Gott im Haus der Wissenschaften? Der Glaube im interdisziplinären Gespräch Urs Baumann Vortrag bei der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Tagungszentrum Hohenheim, 12. Mai 2012, im Rahmen der Reihe „Glaube im Dialog“ Was hat Gott im Haus der Wissenschaften zu schaffen? Was hat Religion, was hat Theologie mit exakter Wissenschaft zu tun? Nicht wenige empirische Wissenschaftler sind heute der Meinung, Theologie habe prinzipiell nichts zu suchen im universitären Haus der Wissenschaften. Denn: Theologie beschäftige sich ja lediglich mit Spekulationen und experimentell nicht nachprüfbaren Meinungen und könne deshalb nicht als seriöse Wissenschaft gelten. Umgekehrt haben namhafte Naturwissenschaftler längst erkannt, dass empirische Forschung ohne spirituelle und ethische Grundlage Gefahr läuft, sich den Versuchungen persönlicher, politischer, kommerzieller oder militärischer Interessen auszuliefern. Die Frage nach den Grundlagen reicht mithin über den Horizont des Messbaren und Quantifizierbaren weit hinaus in den Raum des ethischen, religiösen, menschenrechtlichen und kulturellen Ermessens. Hier es geht um Fragen der Sinndeutung und Identität des Menschen und der Menschheit. Deshalb bleiben Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften wechselseitig aufeinander verwiesen. 1. Das Problem Nun man mag es mit der Religion halten wie man will: Die Vorstellung der Transzendenz beziehungsweise der von den Menschen geglaubte Gott ist ebenso ein Phänomen der Menschheitsgeschichte wie die Erfindung von Philosophie, Mathematik, Wissenschaft und Technik. Dennoch bleibt die Frage, ob Menschen wirklich so etwas wie Religion nötig haben ­ oder: ob nicht vielmehr die Religion eine Geißel der Menschheit ist ­, ein Thema, das sich nicht leichtfertig wegschieben lässt. Einerseits scheinen die Menschen ­ auch gerade jetzt ­ ein geradezu unverwüstliches Bedürfnis nach Religion zu haben, anderseits kann man sich der Tatsache nicht verschließen ­ auch das gerade jetzt nicht ­ dass Religionen Menschen zu den schlimmsten Verbrechen anstiften können. Intoleranz statt Toleranz, Fanatismus statt Menschlichkeit, Drohbotschaft statt Frohbotschaft, Denkverbote statt Glaubensfreiheit, das scheint, nüchtern betrachtet, der 1 Virus zu sein, mit dem sich die Religionen immer wieder neu anstecken, ohne jemals dagegen immun zu werden. Wozu ist also Religion gut? Vielmehr schlecht ­ nimmt man Richard Dawkins Buch »Der Gotteswahn«1 beim Wort. Der »Spiegel« hat es 2008 zum Bestseller hochgejubelt. Blickt man auf die letzten 40 Jahre, scheint sich die öffentliche Einstellung gegenüber der Religion in einer Wellenbewegung ständig auf und ab zu bewegen. In den berühmten 68er-Jahren hätte es sich kaum eines der ›meinungsbildenden‹ Blätter nehmen lassen, mit freudiger Emphase das baldige Ende der Religion zu verkünden. Viel heftiger und fundierter als heute das Pamphlet Dawkins beschrieb damals Joachim Kahl 1969 »Das Elend des Christentums«2, und schärfer als Karlheinz Deschners »Kriminalgeschichte des Christentums« in 9 Bänden3 kann man sich Religionskritik kaum vorstellen. Und so ist es doch etwas überraschend, wenn gegenwärtig plötzlich wieder von der Bildzeitung bis zu renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften über religiöse Themen geschrieben wird. Richard Dawkins »furiose Streitschrift wider die Religion« ­ wie sein Buch vollmundig angepriesen wurde ­ bemühte einmal mehr die Glaubenssätze traditioneller atheistischer Dogmatik, um zu begründen, warum der Glaube an Gott einer vernünftigen Betrachtung nicht standhalten könne. Selbst ganz Dogmatiker, riskiert er damit, dass seine atheistische Antwort schon dem eigenen intellektuellen Verständnis von Vernunft nicht standhält. Warum nicht? Deshalb nicht, das ist die These, die ich im Folgenden erläutern will, weil die autonome Vernunft, an die Dawkins unerschütterlich glaubt, eben Selbsttäuschung ist. Daran sind vor ihm schon viele gescheitert; zuletzt der angesehene Philosoph Hans Albert mit seinem kritischen Rationalismus4. Ähnlich gestrickt ist auch die allerdings weniger aufdringliche Religionskritik des berühmten theoretischen Physikers Steven Hawking, die er jüngst in der Einleitung zu seinem neuem Buch »The Grand Design«, deutsch: »Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums« 5 vortrug: »Die Philosophie«, heißt es dort, » ist tot« ­ und damit ist auch 1 R. Dawkins, Der Gotteswahn, Ullstein TB 37232, Berlin 2008. 2 2 J. Kahl, Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott, Reinbek 1969 = rororo 1093. 3 K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, 9. Bde., Reinbek bei Hamburg 1986–2008. 4 H. Albert, Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, Hamburg 1979. 5 S. Hawking, L. Mlodinow, Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums, Reinbek bei Hamburg 2010, 11. 2 jede religiöse Welterklärung mitgemeint. Nach Hawkings Überzeugung sind jetzt allein die empirischen Wissenschaften, vor allem die Physik fähig und kompetent, die ersten und letzten Fragen der Menschheit zu beantworten. Tatsächlich aber verlässt Hawkings Empirismus damit den Boden der empirischen Forschung und trifft eine Glaubensentscheidung. An die Stelle von Philosophie und Theologie tritt also durchaus nicht die in Aussicht gestellte überlegene Erkenntnis des »Wesens der Wirklichkeit«, sondern ein Wissenschaftsglaube, der sich seiner methodischen Grenzen nicht bewusst ist und damit den Rahmen des Aussagbaren überspannt. Die Lage ist viel ernster, als eifrige Rationalisten wie Dawkins oder Scientisten wie Hawking annehmen: nicht nur für den Gottgläubigen freilich, sondern umso mehr für den Vernunft- oder Wissenschaftsgläubigen. Wäre Vernunft wirklich das dominierende Handlungsprinzip, müsste die Welt anders aussehen. Aber leider geht es auf der Welt höchst selten › vernünftig‹ zu und der Appell: Leute seid doch vernünftig!, hat wahrscheinlich noch selten jemanden vom Glauben abgebracht oder dafür überzeugen können. Jeder glaubt ja ohnehin nur, wovon er überzeugt ist, und von dem, wovon er wirklich überzeugt ist, kann ihn niemand abbringen, außer er sich selbst. Das gilt im Übrigen nicht nur im Für-und-Wieder der Religion, sondern für jede Form der Erfahrungsinterpretation und der Wissenschaft. Es gibt mit anderen Worten keine voraussetzungslose Wissenschaft, denn schon hinter jeder Frage, die wir stellen, stehen am Ende unbewusste Vorannahmen, Glaubenssätze und Axiome. Die Welt ist nicht so, wie sie die Physik mit Hilfe der Mathematik beschreibt und Gott ist nicht so, wie ihn die Theologie beschreibt ­ zum Glück würde ich sagen. Alles ist Interpretation! Dieser Befund klingt nicht eben ermutigend. Nun mag man dagegen halten: Religion ­ in welcher Form auch immer ­ sei eine so unübersehbare Dimension der menschlichen Kultur, dass sie aus ihr gar nicht wegzudenken sei. Und selbst ein gläubiger Atheist wie Dawkins müsse zugeben, dass unzählige Menschen seit Anbeginn der Geschichte überzeugt waren und sind, zutiefst in ihrem Herzen Gott erfahren zu haben, ja dass ihnen im Gebet oder in der Meditation Augenblicke tiefster Vereinigung mit dem Unaussprechlichen geschenkt worden seien. Und selbst ein eingefleischter Feind aller Religion müsse doch zur Kenntnis nehmen, dass der unleugbare Missbrauch, der mit den Religionen getrieben wurde und wird, nicht einfach mit ihrer Botschaft ineinsgesetzt werden kann. Aber: das Phänomen des Religiösen mag eindrücklich, ja überwältigend sein; es mögen noch so viele religiöse Menschen ihre Gotteserfahrung bezeugen, sie sind kein Beweis dafür dass solche Erlebnisse ›von außen‹ kommen. Die Frage, ob Gott vielleicht tatsächlich doch ›nur‹ eine Erfindung des Menschen ist, lässt sich eben nicht so leicht vom Tisch fegen. Es könnte ja 3 auch die These von Pascal Boyer zutreffen: »Und Mensch schuf Gott«.6 Ich versuche mich im Folgenden mit dieser Problematik Schritt für Schritt auseinanderzusetzen. 2. Gott im Gehirn? Die Herausforderung durch die Naturwissenschaften Vielleicht, so mutmaßt die Entwicklungsbiologie, ist das Göttliche beziehungsweise die Religion nur eine Zweckerfindung der Evolution, welche die Überlebenschancen des Menschen verbessert. Oder, und da hat heute die Neurobiologie ihre große Stunde, ist Religion mehr, als eine elektrochemische Eigenart des menschlichen Gehirns, eine vorprogrammierte Schaltstelle im Gehirn? Ist die Erfahrung, dass mich in der Begegnung mit Menschen und Natur oder mit der Wirklichkeit selbst das Unendliche, vielleicht Göttliche berührt, Begegnung mit dem Wort Gottes ­ oder ist Gott lediglich ein Hirngespinst? Unbestreitbar haben solche Erfahrungen des Berührtwerdens die Macht, Menschen zu verändern und haben sie oft zu entscheidenden Wenden ihres Lebens angestoßen. Wenn dem aber so ist, dann können transzendentale Bezüge nicht einfach aus dem naturwissenschaftlichen Diskurs herausgehalten werden. In der Tat können zentrale Fragen des Menschen nach sich selbst: die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens, seinem Sinn und seiner Bedeutung nicht im schmalen Wirklichkeitshorizont einer einzelnen Wissenschaft ­ in aktuellen Falle der Biowissenschaften beziehungsweise der Neurobiologie ­ beantwortet werden. Letztlich kann der Mensch nur zur Entscheidung über sein eigenes Wesen und sein Konzept von Menschlichkeit kommen, wenn er über sich selbst hinausdenkt. Das heißt, wenn er Distanz von sich selbst gewinnt und den Weg philosophischer, theologischer, ethischer und historischer Reflexion auf sich zu nehmen wagt. Ohne Zweifel sind die Ergebnisse der Gehirn- und Bewusstseinsforschung von ganz besonderer Tragweite für das Selbstverständnis des Menschen, die Qualität seiner Transzendenzfähigkeit oder den Realismus der Gottesbeziehung, religiöser Spiritualität und Mystik. Was, wenn das alles, wie in der Computerei, nur nützliche ›demon’s‹ wären, kleine, diskret im Hintergrund ablaufende Hilfsprogramme? Sind also Bewusstsein, Denken, Sprechen, Handeln, die Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, die religiöse Welterfahrung lediglich vom physiologischen Gehirn ausgelöste Illusionen, die einzig und allein den Zweck haben, das dumbe, aber höchst eingebildete Mangelwesen Mensch instandzusetzen, sich möglichst erfolgreich fortzupflanzen? 6 P. Boyer, Und Mensch schuf Gott, Stuttgart 2004. 4 Was also hat es mit dem Geist auf sich, auf den wir so stolz sind? Eigentlich gar nichts, pflegen zumal materialistisch ausgerichtete Neurophilosophen und Neurobiologen zu antworten. Sie »sehen Geist« ­ so Gerhard Roth im Vorwort zur Übersetzung des Buches »die Seelenmaschine« (engl. »The Engine of Reason, the Seat of the the Soul«) von Paul M. Churchland ­ »als eine ›emergente‹ Eigenschaft des materiellen Gehirns an, als etwas, das als Systemeigenschaft aus der überaus großen Komplexität des menschlichen (und vielleicht auch tierischen) Gehirns auftaucht.« Emergenztheoretiker wie Lorenz, Popper, Searle, Nagel und Dennett, fährt er fort, aber auch bedeutende Gehirnforscher wie der kürzlich verstorbene Otto Creutzfeldt würden nicht müde, »Geist und insbesondere das subjektive Erleben als eine letztlich ›unerklärliche‹ Eigenschaft zu beschreiben.« Roths Kommentar dazu: »Eine solche Haltung verwechselt das Wesen einer wissenschaftlichen Erklärung mit der Möglichkeit, etwas anschaulich oder gar gefühlsmäßig nachvollziehen zu können.«7 Auch wenn Roth selber einen insgesamt vorsichtigeren Standort einnimmt, rechnet er sich selber ­ ähnlich wie der Stuttgarter Synergetikforscher Hermann Haken zu den Vertretern eines neurobiologischen Materialismus. »Der Moderne neurobiologische Materialismus ­ definiert er ­ geht ... davon aus, dass geistige Zustände physikalische Zustände sind und letztlich in physikalischen Termini beschrieben werden können.« Ist also ­ um in der Terminologie zu bleiben ­ nicht erst die Religion, sondern schon das Denken, unser Anspruch auf Entscheidungsfreiheit ­ und dann natürlich auch alles, was unsere Wissenschaft ausmacht ­ Illusion? Ist das Bewusstsein, das wir zu haben meinen, sind die Gefühle und Stimmungen, die wir zu erleben glauben, lediglich das Ergebnis einer auf die Spitze getriebenen Selbstorganisation des Gehirns, das sich vorgaukelt selbst zu existieren? Alles nur Einbildung? Aber wer bildet sich denn da überhaupt etwas ein? Wie kann man philosophieren über das Denken, wenn es gar keinen Geist gibt, kein Ego, das denkt? So bleibt bei allem hoch anregenden Zuwachs an funktionalem Wissen über die neuronale Rechenmaschine in unserem Kopf weiterhin völlig offen, was das eigentlich ist und sein soll, was wir da so selbstbewusst mit dem Wort ›Geist‹ bezeichnen. Materialistische Forscher betrachten das Bewusstsein und damit geistige Tätigkeiten ausschließlich als neuronale 7 Paul M. Churchland, Die Seelenmaschine. Eine philosophische Reise ins Gehirn, Heidelberg-Berlin-Oxford 1997. Die Zitate: XIV. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen des deutschen Kognitionsbiologen vgl. vor allem: G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, 5 2 Frankfurt/M. 1996 = surkamp taschenbuch wissenschaft 1275, Frankfurt/M. 1998. 5 Vorgänge. Geisteswissenschaftlich ausgerichtete Forschung hingegen geht davon aus, dass reflexives Denken und Bewusstsein zwar auf das Gehirn als Medium angewiesen ist, trotzdem aber als eigenständiges Phänomen verstanden werden muss, das den Gehirnfunktionen gewissermaßen transzendent, übergeordnet, jenseitig ist. Für das theologische Denken bedeuten die Ergebnisse dieser Forschung eine beunruhigende Herausforderung, weil damit die Frage aufgeworfen ist, ob Religion, ob die Gottesvorstellung lediglich eine genetisch bedingte hirnorganische Funktion darstellt, oder tatsächlich in einem Offenbarungsgeschehen gründet. In der Tat: Wenn wir wissen, wie das Gehirn funktioniert, haben wir überhaupt noch nicht begriffen, was Geist beziehungsweise Bewusstsein ist. Das hermeneutische Problem der geisteswissenschaftlichen Arbeitsweise stößt auf ein ähnliches Dilemma: Alles Nachdenken über das Bewusstsein setzt nämlich Bewusstsein immer schon voraus. Insofern steht hinter jedem empirischen oder psychologischen, philosophischen oder theologischen Forschungsansatz über Gehirn und Bewusstsein immer schon der konzipierende Geist der Forscher. Wir forschen mit Hilfe eben unseres Geistes, über den Geist: ein typischer Zirkelschluss. Ähnlich verhält es mit dem theologischen Nachdenken über Gott. Es setzt im Gehirn bereits die neuronalen Fähigkeiten voraus, die dem Menschen ermöglichen über sich hinauszudenken, die entscheidenden Fragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn und der Bestimmung seines Daseins zu stellen und auf Antwort aus zu sein. Die mittelalterliche Theologie sprach hier von einer ›potentia oboedientialis ‹ , einer in der Natur des Menschen angelegten Fähigkeit zur Transzendenz- beziehungsweise Gotteserkenntnis, ohne die so etwas wie Religion gar nicht möglich wäre. Freilich muß sich auch die Theologie bewusst sein, dass sich die religiöse Auslegung von Welt und Leben, die ihr Geschäft ist, immer nur auf die im Menschen und in der menschlichen Geschichte repräsentierte Wirklichkeit beziehen kann. Auch die Theologie blickt nicht hinter die Kulissen. Das heißt: Von Gott kann immer nur in Metaphern und in Symbolen gesprochen werden. Vorfindbar sind stets nur die von den Religionen angebotenen Gottesbilder und -vorstellungen. 3. Transzendenz - oder die Wahrnehmung der Wirklichkeit (ein Experiment) Die entscheidende Frage ist, ob man das »innere Universum« des Menschen mit neuronalen Vorgängen gleichsetzen kann, wie sie heute mit bildgebenden Verfahren wie etwa der Positronenemissionstomographie (PET) sicht- und messbar gemacht werden können. Wenn dem so ist, wäre nicht nur Gott, sondern schon das Ich, das wir für unsere Person in Anspruch nehmen, ein Hirngespinst. Tatsächlich legt sich aber, wenn man die 6 erlebte Einheit von Gehirn und Geist nicht dem materialistischen Dogma unterstellt, die Vermutung nahe, dass das Gehirn tatsächlich auch »zur Wahrnehmung transempirischer Wirklichkeiten fähig ist«8. Darauf will ich jetzt etwas genauer eingehen. Es reizt mich, nachdem die Neurobiologie heute so stolz ist auf ihre bildgebenden Verfahren, den Spieß einmal umzudrehen, und meinerseits mit einigen Bildern auf ihr Gehirn einzuwirken. Erstes Beispiel: Jean Effels heitere Schöpfungsgeschichte9 Warum finden wir diese Zeichnungen lustig, obwohl sie weder unserem naturwissenschaftlichen noch religiösen Weltbild entsprechen? Für mich ist es die entwaffnende Metaphorik der zweiten Bildunterschrift: »der Geist in der Dunkelkammer«. Weiß Gott, ja: was haben wir denn überhaupt begriffen von dem Geist, mit dessen Hilfe wir versuchen, die ganze Welt zu verstehen? Zweites Beispiel: Was denkt der Schneehase auf unserem Bild? Man kann sich der Stimmung, die das Bild ausstrahlt kaum entziehen. Da fällt auf, die geheimnisvolle Hoheit des Tieres, das hier in einem mystischen Licht erscheint. Mir kommt die Erinnerung an unser Zwergkaninchen, das im Sommer, bevor es zärtlich umsorgt von der ganzen Familie sein kleines Leben aushauchte, oft stundenlang auf der Treppe im Garten saß und völlig in sich versunken in die Ferne sah. Ob Kaninchen sich höheren Dingen zuwenden, weiß ich nicht. Dass aber das Bild, das Sie sehen eine starke Symbolkraft hat, hoffe ich Ihnen nahezubringen. Die empirische Realität des Hasenbildes, das ich vom Deckblatt einer Werbebroschüre kopiert habe, ist allerdings banal. Es birgt aber, wenn wir dafür empfänglich sind, eine tiefere symbolische Aussage, die uns bewegt, unseren Blick für die der Empirie verborgene Tiefe zu öffnen. Drittes Beispiel: Der alte Neandertaler. Er lebte vor mehr als 30.000 Jahren, wurde etwa 50 Jahre alt, war schwer behindert, wurde aber liebevoll gepflegt von seinen Angehörigen. So ungefähr wie die im Neanderthalmuseum ausgestellte Rekonstruktion dürfte er ausgesehen haben. Es scheint, als würde er gleich seinen Mund öffnen und anfangen zu sprechen. Was hätte er zu sagen? Warum sollten wird das überhaupt wissen wollen? Er ist doch allenfalls ein sehr entfernter Verwandter und lebte überdies in grauer Vorzeit. Und doch fasziniert uns dieses Gesicht. Das bedeutet, dass zu den transempirischen Dimensionen der Wirklichkeit: der metaphorischen und der symbolischen noch eine dritte hinzukommt, die historische Dimension. Wer bin ich, wo komme ich her, wohin gehe ich? Das sind die drei Fragen, auf die wir unbedingt eine Antwort haben möch8 Ebd. 9 Effel, Heitere Schöpfungsgeschichte für fröhliche Erdenbürger, Rowohlt 2011 7 ten, weil von ihnen unsere Identität abhängt ­ und in diesem Zusammenhang stößt auch Stephen Hawkings »Grand Design« ziemlich ins Leere. Ob man auf diese Fragen eine naturwissenschaftlich-empirische, meinetwegen neurobiologische, eine philosophische, kulturelle oder religiöse Antwort sucht, ist gewiss eine Sache der Einstellung. Das entscheidende Faktum aber bleibt sich gleich. Unser Bedürfnis nach Antwort überschreitet stets unseren Horizont. Das muss nun genauer bedacht werden. 4. Über sich selbst hinausdenken? Der Mensch, der auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis mit letzter Kraft kriechend seinen eigenen Horizont durchbricht, ist eines der symbolträchtigsten und bekanntesten Bilder der neuzeitlichen Aufklärung10. Nur wer den Exodus wagt, ist fähig neues zu entdecken und zu wagen. Ohne den Willen zur Transzendenz, zur Selbstüberschreitung, wäre der Mensch geblieben, was er schon immer war: das Tier mit einem zu groß geratenen Hirn. Wer aber den Aufbruch zu neuen Ufern wagt, muß erfahren, dass hinter jedem Horizont wieder ein neuer Horizont liegt, an dem man sich abarbeiten muss. Einzig wir selbst sind es, die entscheiden, ob wir weitergehen wollen, oder es vielleicht doch irgendwann bei dem bewenden lassen, was wir erreicht haben. Traditionalismus und Fundamentalismus sind deshalb ebenso menschlich wie die Neugier und das Streben nach dem Ganz-Anderen der Wirklichkeit. So gibt es Dogmatiker überall, nicht nur bei den Theologen und Religionskundigen, sondern auch bei den Philosophen und Naturwissenschaftlern. Wahrscheinlich hat jeder Mensch seinen Punkt, wo er genug hat von der Anstrengung des Forschens und Denkens und seinen Kenntnisstand zum Glaubenssatz für sich und die Welt machen möchte. Doch genau hier beginnt der Irrtum: Naturwissenschaftler meinen dann, die Welt sei wirklich so, wie sie sie beschreiben, Theologen merken nicht mehr, dass sie lediglich von ihren Gottesbildern reden, wenn sie von Gott sprechen. Trotzdem müssen wir uns weiter der Frage stellen, was eigentlich Transzendenz und dann in der religiösen Redewendung Gott meint. Es geht in unserem Zusammenhang jedenfalls nicht nur um die äußere Transzendenz der Horizonte menschlicher Wissenschaft, sondern ­ und dies ist das interessantere Thema ­ um Grenzüberschreitungen im inneren Erleben der Wirklichkeit. Das Experiment beginnt schon, wenn Sie die Augen schließen und sich vorzustellen versuchen, wo in Ihrem Körper Sie sich selbst aufhalten. Sie werden dann finden, dass Ihr Ich einen imaginären Raum einnimmt, der die Grenzen des Körpers fließend werden lässt. Öffnen Sie die 10 Camille Flammarion, Illustration zum Kapitel ‘La forme du ciel’ in L'Atmosphère.…, Paris 1888 (Holzstich) 8 Augen und sehen Ihre rechte Hand, wissen Sie aber sofort: Das ist meine rechte Hand, sie gehört mir! Sie können nun einen Stift zur Hand nehmen und versuchen, Ihre Hand zu zeichnen. Was Sie freilich ­ falls Ihnen dies gelingt ­ zu Papier gebracht haben, ist nicht Ihre Hand, sondern eine visualisierte Vorstellung Ihrer Hand, die Sie ­ sagen wir ­ im Augenblick des Zeichnens festhalten wollten. Um dieses Werk zu vollbringen, musste der Künstler die Ebene der Empirie in doppelter Weise überschreiten: ­ er musste in seinem Gehirn eine abstrakte zweidimensionale Vorstellung seiner Hand bilden und ­ er musste auf der nächst höheren Ebene sich diese real nicht existierende Hand im virtuellen Akt des Zeichnens vorstellen. Man kann die Sache auch noch ein wenig komplizierter gestalten. Das Bild der sich zeichnenden Hände provoziert unweigerlich die Frage nach dem zeichnenden Subjekt. Klar ist, dass gezeichnete Hände nicht zeichnen können. Von einem rein rationalistisch-materialistischen Standpunk aus müsste man das Bild eigentlich für unsinnig halten, weil dergleichen in der empirischen Welt gar nicht vorkommt. Nur auf der Ebene einer höheren Wahrnehmung der Wirklichkeit erschließt sich uns die Fiktion als Symbol des sich selbst bewusst gewordenen Bewusstsein des Bewusstseins. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein, die Setzung des Ich ist kein in bestimmten Gehirnlappen auf Dauer abgelegter Zustand, sondern ein nach allen Seiten unabgeschlossenes prozesshaftes Interpretationsgeschehen. Es scheint also, dass die empirische Welt da draußen lediglich Substrat ist, aus dem der homo sapiens seine eigene Welt und Wirklichkeit erschafft. Das heißt: »Die Vorstellung, dass das Gehirn die Umwelt abbildet, führt zu einem unendlichen Regress, weil im Gehirn wiederum eine Instanz mit einem Gehirn benötigt wird, die sich das Bild ansieht, indem sie es abbildet, usw.« Unendlich ist der Regress freilich nur, wenn wir übersehen, dass eine Rose im weltschöpfenden Erkenntnisprozess keineswegs banales › Buntgemüse‹ bleibt, sondern durch vielfältige symbolische und metaphorische Zuschreibungen schließlich zum Ausdruck zärtlicher Liebe, zum Gegenstand verzückter Poesie usw. werden kann. Wirklich an der Wirklichkeit ist eben am Schluss doch, was in unserer Menschenwelt ›wirklich‹ ist. Noch einmal anders gesagt: Die Welt, der wir begegnen ist immer unsere Welt; es gibt keine im strengen Sinne rein objektive Beziehung zur Welt. Alles ist Interpretation! Lassen Sie mich noch einen letzten Versuch zur Verständlichkeit machen, bevor ich die zu Anfang gestellte Frage beantworte. So wie das Denken die Sprache voraussetzt, so ist Menschsein nur möglich, insofern es in ein Wort- und Antwortgeschehen eingebunden ist. Menschliche Existenz ist 9 dialogische Existenz. »Im Anfang war das Wort Alle Dinge sind durch das Wort geworden und ohne das Wort ist auch nicht eines geworden, das geworden ist.« Mit diesen Worten beginnt das Johannesevangelium (Joh 1,1–3). Dieser ›Dialog‹, in dem den Mensch erst zum Bewusstsein erwacht, folgt stets derselben Dynamik: Am Anfang das Wort: Am Anfang meiner Menschwerdung standen Menschen, die mich angesprochen haben und mich hineingenommen haben in ihre Beziehung, so wie sie einst zuerst angesprochen worden waren und desgleichen ihre Eltern und wiederum deren Eltern und so fort. In dieser Beziehung habe ich die Sprechenden schließlich als Du, als Gegenüber erkannt und das, was durch diese Kommunikation entstand, als Wir, und mich selbst als eigenständiges Ich. Die Begegnung hat mir die Möglichkeit gegeben, aus mir selber herauszutreten, das heißt: mich zu externalisieren. Nur dadurch, dass es Spielregeln gibt: eine Sprache, Regeln, Normen, Gesetze, ist Kommunikation auf Dauer möglich, ohne dass wir andauernd von vorne beginnen müssen. Sie entstehen durch Objektivierung unserer Erfahrungen. Dieses Regelwerk macht nur Sinn, wenn es in einer dritten Bewegung von uns wiederum internalisiert und angewendet wird. Wer aber gibt dem Regelwerk seine Autorität? Seit eh‘ und je versucht die menschliche Gesellschaft wichtige Normen durch unantastbare höhere Autoritäten zu begründen: den König, das Volk, die Verfassung, die 10 Gebote, die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen zum Beispiel. Wir versuchen also Normen als transzendental begründet dem Zugriff zu entziehen. Wir versuchen sie als in der Vernunft oder im Sein selbst begründet auszuweisen. Die höchste Autorität wäre dann erreicht, wenn einer Glaubensgemeinschaft überzeugend dargelegt werden könnte, dass Gott selbst, die höchste Autorität, das Geforderte als › göttliches Gesetz‹ erlassen hat. 5. (Nur) eine Erfindung? Wir stoßen auf diesem Wege wieder auf das Bedürfnis nach Letzbegründung und Transzendenz. Zweifellos hat in einer religiös geprägten Gesellschaft die Religion auch hier enorme Vorteile. Sie vereinfacht jedenfalls das Zusammenleben ganz enorm. Damit ist freilich darüber, ob eine Religion gut oder schlecht ist für den einzelnen, noch gar nichts gesagt. Ich komme zum Fazit. Sie ahnen zu welchen Schlüssen ich nach meinem verschlungenen Plädoyer zu kommen gedachte. Zunächst ist zu sagen: 10 Ja Gott, Religion ist wie alles, was den Menschen als Menschen ausmacht, etwas, was der Mensch auf seinem Weg zur Menschwerdung › gefunden‹, (er-)funden hat. Dies ist daran zu erkennen: Wenn Menschen über Gott sprechen, sprechen sie stets nur von ihren Gottes-Bildern. Das bedeutet: Das worum es letztlich geht, bei der Rede von Gott bleibt als absolute Transzendenz definitiv jenseits aller Bilder ­ sonst wäre es nicht Gott! Positiv ist dann aber zu sagen: Transzendenzfähigkeit gehört konstitutiv zum Wesen des Menschseins, wie wir es für uns beanspruchen. Nur durch Selbstüberschreitung wird der Mensch zu einem nachdenklichen Wesen. Diese Selbstüberschreitung ist wiederum nur möglich, wenn das Denken und Forschen ergebnisoffen ist. Insofern haben wir uns damit zu bescheiden, dass weder Gottes Existenz noch seine Nicht-Existenz bewiesen werden kann. Für die Religionen bedeutet dies: Nur wenn sie sich geistig offen halten dafür, dass Gott/das Transzendente der/das immer Ganz-Andere ist, nehmen sie die Gottesfrage und die Wissenschaften ernst. Max Planck hatte in einem berühmt gewordenen Vortrag über »Religion und Naturwissenschaft«11 schon 1937 angemerkt: die heutige Quantenphysik lege nahe, dass sich sowohl die Theologen als auch die naturwissenschaftlichen Empiriker getäuscht haben: ­ die Theologen, sofern sie Gott für eine objektivierbare geistige Realität hielten, die man sozusagen auf den philosophischen und theologischen Seziertisch legen und wie andere Objekte menschlichen Interesses untersuchen könne; ­ die modernen Empiriker, sofern sie in ihrem ebenso naiven Wissenschaftsglauben behaupten konnten, dass nur das wirklich existiere, was man im Experiment messen und mathematisch beschreiben könne. Eine konsistente Erklärung der Quantenphänomene ­ so stellte Plank fest ­ komme zu der überraschenden Schlussfolgerung: 11 M. Planck, »Religion und Naturwissenschaft«, in: Vorträge und Erinnerungen (Darmstadt 1981) 318–333, zitiert nach: H. P. Dürr (Hg.), Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren 9 (Bern-München-Wien 1996). 11 »dass es eine objektivierbare Welt, also eine gegenständliche Realität, wie wir sie bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraussetzen, gar nicht ›wirklich‹ gibt, sondern dass diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmäßige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer unmittelbaren äußeren Erfahrung grob zu ordnen. Die Auflösung der dinglichen Wirklichkeit offenbarte, dass eine Trennung von Akteur und Zuschauer, von subjektiver und objektiver Wahrnehmung nicht mehr streng möglich ist.«12 Planck kam dann auf Werner Heisenberg zu sprechen, der deutlich gemacht habe: man könne einen Sachverhalt durchaus völlig klar verstanden haben und gleichzeitig doch wissen, dass man von ihm nur in Bildern und Gleichnissen reden könne. Und ­ fährt Planck selber fort: »Die Sprachlosigkeit religiöser Erfahrung greift in gewisser Weise mit der Quantenphysik auch auf die äußere Erfahrung über. Die Quantenphysik machte wieder deutlich, dass unsere wissenschaftliche Erfahrung, unser Wissen über die Welt nicht der › eigentlichen‹ oder letzten Wirklichkeit, was immer man sich darunter vorstellen will, entspricht. ›Das wahre Wesen der Dinge bleibt verschlossen ‹ , sagte schon John Locke. Durch unsere Sinneswerkzeuge und unsere Denkstrukturen prägen wir der Wirklichkeit ein Raster auf, das sie in ihren Ausdrucksformen beschränkt und in ihrer Qualität verändert.«13 Nehmen wir dies ernst, bleibt die Erkenntnis: Die Physikalische Welt selbst erscheint als eine »Konkretisierung der Transzendenz«. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit selbst ist schon transzendent. Die Welt wird zum Gedanken, die wahrgenommene Wirklichkeit zu einem geistigen Phänomen. Hier ist die entscheidende Frage nicht mehr, wie unser Gehirn funktioniert, sondern ob das alles für den Menschen einen Sinn macht oder nicht ­ und ob es Gründe gibt, dies anzunehmen oder nicht.14 12 Ebd. 12–13. 13 Ebd., 15. 14 Vgl. J. Polkinghorne in seiner Antwort an Weinberg, in: bild der wissenschaft 12 (1999) 48–51. 12 Wie wir freilich mit dieser letzten Unergründlichkeit unseres In-der-Welt-Seins umgehen, ob wir sie an eine Gottesvorstellung binden wollen oder nicht, muss jeder Mensch selbst entscheiden. 13