M E D I Z I N AKTUELL Eberhard Schulz Helmut Remschmidt Substanzmißbrauch und Drogenabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter Neuere Befunde der Forschung ZUSAMMENFASSUNG Klinische und epidemiologische Untersuchungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigen eine deutliche Überschneidung zwischen Substanzmißbrauch und -abhängigkeit mit anderen vorwiegend jugendpsychiatrischen Störungsbildern. Die vorliegenden Forschungsbefunde belegen einen bedeutsamen Einfluß des Substanzmißbrauchs auf den Verlauf von kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen – speziell bei Hyperkinetischem Syndrom, Störungen des Sozialverhaltens, affektiven Störungen und bei Subgruppen von Eßstörungen. Umgekehrt läßt sich zeigen, daß die prämorbide Belastung mit bestimmten psychischen Auffälligkeiten, psychosozialen Be- lastungen und bereits manifesten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen das Risiko für Alkohol- und Substanzmißbrauch deutlich erhöht. Das Wissen um die häufige Komorbidität von Substanzmißbrauch mit kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern ist von großer Relevanz für eine frühzeitige Diagnostik und Therapie. Intensivere Forschungsbemühungen sind jedoch notwendig, um bereits im Kindesalter weitere relevante Risikofaktoren zu ermitteln und bessere präventive Strategien zu etablieren. Schlüsselwörter: Drogenmißbrauch, Drogenabhängigkeit, Komorbidität, Synthetische Drogen Substance Abuse and Drug Addiction in Childhood and Adolescence Clinical and epidemiological studies in childhood and adolescent psychiatry show marked overlaps between substance abuse, addiction and other, mainly adolescent psychiatric disorders. Research findings document that there is a remarkable influence of substance abuse on the course of child and adolescent psychiatric disorders. This is especially true for hyperkinetic syndrome, conduct disorders, affective disorders, and for subgroups of eating disorders. Vice versa, it can be shown that certain premorbid conditions (e.g. psychic deviations, adverse psychosocial situation as well as manifest childhood and adolescent psychiatric illness) obviously increase the risk for alcohol and substance abuse. The knowledge of the frequent comorbidity of substance abuse and psychiatric disorders in children and adolescents is of great relevance for early diagnosis and therapy. Nevertheless, an intensivation of research efforts is necessary in order to detect further relevant risk factors already in childhood and thus establish better preventive strategies. Key words: Synthetic drugs, substance abuse, substance dependency, comorbidity D as Wissen um die Zusammenhänge zwischen Substanzmißbrauch und -abhängigkeit mit komorbiden kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern eröffnet neue Möglichkeiten für das Verständnis von Risikofaktoren für Suchterkrankungen und deren Früherkennung. Hierbei handelt es sich um ein kompliziertes Wechselspiel zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, erhöhter Vulnerabilität für eine psychische Störung und familiären sowie psychosozialen Belastungen. Die Problematik der Komorbidität des Drogenmißbrauchs im Jugendalter läßt sich wie folgt beschreiben. « Bei vielen psychopathologischen Symptomen handelt es sich um Folgen des Drogenmißbrauchs (zum Beispiel Amotivationales Syndrom A-414 bei Cannabismißbrauch, drogeninduzierte Psychosen). ¬ Eine Reihe von kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen begünstigen das Auftreten und beeinflussen den Verlauf eines Drogenmißbrauchs (zum Beispiel Hyperkinetisches Syndrom, Störung des Sozialverhaltens, sich entwickelnde antisoziale Persönlichkeitsstörung). ­ Der Drogenmißbrauch beeinflußt wiederum den Verlauf der psychiatrischen Störung (zum Beispiel depressive Syndrome, Bulimia nervosa). ® Familiäre und psychosoziale Risikofaktoren begünstigen die EntKlinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt), Philipps-Universität Marburg (42) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 7, 19. Februar 1999 SUMMARY wicklung einer Drogenproblematik und deren Aufrechterhaltung (zum Beispiel zerrüttetes Elternhaus, familiäre Belastungen mit Suchterkrankungen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen, Deprivationssyndrome, Mißhandlung, sexueller Mißbrauch). „Externalisierende“ Störungsbilder und Drogenmißbrauch Untersuchungen in Deutschland über die Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter ergeben Auffälligkeitsraten zwischen zirka 13 und 18 Pozent (9, 15, 16, 37). Einige der kinderpsychiatrischen Störungen zeigen dabei eine deutliche Stabilität über die einzel- M E D I Z I N AKTUELL nen Entwickungsphasen hinweg. Die Mannheimer Längsschnittstudie belegt in diesem Zusammenhang, daß die Hälfte der Kinder, die mit acht Jahren psychisch auffällig waren, dies auch noch im Alter von 13 Jahren sind. Als besonders stabil erweisen sich dabei die dissozialen Störungen (15, 16). Weiterhin konnte anhand der Mannheimer Längsschnittstudie festgestellt werden, daß vom achten bis zum 18. Lebensjahr in einer unausgelesenen Stichprobe insgesamt 40 Prozent von hyperkinetischen zu dissozialen Störungen wechselten. Die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Übergang ist bei einem frühen Vorliegen von dissozialen Symptomen deutlich höher als bei einem alleinigen Vorliegen von Hyperkinetischen Syndromen (40). Faßt man die vorliegenden Verlaufsstudien zusammen (36, 46), so ergibt sich, daß Kinder mit einem Hyperkinetischen Syndrom in der Langzeitkatamnese signifikant häufiger dissoziales Verhalten und Drogenmißbrauch im Vergleich mit den Kontrollgruppen zeigen. Den bereits im Kindesalter vorhandenen aggressiv-expansiven Verhaltensauffälligkeiten kommt somit eine hohe prädiktive Wertigkeit für Alkohol- und Drogenmißbrauch im Jugendalter zu – dies meist in Kombination mit einer persistierenden Störung des Sozialverhaltens (2, 42). Das Hyperkinetische Syndrom kommt häufiger bei biologischen Verwandten ersten Grades vor. Zusätzlich belegen zahlreiche Studien, daß bei den Familienmitgliedern von Kindern mit einem Hyperkinetischen Syndrom eine höhere Prävalenz von Affektiven Störungen, Angststörungen, antisozialen Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen auftritt. Eine Störung des Sozialverhaltens kann bereits im Vorschulalter auftreten, gewöhnlich liegt der Beginn jedoch in der späteren Kindheit oder der frühen Adoleszenz. Die Störung des Sozialverhaltens ist häufig mit frühen Sexualkontakten, Rauchen und Alkohol- und Drogen- mißbrauch vergesellschaftet (Textkasten: Zugehörige Beschreibungsmerkmale). Für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens lassen sich die folgenden Risikofaktoren benennen (6): 1 Zurückweisung und Vernachlässigung durch die Eltern 1 Körperliche Mißhandlung und/ oder sexueller Mißbrauch 1 Inkonsequente Erziehung 1 Inadäquate Betreuung 1 Häufiger Wechsel der Bezugspersonen 1 Abnorme intrafamiliäre Beziehungsmuster 1 Schwieriges Temperament des Kindes 1 Vorgeschichte mit Hyperkinetischem Syndrom 1 Schwieriges soziales Umfeld 1 Anschluß an eine delinquente Gruppe Gleichaltriger. Ein komorbider Alkohol- und/ oder Substanzmißbrauch erhöht das Risiko einer bleibenden Störung des Sozialverhaltens. Darüber hinaus ist es wichtig zu betonen, daß Alkohol und die derzeit von Jugendlichen häufig konsumierten Drogen wie LSD (Lysergsäurediäthylamid), Kokain, Ecstasy (3,4-Methylen-DioxyMetamphetamin, MDMA), Amphetamine, aber auch Cannabis, sowohl alleine als auch in Kombination mit Alkohol, das Auftreten von aggressivem und gewalttätigem Verhalten nachhaltig begünstigen (5). Bei chronischem und zumeist multiplem Substanzmißbrauch erhöht sich zugleich die Rate an Suizidversuchen und vollendeten Suiziden im Jugendalter (26). In unserer Klinik betrug 1996 der Anteil von Jugendlichen mit Substanzmißbrauch und -abhängigkeit 17 Prozent. Dabei überwiegt der kombinierte Gebrauch von Alkohol mit Cannabis, Ecstasy, Amphetaminen, LSD und Kokain. Diese Verteilung entspricht auch nahezu den aktuellen Angaben zum Drogenkonsum in dem im September 1997 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vorgestellten Bericht (7). Danach war Cannabis die am häufigsten gebrauchte Droge, gefolgt von Ecstasy und Amphetaminen. Mehr als 90 Prozent der befragten Ecstasy-Konsumenten hatten vor dem Erstkonsum von Ecstasy Alkohol und Cannabis gebraucht. Die überwiegende Mehrheit der Ecstasy-Konsumenten berichtet dabei über einschlägige Erfahrungen mit anderen Drogen, vor allem mit Cannabis, Drogen mit Amphetaminwirkung („Speed“), LSD und Kokain. Nach den von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vorgelegten aktuellen Daten liegt der häufigste Erstkonsum bei Alkohol und Cannabis zwischen dem dreizehnten und achtzehnten Lebensjahr. Weiter zeigt die Studie, daß der Gebrauch von Ecstasy mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit einhergeht. Ecstasy-Konsumenten klagen gehäuft über körperliche Beschwerden und psychische Beeinträchtigungen in Form von Konzentrationsstörungen und Denkstörungen bis hin zu Derealisationsphänomenen und Nachhall-Psychosen. Schwerwiegende Komplikationen treten in Form von gesteigerter Suizidalität, paranoidem Erleben, aggressiven Durchbrüchen und lebensbedrohlichen Zwischenfällen mit Hyperpyrexie, Rhabdomyolyse und disseminierter intravasaler Gerinnung in Erscheinung (19, 43). Die im Tierversuch eindeutig nachgewiesenen neurotoxischen Wirkungen innerhalb des serotoninergen Systems sind im Hinblick auf ihre Relevanz am Menschen weiterhin Gegenstand aktueller Forschung (30). ! Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 7, 19. Februar 1999 (43) A-415 M E D I Z I N AKTUELL „Internalisierende“ Störungsbilder und Drogenmißbrauch Die Adoleszenz gilt als der Lebensabschnitt, in dem depressive Syndrome, Angsterkrankungen und Suchterkrankungen ein Maximum der Erstmanifestationen aufweisen (8, 10, 18). Dabei ist von Bedeutung, daß Zugehörige Beschreibungsmerkmale von Kindern und Jugendlichen mit aggressivem Verhalten und einer Störung des Sozialverhaltens: c zeigen wenig Empathie c nehmen keine Rücksicht auf die Gefühle und das Wohlergehen anderer c sie nehmen die Absichten anderer als feindseliger und bedrohlicher wahr, als sie es tatsächlich sind – reagieren dann mit Aggression, die sie als gerechtfertigt empfinden c zeigen selten Schuldgefühle c haben ein geringes Selbstwertgefühl c zeigen eine geringe Frustrationstoleranz, eine erhöhte Reizbarkeit und Impulsivität c zeigen gehäuft selbstverletzendes Verhalten c zeigen gehäuft Suizidversuche und haben eine erhöhte Suizidrate c frühes Sexualverhalten und Tendenz zur Promiskuität c früher Beginn von Rauchen, Alkohol- und Substanzmißbrauch auch Kinder und Jugendliche mit primär externalisierenden Störungen, speziell mit einer Störung des Sozialverhaltens, erhöht Gefahr laufen, später Affektive Störungen, Angststörungen und Somatoforme Störungen zu entwickeln. Ein Substanzmißbrauch begünstigt bei Jugendlichen das Auftreten von depressiven Syndromem, und Kinder und Jugendliche mit depressiven Störungen zeiA-416 gen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Alkoholmißbrauch und Drogenproblemen (12). Die höchsten Suizidraten finden sich in diesem Zusammenhang bei Jugendlichen mit Alkohol- und/oder Drogenmißbrauch und einem depressiven Syndrom (12, 25). Es wird angenommen, daß mindestens 25 Prozent aller Suizidversuche im Jugendalter in einem Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenmißbrauch stehen. Alkohol- und Substanzmißbrauch begünstigen ferner das Auftreten von Angststörungen im Jugendalter. Dabei imponieren die phobischen Störungen, speziell die soziale Phobie (11, 23). Im Gegensatz zu den depressiven Syndromen ist aber im Jugendalter nach wie vor unklar, inwiefern primäre Angsterkrankungen das Auftreten eines Substanzmißbrauchs begünstigen. Eßstörungen und Substanzmißbrauch Jugendliche mit einer Anorexia nervosa lassen sich nach DSM-IV in zwei klinische Subtypen differenzieren: 1 Restriktiver Typus: Der Gewichtsverlust wird in erster Linie durch Diäten, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung erreicht 1 „Binge-Eating/Purging“-Typus: Hierbei zeigen die Betroffenen regelmäßige „Freßanfälle“ (bingeeating) und/oder „Purging“-Verhalten in Form von selbstinduziertem Erbrechen oder dem Mißbrauch von Laxantien. Verglichen mit dem restriktiven Typus, zeigt die zweite Subgruppe (Binge-Eating/Purging-Typ) eine größere Affektlabilität und im weiteren Verlauf der Erkrankung eine erhöhte Komorbidität mit Alkoholund Drogenmißbrauch (41). Deutlich höher ist das Risiko für Substanzmißbrauch und -abhängigkeit bei der Bulimia nervosa (17, 22). Bei dieser Eßstörung finden sich häufiger Zeichen einer Impuls-Kontroll-Störung, Übergänge in Persönlichkeitsstörungen vom instabilen Typus (BorderlinePersönlichkeitsstörungen), affektive und Angststörungen. Häufig werden Stimulanzien (unter anderem Amphet- (44) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 7, 19. Februar 1999 aminderivate) konsumiert, um den Appetit und das Gewicht zu kontrollieren. Drogeninduzierte psychotische Störungen Für sämtliche derzeit von Jugendlichen bevorzugt konsumierte Drogen (Textkasten: Zustandsbilder) Psychotische Zustandsbilder auslösende Drogen c Cannabis c LSD c Kokain c Phencyclidin („Angel Dust“) c „Speed“ (Amphetamine) c Ecstasy (Auswahl der am häufigsten von Jugendlichen konsumierten Rauschdrogen) gilt, daß sie psychotische Zustandsbilder auslösen und spezifische drogeninduzierte Psychosen hervorrufen können. Es handelt sich teilweise um typische Halluzinogene, wobei speziell LSD, Kokain, Phencyclidin („Angel Dust“), aber auch die vielfältigen als „Speed“ bezeichneten Amphetaminderivate, ebenso wie Ecstasy, häufig begünstigt durch den multiplen Substanzmißbrauch, zu schwerwiegenden psychopathologischen Zustandsbildern führen können. Klinisch bedeutsam sind hierbei: ! Horror- und Panikerlebnisse ! Echo-Psychosen ! Paranoide Psychosen ! Halluzinationen ! Depressionen und Ängste ! Suizid-Impulse ! Aggressive Durchbrüche ! Unruhezustände und Desorientierung ! körperliche und psychische Entzugssymptomatik. Da Cannabis zu den mit am häufigsten konsumierten Rauschdrogen gehört, ist es gerade in der aktuellen Kontroverse (39) um die weitgehende „Freigabe“ dieser Droge wichtig hervorzuheben, daß die seit langem speziell im Jugendalter bekannten psychopathologischen Auswirkungen (35) nun auch in vollem Umfange Ein- M E D I Z I N AKTUELL gang in die international anerkannte Klassifikation des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV, 1994) gefunden haben. Die durch Cannabiskonsum ausgelösten Störungen sind in Tabelle 1 zusammengefaßt. Bei häufigem Gebrauch von Cannabis kann sich ein Abhängigkeitssyndrom mit oder ohne Entzugssymptomatik entwickeln (4), und auch beim isolierten Gebrauch der Droge können psychotische Zustandsbilder mit Wahn und Halluzinationen auftreten (24, 31, 35). Das Amotivationale Syndrom beschreibt die bei regelmäßigem Cannabiskonsum zu beobachtende Antriebsminderung. Hierbei findet sich nicht nur eine Verringerung des Antriebs, sondern auch von Aktivität und Psychomotorik, begleitet von Interessenverlust und häufig ausgeprägten Lern- und Leistungsstörungen (31, 35, 38). PET-Studien belegen einen direkten Zusammenhang zwischen der Dosis an Tetrahydrocannabinol, den unmittelbaren psychischen Auswirkungen und den akuten ZNStoxischen Effekten, mit einer besonderen Betonung im frontalen Cortex, dem Gyrus cinguli und der Insula im Großhirn (29). Generell läßt sich feststellen, daß sich die Psychopathologie drogeninduzierter und schizophrener Psychosen im Akutstadium auf der Symptomebene oftmals nur schwer voneinander abgrenzen läßt. Differentialdiagnostisch gilt es vorrangig, die substanzinduzierte psychotische Störung und die persistierende Wahrnehmungsstörung von der Schizophrenie, der schizophrenieformen und der kurzen psychotischen Störung abzugrenzen (Tabelle 2). Folgende Hinweise können dafür sprechen, daß die Symptome durch eine nicht substanzinduzierte psychotische Störung verursacht werden (nach DSM-IV): 1 Auftreten der Symptomatik vor Beginn der Substanzeinnahme 1 Hinweise auf nicht substanzinduzierte psychotische Episoden in der Vorgeschichte 1 Persistenz der Symptomatik über eine beträchtliche Zeitspanne nach Beendigung des akuten Entzugs. Bei den persistierenden Wahrnehmungsstörungen (Flashbacks) han- delt es sich um das Wiederauftreten von Wahrnehmungsstörungen, die während der Intoxikation mit der Rauschdroge aufgetreten waren. Gerade bei jugendlichen Patienten resultieren aus diesen nicht selten durch Cannabis, LSD und Kokain induzierten Störungen erhebliche Beeinträchtigungen im sozialen, familiären und schulischen Bereich (35). Schizophrenien unterscheiden sich von drogeninTabelle 1 Störungen durch Cannabiskonsum Cannabismißbrauch Cannabisabhängigkeit 1 mit Entzugssymptomatik 1 ohne Entzugssymptomatik Cannabisintoxikation vorausgehender Substanzmißbrauch bei vorhandener Vulnerabilität den Ausbruch der Schizophrenie vorverlagert und generell begünstigt (3, 20, 32, 33, 44). Für die zur Chronifizierung neigenden schweren psychiatrischen Erkrankungen, wie die schizophrenen Psychosen im Jugendalter, gilt jedoch, daß ein komorbider Substanzmißbrauch den Verlauf ganz eindeutig verschlechtert. Dies zeigt sich an einer verminderten Compliance, erhöhten Rückfallraten, verschlechterten Bedingungen für eine soziale Reintegration und Rehabilitation sowie an erhöhten Suizidraten (1, 27). Präventive Ansätze Cannabisintoxikationsdelir Die Komorbidität von kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen mit Alkoholund Drogenmißbrauch ist erCannabisinduzierte Angststörung heblich, wie die vorangestellte Darstellung verdeutlicht. Eine Cannabisinduziertes Amotivationales Syndrom rein soziologische, psychologi*) entsprechend international anerkannter sche und pädagogische Bediagnostischer Kriterien, DSM-IV, 1996 trachtung des Drogenproblems ohne Berücksichtigung duzierten Psychosen hinsichtlich der der relevanten kinder- und jugendÄtiologie, der Prämorbidität und des psychiatrischen Störungsbilder kann Verlaufs. Es fehlen bislang jedoch daher nicht ausreichen (45), um langausreichende Untersuchungen zur fristig wirkungsvolle präventive StrateKlärung der Frage, wie häufig genuine gien zu etablieren. Aktuelle Langzeitstudien vom drogeninduzierte Psychosen im Langzeitverlauf in Schizophrenien überge- Kindergartenalter bis zur Adoleszenz hen können, beziehungsweise ob ein belegen auf eindrucksvolle Weise, daß Cannabisinduzierte psychotische Störung 1 mit Wahn 1 mit Halluzinationen Tabelle 2 Psychotische Störungen (DSM-IV) Schizophrenie Störungsbild, das mindestens sechs Monate dauert und mindestens einen Monat andauernde Symptome der floriden Phase beinhaltet Schizophrenieforme Störung Symptomatik entspricht der Schizophrenie Störungsdauer von 1 bis 6 Monaten/ fehlender Funktionsabfall Kurze psychotische Störung Störungsbild hält länger als einen Tag an und bildet sich innerhalb eines Monats zurück Substanzinduzierte psychotische Störung Symptomatik entwickelt sich während oder innerhalb eines Monats nach Intoxikation oder Entzug Persistierende Wahrnehmungsstörung im Zusammenhang mit Halluzinogenen Flashbacks Ausschluß: Halluzinogenintoxikation, nachweisbare organische Erkrankung, andere psychotische Störung, Schizophrenie Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 7, 19. Februar 1999 (45) A-417 M E D I Z I N AKTUELL/FÜR SIE REFERIERT Risikokinder für eine Suchterkrankung schon in jungem Alter erkannt werden können (13, 14, 21, 28). Diese Risikokinder zeigen bereits im Kindergarten aggressiv-expansives Verhalten, mangelnde Selbstkontrolle, erhöhte Impulsivität, sind leicht erregbar, gefahrenblind, zeigen vorschnelles Handeln, eine ausgeprägte Suche nach unmittelbaren Verstärkern, eine erhöhte Empfindlichkeit für Außenreize, verhalten sich häufig rücksichtslos, und sie zeigen deutliche Defizite in den sozial-adaptiven Fähigkeiten. Im weiteren Verlauf ergibt sich eine hohe Überschneidung dieser Merkmale mit den sich entwickelnden Störungen des Sozialverhaltens. Die hier genannten Temperamentsmerkmale sowie ein früher Beginn der dissozialen Probleme bereits im Vorschulalter, aggressives Verhalten, ungenügende Sozialfertigkeiten, schlechte Beziehungen zu Gleichaltrigen und später hinzutretende Schulschwierigkeiten können als Risikomerkmale für eine Störung im Sozialverhalten und für Alkohol- und Drogenmißbrauch angesehen werden. Kinder mit diesen Temperamentsmerkmalen und entsprechenden sozialen Auffälligkeiten bedürfen einer frühzeitigen Diagnostik und Therapie. Für eine wirkungsvolle Prävention muß durch weitere sehr sorgfältige kinderpsychiatrische Untersuchungen geklärt werden, welche protektiven Faktoren Kinder mit den gleichen problematischen Temperamentsmerkmalen vor der Entwicklung einer Suchterkrankung schützen. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1999; 96: A-414–418 [Heft 7] Kontrollierte Studie zu neonatalem Screening auf Hörschäden Umfangreiche technische Hörprüfungen gehören in den meisten europäischen Ländern und den USA nicht zum allgemeinen Vorsorgeprogramm für Säuglinge im ersten Lebensjahr. Zwar prüfen Kinderärzte meist bei Kindern im Alter von etwa sieben Monaten, ob diese auf Geräusche reagieren, doch werden bei den orientierenden Tests etliche Säuglinge mit Gehörschäden nicht identifiziert. So werden etwa in Großbritannien 50 Prozent der dauerhaften angeborenen Hörschäden bei Kindern erst im Alter von 18 Monaten festgestellt; ein Viertel von ihnen bleibt sogar bis zum Kindergartenalter unentdeckt. In den USA werden angeborene Hörschäden durchschnittlich im Alter von drei Jahren diagnostiziert. Dies hat erhebliche Konsequenzen für das spätere Leben der betroffenen Kinder: Sie bleiben in der sprachlichen, möglicherweise auch in der geistigen Entwicklung entscheidend zurück. Beginnt die Behandlung dagegen vor dem ersten Geburtstag, werden die meisten dieser Spätfolgen vermieden oder gebessert. Mit Tests wie der Messung A-418 evozierter otoakustischer Emissionen der äußeren Haarzellen in der Cochlea oder der auditorischen Hirnstammreaktionen können dagegen angeborene Hörschäden bereits im Alter von weniger als sechs Monaten sehr sicher festgestellt werden. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die zwischen 1993 und 1996 insgesamt 53 781 Babys einbezog, die in zwei britischen Kliniken geboren wurden. Während der Hälfte dieser Zeit wurde je an einer Klinik das technische Hörscreening durchgeführt. Ob die Kinder getestet wurden, hing demnach vom Zeitpunkt ihrer Geburt ab. Insgesamt testete man 25 609 Kinder; das entspricht 87 Prozent der in diesen Zeitspannen Geborenen. In mehr als 90 Fällen wurde eine bilaterale Schwerhörigkeit von 40 Dezibel oder mehr im Verhältnis zur normalen Hörschwelle festgestellt. Während der Testperioden wurden 71 weitere Kinder mit moderaten bis schweren Hörstörungen (bezogen auf jeweils 100 000 dieser Zielgruppe in der Bevölkerung) zur weitern pädaudiologischen Prüfung und Be- (46) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 7, 19. Februar 1999 Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist. Anschriften der Verfasser Prof. Dr. med. Eberhard Schulz Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindesund Jugendalter Albert-Ludwigs-Universität Hauptstraße 8 79104 Freiburg Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Philipps-Universität Hans-Sachs-Straße 6 35033 Marburg handlung überwiesen; das erhöhte die Raten einer frühen Feststellung und Behandlung dauerhafter angeborener Hörschäden signifikant. Daher, so die Autoren, ist dieses erweiterte Screening effektiv und besonders sinnvoll für Kinder mit mäßigen und schweren Hörschäden. silk Wessex Universal Neonatal Hearing Screening Trial Group: Controlled trial of universal neonatal screening for early identification of permanent childhood hearing impairment. Lancet 1998; 325: 1957–1964. Dr. C. R. Kennedy, Department of Paediatric Neurology, Mailpoint 21, Southampton General Hospital, Southampton SO16 6YD, Großbritannien. Normierende Texte Normierende Texte (Empfehlungen, Richtlinien, Leitlinien usw.) können im Deutschen Ärzteblatt nur dann publiziert werden, wenn sie im Auftrag von Bundesärztekammer oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Herausgeber oder gemeinsam mit diesen erarbeitet und von den Herausgebern als Bekanntgabe klassifiziert und der Redaktion zugeleitet wurden.