Stadt Kamp-Lintfort Allgemeine Soziale Dienste und Jugendamt Fachtag „Kinder in suchtbelasteten Familien“ (Drogen, Alkohol). Europäische Begegnungsstätte am Kloster Kamp e.V. , Abteiplatz 24 · 47475 KampLintfort 24. März 2015 Michael Klein, Köln Kinder in suchtbelasteten Familien – Risiken, Hilfen, Prävention Teil I: Risiken und Konsequenzen elterlichen Substanzkonsums in Familien: Psychopharmakologie: Die wichtigsten Substanzen im Überblick Grundverständnis von Substanzkonsum und Suchtstörungen Trends und Entwicklung in der „Drogenszene“ Zwei Hauptproblembereiche in Familien: Substanzkonsum in der Schwangerschaft und Verhaltensveränderungen unter Substanzeinfluss Kindeswohl als Leitmotiv („child protection and mental health mainstreaming“; „health in all policies“) Das Kindeswohl muss als prioritäres Leitmotiv in allen gesundheits- und sozialbezogenen Hilfebereichen verankert und umgesetzt werden. Dies betrifft Kinder- und Jugendhilfe ebenso wie Schule, Prävention, Psychiatrie, Psychotherapie und Suchthilfe. Ohne Kindeswohl langfristig keine gelingende Entwicklung und keine Reduktion der Zahl psychischer Störungen. Suchtstörungen spielen dabei eine zentrale Rolle, da süchtiges Verhalten meist zur Selbstmedikation von frühen Verhaltens- und Erlebensstörungen eingesetzt wird. Vorbemerkung: Suchtstörungen gehören zu den wichtigsten und häufigsten psychischen Störungen – Die Frage nach ihren Auswirkungen auf die Familie sollte Regel und nicht Ausnahme sein. Substanzkonsum und Selbstbelohnungszentrum (Dopaminausschüttung) 1000% 800% 700% 600% 500% 400% 300% 200% 1000% Am ph e tam in 400% Ko ka in 300% ph in 225% Mo r ho l 200% Al ko na bis Ca n 50% Se x 0% 175% 100% Ni ko t in 100% Es se n Dopaminausschüttung 900% (Wise, 2000) 28. März 2015 Epidemiologie von Suchtstörungen Drogenaffinitätsstudie, BzgA, 2012) 6 Klassifikation psychotroper Substanzen Analog einer Klassifikation der WHO wird im ICD-10 zwischen psychischen und verhaltensbezogene Störungen durch folgende Substanzen unterschieden: F10 Störungen durch Alkohol F11 Störungen durch Opioide F12 Störungen durch Cannabinoide F13 Störungen durch Sedative oder Hypnotika F14 Störungen durch Kokain F15 Störungen durch andere Stimulanzien, einschl. Koffein F16 Störungen durch Halluzinogene F17 Störungen durch Tabak F18 Störungen durch flüchtige Lösungsmittel F19 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen 9 28. März 2015 Epidemiologie von Suchtstörungen 10 (Pinquart, 2011, 321) 28. März 2015 Vorlesung "Klinische Psychologie" Prof. Dr. M. Klein 11 Dynamisches Bedingungsgefüge der Abhängigkeitsentstehung („Ätiologie“) Psychische Funktionen Umfeld Biologische Funktionen Substanz Grundverständnis von Sucht („Was ist das Süchtige an der Sucht?“) Unbezwingbares Verlangen nach einer Substanz / Verhaltensweise („Zwang“) Verlust der Verhaltenskontrolle („Kontrollverlust“) Versklavung, Rückzahlung einer Schuld („addiction“) = Kompensation Subjektiv erlebter Druck, „craving“ („Impulsivität von innen“) Abhängigkeit von den Wirkungen („Funktionalität“) Sozialer, psychischer und körperlicher Abbau und Vernachlässigung („Konsequenzen“) DSM-IV Abhängigkeitssyndrom 1. Toleranz* 2. Entzugssymptome* 3. Größere Konsummengen oder längere Konsumzeit als beabsichtigt 4. Unfähigkeit oder dauerhafter Wunsch, Konsummenge zu reduzieren oder kontrollieren 5. Viel Zeit verbringen mit Beschaffung, Kosum und Erholung von Konsumfolgen 6. Wichtige Tätigkeiten werden aufgegeben oder reduziert 7. Konsum trotz des Wissens um Probleme, die durch Konsum verursacht oder verstärkt werden *mit physischer Abhängigkeit 14 Fremdmotivierung bei problematischem Substanzkonsum und Suchtstörungen Alkohol- und Drogenmissbrauch wirkt sich langfristig negativ auf die fünf „F“s aus: Familie, Freunde Firma Finanzen Führerschein Fitness Direkte und indirekte Effekte können Kinder Suchtkranker betreffen Direkte (substanzbezogene) Indirekte Effekte: Effekte: • Behinderungen und Retardierung durch FAS(D) •Neonatales Abstinenzsyndrom •Retardierung durch andere Substanzwirkung (z.B. Tabakrauchen) •Schädigung durch Alkoholvergiftungen in Kindheit und Jugend •Familiale Gewalt • Unfälle, Verletzungen • Broken home • Vernachlässiguung, Misshandlung, Missbrauch • Soziale Isolation, sozialer Abstieg • Familiale Disharmonie • Partnerprobleme • Negative Familienatmosphäre • Zahlreiche negative (kritische) Lebensereignisse • Leistungsprobleme in der Schule Alcohol Exposure and Phases of Embryo/Fetal Development Coles, 1994 Drogenspezifische Informationen www.drugcom.de www.partypack.de www.drugscouts.de www.giftzentrale.de […] Kinder in suchtbelasteten Familien – Risiken, Hilfen, Prävention Teil II: Auswirkungen elterlichen Substanzkonsums auf exponierte Kinder: Stress, Volatilität, Rollenfixierungen, Coping(versuche), Entwicklungspsychopathologie Was einem Kind eines drogenabhängigen Elternteils passieren kann? (1) Direkte Folgen des elterlichen Drogenkonsums: Drogennotfall eines Elternteils, Unfälle/Vergiftungen des Kindes (2) Indirekte Folgen des Drogenkonsums auf das elterliche Verhalten: Suizidalität, Sedierung, Unberechenbarkeit, Unzuverlässigkeit, Unerreichbarkeit, Kindesvernachlässigung etc. (3) Folgen für die Familie: Verarmung, Marginalisierung, Stigmatisierung Kindliche Wahrnehmung und Verarbeitung des elterlichen Suchtverhaltens ist der Schlüssel zur psychischen Gesundheit der Kinder Parentifizierung, Familienkonflikte, Beschämung Mäßigkeitsbewegung, Amsterdam, ca. 1880 Claudia Black, Sharon Wegscheider, Janet Woititz, ab ca. 1969 Typische Lebenserfahrungen von Kindern alkoholkranker Eltern (N= 115) • 1. Nicht zu Freunden gehen, um nicht in die Zwangslage zu geraten, diese zu sich nach Hause einladen zu müssen, wo die Eltern sich beschämend verhalten könnten. • 2. In der Schule mit den Gedanken zu Hause sein, was dort gerade Schlimmes passiert oder bald passieren wird. • 3. Andere Kinder beneiden oder eifersüchtig auf diese sein, wenn sie Spaß und Leichtigkeit mit ihren Eltern erleben. • 4. Sich als Kind unter Gleichaltrigen isoliert, abgewertet und einsam fühlen. • 5. Sich von den Eltern vernachlässigt, bisweilen als ungewolltes Kind fühlen. Cork, M. (1969). The forgotten children. Typische Lebenserfahrungen von Kindern alkoholkranker Eltern (Cork, 1969) • 6. Für die Eltern sorgen, sich um sie ängstigen, insbesondere wenn die Mutter süchtig trinkt. • 7. Sich um Trennungsabsichten oder vollzogene Trennungen der Eltern unablässig Sorgen machen. • 8. Als Jugendlicher die Eltern nicht im Stich lassen wollen (z. B. nicht von zu Hause ausziehen können). • 9. Die Eltern für ihr Fehlverhalten entschuldigen. Lieber andere Menschen oder sich selbst beschuldigen. • 10. Vielfache Trennungen und Versöhnungen der Eltern erleben und sich nicht auf einen stabilen, dauerhaften Zustand verlassen können. • 11. Wenn der trinkende Elternteil schließlich mit dem Alkoholmissbrauch aufhört, weiterhin selbst Probleme haben oder solche suchen. Nina, 12 Jahre, beide Elternteile alkoholabhängig (Kinderseminare FK Thommener Höhe) Die kindliche Wirklichkeitskonstruktion und Realitätsverarbeitungsmuster als kritische Weichen der langfristigen psychischen Entwicklung Maren, 8 Jahre, Mutter alkoholabhängig Kinder aus psychisch dysfunktionalen Familien Psychisch kranke Eltern DrogenAlk.abh. Eltern abhängige Eltern Suchtkranke Eltern , z.B. Verhaltenssüchte Elterliche Verhaltensstressoren für die (psychische) Gesundheit von Kindern in Familien: Risikotrias Psychische Krankheiten Suchtstörungen Gewaltverhalten (vgl. Cleaver et al., 1999) Risikoverstärker Lange und intensive Exposition des Kindes (Quantität, Qualität) Beide Elternteile betroffen > Mutter > Vater Einzelkind (?) Frühe > mittlere > späte Kindheit Alleinerziehendes Elternteil Hohe Zahl negativer Lebensereignisse im Krankheitsverlauf (Unfälle, Verletzungen, Suizidversuche, Inhaftierungen) Familiale Abwehrmechanismen „Mein Kind hat nichts gemerkt“. (Tausendfach geäußerter Satz suchtkranker Elternteile) Selbstwertdienliche Attribution Scham- und Schuldgefühl als zentraler intrapsychischer Prozess Abwehr, Verleugnung, Verdrängung und Aggression als zentrale Reaktionen Was beeinflusst das Transmissionsrisiko (erhöhend, abschwächend)? (1) Dauer und Intensität der Exposition (2) Schwere der elterlichen psychischen Störung und Komorbidität (3) Genetisches Risiko (Vulnerabilität) (4) Alter des Kindes (5) Stressbewältigungskompetenzen/Resilienzen (6) Kranke/gesunde Modellpersonen (vor allem Verwandte) im Umfeld (7) Intermittierende Lebensereignisse (8) Mangel an elterlicher Kompetenz (z.B. Einfühlsamkeit, Wärme, sichere Bindung) Frequency of alcohol problems in parents (N = 2.427; Lifetime, %w; source: EDSP-study; Lieb et al., 2006) Either parent Both parents 22,5 3,1 One parent 19,5 Father only Mother only 0,0 15,0 4,4 10,0 20,0 Ausgangslage und Fakten In Deutschland leben: 2.65 Millionen Kinder, bei denen ein Elternteil eine alkoholbezogene Störung (Missbrauch oder Abhängigkeit) aufweist (Lachner & Wittchen, 1997; Klein, 2005) ca. 40.000 Kinder mit einem drogenabhängigen Elternteil d.h.: es geht insgesamt nicht um eine gesellschaftliche kleine Randgruppe, sondern um eine substantielle Gruppe von Kindern, die ein deutlich erhöhtes negatives Entwicklungsrisiko aufweisen. Die gesunde Entwicklung von Kindern suchtkranker Eltern ist ein prioritäres PublicHealth-Thema. Prävalenzen Jedes 7. Kind lebt zeitweise (jedes 12. dauerhaft) in einer Familie mit einem Elternteil, der eine alkoholbezogene Störung (Abhängigkeit oder Missbrauch) aufweist (Deutschland; Lachner & Wittchen, 1997) Jedes 3. Kind in einer alkoholbelasteten Familie erfährt regelmäßig physische Gewalt (als Opfer und/oder Zeuge) [Klein & Zobel, 2001] Suchtkranke Familien weisen gehäuft eine „family density“ für Sucht- und andere psychische Störungen auf Prävalenzen Von den Kindern alkoholabhängiger Eltern entwickeln ca. 33% bis 40% selbst eine substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung (Sher, 1991; Windle & Searles, 1990; Klein, 2005; Zobel, 2006) Ein Drittel (teilweise überlappend mit dem erstgenannten Drittel) zeigt psychische Störungen (z.B. Ängste, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen) Rollenfixierungen in suchtbelasteten Familien Wegscheider (1988) Black (1988) Ackerman (1987) Lambrou (1990) Jakob (1991) Held Verantwortungs bewusstes Kind Macher Macher Elternkind Partnerersatz Vorzeigekind Sündenbock Ausagierendes Kind Sündenbock Sündenbock Schwarzes Schaf Verlorenes Kind Fügsames Kind Schweiger Unsichtbares Kind Clown Friedensstifter Maskottchen Maskottchen Chamäleon Chamäleon Der Übererwachsene/ Distanzierte/ Unverletzte Nesthäkchen Das kranke Kind (Klein, 2003) Relative Wahrscheinlichkeiten (OR) für Alkoholabhängigkeit bei Töchtern und Söhnen von Eltern mit Alkoholstörungen Elterliche Probleme mit Alkohol Männliche Probanden odds-ratio (OR) für Alkoholabhängigkeit Weibliche Probanden odds-ratio (OR) für Alkoholabhängigkeit Nur Vater 2.01 ** 8.69 *** Nur Mutter 3.29 *** 15.94 *** Beide Elternteile 18.77 *** 28.00 *** **: p<.01; ***: p<.001. aus: Lachner & Wittchen (1997, 69). Bindungsmuster bei psychisch kranken Müttern (Cicchetti et al., 1995) Erkrankung der Anteil unsicherer BinMutter dung bei Kindern schwere Depression 47% leichte Depression 24% bipolare Depression 79% Schwere Angster80% krankungen Alkoholmissbrauch 52% (davon 35% ambivalent) Drogenmissbrauch 85% (davon 75% ambivalent) In einer psychisch belasteten Familie zu leben, bedeutet vor allem psychischen Stress: Alltags- und Dauerstress Formen des Familienstresses und der Stressverarbeitung (Schneewind, 1991, 2006): (1) Duldungsstress („Ich kann dem Druck und Stress nicht ausweichen, halte ihn aber nicht aus“) (2) Katastrophenstress („Ich weiß nie, was passieren wird. Das macht mir so viel Angst, dass ich andauernd daran denken muss“) (3) Bewältigungsstress („Auch wenn es schwer ist, ich werde es schaffen und überleben“) Hauptsymptome alkoholbelasteter Partnerschaften und Familien: Stress und Volatilität Im Einzelnen: • Stabilität der Instabilität • Unberechenbares Verhalten des Suchtkranken wird durch übermäßige Verantwortungsübernahme der Partnerin kompensiert. In der Summe herrscht meist lange Homöostase • Kontrollzwang, Kontrolleskalation, Kontrollverlust • Übermäßige Frequenz emotionaler, physischer und sexueller Gewalt • Chronisch belastete Atmosphäre („schleichendes Gift“) • Verlusterlebnisse, Diskontinuitäten, Brüche Hauptproblem suchtkranker Eltern aus der Kindesperspektive: Verhaltensvolatilität Das Hauptproblem suchtkranker Eltern im Erleben ihrer Kinder ist ihre Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit, bisweilen auch ihre Impulsivität, Aggressivität oder Depressivität. Je stabiler und funktionaler ihr Verhalten wird, desto besser ist dies für ihre Kinder. Hast Du manchmal Angst vor dem Vater? Elternteil mit Alkoholdiagnose ja nein gesamt Vater 75 (59.5%) 51 (40.5%) 126 Stiefvater 8 (66.7%) 4 (33.3%) 12 Kontrollgruppe 4 (6.6%) 57 (93.4%) 61 N= 251;11- bis 16-Jährige aus nicht klinischer, repräsentativer Schülerstichprobe Kinder in suchtbelasteten Familien – Risiken, Hilfen, Prävention Besonderheiten bei Kindern drogenabhängiger Eltern Suchtkranke Eltern(teile) bei Drogenabhängigen Anzahl Personen 54 Patientinnen in gemischten Drogentherapieeinrichtungen 191 Patienten in gemischen Drogentherapieeinrichtungen 59 Offene Drogenszene 56 Drogenabhängige in Therapie 34 Patientinnen im niedrigschwelligen Drogenentzug Patienten im niedrigschwelligen Drogenentzug Drogenabhängige im niedrigschwelligen Drogenentzug Drogenabhängige im niedrigschwelligen Bereich männliche Drogenkonsumenten 68 102 501 651 51,0 % ein suchtkranker Elternteil 36,0 % ein suchtkranker Elternteil 54,2 % ein suchtkranker Elternteil 51,8 % ein suchtkranker Elternteil 41,2 % alkoholabhängige Mutter 48,5 % alkoholabhängige Mutter 58,8 % alkoholabhängiger Vater 45,0 % alkoholabhängiger Vater 22,2 % alkoholabhängiger Vater 10,3 % alkoholabhängige Mutter Hanel, 1988 Hanel, 1988 Sickinger, 1994 Arnold & Steier, 1997 Hoffmann et al., 1997 Hoffmann et al., 1997 Hoffmann et al., 1997 Mann & Kapp, 1997 Küfner et al., 2000 Relative Erkrankungsrisiken (OR) für Jugendliche in alkoholbelasteten Familien [Lachner & Wittchen, 1997] Elternteil mit Alkoholdiagnose Diagnose Jugendliche (N = 3021) Odds ratio Nur Vater Nur Mutter Beide Drogenabhängigkeit 4.13 7.79 16.68 Nur Vater Nur Mutter Beide Essstörung 2.12 2.95 2.87 Besonderheiten bei Kindern drogenabhängiger Eltern I Die Schädigungen bei Kindern von nicht substituierten drogenabhängigen Eltern sind in mehreren Bereichen gravierender als bei den Kindern Alkoholabhängiger. Dies resultiert aus folgenden Gründen: •Die Kinder sind häufiger von der Abhängigkeit beider Elternteile betroffen, da bei Drogenabhängigen ein entsprechendes Partnerwahlverhalten viel üblicher ist als bei Alkoholabhängigen. Dadurch können die negativen Effekte des drogenabhängigen Elternteils nicht in ausreichendem Maß kompensiert werden. •Die Kinder sind häufiger von Trennungen betroffen und wachsen entsprechend häufiger bei nur einem Elternteil, in der Regel die Mutter, auf. Besonderheiten bei Kindern drogenabhängiger Eltern II •Die Kinder erleben im Zusammenhang mit der Beschaffungskriminalität mehr traumatische Situationen, z.B. Prostitution der Mutter, Verhaftung des Vaters u.ä. •Die Kinder sind meist in ihren frühen Lebensjahren von der Abhängigkeit eines Elternteils betroffen, was nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychopathologie ein stärkeres Entwicklungsrisiko mit sich bringt. •Die Kinder erleben stärkere soziale Isolation und Ächtung, lernen weniger sozial förderliche Verhaltensweisen und erleben sich dadurch insgesamt in ihrem Selbstwertgefühl als instabiler und gefährdeter. Besonderheiten bei Kindern drogenabhängiger Eltern III •Die Kinder leiden stärker unter sozialer Marginalisierung der Familie, z.B. in Form von Armut, Arbeitslosigkeit, beengten Wohnverhältnissen. •Durch die im Vergleich mit Alkoholabhängigen höhere Komorbidität laufen die Kinder Gefahr, häufiger eine doppelte Schädigung aufgrund des komplexeren Störungsbildes ihrer Eltern zu erleiden, z.B. durch mangelnde mütterliche Sensibilität, Modelle für Persönlichkeitsstörungen. •In Einzelfällen, die klinisch durchaus bekannt und dokumentiert sind, erleiden Kinder Vergiftungen durch psychotrope Substanzen, die im Lebensumfeld der Eltern gewöhnlich den Status der Normalität besitzen. •Aufgrund einer größeren Zahl von Frühgeburten kann es zu verstärkten Problemen beim Beziehungsaufbau („bonding“) zwischen Mutter und Kind kommen. Die Kinder weisen häufiger ein schwieriges Temperament auf, was bei den Eltern zu Überforderungs- und Insuffizienzgefühlen führen kann. Kinder in suchtbelasteten Familien – Risiken, Hilfen, Prävention Teil III: Interventionen in suchtbelasteten Familien: • Erfahrungen, Risiken, Kontrolle und Motivierung. • Kasuistiken, ggf. eigene Fallbeispiele. • Von Abwehr und Zwang zur Motivation zu guter Elternschaft. Ziele in der Arbeit mit Kindern aus suchtbelasteten Familien Frühintervention Problem- und Ressourcenidentifikation Nachhaltigkeit Steigerung des Selbstwerts (Persönlichkeitsschutz) Altersgerechte Psychoedukation Umfassender Kinderschutz Förderung der psychischen Gesundheit Basisbedürfnisse, die für Kinder drogenabhängiger Eltern erfüllt sein müssen (nach A. Baller, KDO, Amsterdam) • Angemessenes Wohnen, inkl. Sauberkeit, Hygiene, Heizung, Wasser- und Stromversorgung • Ausreichende ausgewogene Ernährung • Adäquate Kleidung • Absicherung eines Mindestlebensunterhalts • Sicherung regelmäßiger ärztlicher Versorgung • Vorhandensein einer festen kontinuierlichen Bezugsperson („responsible caregiver“) Basisbedürfnisse, die für Kinder drogenabhängiger Eltern erfüllt sein müssen II • Gewährleistung der Aufsichtspflicht, Verhütung von Unfällen und Verletzungen • Gewaltfreie Erziehung • Strukturierter verlässlicher Alltag, incl. geregeltem TagNacht-Rhythmus • Gewährleistung einer ausreichenden pädagogischen Förderung und Erziehung • Teilnahme am sozialen Gleichaltrigenleben (peerGruppen) Wie geschieht Veränderung? Resilienz: Kraft und Ausdauer unter Stress Resilienzen für Kinder von Suchtkranken I (nach Wolin & Wolin, 1995) • Ahnung, Wissen, Einsicht, z.B. dass mit der drogenabhängigen Mutter etwas nicht stimmt • Unabhängigkeit, z.B. sich von den Stimmungen in der Familie nicht mehr beeinflussen zu lassen • Beziehungsfähigkeit, z.B. in eigener Initiative Bindungen zu psychisch gesunden und stabilen Menschen aufzubauen • Initiative, z.B. in Form von sportlichen und sozialen Aktivitäten Resilienzen für Kinder von Suchtkranken II • Kreativität, z.B. in Form von künstlerischem Ausdruck •Humor, z.B. in Form von Ironie und selbstbezogenem Witz als Methode der Distanzierung •Moral, z.B. in Form eines von den Eltern unabhängigen stabilen Wertesystems. Merke: Neben der Individualresilienz (z.B. von Kindern) ist die Familienresilienz zu fördern. Diese betrifft die Stressresistenz des ganzen Lebenssystems (z.B. durch Förderung gesunder und heilsamer Rituale). Parentifzierung: Kinder werden zu Eltern Suchtspezifische Empathie (für pädagogisch-therapeutische Fachkräfte) (1) Zu wissen, was Kinder in suchtbelasteten Familien (mit hoher Wahrscheinlichkeit) erlebt haben, ist die Basis für suchtspezifische Empathie. (2) Was in suchtbelasteten Familien passiert, ist nicht normal im Sinne von Orthopädagogik, normgerechter Umwelt und Entwicklungspsychologie (Salutogenese). (3) (Suchtspezifische) Empathie ist die Basis für Beziehung. (4) Beziehung ist die Basis für Vertrauen und Veränderung. (5) Ähnliches gilt entsprechend für andere psychische Störungen. Hilfreiche Kompetenzen der Fachkräfte • Besondere Empathie für die Lebenserfahrungen und Verhaltensweisen von Kindern aus suchtbelasteten Familien („suchtspezifische Empathie“) • Förderung von Motivation, Kompetenzen und Resilienzen • Umgang mit Ambivalenzen und „Widerstand“ • Auflösung der bzw. Abkehr von nicht evidenzgesicherten Mythen (z.B. bezüglich Rückfall, „Co-Abhängigkeit“) Ressourcenverstärker Gemeinsame suchtmittelfreie Zeit und Aktivitäten Suchtfreie Familienrituale („distinctive“) „Buffering Effekt“ durch nicht suchtbelastetes Elternteil Geschwisterunterstützung Soziale Netzwerke im Umfeld der Familie Positive Lebensereignisse, Bewältigungserfahrungen und –zuversicht schaffen Psychoedukation („Wissen und Verstehen“) für Kinder und Jugendliche Psychische Störungen und Sucht gehören zusammen Elterliche psychische Störungen, insbesondere wenn sie gravierend und lange anhaltend sind, können sich negativ und schwerwiegend auf die Entwicklung der psychischen Gesundheit auswirken. Je früher ein Kind in seinem Leben betroffen ist, desto schwerwiegender sind in der Regel die Auswirkungen. Besonders schwerwiegend wirken sich nach aktuellem Forschungsstand Suchterkrankungen, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen (3 der 5 häufigsten psychischen Störungen) aus. Psychische Störungen treten in der Hälfte aller Fälle komorbid auf, d.h. die betroffene Person leidet an mehr als einer Störung. Störungsspezifische Unterschiede sind vorhanden und im Einzelfall zu beachten. Kinder in suchtbelasteten Familien – Risiken, Hilfen, Prävention Teil IV: Handlungsstrategien und –maximen in der Arbeit mit suchtbelasteten Familien. Grundhaltungen, Veränderungsprozesse und vorläufige Ergebnissicherung Anforderungen an gelingende, effektive Prävention frühzeitig nachhaltig glaubwürdig verhaltens- und verhältnisorientiert informativ evidenzbasiert an ihrem eigenen Erfolg orientiert transgenerational, risikoorientiert selektiv „Keiner geht verloren“ inklusiv Fremdplatzierungen Folgende Fremdplatzierungsquoten wurden für Kinder suchtkranker Eltern ermittelt: Kinder drogenabhängiger, nicht substituierter Eltern: 61.9% (Klein, 1999) Kinder drogenabhängiger, substituierter Eltern: 29.0% (Raschke, 2000) Kinder alkoholabhängiger Eltern: 13.3% (Klein, 2003) FAS-Kinder alkoholabhängiger Mütter: 78% (Löser, 1998) Elemente in Präventionsprogrammen (1)Förderung des Selbstwerts und der Selbstwirksamkeit (2)Verbesserung der Emotionskontrolle (3)Förderung der Resilienzen (4)Ausbau und Verbesserung des Sozialen Netzwerks (5)Förderung der Elternkompetenzen und der Eltern-Kind-Interaktion (6)Verbesserung der Eltern-Kind-Bindung Konsequenzen Für Kinder in suchtbelasteten Familien sind Maßnahmen notwendig, die … (1) früh einsetzen (Frühintervention) (2) das vorhandene Risiko adäquat wahrnehmen und bearbeiten (selektive Prävention) (3) mehrere Generationen überblicken (transgenerationale Prävention) (4) umfassend und dauerhaft sind (Case Management) (5) die ganze Familie einschließen (Familienberatung und/oder –therapie) (6) die Motivation zu guter Elternschaft und Suchtbewältigung verknüpfen (Motivational Interviewing) (7) die Resilienzen fördern bzw. entwickeln (Ressourcenorientierung) (8) regional und lebensweltorientiert sind (Verantwortungsgemeinschaft) The Seven C´s: “I didn´t Cause it. Ican´t Control it. I can´t Cure it. But I can help take Care of myself by Communicating feelings Making good Choices and Celebrating myself.” (aus: Children´s program kit, SAMSHA, 2003) Kinder in suchtbelasteten Familien Beispiele von Best Practice – Modellen www.encare.info / www.encare.at/ www.encare.de Vaterführerschein (VAFÜ) • Ich als Mann: Meine Geschichte, meine Stärken und Schwächen, mein einzigartiges Profil • Ich als Vater: Was kann ich gut, was weniger gut? Meine Ziele, Prinzipien, Zukunft • Ich als Junge: Ein Blick auf mein Gewordensein, meine Geschichte, nötige Lösungen • Ich und die anderen: Meine Beziehung zu meiner Herkunftsfamilie, meinen Partnern und meinen Kindern • Beziehungen führen: Meine Stärken, meine Schwächen, mein Profil • Ich und meine Gesundheit: Wie war´s? Wie wird´s? • Ich und der Alkohol: Wozu? Woher? und Wie geht´s weiter? • Ich und meine Kinder: Was war? Was ist? Was wird? KatHO NRW, DISuP, 71 Mut zur Zukunft? © Michael Klein,2014 www.kidkit.de Beispiele von Best Practice – Modellen 1. TRAMPOLIN Suchthilfezentrum Schleswig Drogenhilfe Hildesheim gGmbH Suchthilfe Prignitz e.V. Ambulante Drogenhilfe Bremen Fachstelle für Sucht und Suchtprävention Achim ATSSuchtberatungsstelle Burg auf Fehmarn Sucht- und Wendepunkt e.V. Fachstelle Sucht, Diakonisches Werk Wilhelmshaven Jugendamt der Stadt Celle, Fachdienst Jugendarbeit Magdeburger Stadtmission e.V. Burg auf Fehmarn Greifswald Bad Oldesloe Wilhelms- Achim Hamburg haven Bremen Wittenberge Drogenberatungsstelle Celle Berlin Mönchengladbach, BraunPotsdam Abteilung Prävention schweig Hildesheim Königs Magdeburg Duisburg Wusterhausen Suchthilfe Leipzig Aachen, Projekt Mönchengladbach Dresden „Feuervogel“ Kassel / Felsberg Aachen Eisenberg Gießen Altenkirchen Fachstelle für Suchtprävention und für Kinder aus suchtbelasteten FamilienDiakonisches Werk Altenkirchen DIE BRIGG, Caritasverband Neunkirchen Fachklinik Fischerhaus, Gaggenau Nürnberg Neunkirchen Heidelberg Landshut Tübingen Gaggenau München Ravensburg Rosenheim GarmischPartenkirchen SuchtHilfeZentrum Gießen, Fachstelle für Suchtprävention Ev. Stadtmission, Suchtberatung Heidelberg Suchtberatungsstelle Greifswald, Standort Wolgast Fachambulanz Braunschweig der LukasWerk Suchthilfe Schleswig Suchthilfezentrum Nikolausburg, Duisburg Sucht- und Drogenberatungsstelle Bad Oldesloe Psychologische Beratungsstelle im Diakonischen Werk Ravensburg Landkreis Tübingen, Abteilung Jugend Vista gGmbH, Projekt Wigwam - Standort Mitte - Standort Neukölln Drogenhilfe Nordhessen e.V., Fachklinik "Böddiger Berg" Kassel Diakonisches Werk Kassel Lilith e.V. Verein zur Unterstützung von Frauen mit Drogenproblematik Teilnehmende Einrichtungen im Projekt Trampolin Stand: 20.05.11, 38 Einrichtungen Zentrum für Drogenhilfe e.V., Leipzig Jugend- und Drogenberatungsstelle Dresden Suchtberatung LDS des Tannenhof BerlinBrandenburg e.V. Wendepunkt e.V., Suchtberatungsstelle, Eisenberg Landshuter Netzwerk e.V. Extra - Beratungs- und Kontaktzentrum für drogenabhängige und gefährdete Frauen und Mädchen, Mütter und ihre Kinder, schwangere Frauen und Mädchen Caritas-Zentrum GarmischPartenkirchen Neon – Prävention und Suchthilfe Rosenheim Fachstelle für Suchtprävention „Chill out“, Potsdam DZSKJ = 22 DISuP = 16 in Österreich: Pro mente: kinder jugend familie GmbH, MiniAmbulatorium St.Veit/Glan, Österreich Trampolin: Modulinhalte 9. Positives Abschiednehmen 10. Eltern sensibilisieren und stärken (Teil 1) 8. Hilfe und Unterstützung einholen 7. Verhaltensstrategien in der Familie erlernen 6. Probleme lösen und Selbstwirksamkeit erhöhen 5. Mit schwierigen Emotionen umgehen 4. Wissen über Sucht und Süchtige vergrößern 3. Über Sucht in der Familie reden 2. Selbstwert/positives Selbstkonzept stärken 1. Vertrauensvolle Gruppenatmosphäre schaffen 10. Eltern sensibilisieren und stärken (Teil 2) Ziele der Intervention Kinder: • Erlernen effektiver Stressbewältigungsstrategien (Umgang mit Emotionen, Problemlösestrategien in der Familie, Hilfesuchverhalten) • Reduzierung der psychischen Belastung durch Auflösung des Tabuthemas Sucht • Erhöhung des Kenntnisstandes der Kinder zur Wirkung von Alkohol/Drogen und dem Effekt von Sucht auf die betroffene Person und deren Familie • Erhöhung des Selbstwerts/Aufbau eines positiven Selbstkonzepts • Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung Für die Praxis hilfreiche Bücher und Schriften Klein, M. (2005). Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien. Stand der Forschung, Situations- und Merkmalsanalyse, Konsequenzen. Regensburg: Roderer. Klein, M. (Hrsg.) (2006). Kinder drogenabhängiger Mütter. Risiken, Fakten, Hilfen. Regensburg: Roderer. Klein, M. (Hrsg.) (2008). Handbuch Kinder und Suchtgefahren. Stuttgart: Schattauer. Zobel, M. (2006; 2. Aufl.) (Hrsg.). Wenn Eltern zu viel trinken. Risiken und Chancen für die Kinder. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Zehn Eckpunkte zur Verbesserung der Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung BMGS, 2003) 1. Kinder aus suchtbelasteten Familien haben ein Recht auf Unterstützung und Hilfe, unabhängig davon, ob ihre Eltern bereits Hilfeangebote in Anspruch nehmen. 2. Den Kindern muss vermittelt werden, dass sie keine Schuld an der Suchterkrankung der Eltern tragen. Sie brauchen eine altersgemäße Aufklärung über die Erkrankung der Eltern und bestehende Hilfeangebote. 3. Die Zusammenarbeit zwischen den Hilfesystemen, insbesondere der Suchtkrankenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe und den medizinischen Diensten, muss optimiert werden. Um wirkungsvolle Interventionen zu erreichen, muss arbeitsfeldübergreifend kooperiert werden. Lehrer, Erzieher, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und Pädagogen müssen verbindlich zusammen arbeiten. Das Ziel ist, betroffene Kinder und Eltern frühzeitig zu erkennen und die ihnen angemessene Unterstützung anzubieten. Fallbeispiel „Katja“ (5 Jahre) Katja versorgte ihre drogenabhängige und depressive Mutter (alleinerziehend) seit vielen Monaten. Die Mutter hatte längere Phasen von Intoxikation und drogeninduzierter Depression, in denen sie mehr als 24 Stunden schlief. Um die Mutter aufzuwecken, griff Katja zum Äußersten, rüttelte, schlug und biss die Mutter. Erst als Katja durch eine Fremdplatzierung, durch das Jugendamt initiiert, in eine Pflegefamilie kam, ergab sich eine veränderte Situation. Anfangs äußerte sie ihre Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Schlagen und Beißen. Die nicht informierten Pflegeeltern reagierten schockiert und überfordert. Sie wenden sich daher ratsuchend an den Pflegekinderdienst des Jugendamtes. Relevante Internetadressen www.addiction.de www.disup.de www.kidkit.de www.nacoa.de www.encare.info bzw. www.encare.de bzw. www.encare.at Referent: Prof. Dr. Michael Klein Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) Wörthstraße 10 D-50668 Köln Email: [email protected]