4 Das Fachgebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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Das Fachgebiet Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie
in der Versorgung
Kruse J, Bassler M, Beutel ME, Franz M, Gündel H, Herzog W, Hildenbrand G,
Janssen PL, Köllner V, Menzel H, Pfaffinger I, Söllner W, Timmermann J
Psychische und psychosomatische Störungen sind Volkserkrankungen, die das
Versorgungssystem vor große Herausforderungen stellen. Im letzten Jahrzehnt
ist die Versorgung der betroffenen Patienten im Fachgebiet Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie erheblich ausgeweitet worden. Es stellt heute eine
wesentliche Säule in der Versorgung von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen dar. Das Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklungen und Leistungen des Fachgebietes in der Versorgung im ambulanten Bereich, in der stationären Versorgung, im Konsiliar-/Liaisondienst sowie
in der Rehabilitation und Prävention.
4.1
Der Facharzt für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie in der ambulanten Versorgung
Die psychosomatische-psychotherapeutische Versorgung erfolgt in weiten Bereichen ambulant. Die Anzahl der ambulant tätigen Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist von 1999 bis ins Jahr 2011 von 1 809
auf über 3 000 Fachärzte gestiegen (Angaben der KBV). Gemeinsam mit den
somatischen Fachärzten mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie übernehmen
sie den überwiegenden Teil der ambulanten ärztlichen psychotherapeutischen/
psychosomatischen Versorgung in Deutschland (Kruse u. Herzog 2012). Der
Facharzt ist Teil eines gegliederten Versorgungssystems und entwickelt in diesem Rahmen zunehmend sein spezifisches Profil.
4.1.1 Das Aufgabenprofil des Facharztes
für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Im Bereich der ärztlichen Versorgung verfügt der Facharzt für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie über die intensivste und differenzierteste psychotherapeutische und psychosomatische Qualifikation. Daher liegt der Schwer-
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punkt in der psychotherapeutischen Versorgung. Nachdem die Fachärzte sich
zunächst auf die Durchführung der Richtlinien-Psychotherapie beschränkt hatten, nehmen sie zunehmend – auch im Rahmen neuer facharztgebundener Abrechnungsmöglichkeiten – weitere Aufgaben in einem spezialisierten Versorgungsbereich wahr. Das angestrebte Aufgabenprofil für den Psychosomatiker in
der ambulanten Versorgung beinhaltet dabei folgende Funktionen:
• Vermittler: Der niedergelassene Facharzt stellt eine Schnittstelle zwischen
dem somatischen und dem psychosomatischen/psychotherapeutischen
Versorgungssystem dar. Somit ist er Ansprechpartner für Patienten und
ärztliche Kollegen, die sich über die psychischen und psychosomatischen
Aspekte der Erkrankung und ihrer Behandlung ein Bild machen wollen. Die
Facharztpraxis stellt einen niederschwelligen Zugang zur psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung sicher.
• Diagnostiker: Die Diagnose und Differenzialdiagnose psychischer und
psychosomatischer Störungen erfolgen u. a. auch im Rahmen offener
Sprechstunden. Der ausschließlich auf die Symptomatik fokussierte klassifikatorische Ansatz der Diagnostik nach ICD erweist sich dabei als nicht ausreichend. Die Beschwerden des Patienten werden im Rahmen einer biopsychosozialen Diagnose erfasst. Die Diagnostik der Störung umfasst somit
auch ein Verständnis der Entwicklung der Symptomatik im Rahmen sozialer, interpersoneller, biographischer, persönlichkeitsstruktureller, intrapsychischer Bedingungen sowie der Lerngeschichte.
• Behandlungsplaner: Der Facharzt erstellt einen Behandlungsplan unter
Einbezug psychosomatischer, psychotherapeutischer und pharmakologischer Behandlungen im Rahmen eines »informed consent« mit dem Patienten. Er vermittelt die Ergebnisse an mitbehandelnde Ärzte, leistet Übersetzungshilfen und überweist an Psychologische Psychotherapeuten oder
Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie zur Mit- oder Weiterbehandlung, falls dieses angezeigt ist.
• Therapeut: Die therapeutischen Aufgaben gehen weit über die Durchführung der Richtlinien-Therapie hinaus. Sie umfassen Motivationsarbeit zur
Psychotherapie, den Aufbau eines psychosomatischen Krankheitsverständnisses mit den Patienten sowie die Durchführung von kurzen psychoedukativen Interventionen. Auf dem Boden des erlernten Grundverfahrens wendet der Facharzt flexibel störungsorientierte und störungsübergreifende
Techniken und Methoden an. So führt er störungsorientierte Therapie in
der Schmerztherapie, Psychoonkologie, Psychokardiologie, Traumatherapie
etc. durch sowie kurze oder niederfrequente supportive Therapien, Kurzzeittherapie, Richtlinien-Psychotherapie im Einzel- oder Gruppensetting
und Paar- und Familientherapien.
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4.1 Der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
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Weiterbilder: Weiterbildungsassistenten können in der ambulanten Praxis
bis zu 24 Monate ihrer ärztlichen Weiterbildung unter der Supervision des
Praxisinhabers absolvieren.
Konsiliarius/Supervisor: Zahlreiche Fachärzte sind in Krankenhäusern,
die über keine Psychosomatische Abteilung verfügen, konsiliarisch tätig. Sie
führen diagnostische Gespräche, Einzel- oder Teamsupervision, BalintGruppen, Beratung etc. durch oder arbeiten mit Beratungsstellen, pädagogischen Einrichtungen u. v. a. zusammen, um das Verständnis für psychische Störungen zu verbessern und Behandlungsempfehlungen zu geben
oder die Behandlung selbst zu übernehmen.
Der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie arbeitet in
einem dreigliedrigen ambulanten Versorgungssystem, das sich in Deutschland
exemplarisch entwickelt hat. Dieses setzt sich zusammen aus
• der ärztlich psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung:
− Hausärzte/Fachärzte tragen in der psychosomatischen Grundversorgung
die psychosomatische Basisversorgung.
− 2 2001 somatische Fachärzte mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie/Psychoanalyse leisten eine vertiefte psychotherapeutisch-psychosomatische
Versorgung bei Patienten aus ihrem Fachgebiet.
− Ca. 3 000 Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
arbeiten als Spezialisten in diesem Bereich mit einem Schwerpunkt in der
Psychotherapie.
der
ärztlich psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung und
•
der
Versorgung
durch Psychologische Psychotherapeuten.
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4.1.2 Die aktuelle ambulante psychosomatische Versorgung
im Spiegel der kassenärztlichen Leistungen
Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie versorgen jährlich ca. 190 000 Patienten. Diese sind überwiegend zwischen 35 und 54 Jahre
alt (Mittelwert 43,2 Jahre), in der Regel multimorbid (ca. 21 distinkte Diagnosen pro Jahr) und haben eine deutlich höhere Krankheitslast als der durchschnittliche Patient in der kassenärztlichen Versorgung. Entgegen zahlreicher
Vermutungen belegen die Versorgungsdaten, dass schwer erkrankte Patienten
in diesem Bereich versorgt werden. Depressive Störungen, Angststörungen
und Anpassungsstörungen werden in der ambulanten Praxis am häufigsten diagnostiziert (Kruse u. Herzog 2012).
1 Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (Stand 31.12.2008)
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