Sieglinde Rosenberger und Julia Mourão Permoser Die Politik der

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Abstract
Sieglinde Rosenberger und Julia Mourão Permoser
Die Politik der Zugehörigkeit.
Analysen aus dem Wiener Gemeindebau
Im Zuge von Migration, Globalisierung und Europäisierung gewinnt das Thema
Zugehörigkeit an politischer Aktualität und Brisanz. Denn nationalstaatliche
Ordnungssysteme büßen zunehmend die Kompetenz der Grenzziehung zwischen
Dazugehörenden und Nicht-Dazugehörenden ein. Insbesondere nationalistische,
populistische Parteien stellen die Anwesenheit von MigrantInnen in nationalstaatlich
definierten Räumen mit emotionalen Argumenten in Frage und mobilisieren gegen
Zuwanderung, für strenge Zuwanderungskontrollen und greifen dabei auf bedrohte,
verletzte, verloren gegangene Zugehörigkeitsgefühle zurück. Auf der Alltagsebene
äußern sich Reaktionen auf die wachsende ethnische und kulturelle Diversität oft in
inter-ethnischen Nachbarschaftskonflikten sowie im Anstieg fremdenfeindlicher
Einstellungen und Haltungen.
In diesem politischen Klima der Infragestellung der territorialen wie auch kulturellen
Zugehörigkeit von Zugewanderten kommt dem Wiener Gemeindebau infolge seiner
historischen, sozialen und politischen Exponiertheit besondere Bedeutung zu. Die in
das Rote Wien der 1920er-Jahre zurückreichende Institution, alltagssprachlich als
„der Gemeindebau“ bezeichnet, ist gegenwärtig ein mehrfach politisierter Ort. Von
Medien wie von politischen Parteien gleichermaßen zum Kampfplatz erklärt, wurde er
im Gemeinderatswahlkampf 2010 gar als Ort stilisiert, an dem der „Kampf um Wien“
ausgetragen würde.
Dieser Beitrag basiert auf dem Paradigma Zugehörigkeit und analysiert, wie und
weshalb der Gemeindebau sowohl politisch als auch in den Alltagsbeziehungen zu
einem ethnisiert-sozialen Brennpunkt geworden ist und wie auf diese Spannungen
politisch-administrativ reagiert wird. Die Analyse dieser Spannungen im Kontext von
Zugehörigkeit umfasst sowohl die Alltags- als auch die politische Ebene und basiert
auf der Annahme, dass politische Diskurse auf die lokale Ebene durchsickern und
dass nationale Deutungsmuster lokal beobachtbar sind.
Der Text besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen: Der erste Teil widmet sich der
Konzeptionalisierung des Paradigmas Zugehörigkeit und entwickelt ein analytisches
Rahmenwerk für die empirische Untersuchung der Mobilisierung von Zugehörigkeit
und Zugehörigkeitsgefühlen sowohl durch politische Parteien als auch in
Alltagsbeziehungen. Hier versucht der Beitrag eine Lücke in der Literatur zur
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Zugehörigkeit zu füllen, indem der bisher oft eher beliebig eingesetzte Begriff
substanziell spezifiziert und für die empirische Forschung operationalisiert wird. In
dem von uns entwickelten Design werden fünf analytische Dimensionen von
Zugehörigkeit und drei Varianten der Mobilisierung diskutiert sowie drei idealtypische
Formen der Mitgliedschaft, die politische Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit
prägen, vorgestellt.
Der zweite Teil des Beitrags basiert auf empirischen Untersuchungen in Wiener
Gemeindebauten, die im Rahmen des Projektes Living Rooms: The Art of Mobilizing
Belonging(s) durchgeführt wurden. Die Daten zu demographischen und sozioökonomischen Merkmalen der Gemeindebau-BewohnerInnen zeigen zum einen die
Vergemeinschaftung über die Differenzachse Klasse sowie zum anderen die
Modifikation der rechtlichen Zugangskriterien und somit die Verschiebung der
Grenzziehungen während der letzten zehn Jahre. Diese rechtlichen Grenzziehungen
sind aktuell aber von Politisierungs- und Depolitisierungsstrategien der politischen
Parteien begleitet. Konkret untersucht der Beitrag die Politisierung durch FPÖ sowie
die De-Politisierung von Zugehörigkeit durch die SPÖ im Wiener
Gemeinderatswahlkampf 2010.
Was die Politisierung betrifft, zeigt unsere Analyse, dass die FPÖ eine Politik der
Zugehörigkeit durch die Politisierung der Nicht-Zugehörigkeit betreibt: Die
parteipolitisch verortete Politik der Zugehörigkeit nimmt Grenzziehungen als
Prozesse der Konstruktion kollektiver Identität qua Vorstellungen von gemeinsamer
Herkunft und geteilter Kultur (Werte, Traditionen, Bräuche, Kleidung, Sprache,
Religion) vor. Es werden Feindbilder konstruiert, Angstgefühle geschürt und das
Szenario der Bedrohung von Zugehörigkeit unterstrichen. Was die inhaltliche
Definition von Zugehörigkeit betrifft, werden insbesondere askriptiv die out-groups
benannt, aber diese Zuschreibungen werden teils mit einem moralisierenden Diskurs
der
„tüchtigen
Ausländer“
kombiniert.
Diese
Verschiebung
der
Grenzziehungsstrategie von einer ethnisch-kulturellen zu einer disziplinierenden
erlaubt es der FPÖ, auch zugewanderte Menschen für sich zu mobilisieren.
Im Gegensatz dazu agiert die regierende und somit für den Gemeindebau
verantwortliche Partei, die SPÖ, depolitisierend. Sie greift das Leben in kultureller
Diversität als Zusammenleben auf, umgeht so die Mechanismen der Herstellung von
in- und out-groups und der Mobilisierung von Zugehörigkeitsgefühlen. Diese „Politik
des Zusammenlebens“ läuft auf ein Regieren mit Regeln und Kontrollen hinaus,
Spannungen des Zusammenlebens werden nicht ethnisiert, aber mit Verweisen auf
die „Wiener Lebensart“ durchaus kulturalisiert.
Abschließend widmet sich der Beitrag der Politik der Zugehörigkeit im Alltag, indem
die (Re-)Aktionen aus dem Gemeindebau auf die Politik der Zugehörigkeit untersucht
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Abstract
werden. Auf der Grundlage von Interviews identifizieren wir Momente, in denen
BewohnerInnen entweder Zugehörigkeit in alltäglichen Auseinandersetzungen aktiv
zum Thema machen – etwa Nachbarschaftsbeziehungen durch die Linse der
Zugehörigkeit interpretieren – oder alternative Interpretationsschemata vorlegen
beziehungsweise versuchen, Zugehörigkeitsthemen und Grenzziehungen aus der
Sphäre des Alltags ebenso wie aus der Politik auszublenden. Dabei werden
interessante Prozesse beleuchtet, die einen neuen Blick auf die Frage der
Ethnisierung und Kulturalisierung von Alltagskonflikten ermöglicht. Insbesondere
fanden wir heraus, dass im Prozess der Ethnisierung von Alltagsbeziehungen auch
auf den Regeldiskurs zurückgegriffen wird. Mit anderen Worten: Indem die Diskurse
der FPÖ und der SPÖ von der politischen Ebene zur Alltagsebene durchsickern,
verlieren sie ihren gegensätzlichen Charakter und werden miteinander vermischt.
Selbstzuschreibungen zur Institution oder zu einer Gruppe (Gemeindebau, Partei,
Ethnizität) bleiben bei den befragten BewohnerInnen weitgehend aus. Stattdessen
findet Widerstand gegen die Politisierung von Zugehörigkeit durch Ablehnung oder
De-Ethnisierung statt.
Mit diesen Erkenntnissen zeigt der Beitrag diverse Spannungslinien, Ebenen und
Dimensionen auf, aber auch emotionale Artikulationen, die zu einem besseren
Verständnis von Zugehörigkeitspolitik im Wiener Gemeindebau (und darüber hinaus)
beitragen.
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