frei in einem schönen Sinn, sie hat noch keine Sehnsucht zum Anderssein, kein Bewusstsein ihrer Grenzen. Diese erwachen erst mit dem Beginn der Kultur; mit deren Vollendung aber wird die Freiheit einer höheren Stufe erreicht. Mithin ist die ganze Kulturgeschichte und das heißt: die ganze Geschichte - Entwicklung von unbewusster zu bewusster Freiheit. Also im Grunde ganz wie bei HEGEL, nur dass dieser auch nicht die schlichteste Wahrheit aussprechen konnte, ohne sie alsbald durch Verlegung ins Metaphysische zu entstellen. Um die jammervollen politischen Kämpfe auf der kleinen Erde, den Übergang von einer Staatsform zur anderen zu verstehen und miss zu verstehen, musste er die Weltvernunft und den absoluten Geist bemühen. Kulturentwicklung ist Entwicklung zur Freiheit. Ist es nicht sonderbar, dass meine Lehre hier der HEGELSCHEN zu begegnen scheint? Nein, denn wer nicht ganz von allen Göttern verlassen ist, muss, wenn er die Geschichte betrachtet und über das Schicksal der Menschheit nachdenkt, deutlich sehen, dass alle historischen Bewegungen, alle Fortschritte der Naturbeherrschung, alle Entfaltungen geistigen Lebens dem ewigen unbändigen Durst nach Freiheit entspringen. Vernunft ist Fähigkeit des Vorausschauens, des Erfassens von Möglichkeiten; als vernünftiges Wesen sieht also der Mensch immer neue Horizonte vor sich und will weitere neue entdecken. Dazu muss er frei sein von allen Ketten, die ihn an seinen gegenwärtigen Zustand binden. Er will neue Glücksmöglichkeiten erproben; dazu muss er immer neue Mittel versuchen, und die Zahl der Mittel ist ein Maß seiner Freiheit.“ Womit wir wieder bei BARUCH DE SPINOZA19 angelangt sind, der im 5. Teil seiner „Ethica“ im Lehrsatz 39 schrieb: „Wer einen Körper hat, der zu sehr vielen Dingen befähigt ist, der hat einen Geist, dessen größter Teil ewig ist.“ 19 BARUCH DE SPINOZA (1623-1677). Vgl. BENEDICTUS DE SPINOZA: „Die Ethik“, Stuttgart 1980, Seite 689, (Reclam) ISBN 3-15-000851-4.