Gott im Haus der Wissenschaften? 1. Das Problem

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Gott im Haus der Wissenschaften?
Der Glaube im interdisziplinären Gespräch
Urs Baumann
Vortrag bei der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Tagungszentrum Hohenheim, 12. Mai 2012, im Rahmen der Reihe „Glaube im Dialog“
Was hat Gott im Haus der Wissenschaften zu schaffen? Was hat Religion,
was hat Theologie mit exakter Wissenschaft zu tun? Nicht wenige empirische Wissenschaftler sind heute der Meinung, Theologie habe prinzipiell
nichts zu suchen im universitären Haus der Wissenschaften. Denn: Theologie beschäftige sich ja lediglich mit Spekulationen und experimentell nicht
nachprüfbaren Meinungen und könne deshalb nicht als seriöse Wissenschaft gelten. Umgekehrt haben namhafte Naturwissenschaftler längst
erkannt, dass empirische Forschung ohne spirituelle und ethische Grundlage Gefahr läuft, sich den Versuchungen persönlicher, politischer, kommerzieller oder militärischer Interessen auszuliefern. Die Frage nach den
Grundlagen reicht mithin über den Horizont des Messbaren und Quantifizierbaren weit hinaus in den Raum des ethischen, religiösen, menschenrechtlichen und kulturellen Ermessens. Hier es geht um Fragen der Sinndeutung und Identität des Menschen und der Menschheit. Deshalb bleiben
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften wechselseitig aufeinander verwiesen.
1. Das Problem
Nun man mag es mit der Religion halten wie man will: Die Vorstellung der
Transzendenz beziehungsweise der von den Menschen geglaubte Gott ist
ebenso ein Phänomen der Menschheitsgeschichte wie die Erfindung von
Philosophie, Mathematik, Wissenschaft und Technik. Dennoch bleibt die
Frage, ob Menschen wirklich so etwas wie Religion nötig haben ­ oder: ob
nicht vielmehr die Religion eine Geißel der Menschheit ist ­, ein Thema,
das sich nicht leichtfertig wegschieben lässt. Einerseits scheinen die
Menschen ­ auch gerade jetzt ­ ein geradezu unverwüstliches Bedürfnis
nach Religion zu haben, anderseits kann man sich der Tatsache nicht verschließen ­ auch das gerade jetzt nicht ­ dass Religionen Menschen zu
den schlimmsten Verbrechen anstiften können. Intoleranz statt Toleranz,
Fanatismus statt Menschlichkeit, Drohbotschaft statt Frohbotschaft,
Denkverbote statt Glaubensfreiheit, das scheint, nüchtern betrachtet, der
1
Virus zu sein, mit dem sich die Religionen immer wieder neu anstecken,
ohne jemals dagegen immun zu werden.
Wozu ist also Religion gut? Vielmehr schlecht ­ nimmt man Richard
Dawkins Buch »Der Gotteswahn«1 beim Wort. Der »Spiegel« hat es 2008
zum Bestseller hochgejubelt. Blickt man auf die letzten 40 Jahre, scheint
sich die öffentliche Einstellung gegenüber der Religion in einer Wellenbewegung ständig auf und ab zu bewegen. In den berühmten 68er-Jahren
hätte es sich kaum eines der ›meinungsbildenden‹ Blätter nehmen lassen, mit freudiger Emphase das baldige Ende der Religion zu verkünden.
Viel heftiger und fundierter als heute das Pamphlet Dawkins beschrieb
damals Joachim Kahl 1969 »Das Elend des Christentums«2, und schärfer
als Karlheinz Deschners »Kriminalgeschichte des Christentums« in 9
Bänden3 kann man sich Religionskritik kaum vorstellen. Und so ist es doch
etwas überraschend, wenn gegenwärtig plötzlich wieder von der Bildzeitung bis zu renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften über religiöse
Themen geschrieben wird.
Richard Dawkins »furiose Streitschrift wider die Religion« ­ wie sein Buch
vollmundig angepriesen wurde ­ bemühte einmal mehr die Glaubenssätze
traditioneller atheistischer Dogmatik, um zu begründen, warum der Glaube
an Gott einer vernünftigen Betrachtung nicht standhalten könne. Selbst
ganz Dogmatiker, riskiert er damit, dass seine atheistische Antwort schon
dem eigenen intellektuellen Verständnis von Vernunft nicht standhält. Warum nicht? Deshalb nicht, das ist die These, die ich im Folgenden erläutern
will, weil die autonome Vernunft, an die Dawkins unerschütterlich glaubt,
eben Selbsttäuschung ist. Daran sind vor ihm schon viele gescheitert; zuletzt der angesehene Philosoph Hans Albert mit seinem kritischen Rationalismus4.
Ähnlich gestrickt ist auch die allerdings weniger aufdringliche Religionskritik des berühmten theoretischen Physikers Steven Hawking, die er
jüngst in der Einleitung zu seinem neuem Buch »The Grand Design«,
deutsch: »Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums« 5
vortrug: »Die Philosophie«, heißt es dort, » ist tot« ­ und damit ist auch
1
R. Dawkins, Der Gotteswahn, Ullstein TB 37232, Berlin 2008.
2
2
J. Kahl, Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott,
Reinbek 1969 = rororo 1093.
3
K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, 9. Bde., Reinbek bei Hamburg
1986–2008.
4
H. Albert, Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng,
Hamburg 1979.
5
S. Hawking, L. Mlodinow, Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums,
Reinbek bei Hamburg 2010, 11.
2
jede religiöse Welterklärung mitgemeint. Nach Hawkings Überzeugung
sind jetzt allein die empirischen Wissenschaften, vor allem die Physik fähig
und kompetent, die ersten und letzten Fragen der Menschheit zu beantworten. Tatsächlich aber verlässt Hawkings Empirismus damit den Boden
der empirischen Forschung und trifft eine Glaubensentscheidung. An die
Stelle von Philosophie und Theologie tritt also durchaus nicht die in Aussicht gestellte überlegene Erkenntnis des »Wesens der Wirklichkeit«,
sondern ein Wissenschaftsglaube, der sich seiner methodischen Grenzen
nicht bewusst ist und damit den Rahmen des Aussagbaren überspannt.
Die Lage ist viel ernster, als eifrige Rationalisten wie Dawkins oder
Scientisten wie Hawking annehmen: nicht nur für den Gottgläubigen freilich, sondern umso mehr für den Vernunft- oder Wissenschaftsgläubigen.
Wäre Vernunft wirklich das dominierende Handlungsprinzip, müsste die
Welt anders aussehen. Aber leider geht es auf der Welt höchst selten ›
vernünftig‹ zu und der Appell: Leute seid doch vernünftig!, hat wahrscheinlich noch selten jemanden vom Glauben abgebracht oder dafür
überzeugen können. Jeder glaubt ja ohnehin nur, wovon er überzeugt ist,
und von dem, wovon er wirklich überzeugt ist, kann ihn niemand abbringen, außer er sich selbst. Das gilt im Übrigen nicht nur im Für-und-Wieder
der Religion, sondern für jede Form der Erfahrungsinterpretation und der
Wissenschaft. Es gibt mit anderen Worten keine voraussetzungslose
Wissenschaft, denn schon hinter jeder Frage, die wir stellen, stehen am
Ende unbewusste Vorannahmen, Glaubenssätze und Axiome. Die Welt ist
nicht so, wie sie die Physik mit Hilfe der Mathematik beschreibt und Gott ist
nicht so, wie ihn die Theologie beschreibt ­ zum Glück würde ich sagen.
Alles ist Interpretation!
Dieser Befund klingt nicht eben ermutigend. Nun mag man dagegen halten: Religion ­ in welcher Form auch immer ­ sei eine so unübersehbare
Dimension der menschlichen Kultur, dass sie aus ihr gar nicht wegzudenken sei. Und selbst ein gläubiger Atheist wie Dawkins müsse zugeben,
dass unzählige Menschen seit Anbeginn der Geschichte überzeugt waren
und sind, zutiefst in ihrem Herzen Gott erfahren zu haben, ja dass ihnen im
Gebet oder in der Meditation Augenblicke tiefster Vereinigung mit dem
Unaussprechlichen geschenkt worden seien. Und selbst ein eingefleischter
Feind aller Religion müsse doch zur Kenntnis nehmen, dass der unleugbare Missbrauch, der mit den Religionen getrieben wurde und wird, nicht
einfach mit ihrer Botschaft ineinsgesetzt werden kann. Aber: das Phänomen des Religiösen mag eindrücklich, ja überwältigend sein; es mögen
noch so viele religiöse Menschen ihre Gotteserfahrung bezeugen, sie sind
kein Beweis dafür dass solche Erlebnisse ›von außen‹ kommen.
Die Frage, ob Gott vielleicht tatsächlich doch ›nur‹ eine Erfindung des
Menschen ist, lässt sich eben nicht so leicht vom Tisch fegen. Es könnte ja
3
auch die These von Pascal Boyer zutreffen: »Und Mensch schuf Gott«.6
Ich versuche mich im Folgenden mit dieser Problematik Schritt für Schritt
auseinanderzusetzen.
2. Gott im Gehirn? Die Herausforderung durch die Naturwissenschaften
Vielleicht, so mutmaßt die Entwicklungsbiologie, ist das Göttliche beziehungsweise die Religion nur eine Zweckerfindung der Evolution, welche
die Überlebenschancen des Menschen verbessert. Oder, und da hat heute
die Neurobiologie ihre große Stunde, ist Religion mehr, als eine elektrochemische Eigenart des menschlichen Gehirns, eine vorprogrammierte
Schaltstelle im Gehirn? Ist die Erfahrung, dass mich in der Begegnung mit
Menschen und Natur oder mit der Wirklichkeit selbst das Unendliche, vielleicht Göttliche berührt, Begegnung mit dem Wort Gottes ­ oder ist Gott lediglich ein Hirngespinst?
Unbestreitbar haben solche Erfahrungen des Berührtwerdens die Macht,
Menschen zu verändern und haben sie oft zu entscheidenden Wenden
ihres Lebens angestoßen. Wenn dem aber so ist, dann können transzendentale Bezüge nicht einfach aus dem naturwissenschaftlichen Diskurs
herausgehalten werden. In der Tat können zentrale Fragen des Menschen
nach sich selbst: die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens, seinem Sinn und seiner Bedeutung nicht im schmalen Wirklichkeitshorizont
einer einzelnen Wissenschaft ­ in aktuellen Falle der Biowissenschaften
beziehungsweise der Neurobiologie ­ beantwortet werden. Letztlich kann
der Mensch nur zur Entscheidung über sein eigenes Wesen und sein
Konzept von Menschlichkeit kommen, wenn er über sich selbst hinausdenkt. Das heißt, wenn er Distanz von sich selbst gewinnt und den Weg
philosophischer, theologischer, ethischer und historischer Reflexion auf
sich zu nehmen wagt.
Ohne Zweifel sind die Ergebnisse der Gehirn- und Bewusstseinsforschung
von ganz besonderer Tragweite für das Selbstverständnis des Menschen,
die Qualität seiner Transzendenzfähigkeit oder den Realismus der Gottesbeziehung, religiöser Spiritualität und Mystik. Was, wenn das alles, wie
in der Computerei, nur nützliche ›demon’s‹ wären, kleine, diskret im Hintergrund ablaufende Hilfsprogramme? Sind also Bewusstsein, Denken,
Sprechen, Handeln, die Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, die religiöse
Welterfahrung lediglich vom physiologischen Gehirn ausgelöste Illusionen,
die einzig und allein den Zweck haben, das dumbe, aber höchst eingebildete Mangelwesen Mensch instandzusetzen, sich möglichst erfolgreich
fortzupflanzen?
6
P. Boyer, Und Mensch schuf Gott, Stuttgart 2004.
4
Was also hat es mit dem Geist auf sich, auf den wir so stolz sind? Eigentlich gar nichts, pflegen zumal materialistisch ausgerichtete Neurophilosophen und Neurobiologen zu antworten. Sie »sehen Geist« ­ so Gerhard
Roth im Vorwort zur Übersetzung des Buches »die Seelenmaschine«
(engl. »The Engine of Reason, the Seat of the the Soul«) von Paul M.
Churchland ­ »als eine ›emergente‹ Eigenschaft des materiellen Gehirns
an, als etwas, das als Systemeigenschaft aus der überaus großen Komplexität des menschlichen (und vielleicht auch tierischen) Gehirns auftaucht.« Emergenztheoretiker wie Lorenz, Popper, Searle, Nagel und
Dennett, fährt er fort, aber auch bedeutende Gehirnforscher wie der kürzlich verstorbene Otto Creutzfeldt würden nicht müde, »Geist und insbesondere das subjektive Erleben als eine letztlich ›unerklärliche‹ Eigenschaft zu beschreiben.« Roths Kommentar dazu: »Eine solche Haltung
verwechselt das Wesen einer wissenschaftlichen Erklärung mit der Möglichkeit, etwas anschaulich oder gar gefühlsmäßig nachvollziehen zu können.«7
Auch wenn Roth selber einen insgesamt vorsichtigeren Standort einnimmt,
rechnet er sich selber ­ ähnlich wie der Stuttgarter Synergetikforscher
Hermann Haken zu den Vertretern eines neurobiologischen Materialismus.
»Der Moderne neurobiologische Materialismus ­ definiert er ­ geht ...
davon aus, dass geistige Zustände physikalische Zustände sind und letztlich in physikalischen Termini beschrieben werden können.«
Ist also ­ um in der Terminologie zu bleiben ­ nicht erst die Religion, sondern schon das Denken, unser Anspruch auf Entscheidungsfreiheit ­ und
dann natürlich auch alles, was unsere Wissenschaft ausmacht ­ Illusion?
Ist das Bewusstsein, das wir zu haben meinen, sind die Gefühle und
Stimmungen, die wir zu erleben glauben, lediglich das Ergebnis einer auf
die Spitze getriebenen Selbstorganisation des Gehirns, das sich vorgaukelt
selbst zu existieren? Alles nur Einbildung? Aber wer bildet sich denn da
überhaupt etwas ein? Wie kann man philosophieren über das Denken,
wenn es gar keinen Geist gibt, kein Ego, das denkt?
So bleibt bei allem hoch anregenden Zuwachs an funktionalem Wissen
über die neuronale Rechenmaschine in unserem Kopf weiterhin völlig offen, was das eigentlich ist und sein soll, was wir da so selbstbewusst mit
dem Wort ›Geist‹ bezeichnen. Materialistische Forscher betrachten das
Bewusstsein und damit geistige Tätigkeiten ausschließlich als neuronale
7
Paul M. Churchland, Die Seelenmaschine. Eine philosophische Reise ins Gehirn,
Heidelberg-Berlin-Oxford 1997. Die Zitate: XIV. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen des deutschen Kognitionsbiologen vgl. vor allem: G. Roth, Das Gehirn und
seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen,
5
2
Frankfurt/M. 1996 = surkamp taschenbuch wissenschaft 1275, Frankfurt/M. 1998.
5
Vorgänge. Geisteswissenschaftlich ausgerichtete Forschung hingegen
geht davon aus, dass reflexives Denken und Bewusstsein zwar auf das
Gehirn als Medium angewiesen ist, trotzdem aber als eigenständiges
Phänomen verstanden werden muss, das den Gehirnfunktionen gewissermaßen transzendent, übergeordnet, jenseitig ist. Für das theologische
Denken bedeuten die Ergebnisse dieser Forschung eine beunruhigende
Herausforderung, weil damit die Frage aufgeworfen ist, ob Religion, ob die
Gottesvorstellung lediglich eine genetisch bedingte hirnorganische Funktion darstellt, oder tatsächlich in einem Offenbarungsgeschehen gründet.
In der Tat: Wenn wir wissen, wie das Gehirn funktioniert, haben wir überhaupt noch nicht begriffen, was Geist beziehungsweise Bewusstsein ist.
Das hermeneutische Problem der geisteswissenschaftlichen Arbeitsweise
stößt auf ein ähnliches Dilemma: Alles Nachdenken über das Bewusstsein
setzt nämlich Bewusstsein immer schon voraus. Insofern steht hinter jedem empirischen oder psychologischen, philosophischen oder theologischen Forschungsansatz über Gehirn und Bewusstsein immer schon der
konzipierende Geist der Forscher. Wir forschen mit Hilfe eben unseres
Geistes, über den Geist: ein typischer Zirkelschluss.
Ähnlich verhält es mit dem theologischen Nachdenken über Gott. Es setzt
im Gehirn bereits die neuronalen Fähigkeiten voraus, die dem Menschen
ermöglichen über sich hinauszudenken, die entscheidenden Fragen nach
dem Woher und Wohin, nach dem Sinn und der Bestimmung seines Daseins zu stellen und auf Antwort aus zu sein. Die mittelalterliche Theologie
sprach hier von einer ›potentia oboedientialis ‹ , einer in der Natur des
Menschen angelegten Fähigkeit zur Transzendenz- beziehungsweise
Gotteserkenntnis, ohne die so etwas wie Religion gar nicht möglich wäre.
Freilich muß sich auch die Theologie bewusst sein, dass sich die religiöse
Auslegung von Welt und Leben, die ihr Geschäft ist, immer nur auf die im
Menschen und in der menschlichen Geschichte repräsentierte Wirklichkeit
beziehen kann. Auch die Theologie blickt nicht hinter die Kulissen. Das
heißt: Von Gott kann immer nur in Metaphern und in Symbolen gesprochen
werden. Vorfindbar sind stets nur die von den Religionen angebotenen
Gottesbilder und -vorstellungen.
3. Transzendenz - oder die Wahrnehmung der Wirklichkeit
(ein Experiment)
Die entscheidende Frage ist, ob man das »innere Universum« des Menschen mit neuronalen Vorgängen gleichsetzen kann, wie sie heute mit
bildgebenden Verfahren wie etwa der Positronenemissionstomographie
(PET) sicht- und messbar gemacht werden können. Wenn dem so ist, wäre
nicht nur Gott, sondern schon das Ich, das wir für unsere Person in Anspruch nehmen, ein Hirngespinst. Tatsächlich legt sich aber, wenn man die
6
erlebte Einheit von Gehirn und Geist nicht dem materialistischen Dogma
unterstellt, die Vermutung nahe, dass das Gehirn tatsächlich auch »zur
Wahrnehmung transempirischer Wirklichkeiten fähig ist«8. Darauf will ich
jetzt etwas genauer eingehen. Es reizt mich, nachdem die Neurobiologie
heute so stolz ist auf ihre bildgebenden Verfahren, den Spieß einmal umzudrehen, und meinerseits mit einigen Bildern auf ihr Gehirn einzuwirken.
Erstes Beispiel: Jean Effels heitere Schöpfungsgeschichte9 Warum finden
wir diese Zeichnungen lustig, obwohl sie weder unserem naturwissenschaftlichen noch religiösen Weltbild entsprechen? Für mich ist es die
entwaffnende Metaphorik der zweiten Bildunterschrift: »der Geist in der
Dunkelkammer«. Weiß Gott, ja: was haben wir denn überhaupt begriffen
von dem Geist, mit dessen Hilfe wir versuchen, die ganze Welt zu verstehen?
Zweites Beispiel: Was denkt der Schneehase auf unserem Bild? Man kann
sich der Stimmung, die das Bild ausstrahlt kaum entziehen. Da fällt auf, die
geheimnisvolle Hoheit des Tieres, das hier in einem mystischen Licht erscheint. Mir kommt die Erinnerung an unser Zwergkaninchen, das im
Sommer, bevor es zärtlich umsorgt von der ganzen Familie sein kleines
Leben aushauchte, oft stundenlang auf der Treppe im Garten saß und völlig in sich versunken in die Ferne sah. Ob Kaninchen sich höheren Dingen
zuwenden, weiß ich nicht. Dass aber das Bild, das Sie sehen eine starke
Symbolkraft hat, hoffe ich Ihnen nahezubringen. Die empirische Realität
des Hasenbildes, das ich vom Deckblatt einer Werbebroschüre kopiert
habe, ist allerdings banal. Es birgt aber, wenn wir dafür empfänglich sind,
eine tiefere symbolische Aussage, die uns bewegt, unseren Blick für die
der Empirie verborgene Tiefe zu öffnen.
Drittes Beispiel: Der alte Neandertaler. Er lebte vor mehr als 30.000 Jahren, wurde etwa 50 Jahre alt, war schwer behindert, wurde aber liebevoll
gepflegt von seinen Angehörigen. So ungefähr wie die im
Neanderthalmuseum ausgestellte Rekonstruktion dürfte er ausgesehen
haben. Es scheint, als würde er gleich seinen Mund öffnen und anfangen
zu sprechen. Was hätte er zu sagen? Warum sollten wird das überhaupt
wissen wollen? Er ist doch allenfalls ein sehr entfernter Verwandter und
lebte überdies in grauer Vorzeit. Und doch fasziniert uns dieses Gesicht.
Das bedeutet, dass zu den transempirischen Dimensionen der Wirklichkeit:
der metaphorischen und der symbolischen noch eine dritte hinzukommt,
die historische Dimension. Wer bin ich, wo komme ich her, wohin gehe ich?
Das sind die drei Fragen, auf die wir unbedingt eine Antwort haben möch8
Ebd.
9
Effel, Heitere Schöpfungsgeschichte für fröhliche Erdenbürger, Rowohlt 2011
7
ten, weil von ihnen unsere Identität abhängt ­ und in diesem Zusammenhang stößt auch Stephen Hawkings »Grand Design« ziemlich ins Leere.
Ob man auf diese Fragen eine naturwissenschaftlich-empirische, meinetwegen neurobiologische, eine philosophische, kulturelle oder religiöse
Antwort sucht, ist gewiss eine Sache der Einstellung. Das entscheidende
Faktum aber bleibt sich gleich. Unser Bedürfnis nach Antwort überschreitet
stets unseren Horizont. Das muss nun genauer bedacht werden.
4. Über sich selbst hinausdenken?
Der Mensch, der auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis mit letzter
Kraft kriechend seinen eigenen Horizont durchbricht, ist eines der symbolträchtigsten und bekanntesten Bilder der neuzeitlichen Aufklärung10. Nur
wer den Exodus wagt, ist fähig neues zu entdecken und zu wagen. Ohne
den Willen zur Transzendenz, zur Selbstüberschreitung, wäre der Mensch
geblieben, was er schon immer war: das Tier mit einem zu groß geratenen
Hirn. Wer aber den Aufbruch zu neuen Ufern wagt, muß erfahren, dass
hinter jedem Horizont wieder ein neuer Horizont liegt, an dem man sich
abarbeiten muss. Einzig wir selbst sind es, die entscheiden, ob wir weitergehen wollen, oder es vielleicht doch irgendwann bei dem bewenden
lassen, was wir erreicht haben.
Traditionalismus und Fundamentalismus sind deshalb ebenso menschlich
wie die Neugier und das Streben nach dem Ganz-Anderen der Wirklichkeit.
So gibt es Dogmatiker überall, nicht nur bei den Theologen und Religionskundigen, sondern auch bei den Philosophen und Naturwissenschaftlern. Wahrscheinlich hat jeder Mensch seinen Punkt, wo er genug hat von
der Anstrengung des Forschens und Denkens und seinen Kenntnisstand
zum Glaubenssatz für sich und die Welt machen möchte. Doch genau hier
beginnt der Irrtum: Naturwissenschaftler meinen dann, die Welt sei wirklich
so, wie sie sie beschreiben, Theologen merken nicht mehr, dass sie lediglich von ihren Gottesbildern reden, wenn sie von Gott sprechen.
Trotzdem müssen wir uns weiter der Frage stellen, was eigentlich Transzendenz und dann in der religiösen Redewendung Gott meint. Es geht in
unserem Zusammenhang jedenfalls nicht nur um die äußere Transzendenz
der Horizonte menschlicher Wissenschaft, sondern ­ und dies ist das interessantere Thema ­ um Grenzüberschreitungen im inneren Erleben der
Wirklichkeit. Das Experiment beginnt schon, wenn Sie die Augen schließen
und sich vorzustellen versuchen, wo in Ihrem Körper Sie sich selbst aufhalten. Sie werden dann finden, dass Ihr Ich einen imaginären Raum einnimmt, der die Grenzen des Körpers fließend werden lässt. Öffnen Sie die
10
Camille Flammarion, Illustration zum Kapitel ‘La forme du ciel’ in L'Atmosphère.…,
Paris 1888 (Holzstich)
8
Augen und sehen Ihre rechte Hand, wissen Sie aber sofort: Das ist meine
rechte Hand, sie gehört mir! Sie können nun einen Stift zur Hand nehmen
und versuchen, Ihre Hand zu zeichnen. Was Sie freilich ­ falls Ihnen dies
gelingt ­ zu Papier gebracht haben, ist nicht Ihre Hand, sondern eine visualisierte Vorstellung Ihrer Hand, die Sie ­ sagen wir ­ im Augenblick
des Zeichnens festhalten wollten. Um dieses Werk zu vollbringen, musste
der Künstler die Ebene der Empirie in doppelter Weise überschreiten:
­ er musste in seinem Gehirn eine abstrakte zweidimensionale Vorstellung seiner Hand bilden und
­ er musste auf der nächst höheren Ebene sich diese real nicht existierende Hand im virtuellen Akt des Zeichnens vorstellen.
Man kann die Sache auch noch ein wenig komplizierter gestalten. Das Bild
der sich zeichnenden Hände provoziert unweigerlich die Frage nach dem
zeichnenden Subjekt. Klar ist, dass gezeichnete Hände nicht zeichnen
können. Von einem rein rationalistisch-materialistischen Standpunk aus
müsste man das Bild eigentlich für unsinnig halten, weil dergleichen in der
empirischen Welt gar nicht vorkommt. Nur auf der Ebene einer höheren
Wahrnehmung der Wirklichkeit erschließt sich uns die Fiktion als Symbol
des sich selbst bewusst gewordenen Bewusstsein des Bewusstseins. Mit
anderen Worten: Das Bewusstsein, die Setzung des Ich ist kein in bestimmten Gehirnlappen auf Dauer abgelegter Zustand, sondern ein nach
allen Seiten unabgeschlossenes prozesshaftes Interpretationsgeschehen.
Es scheint also, dass die empirische Welt da draußen lediglich Substrat ist,
aus dem der homo sapiens seine eigene Welt und Wirklichkeit erschafft.
Das heißt: »Die Vorstellung, dass das Gehirn die Umwelt abbildet, führt zu
einem unendlichen Regress, weil im Gehirn wiederum eine Instanz mit
einem Gehirn benötigt wird, die sich das Bild ansieht, indem sie es abbildet, usw.« Unendlich ist der Regress freilich nur, wenn wir übersehen, dass
eine Rose im weltschöpfenden Erkenntnisprozess keineswegs banales ›
Buntgemüse‹ bleibt, sondern durch vielfältige symbolische und metaphorische Zuschreibungen schließlich zum Ausdruck zärtlicher Liebe, zum
Gegenstand verzückter Poesie usw. werden kann. Wirklich an der Wirklichkeit ist eben am Schluss doch, was in unserer Menschenwelt ›wirklich‹
ist. Noch einmal anders gesagt: Die Welt, der wir begegnen ist immer unsere Welt; es gibt keine im strengen Sinne rein objektive Beziehung zur
Welt. Alles ist Interpretation!
Lassen Sie mich noch einen letzten Versuch zur Verständlichkeit machen,
bevor ich die zu Anfang gestellte Frage beantworte. So wie das Denken die
Sprache voraussetzt, so ist Menschsein nur möglich, insofern es in ein
Wort- und Antwortgeschehen eingebunden ist. Menschliche Existenz ist
9
dialogische Existenz. »Im Anfang war das Wort Alle Dinge sind durch
das Wort geworden und ohne das Wort ist auch nicht eines geworden, das
geworden ist.« Mit diesen Worten beginnt das Johannesevangelium (Joh
1,1–3). Dieser ›Dialog‹, in dem den Mensch erst zum Bewusstsein erwacht, folgt stets derselben Dynamik:





Am Anfang das Wort: Am Anfang meiner Menschwerdung standen
Menschen, die mich angesprochen haben und mich hineingenommen
haben in ihre Beziehung, so wie sie einst zuerst angesprochen worden
waren und desgleichen ihre Eltern und wiederum deren Eltern und so
fort. In dieser Beziehung habe ich die Sprechenden schließlich als Du,
als Gegenüber erkannt und das, was durch diese Kommunikation entstand, als Wir, und mich selbst als eigenständiges Ich.
Die Begegnung hat mir die Möglichkeit gegeben, aus mir selber herauszutreten, das heißt: mich zu externalisieren.
Nur dadurch, dass es Spielregeln gibt: eine Sprache, Regeln, Normen,
Gesetze, ist Kommunikation auf Dauer möglich, ohne dass wir andauernd von vorne beginnen müssen. Sie entstehen durch Objektivierung
unserer Erfahrungen.
Dieses Regelwerk macht nur Sinn, wenn es in einer dritten Bewegung
von uns wiederum internalisiert und angewendet wird.
Wer aber gibt dem Regelwerk seine Autorität? Seit eh‘ und je versucht
die menschliche Gesellschaft wichtige Normen durch unantastbare höhere Autoritäten zu begründen: den König, das Volk, die Verfassung, die
10 Gebote, die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen zum
Beispiel. Wir versuchen also Normen als transzendental begründet dem
Zugriff zu entziehen. Wir versuchen sie als in der Vernunft oder im Sein
selbst begründet auszuweisen. Die höchste Autorität wäre dann erreicht,
wenn einer Glaubensgemeinschaft überzeugend dargelegt werden
könnte, dass Gott selbst, die höchste Autorität, das Geforderte als ›
göttliches Gesetz‹ erlassen hat.
5. (Nur) eine Erfindung?
Wir stoßen auf diesem Wege wieder auf das Bedürfnis nach Letzbegründung und Transzendenz. Zweifellos hat in einer religiös geprägten
Gesellschaft die Religion auch hier enorme Vorteile. Sie vereinfacht jedenfalls das Zusammenleben ganz enorm. Damit ist freilich darüber, ob
eine Religion gut oder schlecht ist für den einzelnen, noch gar nichts gesagt. Ich komme zum Fazit.
Sie ahnen zu welchen Schlüssen ich nach meinem verschlungenen Plädoyer zu kommen gedachte. Zunächst ist zu sagen:
10



Ja Gott, Religion ist wie alles, was den Menschen als Menschen ausmacht, etwas, was der Mensch auf seinem Weg zur Menschwerdung ›
gefunden‹, (er-)funden hat.
Dies ist daran zu erkennen: Wenn Menschen über Gott sprechen,
sprechen sie stets nur von ihren Gottes-Bildern.
Das bedeutet: Das worum es letztlich geht, bei der Rede von Gott bleibt
als absolute Transzendenz definitiv jenseits aller Bilder ­ sonst wäre es
nicht Gott!
Positiv ist dann aber zu sagen:
Transzendenzfähigkeit gehört konstitutiv zum Wesen des Menschseins,
wie wir es für uns beanspruchen.
 Nur durch Selbstüberschreitung wird der Mensch zu einem nachdenklichen Wesen.
 Diese Selbstüberschreitung ist wiederum nur möglich, wenn das Denken
und Forschen ergebnisoffen ist.
 Insofern haben wir uns damit zu bescheiden, dass weder Gottes Existenz noch seine Nicht-Existenz bewiesen werden kann. Für die Religionen bedeutet dies: Nur wenn sie sich geistig offen halten dafür, dass
Gott/das Transzendente der/das immer Ganz-Andere ist, nehmen sie
die Gottesfrage und die Wissenschaften ernst.
Max Planck hatte in einem berühmt gewordenen Vortrag über »Religion
und Naturwissenschaft«11 schon 1937 angemerkt: die heutige Quantenphysik lege nahe, dass sich sowohl die Theologen als auch die naturwissenschaftlichen Empiriker getäuscht haben:

­ die Theologen, sofern sie Gott für eine objektivierbare geistige Realität
hielten, die man sozusagen auf den philosophischen und theologischen
Seziertisch legen und wie andere Objekte menschlichen Interesses untersuchen könne;
­ die modernen Empiriker, sofern sie in ihrem ebenso naiven Wissenschaftsglauben behaupten konnten, dass nur das wirklich existiere,
was man im Experiment messen und mathematisch beschreiben könne.
Eine konsistente Erklärung der Quantenphänomene ­ so stellte Plank fest
­ komme zu der überraschenden Schlussfolgerung:
11
M. Planck, »Religion und Naturwissenschaft«, in: Vorträge und Erinnerungen (Darmstadt 1981) 318–333, zitiert nach: H. P. Dürr (Hg.), Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren
9
(Bern-München-Wien 1996).
11
»dass es eine objektivierbare Welt, also eine gegenständliche Realität, wie wir sie bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraussetzen, gar nicht ›wirklich‹ gibt, sondern dass
diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmäßige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer
unmittelbaren äußeren Erfahrung grob zu ordnen. Die Auflösung
der dinglichen Wirklichkeit offenbarte, dass eine Trennung von
Akteur und Zuschauer, von subjektiver und objektiver Wahrnehmung nicht mehr streng möglich ist.«12
Planck kam dann auf Werner Heisenberg zu sprechen, der deutlich gemacht habe: man könne einen Sachverhalt durchaus völlig klar verstanden
haben und gleichzeitig doch wissen, dass man von ihm nur in Bildern und
Gleichnissen reden könne. Und ­ fährt Planck selber fort:
»Die Sprachlosigkeit religiöser Erfahrung greift in gewisser Weise
mit der Quantenphysik auch auf die äußere Erfahrung über.
Die Quantenphysik machte wieder deutlich, dass unsere wissenschaftliche Erfahrung, unser Wissen über die Welt nicht der ›
eigentlichen‹ oder letzten Wirklichkeit, was immer man sich darunter vorstellen will, entspricht. ›Das wahre Wesen der Dinge
bleibt verschlossen ‹ , sagte schon John Locke. Durch unsere
Sinneswerkzeuge und unsere Denkstrukturen prägen wir der
Wirklichkeit ein Raster auf, das sie in ihren Ausdrucksformen beschränkt und in ihrer Qualität verändert.«13
Nehmen wir dies ernst, bleibt die Erkenntnis: Die Physikalische Welt selbst
erscheint als eine »Konkretisierung der Transzendenz«. Mit anderen Worten:


Die Wirklichkeit selbst ist schon transzendent. Die Welt wird zum Gedanken, die wahrgenommene Wirklichkeit zu einem geistigen Phänomen.
Hier ist die entscheidende Frage nicht mehr, wie unser Gehirn funktioniert, sondern ob das alles für den Menschen einen Sinn macht oder
nicht ­ und ob es Gründe gibt, dies anzunehmen oder nicht.14
12
Ebd. 12–13.
13
Ebd., 15.
14
Vgl. J. Polkinghorne in seiner Antwort an Weinberg, in: bild der wissenschaft 12 (1999)
48–51.
12
Wie wir freilich mit dieser letzten Unergründlichkeit unseres
In-der-Welt-Seins umgehen, ob wir sie an eine Gottesvorstellung binden
wollen oder nicht, muss jeder Mensch selbst entscheiden.
13
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