Niels von Dollen Musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten Erste Staatsexamensarbeit ––– 1999 ––– föpädn.et www.foepaed.net Hinweise zum Urheber- und Nutzungsrecht Das Urheberrecht am vorliegenden Texten liegt allein beim Autor bzw. bei der Autorinnen. Der Nutzer bzw. die Nutzerin dürfen die vorliegende Veröffentlichung für den privaten Gebrauch nutzen. Dies schließt eine wissenschaftliche Recherche ein. Für das Zitieren sind die entsprechenden Regelungen zu beachten (sieh unten). Der Nutzer bzw. die Nutzerin des vorliegenden Textes erkennen das Urheberrecht des Autoren bzw. der Autorin an. Vervielfältigung und Verbreitung der vorliegenden Veröffentlichungen bedarf der Genehmigung des Autors bzw. der Autorin. Hinweise zum Zitieren von Online-Dokumenten Die Veröffentlichungen auf den Seiten von föpäd.net sind ebenso wie Texte in Druckmedien zitierfähig. 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Autismus ......................................................................................................................... 2 2.1 Definition und Terminologie ................................................................................... 2 2.2 Symptomatik ............................................................................................................ 3 2.3 Das autistische Spektrum ......................................................................................... 9 2.3.1 Frühkindlicher Autismus............................................................................ 11 2.3.2 Asperger-Syndrom ..................................................................................... 12 2.4 Autismus und geistige Behinderung ...................................................................... 12 2.5 Ursachenforschung ................................................................................................ 13 2.5.1 Wahrnehmungsverarbeitung ...................................................................... 13 2.5.2 Tiefgreifende Entwicklungsstörung ........................................................... 14 2.5.3 Entstehungshypothesen .............................................................................. 16 2.5.3.1 Die Vier-Ursachen-Hypothese nach Kehrer ................................ 16 2.5.3.2 Prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen nach Kusch und Petermann ................................... 19 2.5.3.3 Psychologische Erklärungsmodelle ............................................. 22 3. Musiktherapie............................................................................................................... 26 3.1 Wirkung von Musik auf den Menschen ................................................................. 26 3.1.1 Grundlagen der Musik................................................................................ 26 3.1.2 Wirkungsweisen der Musik ....................................................................... 27 3.2 Geschichte der Musiktherapie................................................................................ 29 3.3 Definition und Zielsetzung .................................................................................... 30 3.4 Musik im Schnittfeld zwischen Pädagogik, Sonderpädagogik und Therapie ........ 31 3.5 Methodik der Musiktherapie .................................................................................. 32 3.5.1 Das Setting ................................................................................................. 33 3.5.2 Rezeptive und aktive Musiktherapie ......................................................... 34 3.5.3 Therapeutische Improvisation .................................................................... 35 www.foepaed.net 3.5.4 Zentrierung der Arbeit................................................................................ 37 3.5.5 Einzel- und Gruppentherapie ..................................................................... 39 3.5.6 Verlauf der Therapie .................................................................................. 39 3.6 Musiktherapie in der Sonderpädagogik ................................................................. 41 3.6.1 Musiktherapie bei Menschen mit schwerster Behinderung ....................... 42 3.6.2 Musiktherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung........................... 44 3.7 Musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten ........ 45 4. Musiktherapeutische Förderung von zwei autistischen Jungen an der Schule für Geistigbehinderte in Ellerbeck ................................................................................... 50 4.1 Methodisches Vorgehen ........................................................................................ 50 4.2 Beschreibung der Rahmenbedingungen ................................................................ 50 4.3 Beschreibung der Kinder ....................................................................................... 52 4.3.1 Kind A ........................................................................................................ 52 4.3.2 Kind B ........................................................................................................ 54 4.4 Die Förderung ........................................................................................................ 56 4.4.1 Förderung von Kind A ............................................................................... 57 4.4.2 Förderung von Kind B ............................................................................... 58 4.5 Beurteilung der Therapie ....................................................................................... 60 5. Schlussbetrachtung ...................................................................................................... 63 6. Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 64 7. Anhang .......................................................................................................................... 68 www.foepaed.net 1. Einleitung Zur Laufbahn des Sonderschullehrers habe ich mich nach meiner Zivildienstzeit in einer Tagesbildungststätte für Geistigbehinderte entschieden. In meiner Klasse war ich hauptsächlich für die Betreuung eines autistischen Jungen zuständig. Im Laufe der 15 Monate habe ich begonnen, sein Verhalten besser zu verstehen und versucht, ihn meinen Möglichkeiten entsprechend zu fördern. Dabei fehlte mir allerdings oft der theoretische Hintergrund, um entscheiden zu können, was für ihn sinnvoll war und was nicht. Da ich zu dieser Zeit in einer Band Baß gespielt habe und mir meine Klassenleiterin viel Freiraum eingeräumt hat, habe ich auch probiert, mit ihm zu musizieren. Diese Erlebnisse waren für mich entscheidend bei der Wahl des Themas meiner wissenschaftlichen Hausarbeit. Aufgrund des großen Spektrums an autistischen Verhaltensweisen sollte eine Förderung der betroffenen Menschen immer individuell auf deren Kompetenzen, Probleme und Interessen abgestimmt sein. Viele Menschen mit autistischem Verhalten sind, wie auch viele nicht-autistische Menschen, sehr an Musik interessiert. Daher bietet sich musiktherapeutische Förderung als Möglichkeit des Zugangs und der Förderung von kommunikativen Kompetenzen im nonverbalen Bereich an. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich klären, inwieweit Musiktherapie im Problemfeld Autismus sinnvoll einsetzbar ist. Des weiteren ist für mich von besonderem Interesse, welche musikalischen Kompetenzen beim Therapeuten vorauszusetzen sind, da ich das Fach Musik nicht studiert habe. Bevor man sich mit dem Thema „musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten“ auseinandersetzt, müssen die Begriffe „Autismus“ und „Musiktherapie“ unabhängig voneinander geklärt werden. Dazu werde ich zunächst den Begriff Autismus klären, die möglichen Symptome beschreiben und verschiedene Hypothesen zu den Ursachen des autistischen Verhaltens vorstellen. Dann werde ich mich mit der Musiktherapie als Förderungsansatz innerhalb der Heilpädagogik beschäftigen. Dabei soll geklärt werden, wie Musiktherapie aufgebaut sein kann und welche Möglichkeiten der Förderung gegeben sind. Abschließend möchte ich die Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten durch Musiktherapie anhand der Literatur beschreiben, um dann auf meine musiktherapeutische Förderung an der Schule für Geistigbehinderte – Ellerbeck einzugehen. Damit die vorliegende Arbeit besser zu lesen ist, verwende ich bei Personen immer die männliche Form, gemeint ist aber immer auch die weibliche Form. www.foepaed.net 1 2. Autismus 2.1 Definition und Terminologie Das Wort „Autismus“ ist vom griechischen (selbst) abgeleitet. Die Begriffe „Autismus“ und „autistisch“ wird zum ersten Mal 1914 vom Schweizer Psychiater EUGEN BLEULER verwendet. Damit bezeichnet er ein einseitig auf sich selbst bezogenes Denken, das vor allem bei Schizophrenen zu beobachten ist. Später verwendet er den Begriff „autistisch“ auch in anderen Zusammenhängen. Der Begriff „Autismus“, wie wir ihn heute verstehen, wird von dem amerikanischen Kinderpsychiater LEO KANNER und dem österreichischen Pädiater HANS ASPERGER unabhängig voneinander geprägt. 1943 beschreibt LEO KANNER in seiner Arbeit „Autistic disturbances of affective contact“ Kinder als autistisch, deren Verhalten von einer starken Kontaktstörung und extremer Bezogenheit auf sich selbst geprägt ist. Das beschriebene Krankheitsbild bezeichnet er später als „early infantile autism“, also frühkindlichen Autismus (vgl. Kehrer 1995, S. 9). Gleichzeitig verwendet HANS ASPERGER den Begriff „Autismus“ zur Beschreibung einer erwachsenen Patientengruppe mit sehr ähnlichen Verhaltensweisen (vgl. Kehrer 1995, S. 9). Er bezeichnet das beobachtete Krankheitsbild als „autistische Psychopathie“. In der heutigen Literatur wird diese Autismusform „Asperger-Syndrom“ oder „AspergerAutismus“ genannt (vgl. Walburg 1996, S. 20 und Bundesverband „Hilfe für das autistische Kind“ 1996, S. 6). Beide Autoren bezeichnen Autismus als eine Form der Kindheitspsychose. Dabei wird der Entwicklungsaspekt der Kinder und der Unterschied zu Psychosen des Erwachsenenalters lediglich durch die Beachtung des Alters bei Krankheitsbeginn berücksichtigt. RUTTER (1978) ersetzt den Begriff „Psychose“ durch die Bezeichnung „Entwicklungsstörung“ und drückt damit einen Wandel in der Sichtweise des Autismus aus. Er geht davon aus, daß bei Menschen mit autistischem Verhalten nicht die zunächst normale Entwicklung durch Fehlentwicklungen negativ beeinflußt wird, sondern daß eben der Entwicklungsprozeß selbst gestört ist (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 11 f). So unterscheidet sich Autismus auch von den Entwicklungsverzögerungen normaler oder geistig behinderter Kinder. Der Entwicklungsprozeß der Kinder mit autistischem Verhalten www.foepaed.net 2 ist nicht verzögert, sondern ist von Geburt an oder seit der frühen Kindheit verändert. Durch die tiefgreifende Störung des Entwicklungsprozesses kommt es zu einer autismusspezifischen Entwicklung, die weder der normalen Entwicklung noch der verzögerten Entwicklung gleicht. Daher wird die autistische Störung im Rahmen der dritten revidierten Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-III-R) als tiefgreifende Entwicklungsstörung klassifiziert (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 12 und 15). Den ersten Veröffentlichungen von KANNER und ASPERGER folgen eine Vielzahl von Publikationen anderer Autoren, die den Begriff „Autismus“ unterschiedlich ausdeuten. Anfänglich zielt die Forschung hauptsächlich auf die Diagnose und die Abklärung der Ursachen der autistischen Störungen ab. Die Frage der Diagnose ist inzwischen befriedigend beantwortet worden, eine endgültige Klärung der Ursachen ist jedoch bis heute nicht gelungen (vgl. Kehrer 1995, S. 11). Daher bleibt die Definition auf die Syndrombeschreibung angewiesen, die Autismus als „eine schwere chronische Verhaltensstörung (beschreibt), bei der die Einschränkung des Kontakts, die Bezogenheit auf sich selbst im Vordergrund steht“ (Kehrer 1995, S. 11). Im DSM-III-R werden die zu beobachtenden Symptome wie folgt gegliedert: Beziehungsstörungen (Beziehungen zu Mitmenschen werden nicht / eingeschränkt / ungewöhnlich aufgebaut) Kommunikationsstörungen (Kommunikation wird nicht gesucht / ist nicht möglich) Bewältigungsversuche (Stereotypien / zwanghaftes Verhalten) 2.2 Symptomatik Die Handlungsweisen von Menschen mit autistischem Verhalten können sehr unterschiedlich sein. Die Diagnose der autistischen Störungen geschieht heute international auf der Basis des DSM-III-R (vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung - Rheinland-Pfalz 1997, S. 8 f). www.foepaed.net 3 Im DSM-III-R werden psychische Störungen auf folgenden fünf Achsen klassifiziert (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 15) : I. Klinisch – psychiatrisches Syndrom II. Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen III. Somatische Störungen und Bedingungen IV. Schweregrad psychosozialer Stressoren V. Globale Einschätzung des Funktionsniveaus Es werden neben den schon im DSM-III aufgeführten Klassifikationen „geistige Behinderung“ und „umschriebene Entwicklungsstörungen“ im DSM-III-R erstmals auch die „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ auf der Achse II in der Gruppe der Entwicklungsstörungen aufgeführt. Die autistischen Störungen bilden die Hauptkategorie der „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 16). Um das große Spektrum an Verhaltensweisen von Menschen mit autistischem Verhalten zu verdeutlichen, werde ich im folgenden diagnostische Kriterien für autistische Störungen in Anlehnung an das DSM-III-R darstellen. Das DSM-III-R gibt sechzehn Hauptmerkmale an, die auf eine autistische Störung hinweisen. Von diesen müssen insgesamt mindestens acht zutreffen, damit von einer autistischen Störung gesprochen werden kann. Dabei müssen zwei Merkmale aus der Gruppe A zutreffen und je eins aus den Gruppen B und C. Die Kriterien der Gruppen A, B und C werden im folgenden noch näher erläutert. Sie sind in Abhängigkeit von Lebensalter und Intelligenzniveau in unterschiedlicher Ausprägung beobachtbar. Die sozialen und kommunikativen Beeinträchtigungen sind bei allen Menschen mit autistischem Verhalten vorhanden. Stereotype Verhaltensweisen hingegen müssen nicht unbedingt vorliegen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 22). INNERHOFER und KLIEPERA (1988) geben allerdings an, daß bei 97% einer größeren Gruppe autistischer Kinder Stereotypien beobachtet wurden (vgl. Innerhofer / Kliepera 1988, S. 135). www.foepaed.net 4 A. Qualitative Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen (reziproken) Beziehung Die Betroffenen können kaum zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen. Dieser Mangel zeigt sich bereits im Kleinkindalter, z.B. durch ein fehlendes Zärtlichkeitsbedürfnis, mangelnden Blickkontakt und eingeschränkte Mimik. Zuneigung und Körperkontakt werden von diesen Kindern als unangenehm empfunden (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 23). Zärtlichkeiten werden allerdings nur bei einem kleinen Teil der Kinder aktiv zurückgewiesen. Trotz der beträchtlichen Auffälligkeiten im Kontaktverhalten haben viele Eltern ein Gefühl der Nähe im Umgang mit ihrem Kind. Oft zeigt sich jedoch eine Unsicherheit in der Einschätzung der Beziehung zum Kind. Von Eltern werden folgende frühe Verhaltensmerkmale angegeben (vgl. Innerhofer & Kliepera 1988, S. 104): Kleinkinder strecken seltener die Arme hoch, um aufgenommen zu werden. Sie passen ihre Haltung weniger an, wenn sie von den Eltern getragen werden. Daher erscheinen sie steif und wenig anschmiegsam. Sie zeigen selten auf Gegenstände, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu gewinnen. Nach dem Laufenlernen laufen sie nicht mit Gegenständen, die sie zu interessieren scheinen, zu den Eltern, um sie zu beteiligen. Bezugspersonen sind häufig völlig austauschbar oder aber das Kind klammert sich mechanisch an eine bestimmte Person. Die Bindung zu den Eltern kann sehr ungewöhnliche Formen annehmen. So ist es z.B. möglich, daß das Kind seine Mutter vorwiegend am Geruch erkennt. Das Kind zeigt kein oder ein stark beeinträchtigtes Nachahmungsverhalten, z.B. ahmt es die häuslichen Aktivitäten der Eltern nicht nach oder imitiert die Aktivitäten anderer zusammenhanglos und mechanisch (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 23). Die größten Auffälligkeiten im Sozialverhalten sind im Umgang mit anderen Kindern zu beobachten. Selbst wenn der Kontakt zu Erwachsenen bei älteren Kindern und Jugendlichen besser wird, kommt es nur selten zu normalen Beziehungen zu Gleichaltrigen (vgl. Innerhofer & Kliepera 1988, S. 105). www.foepaed.net 5 Auch wenn die Störung in einigen Fällen erst nach einer relativ normalen sozialen Entwicklung in den ersten Lebensjahren auftritt, wird von den betreffenden Kindern auch in früher Kindheit kein kooperatives und phantasievolles Spiel entwickelt, und es werden keine Freundschaften geschlossen. Werden die Kinder älter, können sie ein größeres Bewußtsein für soziale Interessen entwickeln und Gleichaltrige unter Umständen als „mechanische Hilfe“ in ihre stereotypen Spiele integrieren (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 23). Grundsätzlich lassen sich die Defizite im sozialen Bereich auf die mangelnde Fähigkeit, soziale Beziehungen zu bilden und aufrechtzuerhalten, Emotionen einzuschätzen und soziale Signale zu gebrauchen, zurückführen. So reagieren autistische Kinder z.B. nicht auf die Gefühle anderer. Augenkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik werden nur wenig zu Regulation der sozialen Interaktion eingesetzt (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 16 f und 23 f). B. Qualitative Beeinträchtigung der verbalen und nonverbalen Kommunikation sowie der Phantasie Bei Kindern mit autistischem Verhalten sind sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikation beeinträchtigt. Die Sprachfähigkeit fehlt bei ca. 30% (vgl. Schmidt 1998, S. 21) der Betroffenen völlig (Mutismus). Entwickelt das Kind Sprache, so kommt es beim Spracherwerb häufig zu Sprachentwicklungsstörungen, die aber mit dem entwicklungsverzögerten Spracherwerb nicht-autistischer Kinder vergleichbar sind. Die Art der Fehler bei der Artikulation läßt darauf schließen, daß Kinder mit autistischem Verhalten ihr phonologisches System entsprechend der normalen Sprachentwicklung verzögert entwickeln. (vgl. Innerhofer & Kliepera 1988, S. 80). Die Sprache von Kindern mit autistischem Verhalten ist charakterisiert durch (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 24): unterentwickelte, im wesentlichen normale grammatikalische Struktur sofortige und verzögerte Echolalie pronominale Umkehr (Vertauschen von „Du“ und „Ich“) Unfähigkeit, Objekte zu benennen oder abstrakte Begriffe zu verwenden idiosynkratische Äußerungen (Bedeutung nur für Personen verständlich, die sehr mit dem Kind und seiner Entwicklung vertraut sind) abnormer Tonfall (z.B. fragendes Anheben der Stimme) www.foepaed.net 6 Auch wenn die sprachlichen Fähigkeiten mit denen nicht-autistischer Kinder vergleichbar sind, kommt es häufig durch umständliche oder belanglose Äußerungen des Kindes zu Störungen in der Kommunikation. Die abweichende Sprachentwicklung zeigt sich also weniger in der Aussprache als in der Interaktion mit anderen Personen. Autistische Kinder scheinen Sprache kaum für die Kommunikation einzusetzen und haben folglich große Schwierigkeiten im pragmatischen Bereich. Eine weitere Problematik, die sich negativ auf die pragmatischen Fähigkeiten der Kinder auswirkt, sind mangelnde Fähigkeiten, beim Abstimmen der Sprache auf die Situation (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 24 und Innerhofer & Kliepera 1988, S. 91 f). Im Bereich der nonverbalen Kommunikation zeigt sich, daß Mimik, Gestik und Körpersprache nie oder nicht in angemessener Form eingesetzt werden. Kinder mit autistischem Verhalten lernen erst sehr spät, sich durch Zeigen auf Objekte oder Personen, Kopfschütteln und Nicken verständlich zu machen (vgl. Innerhofer & Kliepera 1988, S. 119). Des weiteren sind Störungen in der Intonation, der sprachlichen Modulation und anderer Aspekte der Stimme (wie Stimmlage und Tonhöhe) zu beobachten. Die Sprechweise autistischer Kinder wird häufig als hölzern, monoton, singend oder papageienhaft bezeichnet (vgl. Innerhofer & Kliepera 1988, S. 88). Dem Kind fehlt es meist an symbolischen und phantasievollen Spielen. Spielen bleibt auf sich ständig wiederholende Handlungsmuster beschränkt. Das Kind ist nicht in der Lage, erwachsenentypische Rollen einzunehmen oder Tiere nachzuahmen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 17 und 26). Durch verbale und nonverbale Anregung ist es jedoch möglich, symbolisches Spielverhalten zu fördern. Dabei erlernte Fähigkeiten können aber meist nicht auf alltägliche Situationen übertragen werden (vgl. Innerhofer & Kliepera 1988, S. 73). C. Deutlich beschränktes Repertoire von Aktivitäten und Interessen Die tiefgreifende Störung des Kontakts zur Umwelt zeigt sich auch im Umgang mit unbelebten Gegenständen. Kinder mit autistischem Verhalten beschäftigen sich häufig lange mit dem Betasten, Belecken, und Beriechen von Gegenständen beziehungsweise deren Oberflächen (vgl. Kehrer 1988, S. 22 ). www.foepaed.net 7 Bei Kindern mit autistischem Verhalten sind heftige Reaktionen schon bei geringfügiger Änderung des Umfelds beobachtbar. Es zeigt sich weiter eine abnorme Bindung an Objekte (Schnüre, Gummibänder,...) und stereotype Bewegungen (Händeklatschen, Schwanken mit dem ganzen Körper,...). Ältere Kinder bestehen häufig auf das genaue Einhalten gewohnter Abläufe bei wiederkehrenden Aktivitäten. Viele Kinder mit autistischem Verhalten sind von Bewegungen verschiedenster Art fasziniert. So können sie sehr lange und konzentriert einem elektrischen Ventilator oder einer laufenden Waschmaschine zusehen. Häufig beobachtet wird auch das Kreiselnlassen verschiedener runder Objekte. Die Kinder entwickeln häufig eine erstaunliche Geschicklichkeit, wenn es darum geht, Dinge in Bewegung zu versetzen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 25 und Innerhofer & Kliepera 1988, S. 135 f) . Auch im Bereich der Sprache sind - wie schon erwähnt - Stereotypien beobachtbar. Das Kind mit autistischem Verhalten wiederholt bedeutungslose Wörter und Sätze. Diese Echolalien wurden im Rahmen verschiedener Untersuchungen bei 75% der sprechenden Kinder mit autistischem Verhalten gefunden. Ältere Kinder zeigen zum Teil ein hervorragendes Langzeitgedächtnis, wenn sie Wortlaute, Lieder, Zugfahrpläne oder ähnliches in exakter Form wiedergeben. Dieses Wissen wird meist ständig wiederholt, auch wenn es nicht in den sozialen Kontext paßt. Echolalien machen auch bei anderen Kindern mit wenig ausgebildeten sprachlichen Fähigkeiten weniger als die Hälfte der sprachlichen Äußerungen aus (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 25 und Innerhofer & Kliepera 1988, S. 98). Die eingeschränkten Verhaltensmuster sind für das Kind von genereller Bedeutung. Sie werden auf neue Aktivitäten übertragen und treten sowohl bei autistischen Kindern mit schwerer geistiger Behinderung als auch bei denen mit normaler Intelligenz auf (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 25). D. Beginn im Kleinkindalter oder in der Kindheit (nach Vollendung des 3. Lebensjahres) Dem DSM-III-R zufolge berichten die meisten Eltern von einem Beginn der Störung vor dem Ende des 3. Lebensjahres. Selten wird von einem Beginn nach dem 5. oder 6. Lebensjahr berichtet. Da die Kinder erst nach dem Auftreten der Schwierigkeiten untersucht werden, ist die Festlegung des Alters bei Störungsbeginn allerdings auf www.foepaed.net 8 Aussagen der Bezugspersonen angewiesen und damit sehr schwierig und ungenau. Die ersten Anzeichen autistischer Störungen im Kleinkindalter sind schwerer zu bemerken als die später zu beobachtenden Merkmale und werden daher von den Eltern meist übersehen. Oft bemerken die Eltern erst Probleme, wenn sie ihr Kind zusammen mit anderen Kindern beobachten. Sie neigen dann dazu, den Beginn der Störung auf diesen Zeitpunkt festzulegen. Eine genauere Untersuchung ergibt in diesen Fällen häufig einen wesentlich früheren Beginn. Es ist auch möglich, daß die Eltern ein für das Kind schwerwiegendes Ereignis, z.B. den Tod eines nahen Verwandten, mit dem Beginn der Störung verbinden (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 27). RUTTER und SCHOPLER setzen für die Diagnose des autistischen Syndroms ein Vorhandensein der eher autismusspezifischen Entwicklungsbeeinträchtigungen vor dem 30. und 36. Lebensmonat voraus. Eine dazu von SHORT und SCHOPLER durchgeführte Untersuchung ergab, daß 76% der Eltern von Kindern mit autistischem Verhalten ihr Kind vor dem 24. Lebensmonat und 94% vor dem 36. Lebensmonat als autistisch identifizieren. Die sehr spät als autistisch diagnostizierten Kinder weisen häufig eine höhere intellektuelle Leistungsfähigkeit auf. Kinder mit größeren kognitiven Beeinträchtigungen werden unabhängig vom tatsächlichen Störungsbeginn von ihren Eltern früher als autistisch erkannt (vgl. Kusch & Petermann 1990, S.28). 2.3 Das autistische Spektrum In der älteren Literatur wird häufig „frühkindlicher Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ unterschieden. Diese zwei Formen des Autismus, auf die ich später noch genauer eingehe, werden allerdings zunehmend als Bestandteile eines „Autismusspektrums“ betrachtet. ROLLETT und KASTNER-KOLLER sehen neben den klassischen Formen des Autismus („Asperger´scher“ und „Kanner´scher Autismus“) noch den „somatogenen“ und den „psychogenen Autismus“ als Teil dieses Spektrums. Beim „somatogenen Autismus“ liegen massive körperliche Schädigungen vor. Dieser Form der autistischen Störung werden also auch Personen zugeordnet, die das autistische Verhalten aufgrund schwerer Erkrankungen entwickeln. Dem psychogenen Autismus liegen nur geringe oder keine neurologischen Schädigungen zugrunde. Er entwickelt sich aufgrund von lang anhaltenden belastenden Umweltbedingungen wie Isolierung oder Mißhandlung (vgl. Rollett / Kastner-Koller 1994, S. 4 f). www.foepaed.net 9 Asperger - Kanner- Syndrom Syndrom Psychogener Somatogener Autismus Autismus AutismusFaktor (vgl. Rollett / Kastner-Koller 1994, S.4 f) KEHRER beschreibt in seinem Kapitel „Differentialdiagnostische Alternativen“ mehrere Störungen des zwischenmenschlichen Kontakts, die er nicht zu den autistischen Störungen zählt. Dabei ist besonders zu erwähnen, daß er auch das Deprivationssyndrom, das aufgrund seiner Symptomatik nur schwer vom Autismus zu unterscheiden ist, nicht dem autistischen Spektrum zuordnet. Deprivation entsteht durch die Isolierung des Säuglings oder Kleinkindes und das Vorenthalten von Reizen in einer frühen Entwicklungsphase. Diese Entstehungsgeschichte gleicht der des von ROLLETT und KASTNER-KOLLER beschriebenen „psychogenen Autismus“. Folglich wäre diese Form der Entwicklungsstörung nach KEHRERS Meinung nicht im Spektrum der autistischen Störungen enthalten (vgl. Kehrer 1995, 60 f). KUSCH und PETERMANN sehen in mitbeteiligten - vom Autismus unabhängigen Beeinträchtigungen den Grund für die Breite des Verhaltensspektrums der vom Autismus betroffenen Menschen. Diese Faktoren verändern nicht nur das Verhalten der betreffenden Personen direkt, sondern beeinflußt auch rückwirkend die „autismusspezifische“ Störung (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 13 f und 20). Um nun die „typische“ autistische Störung zu beschreiben, müssen autismusspezifische Aspekte von den mitbeteiligten Anteilen des Störungsbildes unterschieden werden. Die typischen autistischen Störungen fassen KUSCH und PETERMANN mit dem Begriff „autistische soziale Dysfunktion“ zusammen. Diese autismusspezifischen sozialen Beeinträchtigungen finden sich weder bei sehr jungen nicht-behinderten Kindern noch bei Kindern mit geistiger Behinderung und sind daher nicht Ausdruck einer Entwicklungsverzögerung. Die „autistische soziale Dysfunktion“ beschreibt daher Verhaltensweisen, die der tiefgreifenden Entwicklungsstörung zuzuschreiben sind (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 15 u. 20-22) . www.foepaed.net 10 Die „autistische soziale Dysfunktion“ beinhaltet drei Störungsaspekte: 1. zwischenmenschliche Interaktion und soziale Kommunikation (verbal sowie nonverbal) 2. mangelndes Verstehen und Äußern von Gefühlen 3. verändertes Kontaktverhalten und Anhänglichkeit Neben diesen Verhaltensdefiziten zeigen sich drei besondere Kompetenzen: 1. durchschnittliche oder annähernd durchschnittliche Intelligenz (teilweise nur im Verbal- bzw. im Handlungsteil) 2. rezeptive und expressive Sprachfähigkeit (ohne pragmatisches Verständnis) 3. funktionale und teilweise symbolische Spielfähigkeit (ohne die Fähigkeit, so zu tun „als ob“) Diese autismusspezifischen Auffälligkeiten sind charakteristisch für alle Kinder mit autistischem Verhalten. Wahrnehmungsprobleme, verzögerungen sehen Ungewöhnliche Reaktionen Aussprachestörungen die Autoren als nicht und auf die kognitive autismusspezifisch Umwelt, Entwicklungsan. Diese Beeinträchtigungen sind auf mitbeteiligte Störungen zurückzuführen und nicht bei allen Kindern beobachtbar (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 22). 2.3.1 Frühkindlicher Autismus Das Erscheinungsbild des frühkindlichen Autismus wandelt sich während der Entwicklung des Kindes. Schon der Säugling zeigt eine extreme autistische Abkapselung gegenüber seiner menschlichen Umwelt. Andere Personen scheinen für diese Kinder nicht zu existieren. Es zeigt sich weiter, daß diese Kinder auf Veränderungen mit ängstlichen Erregungszuständen reagieren und zu „Zwangsritualen“ neigen. Des weiteren sind noch Symptome zu nennen, die sich erst im Laufe der weiteren Entwicklung des Kindes zeigen. Dazu zählen z.B. Sprachentwicklungsverzögerungen. Kinder, die dem frühkindlichen Autismus zuzuschreiben sind, zeigen ein enges und positives Verhältnis zu Gegenständen. Motorische Auffälligkeiten sind z.B. Stereotypien, häufiges Beriechen und Belecken von Gegenständen, Augen- und Ohrenbohren, Grimmassieren oder völlige mimische Armut, www.foepaed.net 11 gesteigerte Bewegungsunruhe und Zehenspitzengang. Häufig werden diese Kinder als sehr impulsiv beschrieben. Sie zeigen unmotivierte Ängste, und oft fehlt es an normalen emotionalen Reaktionen (vgl. Walburg 1996, S. 48 und 49). 2.3.2 Asperger-Syndrom Kinder, die als Asperger-Autisten bezeichnet werden, zeigen erst ab dem dritten Lebensjahr die typischen Auffälligkeiten. Als wichtigste Symptome sind wieder die Abkapselung von der Umwelt und eine massive Kontaktstörung zu nennen. Diese Merkmale sind jedoch nicht so ausgeprägt wie bei Menschen, die dem frühkindlichen Autismus zuzuordnen sind. Beziehungen zu anderen Personen werden meist als disharmonisch und widersprüchlich beschrieben. Häufig ist auch eine Neigung zu aggressivem Verhalten zu beobachten. Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus kommt es nur sehr selten zu Veränderungsängsten. Die Sprachentwicklung setzt bei diesen Kindern schon sehr früh ein. Es zeigen sich auffällige Bewegungsstereotypien. Außerdem werden Asperger-Autisten häufig als motorisch ungeschickt beschrieben. Des weiteren besteht oft eine Überempfindlichkeit für Lärm, Geschmacksempfindungen oder Bewegungen von Menschen. Die intellektuellen Fähigkeiten werden meist als überdurchschnittlich bezeichnet. Dabei zeigen sich häufig Sonderinteressen, mit außerordentlichen Kenntnissen. Die Bereiche des Gemüts und der Gefühle sind stark eingeschränkt bzw. gestört. Gefühle können dabei nicht adäquat ausgedrückt oder empfunden werden. Bei sehr hoher Intelligenz ist mit Hilfe einer unterstützenden Therapie eine teilweise Kompensation der autistischen Symptomatik möglich (vgl. Walburg 1996, S. 48 f). 2.4 Autismus und geistige Behinderung Bis zum Ende der 60er Jahre galten Menschen mit autistischem Verhalten als mit testpsychologischen Verfahren untestbar. Diese Auffassung wurde allerdings widerlegt. Es gibt verschiedene standardisierte psychometrische Verfahren, die sich als durchführbar erwiesen haben und deren Aussagen sich als zutreffend herausstellten (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 12). www.foepaed.net 12 Die „Handreichungen zu den Empfehlungen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit autistischem Verhalten“ aus Rheinland-Pfalz empfehlen mehrere „Verfahren zur Einschätzung intellektueller Kompetenzen“ bei Schülern mit autistischem Verhalten (BM und CM aus dem TBGB, CMM, CFT 1 und SON 2 ½ -7). Bei Kindern mit autistischem Verhalten sind seither häufig auch Intelligenzdefizite beobachtet worden. Es zeigten sich nach KUSCH und PETERMANN bei ca. 70% der Kinder mit autistischem Verhalten intellektuelle Leistungen im Bereich der geistigen Behinderung (IQ unter 70) (vgl. Kusch Petermann 1990, S. 160). KEHRER hingegen gibt an, daß etwa ein Drittel der von ihm beobachten Kinder als geistig behindert eingeschätzt werden können (vgl. Kehrer 1988, S. 22). Dieser Widerspruch ist jedoch nicht verwunderlich, da die Begriffe „Autismus“ und „Geistige Behinderung“ stark von der Definition der entsprechenden Autoren abhängen. Die Befunde sind vermutlich nicht autismusspezifisch. Da sich auch Kinder mit autistischem Verhalten finden, die in der Überprüfung der Intelligenz mit standardisierten Verfahren normale Leistungen zeigen, sind die zu beobachtenden intellektuellen Defizite vermutlich einer vom Autismus unabhängigen Störung zuzuordnen (Kusch & Petermann 1990, S. 13 f). 2.5 Ursachenforschung 2.5.1 Wahrnehmungsverarbeitung Die Ursachen des autistischen Syndroms konnten bisher nicht eindeutig bestimmt werden. Man geht davon aus, daß mehrere Ursachenfaktoren zusammenwirken. Es steht allerdings fest, daß beim autistischen Syndrom eine Störung der Wahrnehmungsverarbeitung vorliegt. Sensible und sensorische Reize aus der Umwelt können nicht richtig koordiniert werden. Dies gilt wahrscheinlich auch für Reize aus dem eigenen Körper. Die Schwierigkeiten, Wahrnehmungen zu verarbeiten, beginnen vermutlich schon bei der Auswahl der angebotenen Reize. Um sich in der Umwelt orientieren zu können, müssen relevante von irrelevanten Informationen unterschieden werden und zur Verarbeitung weitergeleitet oder ignoriert werden. Es wird vermutet, daß dieser Prozeß bei Menschen mit autistischem Verhalten gestört ist (vgl. Kehrer 1995, S.69 ff). www.foepaed.net 13 Eine weitere Störung der Wahrnehmung kann auch eine mangelhafte Koordination der Reize auf verschiedenen Sinnesgebieten sein. Damit eine Sinneswahrnehmung richtig verarbeitet werden kann, muß sie einem bestimmten Wahrnehmungskanal zugeordnet werden. Die empirischen Untersuchungen von HERMELIN und O´CONNER (1970, 1978) ergaben, daß bei autistischen Kindern vor allem optische und akustische Reize nicht richtig koordiniert wurden. Bei bestimmten Versuchsanordnungen verhielten sie sich wie Blinde, bzw. wie Taube, obwohl die periphere Wahrnehmung der Augen und Ohren intakt war (vgl. Kehrer 1995, S. 69). DELACATO beschreibt die Wahrnehmungsstörung als eine Störung der Nervenbahnen von den Sinnen zum Gehirn. Diese Bahnen können in folgender Weise gestört sein: Hyperempfindlichkeit: Eine überempfindliches Sinnessystem übermittelt zu viele Sinneseindrücke an das Gehirn. Hypoempfindlichkeit: Ein träges Sinnessystem übermittelt zu wenig Sinneseindrücke an das Gehirn. Weißes Rauschen: Ein minderwertiges Sinnessystem übermittelt von Eigenreizen überlagerte und somit unverständliche Reize an das Gehirn. Diese Störung der sensorischen Integration erklärt das Ausweichen autistischer Menschen auf die „niederen Sinne“, wie Riechen, Tasten und Schmecken, das stereotype Verhalten sowie die Abkapselung von der aufgrund der Wahrnehmungsstörung verwirrenden Welt (vgl. Delacato in: Walburg 1996, S. 57 und Kehrer 1988, S. 24). 2.5.2 Tiefgreifende Entwicklungsstörung Wie schon erwähnt werden die autistischen Störungen im DSM-III-R als tiefgreifende Entwicklungsstörung verstanden. RUTTER (1978) berücksichtigt den Entwicklungsaspekt der Entstehung des Autismus (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 29). www.foepaed.net 14 „Diagnostische Kriterien des Infantilen Autismus (nach Rutter, 1978). Krankheitsbeginn vor dem 30. Lebensmonat. Gestörte Sozialentwicklung, die eine Anzahl spezieller Kennzeichen aufweist und nicht in Beziehung zum Intelligenzniveau des Kindes steht. Verzögerte und abweichende Sprachentwicklung, die ebenfalls bestimmte Besonderheiten besitzt und nicht in Beziehung zum Intelligenzniveau steht. Beharren auf Gleichförmigkeit, wie stereotype Spielgewohnheiten, abnorme Vorlieben und Widerstand gegen Veränderungen.“ (Kusch & Petermann 1990, S.12) Dieser Wechsel im Verständnis der autistischen Störungen führt zur Erforschung verschiedener Entwicklungsaspekte, die an der Entstehung beteiligt sein könnten. Daraus werden differenzierte Ansätze zur Definition und Klärung des Autismus abgeleitet. Der Autismus ist demnach auf angeborene oder erworbene Fehlfunktionen zurückzuführen. Außerdem sind verschiedene prä-, peri-, und postnatale Faktoren (siehe Kapitel 2.5.3) beteiligt (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 29). Beim Autismus werden spezifische Beeinträchtigungen der kommunikativen, affektiven und kognitiven Entwicklung und eine wechselseitige Beeinflussung dieser Bereiche vermutet. Durch die Beeinträchtigung dieser Gebiete in der frühen Kindheit kommt es zu einer tiefgreifenden und lang anhaltenden Beeinflussung aller anderen Bereiche der Entwicklung. Daher ist die Festlegung auf einen spezifischen psychologischen Faktor nicht möglich. Eine endgültige Definition des Autismus wird erst möglich sein, wenn die Zusammenhänge der neuronalen und psychischen Entwicklung geklärt sind (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 30). Autismus wird heute als lebenslange andauernde Störung angesehen, die nicht auf Kindheit oder Jugendalter begrenzt ist. Bei der Mehrheit der erwachsenen Menschen mit autistischem Verhalten findet man auch weiterhin die autistischen sozialen Beeinträchtigungen. Trotzdem ist es für einige Personen möglich, im Erwachsenenalter nicht mehr alle wesentlichen Merkmale des Autismus zu zeigen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 31). www.foepaed.net 15 2.5.3 Entstehungshypothesen Die Entstehung der autistischen Störungen ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Im folgenden werde ich Hypothesen darstellen, die mögliche Ursachen für das autistische Syndrom anführen. Dabei wird heute im allgemeinen von einer multikausalen Entstehung des Autismus-Syndroms ausgegangen, d.h. verschiedene Ursachenfaktoren werden gemeinsam zur Erklärung herangezogen (vgl. Kehrer 1995, S. 74). 2.5.3.1 Die Vier-Ursachen-Hypothese nach Kehrer KEHRER geht von einer multikausalen Entstehung der autistischen Störung aus. Er unterscheidet dabei vier Ursachenfaktoren: a) Psychogene Entstehung Ein bedeutender Vertreter dieses Aspekts ist KANNER. Er beschreibt die Eltern autistischer Kinder als „emotional frigide“ und „ungesellig“ und hält die Kinder aufgrund der „mechanischen“ und „perfektionierten“ Erziehung der Eltern für emotional frustriert. Der Erziehung der Eltern fehle die „emotional-affektive Wärme“ und die „positive Einstellung“, die das Kind zur Entwicklung benötige (vgl. Feuser 1980, S. 23). KEHRER relativiert den Einfluß der Betreuung auf die Symptomatik des Autismus. Eine exakte Prüfung des Zusammenhangs von autistischem Verhalten und der Betreuungspraxis der Mütter von DE MEYER (1979) ergibt, daß der Umgang der Mütter mit dem Kind als Ursache des Autismus nicht ausreicht, sondern daß diese negativen Umwelteinflüsse die Symptomatik lediglich verschlimmern können (vgl. Kehrer 1995, S. 75). Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß man im Umgang mit Eltern autistischer Kinder sehr feinfühlig vorgehen muß. Die Eltern behinderter Kinder - im weitesten Sinne - neigen ohnehin dazu, sich die Schuld an der Behinderung ihrer Kinder zu geben. Daher sollte auch unter Berücksichtigung der Untersuchungen, die eine Entstehung der autistischen Störungen durch Betreuungsfehler ausschließen, von einer Schuldzuweisung an die Eltern abgesehen werden (vgl. Kehrer 1988, S. 23). www.foepaed.net 16 b) Erbbiologische Aspekte Bereits ASPERGER unterstellte mit der Beschreibung einer besonderen Form des Autismus, der „autistischen Psychopathie“, daß das autistische Syndrom von den Eltern an die Kinder weitervererbt wird, denn Psychopathie ist eine erbliche und angeborene Persönlichkeitsstörung. Er beschreibt dementsprechend auch die Väter der entsprechenden Kinder als autistisch. Für diese Aussage gibt es allerdings bisher keine empirischen Belege (vgl. Kehrer 1988, S. 77). KEHRER sieht die Vererbung als eine Ursache neben anderen. Er ist der Meinung, daß sich Menschen mit einem voll ausgeprägten autistischen Verhalten aufgrund der entsprechenden Symptomatik kaum fortpflanzen und die Vererbung daher als alleinige Ursache auszuschließen ist. Die Vererbung von Wesenseigentümlichkeiten, wie z.B. Kontaktarmut oder Zwangsmechanismen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu den Symptomen des Autismus haben, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Es muß aber einschränkend erwähnt werden, daß exakte empirische Untersuchungen an größeren Populationen bisher fehlen (vgl. Kehrer 1995, S. 77). Neuere Untersuchungen scheinen auf das Vorliegen einer genetischen Ursache hinzuweisen. So zeigte sich z.B., daß Brüder und Schwestern autistischer Kinder viel häufiger Wahrnehmungsstörungen, Sprachentwicklungsverzögerungen, Lern- schwierigkeiten und geistige Behinderungen aufwiesen als die Geschwister nicht autistischer Kinder. FOLSTEIN und PIVEN sind der Meinung, daß bei Geschwistern autistischer Kinder ein erhöhtes genetisches Risiko für autistisches Verhalten vorliege. Außerdem zeige sich bei ihnen eine Tendenz zu anderen sozialen und kognitiven Defiziten (vgl. Kehrer 1995, S. 79). Der Nachweis einer erblichen Ursache bleibt bei den vorliegenden Untersuchungen sehr unspezifisch. Es wird nicht geklärt, ob der genetische Einfluß auf eine kognitive Störung beschränkt ist oder ob er auch eine hirnorganische Störung beinhaltet. Wenn man berücksichtigt, daß sehr viele Krankheiten eine erbliche Disposition als Voraussetzung haben (Krebs, Psychopathie, ...), muß auch der genetische Einfluß relativiert werden. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Ursache unter vielen (vgl. Kehrer 1995, S. 79). www.foepaed.net 17 c) Hirnschädigung als Ursache Ein weiterer Faktor der multikausalen Entstehung des Autismus, den KEHRER anführt, sind negative Einflüsse von außen, die zu Gehirnschäden führen. Dazu gehört auch ein Sauerstoffmangel des Kindes während der Geburt. Eine Untersuchung von 80 autistischen Kindern von WILHELM (1977) zeigte, daß bei 64% der Kinder von einem prä- oder perinatalem Hirnschaden ausgegangen wurde (vgl. Kehrer 1995, S. 79). Bei ähnlichen Studien, die POLLACK und WOERNER (1966) und TORREY und Mitarbeiter (1975) durchführten, konnte ein Zusammenhang von Schwangerschaftskomplikationen und dem autistischen Syndrom nachgewiesen werden (vgl. Kehrer 1995, S. 80). Ein Zusammenhang mit perinatalen und postnatalen Störungen ist bisher nicht statistisch gesichert. Allerdings gibt es einige Studien, die auf eine Verbindung zwischen Schädigungen des Gehirns in der frühen Kindheit (bis ca. 2 Jahren) und der Entstehung des autistischen Syndroms hinweisen (vgl. Kehrer 1995, S. 80 f). d) Hirnkrankheiten als Ursache Die autistische Störung kann auch durch Krankheiten verursacht werden, die schon seit der Zeugung vorhanden, also in den Chromosomen vorgegeben sind. Dazu gehören z.B. das Down-Syndrom oder das Klinefelter-Syndrom. Vereinzelt wird von Kindern mit autistischem Verhalten berichtet, die gleichzeitig Chromosomenanomalien aufweisen. Fraglich erscheint allerdings, ob es einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Autismus-Syndroms und solchen Chromosomenanomalien gibt (vgl. Kehrer 1995, S. 82). Es läßt sich zusammenfassend feststellen, daß KEHRER einige Ursachen des autistischen Syndroms als geklärt ansieht. Das Zusammenspiel der vier einzelnen Ursachenfaktoren sind jedoch noch nicht ausreichend geklärt. Seiner Meinung nach handelt es sich ursächlich gesehen nicht um eine einheitliche Krankheit. Einheitlich erscheint nur die Symptomatik, die auf eine Störung der Wahrnehmungsverarbeitung zurückzuführen ist, die bereits in Kapitel 2.5.1 behandelt wurde (vgl. Kehrer 1995, S. 86). www.foepaed.net 18 2.5.3.2 Prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren nach Kusch und Petermann KUSCH und PETERMANN unterscheiden an der Entstehung, dem Ausbruch und der Aufrechterhaltung des Autismus beteiligte Faktoren. Diese Faktoren können biologischer, psychologischer und sozialer Natur sein. Prädisponierende Faktoren wirken in einer frühen Phase der Entstehung einer Störung und werden im allgemeinen als die eigentliche Ursache verstanden. Durch die prädisponierenden Faktoren wird aber nur die Anpassungsfunktion des Organismus beeinträchtigt, was nicht notwendigerweise zur Ausbildung der Symptomatik führen muß. Dazu sind zusätzlich noch auslösende Faktoren nötig. Das Ausmaß der prädisponierenden Faktoren bestimmt, welcher Art die auslösenden Faktoren sein müssen, damit es zur Entwicklung einer Symptomatik kommt. Neben den prädisponierenden und auslösenden Faktoren sind vor allem die aufrechterhaltenden für den Verlauf der Störung verantwortlich (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 37). Prädisponierende Faktoren Eine genaue Klärung der prädisponierenden Faktoren des Autismus ist bisher noch nicht gelungen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen neurologischen Befunde wird im allgemeinen von multiplen prädisponierenden Faktoren ausgegangen. Die beeinträchtigten Hirnareale sind vermutlich für die Störung der sozialen Interaktion und der symbolischen Vorstellung verantwortlich, lassen aber andere kognitive Funktionen und bestimmte Sprachfunktionen unbeeinträchtigt. KUSCH und PETERMANN schließen daraus, daß ein spezifischer Prozeß zu einem bestimmten Zeitpunkt die Entwicklung des Zentralnervensystems beeinträchtigt. Dadurch kommt es zu anhaltenden strukturellen und funktionalen Beeinträchtigungen bestimmter Hirnareale, die wiederum den im Kapitel 2.2 beschriebenen Verhaltens- und Entwicklungsstörungen zugeordnet werden können (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 37). Bei den meisten Menschen mit autistischem Verhalten lassen sich keinerlei grobstrukturelle Veränderungen des Zentralnervensystems nachweisen. Bisher identifizierte organische Störungen sind nur bei einer geringen Anzahl der betroffenen Personen zu finden. Die meisten grobstrukturellen Veränderungen lassen sich auf die mitbeteiligte geistige Behinderung zurückführen. Störungen in der ersten Phase der zentralnervösen Entwicklung (grobstrukturelle Entwicklung) führen zu leicht identifizierbaren organischen Veränderungen. Daher muß der für die autistischen www.foepaed.net 19 Störungen verantwortliche Prozeß in der zweiten Phase der zentralnervösen Entwicklung (feinstrukturelle Entwicklung) wirksam sein, in der es zur neuronalen Differenzierung, zur Ausbildung von Synapsen und zur Myelisierung der Nervenbahnen kommt. Dieses Endstadium der zentralnervösen Entwicklung liegt kurz vor und kurz nach der Geburt (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 38 ff). Für die Lokalisierung der neurologischen Störung gibt es nach KUSCH und PETERMANN drei Möglichkeiten. Sie kann als Dysfunktion der Strukturen im Temporallappen, Mesolimbische-striatale Dysfunktion oder als gestörte sensorische Modulation auf Hirnstamm-Ebene vorliegen. Alle drei Hypothesen lassen sich durch eine Anzahl von Studien bestätigen. Zum Teil überschneiden sie sich in der Erklärung der autistischen Symptome und der betroffenen neuronalen Systeme (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 40). Da die für den Autismus verantwortliche neurologische Störung in den späten Stadien der zentralnervösen Entwicklung eintritt, können feinstrukturelle neuroanatomische und neurochemische Fehlfunktionen vorliegen. Zu feinstrukturellen Veränderungen wurden bisher nur wenige Untersuchungen an Einzelpersonen durchgeführt, die bisher keine bedeutsamen Befunde nachweisen konnten. Dies ist damit zu begründen, daß nicht die Anzahl der Neuronen bei Menschen mit autistischem Verhalten verändert ist, sondern die Neuronendifferenzierung, die Synapsenentwicklung oder die Myelinisierung. Solche Veränderungen sind zur Zeit nicht ausreichend zu erforschen, so daß feinstrukturelle Veränderungen bei Menschen mit autistischem Verhalten heute noch nicht nachweisbar sind. In letzter Zeit werden auch neurochemische Prozesse als mögliche Ursache der autistischen Störungen in Betracht gezogen. Für diesen Erklärungsansatz sprechen auch neurochemische Studien. Bisher gibt es drei wichtige neurochemische Hypothesen zum Autismus (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 41 f): 1. Die Serotonin – Hypothese Bei 25% aller Kinder mit autistischem Verhalten ist ein erhöhter Serotoninspiegel nachweisbar. Diese Befunde sind vermutlich nicht autismusspezifisch, da sie häufig mit einer geistigen Behinderung einhergehen. www.foepaed.net 20 2. Die Dopamin – Hypothese Bei 50% aller Kinder mit autistischem Verhalten ist ein erhöter Dopaminwert nachweisbar. Eine mögliche Beteiligung des Dopamins an den autistischen Störungen wird durch die Bemühungen der pharmakologischen Therapie unterstützt. Die Auffälligkeiten der Dopaminwerte ist unabhängig von einer geistigen Behinderung beobachtbar. 3. Die Neuropeptid – Hypothese Bei 54% der Kinder mit autistischem Verhalten liegen Störungen bestimmter Neuropeptidmuster vor. Weitere Befunde liegen zu dieser Hypothese noch nicht vor. Die prädisponierenden Faktoren beeinträchtigen nur die Anpassungsfunktionen des Organismus. Das Auftreten von Symptomen ist damit noch nicht zwingend gegeben. Es müssen außerdem auslösende Faktoren hinzukommen, die den Ausbruch der Störung bewirken (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 42). Auslösende Faktoren Über die auslösenden Faktoren der autistischen Störungen ist bisher noch sehr wenig bekannt. Sie können biologischer, psychologischer und sozialer Natur sein und führen im Gegensatz zu den prädisponierenden Faktoren direkt zu einer Veränderung des Verhaltens. KUSCH und PETERMANN nennen zwei auslösende Faktoren, die identifizierbar sind. Zum einen das Geburtsereignis selbst, das an das Zentralnervensystem völlig neue Anforderungen stellt und damit zu einer Symptomentwicklung beitragen kann. Zum anderen die entwicklungsbedingten psychischen Anforderungen des 8. bis 24. Lebensmonats. In dieser Zeit werden spezifische psychologische Funktionen ausgebildet. Es werden zwei voneinander relativ unabhängige auslösende Bedingungskonstellationen vermutet. Dies wird damit begründet, daß 76% der Kinder mit autistischem Verhalten vor dem 24. Lebensmonat Entwicklungsstörungen zeigen, was sich durch die oben erwähnten Anforderungen erklären ließe. Da es aber auch zu einer Ausbildung der autistischen Symptomatik nach einer annähernd normalen Entwicklung in den ersten Lebensjahren kommen kann, wird außerdem von auslösenden Bedingungen ausgegangen, die an einem Beginn der Symptomatik nach dem 3. Lebensjahr beteiligt sind (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 42 ff). www.foepaed.net 21 Aufrechterhaltende Faktoren Die für den Verlauf der autistischen Störung verantwortlichen aufrechterhaltenden Bedingungen sind relativ gut bekannt. Dazu gehört vor allem die Intelligenz. So führt ein IQ-Wert über 55 bis 60 zu einer günstigen Prognose, was den weiteren Verlauf der Störung angeht. Ein Intelligenzquotient von 70 oder darüber spricht nicht zwangsläufig für einen günstigen Verlauf der Entwicklung. Bildet das Kind vor dem 5. Lebensjahr eine sinnvolle Sprache aus, so wirkt sich das positiv auf den weiteren Verlauf aus. Kinder mit einem IQWert unter 50 haben kaum eine Möglichkeit, sinnvolle Sprachfähigkeiten nach dem 5. Lebensjahr zu entwickeln. Die Sprachentwicklung ist damit auch von der Intelligenz beeinflußt (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 46). 2.5.3.3 Psychologische Erklärungsmodelle Mit Hilfe der psychologischen Erklärungsmodelle wird versucht, grundlegende psychische Störungsaspekte aufrechterhalten. zu beschreiben, KUSCH und welche die PETERMANN autismusspezifische stellen fünf Symptomatik psychologische Erklärungsmodelle gleichberechtigt vor, weil sie das psychologische Kernproblem der Kinder mit autistischem Verhalten aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Es wird im allgemeinen davon ausgegangen, daß nicht einzelne psychische Aspekte gestört sind, sondern die Interaktion zwischen ihnen. Logico – affektive Theorie nach HERMELIN und O`CONNER Dieser Theorie zufolge ist der Autismus in einer Störung des kognitiv-emotionalen Bereichs begründet. Demnach liegt zwischen dem Plan einer Handlung (Regung) und der Handlung selbst häufig eine spontane emotionale Reaktion (Affekt). Daher wird eine Handlung von einen kognitiv-emotionalen Zustand bestimmt. HERMELIN und O`CONNER belegen anhand von Studien, daß sowohl gestörte kognitive als auch gestörte affektive Prozesse so miteinander interagieren können, daß sie nicht mehr funktionieren. Diese Situation nennen HERMELIN und O`CONNER einen „logico-affektiven Zustand“. Dadurch werden vor allem die Verhaltensbereiche beeinträchtigt, die einer Interaktion der kognitiven und affektiven Funktionen bedürfen, wie z.B. Aufmerksamkeit, die Auswahl wesentlicher Reize aus einem Reizmuster sowie die verbale und nonverbale Kommunikation. Der Logico-affekiven Theorie lassen sich die im folgenden dargestellten Theorien der sozialen Störung, der affektiven Störung und der kognitiven Störung zuordnen. (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 51 ff). www.foepaed.net 22 Theorie einer sozialen Störung nach FEIN et al. FEIN et al. zufolge sind soziale Störungen grundlegend für die Symptomatik des Autismus verantwortlich. Sie begründen diese These damit, daß Kinder mit autistischem Verhalten in Testsituationen gerade in den Bereichen Schwächen zeigen, in denen soziale und affektive Anforderungen an sie gestellt werden. Außerdem ist die für die autistischen Störungen so typische soziale Zurückgezogenheit selbst bei schwer gestörten Säuglingen nur sehr selten zu finden und somit autismusspezifisch. Kognitive und affektive Funktionen, die sich normalerweise parallel entwickeln, unterscheiden sich bei diesen Kindern qualitativ stark voneinander. Das Neugeborene besitzt normalerweise bereits eine Vielzahl genetisch bedingter Kompetenzen, die es ihm ermöglichen sich der neuen Umwelt anzupassen. Bei Kindern mit autistischem Verhalten sind nun die neuronalen Systeme gestört, die für das Kontakt- und Sozialverhalten verantwortlich sind. Dadurch werden gerade die kognitiven Funktionen beeinträchtigt, die stark von sozialen Beziehungen und sozialer Motivation abhängen, wie z.B. symbolisches Spiel und kommunikative Sprache (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 53 f). Affekt – Theorie nach HOBSON Nach HOBSON ist die soziale und kommunikative Störung von Kindern mit autistischem Verhalten primär affektiv. Nicht-autistische Kinder sind von Geburt an und unabhängig von der Kognition in der Lage, für die Gefühle anderer Personen sensibel zu sein. Beim Autismus ist diese angeborene Fähigkeit gestört. Dadurch ist das Kind mit autistischem Verhalten nicht in der Lage, persönliche Beziehungen aufzubauen. Um sich eine Vorstellung von der Welt zu machen, bedarf es aber der Beziehung zu anderen Personen. Da bei Kindern mit autistischem Verhalten die Fähigkeit zum Aufbau solcher Beziehungen fehlt, sind sie nicht in der Lage, andere Personen als Menschen mit eigenen Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Intentionen zu erkennen. Dadurch kommt es zu einer schweren Beeinträchtigung im abstrakten und symbolischen Denken. Der größte Teil der Störungen von Kindern mit autistischem Verhalten hängt mit diesen Fähigkeiten zusammen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 55 f). Die Kognitionstheorie nach BARON-COHEN Diese Theorie geht von einer primär kognitiven Erklärung der sozialen Beeinträchtigung von Menschen mit autistischem Verhalten aus. BARON-COHEN geht grundsätzlich davon aus, daß jeder Mensch die geistigen Zustände anderer Personen erst erschließen muß, da sie nicht direkt beobachtbar sind. Die Fähigkeit, anderen Personen bestimmte geistige www.foepaed.net 23 Zustände zuzuschreiben, wird als „Theory of Mind“ bezeichnet und erfordert komplexe kognitive Strukturen. Eigene Überzeugungen von der physikalischen Welt werden „primäre Repräsentationen“ genannt. Vorstellungen von den geistigen Zuständen anderer Personen sind also Repräsentationen von den Repräsentationen der anderen und werden daher auch „Metarepräsentationen“ genannt. BARON-COHEN geht davon aus, daß die metarepräsentationalen Fähigkeiten bei Menschen mit autistischem Verhalten beeinträchtigt sind. Diese Beeinträchtigung wird durch ein zentrales kognitives Defizit verursacht. Dadurch lassen sich die Mängel bei bestimmten sozialen Fertigkeiten, pragmatische Defizite und Störungen im vorstellungsmäßigen Spiel erklären (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 56 ff). Theorie des sozialen Lernens nach STERNBERG STERNBERG führt den Autismus auf eine Störung der kognitiven Informationsverarbeitung zurück. Das Kernproblem der Menschen mit autistischem Verhalten ist seiner Meinung nach eine Funktionsstörung des Wissenserwerbs. Drei Bereiche der Intelligenz sind für den Aufbau von Wissen von Bedeutung: die Verbindung der Intelligenz mit der inneren Welt eines Individuums, mit der äußeren Welt und mit den bereits gemachten Erfahrungen. Der Prozeß des Wissenserwerbs, der Voraussetzung für jegliches Lernen ist, erfordert drei Verarbeitungsprozesse, die zunächst relativ unabhängig von der Problematik des Autismus beschrieben werden (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 59): Das selektive Entschlüsseln beschreibt das Trennen von wesentlichen und unwesentlichen Informationen. Als wichtig werden dabei solche erachtet, die im allgemeinen als zentral gelten. Erst durch das Herstellen einer gemeinsamen Bedeutung ist es möglich, daß wir in einer Welt leben, die auch von anderen Personen verstanden wird. Diese Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung ist eine wichtige Voraussetzung für Kommunikation (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 59). Das selektive Kombinieren beschreibt das Zusammenfügen der bereits selektierten Informationen zu intern konsistenten Erfahrungsstrukturen. Auch diese Strukturen sind so beschaffen, daß sie im wesentlichen mit denen anderer Personen übereinstimmen. Es kommt zu einem Konsens, der es ermöglicht, sich über die gemachten Erfahrungen mit anderen Menschen auszutauschen. Würden bestimmte Erfahrungen für verschiedene Personen etwas völlig anderes bedeuten, so könnten sich die Gesprächspartner nicht www.foepaed.net 24 verstehen und eine Kommunikation wäre kaum aufrechtzuerhalten. Dadurch würde es letztlich zu einer sehr großen emotionalen Distanz kommen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 59 f). Das selektive Vergleichen beschreibt das Verknüpfen von neuen Informationen mit bereits bekannten Informationen. Dadurch werden die neuen Strukturen in das bereits vorhandene Wissen eingearbeitet und es entsteht ein neues kognitives Schema. Würden neue Informationen unabhängig von bereits gemachten Erfahrungen verarbeitet werden, wäre jedes Ereignis völlig neu und ohne Zusammenhang (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 60). STERNBERG geht davon aus, daß bei Menschen mit autistischem Verhalten alle drei Verarbeitungsprozesse gestört sind. Dadurch hat das Kind mit autistischem Verhalten vor allem Schwierigkeiten mit neuen Aufgaben oder in unbekannten Situationen. Aufgrund der qualitativ veränderten Verarbeitungsprozesse kommt es zu Wissensstrukturen, die für andere nicht nachvollziehbar sind. Davon werden auch Sprache und Kommunikation beeinflußt. Die frühe Störung der drei Verarbeitungsprozesse führt außerdem zu schweren Beeinträchtigungen der sozialen Beziehungen (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 61). Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die verschiedenen psychologischen Erklärungsmodelle versuchen, die autistischen Störungen auf das Zusammenspiel der kognitiven und affektiven Fähigkeiten zurückzuführen. Dabei beziehen sie sich auf unterschiedliche Störungsaspekte, sehen aber besonders in den Bereichen Schwierigkeiten, in denen andere Personen eine Rolle spielen. Die Erklärungsmodelle sind rein hypothetische Überlegungen und ersetzen daher nicht die weitere Erforschung des Phänomens Autismus (vgl. Kusch & Petermann 1990, S. 61). www.foepaed.net 25 3. Musiktherapie 3.1 Wirkung von Musik auf den Menschen Jeder Mensch hat vermutlich verschiedenste Erfahrungen mit der Wirkung von Musik im alltäglichen Leben gemacht. Mit der Wirkung der Musik auf den Menschen beschäftigt sich die Musikpsychologie. Im folgenden stelle ich die Musik im Rahmen der Musikpsychologie dar und beschreibe unterschiedliche Wirkungen der Musik auf den Menschen. 3.1.1 Grundlagen der Musik Musik ist eine Möglichkeit des Menschen, sich künstlerisch zu äußern. Dazu stehen Töne, Klänge und Geräusche zur Verfügung, die nach bestimmten Regeln miteinander verbunden, geordnet und geformt werden können. Bei regelmäßigen Schwingungen eines Körpers oder Gases entsteht ein Klang oder Ton, bei unregelmäßigen ein Geräusch. Die wichtigsten Eigenschaften eines Tones sind seine Höhe, die Lautstärke und seine Klangfarbe. Um der Musik Ausdruck zu verleihen, werden Melodie, Harmonie, Rhythmus, Metrum und Tempo eingesetzt (vgl. Ziegenrücker 1986, S. 11 und 14). „Jede Epoche und Kultur hat einen eigenen Musikbegriff geprägt. Gemeinsam scheint nur, daß es sich um absichtsvoll gestaltete akustische Vorgänge handelt. Die Mittel der musikalischen Gestaltung sind Rhythmus, Melodie, Instrumentation, Tonstärke und harmonische bzw. disharmonische Ordnungsstrukturen.“ (vgl. Bertelsmann Electronic Publishing GmbH 1997) Der Musikbegriff innerhalb der Musikpsychologie hat drei verschiedene Daseinsebenen, die einander ergänzen: 1. Musik als extern koordinierte Information www.foepaed.net Musik wird auf Tonträgern oder in Form von Noten festgehalten. 26 2. Musik als akustische Klänge in Form physikalischer Struktur Schallwellen durchdringen den Raum. 3. Musik als Phänomen Musik wird über das menschliche menschlichen Erlebens Ohr aufgenommen und durch das Gehirn verarbeitet. In der Musiktherapie sind alle drei Ebenen der Musik von Bedeutung. Die ersten beiden sind für den therapeutischen Prozeß von untergeordneter Bedeutung. Therapeutisch wirksam ist die Musik nur als Phänomen der menschlichen Wahrnehmung. „Musik wird zur Musik durch das Erleben des Menschen“ (Bruhn 1999, S. 18). Damit soll verdeutlicht werden, daß Musik zunächst als physikalisches Ereignis entsteht, aber erst durch die Wahrnehmung und die damit verbundenen Vorstellungen und Emotionen zu dem wird, was wir als Musik bezeichnen. Der Zusammenhang zwischen der Musik und den physikalischen Eigenschaften der Klänge ist nicht eindeutig, weil sie in unterschiedlicher Genauigkeit aufgenommen, in Wechselbeziehung zu der momentanen Befindlichkeit und den bereits gemachten Erfahrungen verarbeitet werden (vgl. Bruhn 1999, S. 18). 3.1.2 Wirkungsweisen der Musik Musik führt zu emotionalen und affektiven Erregungen, die sich als vegetative Funktionsveränderungen im körperlichen Bereich bemerkbar machen. Diese psychophysiologischen Veränderungen konnten durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt werden (vgl. Scheytt in: Decker-Voigt 1983, S. 221). SCHEYTT beschreibt die Auswirkungen von Musik auf verschiedene Funktionen des menschlichen Körpers: Musik und Herztätigkeit – Der eigene Herzrhythmus spielt bei der Beurteilung der sinnlichen Wahrnehmung eine entscheidende Rolle, wenn es um die Beurteilung des Tempos geht. Es ist aber auch möglich, den Herzschlag mit akustischen, insbesondere musikalischen Reizen zu beeinflussen. Dies liegt daran, daß vom Hörnerv aus direkte Reflexleitungen zu den motorischen Teilen im Hirnstamm verlaufen, die für die Herzfunktion verantwortlich sind (vgl. Scheytt in: Decker-Voigt 1983, S. 223). www.foepaed.net 27 Musik und Atmung – Die Atmung wird beim Anhören von Musik je nach Art der Musik unterschiedlich beeinflußt. Die zu beobachtenden Veränderungen sind bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich groß, aber in Art und Weise vergleichbar. Bei schneller, sich beschleunigender Musik, beschleunigt sich auch die Puls- und Atemfrequenz. Die Änderung der Atmung wird subjektiv nicht wahrgenommen (vgl. Scheytt in: Decker – Voigt 1983, S. 223). Musik und Hirntätigkeit – Auch die Hirntätigkeit wird vom Rhythmus der Musik beeinflußt. Die Gehirnwellen nehmen einen Rhythmus ein, der ansonsten in Ruhe- und Entspannungsphasen auftritt. Andererseits ist es auch möglich, daß durch besonders rhythmische Musik epileptische Anfälle ausgelöst werden (vgl. Scheytt in: Decker – Voigt 1983, S. 223). Neben den genannten Wirkungsweisen ist für die musiktherapeutische Arbeit besonders die emotionale Wirkung der Musik von Bedeutung. Dabei handelt es sich vor allem um gedanklich-assoziative und emotional-affektive Einflüsse. Gedanklich-assoziative Reaktionen lassen sich kaum vorausbestimmen. Durch das Empfinden von Musik werden auch unterschiedliche Gefühle und Affekte ausgelöst. Dabei ist besonders zu erwähnen, daß sich bei verschiedenen Personen eine überraschende Übereinstimmung in der Art der empfundenen Emotionen zeigt (vgl. Huppmann & Strobel 1997, S. 33 ff). Von großer Bedeutung ist außerdem die kommunikative Funktion der Musik. Sie steht dabei als nonverbale Kommunikationsmöglichkeit im Zentrum der Arbeit (vgl. Huppmann & Strobel 1997, S. 52 f). Dabei kann die Musik sprachliche Kommunikation einleiten oder Sprache ersetzen, wenn Sprache als Kommunikationsmittel nicht zur Verfügung steht (vgl. Bruhn 1999, S. 30). PFEFFER (1973) unterscheidet drei verschiedene Wirkungen von Musik (vgl. Huppmann & Strobel 1997, S. 35): 1. Aktivierung: durch rhythmische Musik 2. ordnende / regulierende Wirkung: durch langsame, getragene Musik 3. Ruhe / Stille / Geborgenheit / Vertrauen: durch verhallende Klänge Akustische Reize führen im Vergleich zu allen anderen Sinnesreizen zu den stärksten vegetativen Wirkungen. Dies läßt sich vielleicht durch die enge Verknüpfung des Gehörsinnes mit dem Thalamus, dem Limbischen System und den emotionalen Bereichen des Gehirns, der Thymopsyche, erklären (vgl. Scheytt in: Decker-Voigt 1983, S. 222). www.foepaed.net 28 Die emotionale Beteiligung beim Musizieren ist sehr viel größer als beim eher passiven Musikhören. Dies zeigt sich wiederum an den stärkeren vegetativen Veränderung beim Musizieren (vgl. Scheytt in: Decker-Voigt 1983, S. 225). 3.2 Geschichte der Musiktherapie Die heilende Wirkung der Musik war schon vor 3000 Jahren bekannt. Papyrusrollen aus dem alten Ägypten (1500 Jahre v. Chr.) berichten über den Einfluß der Musik in der Medizin. Auch in der frühen griechischen Antike und im Alten Testament werden der Musik heilende Eigenschaften zugesprochen (vgl. Bruhn 1999, S.8 und Huppmann & Strobel 1997, S. 16 f). Die Erklärung der Wirkung von Musik auf den Menschen geschieht auf drei verschiedenen Wegen (vgl. Bruhn 1999, S. 8 ff): 1. Musik als mystisches Werkzeug: Den ältesten Quellen zufolge wird der Musik eine magische Kraft zugesprochen, die nicht weiter erklärt wird. Die Abgrenzung zu esoterischen Mythen ist auch heute noch nicht ausreichend. Besonders in der New Age-Philosophie wird der Musik nach wie vor noch eine mystische Wirkung zugesprochen. 2. Musik als Abbild kosmischer Ordnung: In der antiken griechischen Philosophie wurden Körper und Seele als geordnetes Ganzes verstanden. Die Musik spiegelte diese Ordnung wider, und Gesetzmäßigkeiten von Musik, Körper und Seele wurden als analog angesehen. Die Wirkung der Musik wurde aus einer wechselseitigen Beeinflussung abgeleitet. 3. Musik als Medikament: Mit der Entdeckung des Blutkreislaufes (17. / 18. Jh.) und der Wirkungsweise chemischer Substanzen auf den Körper wurden auch neue theoretische Überlegungen zur Wirkung der Musik angestellt. Ergebnis war die sogenannte Iatromusik, die als chemisch-physikalische Intervention betrachtet wurde. Sie wurde rezeptiv bis in die 50er Jahre dieses Jahrhunderts eingesetzt. www.foepaed.net 29 Bis weit ins 20. Jahrhundert war man der Meinung, man müsse Musik passiv auf sich einwirken lassen. In den 40er und 50er Jahren zeigte sich, daß die therapeutische Wirkung des reinen Musikhörens nicht nachweisbar ist. Darauf wurde in den USA der Begriff Musiktherapie stark ausgeweitet und der amerikanische Dachverband „National Association for Music Therapy“ (NAMT) gegründet. Musik wird seither in die Sonderpädagogik mit einbezogen (vgl. Bruhn 1999, S. 13). Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Schulmedizin, insbesondere die Psychiatrie, den größten Einfluß auf die musiktherapeutische Arbeit. Bei traditionellen Behandlungsmethoden wurde die Musiktherapie als Hilfsmittel eingesetzt, um auf das Verhalten des Patienten einzuwirken. Aus der Sozialpädagogik stammten die ersten Musiktherapieprojekte, die wissenschaftlich orientiert waren. Von der Musikpädagogik angeregt wurde der Umgang mit Musik auch auf das heilpädagogische Gebiet übertragen (vgl. Bruhn / Oerter / Rösing 1994, S. 405 f). In Europa wurde die Musiktherapie in den 70er Jahren hauptsächlich von Autodidakten betrieben. Wichtige Impulse sind von der anthroposophischen Musiktherapie der SteinerBewegung ausgegangen. Die passive Musiktherapie wurde dadurch zunehmend von der aktiven verdrängt und die therapeutische Improvisation zu einer zentralen Methode. Mit dem Auftreten der ersten Absolventen der neu gegründeten Institute in den 90er Jahren wurde der Einfluß der Autodidakten geringer und die konfliktzentrierte Arbeit, im Sinne einer Psychotherapie, als zentrales Anliegen der Musiktherapie verstanden. Dadurch geriet die Arbeit mit Behinderten an den Sonderschulen zeitweise in den Hintergrund (vgl. Bruhn 1999, S. 13 f). 3.3 Definition und Zielsetzung Der Begriff „Musiktherapie“ ist nur schwer zu definieren, weil er eine große Spannweite an Aktivitäten umfaßt (Musikhören zur Entspannung, Musikmachen mit Behinderten, Psychotherapie mit musikalischen Mitteln). Dies liegt vermutlich daran, daß sich die Musiktherapie aus mehreren voneinander unabhängigen Fachrichtungen entwickelt hat. Als wesentliche Richtungen sind die Schulmedizin, klinische Psychologie, Pädagogik und Sonderschulpädagogik zu nennen. Ich möchte mich der Musiktherapie-Definition der NAMT anschließen (vgl. Bruhn 1999, S. 1): www.foepaed.net 30 „Musiktherapie ist die gezielte Anwendung von Musik oder musikalischen Elementen, um therapeutische Ziele zu erreichen [...]. Durch Musiktherapie soll dem Patienten Gelegenheit gegeben werden, sich selbst und seine Umwelt besser zu verstehen, sich in ihr freier und effektiver zu bewegen und eine bessere psychische Stabilität und Flexibilität zu entwickeln.“ (Übersetzung Eschen 1979, S. 548) Die Definition eines zu erreichenden Therapieziels hängt einerseits von der Art der Störung des Patienten ab, zum anderen aber auch von den Vorstellungen des Therapeuten. Als anzustrebende Ziele können z.B. das Funktionieren in der Gesellschaft oder das Wohlbefinden des Patienten gelten (vgl. Huppmann & Strobel 1997, S. 14). In der musiktherapeutischen Arbeit mit Menschen mit autistischem Verhalten ist die größtmögliche Kommunikationsfähigkeit ein wesentliches Therapieziel. Die Musik wird dabei als Möglichkeit des Zugangs eingesetzt, ohne Angst beim Menschen mit autistischem Verhalten auszulösen. Dazu sollte zu Beginn der Therapie in Einzelsituation gearbeitet werden. Als erste Kontaktaufnahme sind die Improvisation des Therapeuten, das Wecken des Interesses am Instrument, Singen, Musizieren, Tanz und Bewegung einsetzbar. Es hat sich gezeigt, daß mit Hilfe der Musiktherapie große Erfolge im Bereich der autistischen Störungen zu erreichen sind. Das läßt sich vor allem mit den vielen bisher veröffentlichten Fallstudien belegen (vgl. Huppmann & Strobel 1997, S. 134 und 138 ff). 3.4 Musik im Schnittfeld zwischen Pädagogik, Sonderpädagogik und Therapie Die Arbeit mit Musik in den Bereichen Pädagogik, Sonderpädagogik und Therapie läßt sich unterscheiden (vgl. Bruhn 1999, S. 2): Pädagogik - Veränderung und Differenzierung von Kenntnissen und Fertigkeiten von einem mittleren auf ein höheres Niveau Sonderpädagogik - Lernen im Umgang mit dauerhaften Behinderungen Therapie - Beseitigung von Beeinträchtigungen und Behinderungen und Veränderung vom Krankhaften zum Normalen www.foepaed.net 31 In der älteren Literatur werden Musikpädagogik und -therapie anhand der unterschiedlichen Orientierungen voneinander getrennt. Musiktherapie wird dabei als prozeßorientiert eingestuft. Es ist demnach nicht wichtig, wie die produzierte Musik klingt. Der Schwerpunkt der musiktherapeutischen Arbeit liegt auf dem mit Hilfe der Musik einzuleitenden Prozeß. Die Musikpädagogik hingegen verfolgt die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten die Musik betreffend. Das Ziel der Arbeit ist auf Musik bezogenes Faktenwissen oder die tatsächliche Aufführung von Musik als Endprodukt (vgl. Bruhn 199, S. 2). Diese Sichtweise führt allerdings zu einer künstlichen Trennung von Pädagogik und Therapie. Gerade bei der Arbeit im sonderpädagogischen Bereich zeigt sich, daß diese Trennung nicht sinnvoll ist. Beide Bereiche sind eng miteinander verbunden (vgl. Bruhn 1999, S. 2). In der folgenden Grafik von TISCHLER wird deutlich, daß die Übergänge von Therapie und Pädagogik fließend sind: Musiktherapie Intensitätsgrad / Ausmaß der Störung Therapie klinisch-therapeutische Maßnahmen und Ziele Sonder pädagogik sonderpädagogische, sozial integrative Maßnahmen / Ziele Pädagogik (schul -) pädagogische, psychoprophylaktische und hygienische Maßnahmen / Ziele Musikpädagogik Musik im Schnittfeld von Pädagogik, Sonderpädagogik und Therapie (vgl. Tischler / Moroder-Tischler 1998, S. 13) 3.5 Methodik der Musiktherapie Die musiktherapeutische Arbeit läßt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Bei der Arbeit mit Menschen mit autistischem Verhalten sind bestimmte Methoden zu bevorzugen. Im folgenden werde ich verschiedene Arbeitsweisen unter der Berücksichtigung der autistischen Störungen vorstellen. www.foepaed.net 32 3.5.1 Das Setting Als Setting wird die Umgebung, in der die Therapie durchgeführt wird, bezeichnet. Dazu gehören Raum, Ausstattung, Instrumente und Einflüsse von außen. Auch Therapeut und Klient/en sind Teil des Settings. Das Setting sollte immer auf die Bedürfnisse des Klienten abgestimmt sein (vgl. Bruhn 1999, S. 43). Der Therapieraum sollte möglichst von Geräuschen isoliert sein. Störungen von außen sind generell zu vermeiden. Der Raum sollte hell und ausreichend belüftet sein. BENENZON ist der Meinung, daß er ca. 5 x 5 Meter groß und in gedämpften Farben gestrichen sein sollte. Schmückende Gegenstände wie Poster oder Bilder sollen nicht vorhanden sein, da sie von der therapeutischen Arbeit ablenken (vgl. Benenzon 1983, S. 48). Da die Instrumente als Brücke zwischen den Beteiligten auch dem Ausdrucksbedürfnis des Klienten entsprechen müssen, muß das Angebot an Instrumenten sehr reichhaltig sein. BRUHN nennt Instrumente, die zur Minimalausstattung eines Musiktherapeuten gehören sollten (vgl. Bruhn 1999, S. 35): Fellinstrumente: eine Pauke, verschiedene Bongos und Kongas, mehrere kleine Folklore-Instrumente Mallet-Instrumente: ein Vibraphon, eventuell ein Marimbaphon, geeignete Schlegel Folklore – Instrumente: Schlitztrommel, Ethnopercussion, geeignete Schlegel Effekt – Instrumente: ein Gong, ein Sound-Creation-Set, ein Synthesizer Tasteninstrumente: ein Klavier oder Flügel Saiteninstrumente: ein Monochord, zwei bis drei Leiern Bei Menschen mit autistischem Verhalten sollte bei der Einrichtung des Raums darauf geachtet werden, daß der Raum auf den Klienten nicht reizüberflutend wirkt. BRUHN schlägt vor, einen gesonderten Raum für die Therapie mit Menschen mit autistischem Verhalten bereitzustellen und die Zahl der Musikinstrumente zu begrenzen (vgl. Bruhn 1999, S. 43 und 83). www.foepaed.net 33 3.5.2 Rezeptive und aktive Musiktherapie Mit aktiver Musiktherapie wird allgemein das aktive Musizieren verbunden. In der sogenannten rezeptiven Musiktherapie wird Musik nicht produziert, sondern gehört. Diese Einteilung ist jedoch problematisch. Bei der „rezeptiven“ Musiktherapie wird die Musik aktiv aufgenommen. Außerdem ist eine aktive Hinwendung zur Musik nötig. Bei der „aktiven“ Musiktherapie sind auch rezeptive Handlungen nötig. Aufgrund der geschichtlichen Entwicklung der Musiktherapie gibt es aber Bereiche, in denen die Therapie größtenteils durch das Hören von Musik geschieht. In der klassischen Form der rezeptiven Musiktherapie wird dem Klienten Musik vorgespielt, um körperliche und psychische Prozesse in Gang zu setzen, die zur Heilung führen sollen. Dabei kann der Prozeß durch ein folgendes Gespräch oder das Malen von Bildern während des Hörens beschleunigt, verstärkt oder verändert werden (vgl. Frank-Bleckwedel in: Decker-Voigt / Knill / Weymann 1996, S. 326 ff). Die rezeptive Musiktherapie wird heute jedoch zunehmend vom aktiven Musizieren verdrängt. Die aktive Musiktherapie faßt alle Arten der Musiktherapie zusammen, bei denen der Klient selbst mit seiner Stimme oder einem Instrument „aktiv“ beteiligt ist. Der Therapeut beteiligt sich im Regelfall am gemeinsamen Spiel und ist somit stark in das musikalische Geschehen eingebunden. Gleichzeitig muß er den durch die Musik eingeleiteten Prozeß beobachten und gegebenenfalls steuernd eingreifen (vgl. Eschen in: Decker-Voigt / Knill / Weymann 1996, S. 5 und Bruhn 1999, S. 14). Ins Zentrum der musiktherapeutischen Arbeit ist seit den 70er Jahren die therapeutische Improvisation gerückt (vgl. Bruhn 1999, S. 46). Wegen der besonderen Bedeutung der therapeutischen Improvisation in der Musiktherapie im allgemeinen und meiner praktischen Arbeit im speziellen, gehe ich im folgenden Kapitel darauf genauer ein. In der Therapie mit autistischen Kindern wird meist die aktive Musiktherapie angestrebt. Zunächst ist aber häufig aufgrund des autistischen Verhaltens kein gemeinsames Musizieren möglich. Daher kann der Therapeut als Einstieg in die Therapie dem Kind auf verschiedenen Instrumenten Musik vorspielen, also eine regulative Form der Musiktherapie wählen. Dabei ist es sehr wichtig, das Kind genau zu beobachten, um auf die meist sehr schwer wahrzunehmenden Angebote des Kindes zur Kommunikation oder Versuche des Rückzuges eingehen zu können (vgl. Bruhn 1999, S. 82 ff). www.foepaed.net 34 3.5.3 Therapeutische Improvisation Ursprung dieser therapeutischen Arbeitsweise sind Formen des anthroposophischen Musizierens und Impulse aus der Musikpädagogik. Es zeigte sich, daß diese Form der Musiktherapie sehr effektiv einzusetzen ist. Anliegen der ersten Überlegungen zu diesem Thema war es, die Komposition für jeden zugänglich zu machen. Durch die Improvisation soll versucht werden, das Innenleben des Klienten zu erforschen und seine Wachstumsbereitschaft zu fördern. Der Therapeut nimmt die vom Klienten improvisierten Äußerungen auf und kann mit einer der folgenden Arbeitstechniken reagieren (vgl. Bruhn 1999, S. 47): 1. Assoziative Improvisation Die assoziative Improvisation ist als Standard-Setting meist die Ausgangsbasis der Musiktherapie. Die Arbeit wird sehr offen gestaltet, es wird nur die Anfangsstimmung oder ein Start-Bild festgelegt. Danach ist die weitere Entwicklung jeder Sitzung völlig offen. Die Beteiligten überlassen sich dem freien Spiel und der Assoziation. Voraussetzung für die assoziative Improvisation ist ein Vertrauen in den Therapeuten, die Musikinstrumente und die Situation (vgl. Eschen in: Decker-Voigt / Knill / Weymann 1996, S. 29 ff und Bruhn 1996, S. 47). 2. Probehandlungen Während des freien musikalischen Spiels werden Nähe und Distanz zum Therapeuten bzw. den Gruppenmitgliedern ausprobiert. Mit Hilfe der Improvisation wird die Befindlichkeit des Klienten ausgedrückt. Dabei kann der Klient je nach Instrument eher auf Distanz bleiben oder die Nähe der anderen Gruppenmitglieder suchen. Je näher der Klient die Entstehung des Klangs am eigenen Leib erfährt, desto näher ist ihm das Instrument und desto intimer ist die musikalische Botschaft. Die Wahl des Instruments ist dem Klienten zunächst freigestellt und damit eine erste Botschaft an den Therapeuten. Je näher das Instrument, desto intimer und unter Umständen auch angstbesetzter ist die Aussage des Klienten (vgl. Bruhn 1999, S. 35 und 47 und Seidel in: Decker-Voigt 1983, S. 48 ff). www.foepaed.net 35 3. Spielregeln Bei der Arbeit mit Erwachsenen sind Spielregeln häufig nötig, weil sie Schwierigkeiten haben, spontan und spielerisch mit den Instrumenten umzugehen. Sie orientieren sich an der gesellschaftlichen Bedeutung von Handlungen und zeigen Blockaden, wenn sie den Sinn einer Handlung nicht erkennen. Bei den Spielregeln handelt es sich allerdings nur um Eingangsregeln, die dem Klienten den Einstieg in die therapeutische Situation erleichtern sollen. Arbeitet man mit Kindern, sind Spielregeln meist nicht nötig, weil der improvisatorische Prozeß spontan entsteht. Die Improvisation liegt Kindern mehr, weil sie spielerisch mit den Instrumenten umgehen. Sollte sich jedoch zeigen, daß Kinder vor dem scheinbaren Chaos der freien Improvisation Angst haben oder sich dem freien Austausch über die Musik verweigern, sollte der Therapeut auch bei der Arbeit mit Kindern Spielregeln vereinbaren. Die Spielregeln werden vom Therapeuten verbal oder handelnd vorgegeben. Außerdem können sich Spielregeln nach und nach aus dem musikalischen Spiel ergeben. Durch die Spielregeln wird das Spiel formal geordnet (vgl. Bruhn 1999, S. 47 ff). Mit Hilfe der musiktherapeutischen Improvisation wird dem Therapeuten ein Einblick in die psychischen Vorgänge des Klienten ermöglicht. Es kommt zu einer nonverbalen musikalischen Kommunikation, die jedoch nicht eindeutig interpretierbar ist. Um sich trotzdem ein Bild zu machen, verwendet der Therapeut eine Vielzahl von Techniken: „ imitating - Der Therapeut versucht, den Gefühlsinhalt der Improvisation nachzuahmen und möglichst genau zu treffen. synchronising - Der Therapeut spielt gleichzeitig mit dem Klienten. incorporation - Der Therapeut übernimmt ein Spielmotiv des Klienten und entwickelt es weiter. placing - Der Therapeut versucht, sich dem Klienten in der Spielart anzupassen (wörtlich: Schritt halten). reflecting - Der Therapeut spiegelt dem Klienten wider, wie er dessen Stimmung wahrnimmt. clarifying - In der Improvisation vermittelte Informationen werden verbal überprüft. confronting - Die Klienten werden auf Diskrepanzen zwischen musikalischem Spiel und verbaler Aussage aufmerksam gemacht. connecting - Zwischen der Improvisation und realen Lebensereignissen werden verbal Beziehungen hergestellt. summarising - Die Erlebnisse einer Therapiesitzung werden rekapituliert.“ (Bruhn 1999, S. 49) www.foepaed.net 36 Die musiktherapeutische Improvisation bietet eine besonders gute Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu Menschen mit autistischem Verhalten. Über die Musik wird eine nonverbale Kommunikation initiiert, bei der auch unbewußte Gefühle ausgedrückt werden können (vgl. Bruhn / Oerter / Rösing, S. 408 f). 3.5.4 Zentrierung der Therapie Die musiktherapeutische Arbeit kann unterschiedliche Intentionen haben. Sie kann konfliktzentriert, erlebniszentriert oder übungszentriert ausgerichtet sein. Diese Systematik wurde von BEATE und WOLFGANG MAHNS aus einer Aussage von PETZHOLD (1974) abgeleitet, wonach in allen künstlerischen Medien „übend“, „erlebniszentriert“ und „konfliktzentriert“ gearbeitet werden kann. Diese Einteilung wird auch „Rendsburger Modell“ genannt, weil im Musiktherapie Institut Rendsburg danach gearbeitet wird. Die Auswahl der Zentrierung hängt im allgemeinen von der therapeutischen Notwendigkeit und dem zu behandelnden Problem ab (vgl. Bruhn 1999, S. 4 und Frohne in: Decker-Voigt 1983, 184 f). Konfliktzentrierte Musiktherapie Die musiktherapeutische Arbeit ist auf die Bearbeitung eines Konflikts zentriert. Es werden durch den Umgang mit dem Medium Musik Gefühle und emotionale Befindlichkeiten des Klienten erkundet, verborgene Konflikte herausgearbeitet und bewußtgemacht. Außerdem werden Lebensumstände, die zu Konflikten führen, bearbeitet und soweit wie möglich verändert. Ausgangspunkt kann die erlebniszentrierte Arbeit sein, bei der ein Konflikt durch den Umgang mit der Musik und das damit verbundene Erleben sichtbar wird (vgl. Bruhn 1999, S. 4 f). Erlebniszentrierte Musiktherapie Diese Form der Musikherapie ist besonders dann angezeigt, wenn die Therapie aus unterschiedlichen Gründen nonverbal durchgeführt werden soll. Der Konflikt des Klienten gilt als Ausgangspunkt der Arbeit. Im Zentrum der Musiktherapie steht jedoch nicht die Lösung des Problems, sondern das Sammeln von neuen Erfahrungen mit sich und anderen www.foepaed.net 37 Menschen. Der Klient soll durch die Musik eine neue Qualität von Geborgenheit und Neugier entdecken. Die gemachten Erfahrungen lassen sich gut in andere künstlerische Ausdrucksformen übersetzen, wie z.B. das Malen von Bildern oder das Schreiben von Gedichten (vgl. Bruhn 1999, S. 5 f und Frohne in: Decker-Voigt 1983, 185 f). Übungszentrierte Musiktherapie Das übende Vorgehen verfolgt den Aufbau neuer Verhaltensmöglichkeiten oder die Stabilisierung eines bereits erlernten Verhaltens. Diese Form der Musiktherapie findet hauptsächlich in der Sonderpädagogik ihre Anwendung. So kann z.B. das Einüben von Texten durch Rhythmus und Melodie erleichtert oder das Erlernen rhythmischer Bewegungen durch Musik unterstützt werden. Konzentration und Durchhaltevermögen können durch das Beibehalten eines Rhythmusmotivs innerhalb der Gruppenimprovisation erlernt und gefestigt werden (vgl. Bruhn 1999, S. 6 und Frohne in: Decker-Voigt 1983, S. 187). Therapeutisches Musizieren Dieser Typus der Musiktherapie hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt. Das Therapeutische Musizieren ist stark an die Musikpädagogik angelehnt, ist aber nicht produktorientiert, sondern im Sinne der Musiktherapie prozeßorientiert. Ausgangspunkt dieser Form der Arbeit waren Bemühungen, geeignete Instrumente für Menschen mit Behinderungen zu finden. Daraus entstand ein sehr erfolgreicher Modellversuch von PROBST (1991) bei dem leistungsorientierte Überlegungen im Vordergrund standen und therapeutische Aspekte noch nicht berücksichtigt wurden. Die therapeutischen Möglichkeiten wurden dann langsam zum zentralen Anliegen (vgl. Bruhn 1999, S. 97 ff). Zielgruppe des therapeutischen Musizierens sind Kinder mit Behinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Verbesserung von Ziele dieser kommunikativen Arbeit können Fähigkeiten, emotionales Wachstum, Gemeinschaftssinn und Konzentrationsförderung sein. Es wird erlebnis- und übungszentriert gearbeitet. Ausgegangen wird vom Musizieren als Freizeitangebot. Später tritt dann die therapeutische Wirkung der Musik in den Mittelpunkt der Arbeit (vgl. Bruhn 1999, S. 7 und S. 97 ff). www.foepaed.net 38 3.5.5 Einzel- und Gruppentherapie Musiktherapie wird meist in Form der Gruppentherapie durchgeführt. Die Größe der Gruppe hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Diese Faktoren sind: Zentrierung der Arbeit, Erfahrungen des Therapeuten, Psychodynamik der Gruppenmitglieder und Art der zu behandelnden Probleme. Voraussetzung ist aber immer Gruppenfähigkeit der Klienten (vgl. Bruhn 1999, S. 42). Für die Musiktherapie von Menschen mit autistischem Verhalten ist aufgrund der autistischen Störungen zunächst immer eine Einzeltherapie angezeigt. Als Fernziel einer Therapie sollte die Gruppenfähigkeit und die Fortsetzung der Arbeit in einer Gruppe angestrebt werden (vgl. Bruhn 1999, S. 83). 3.5.6 Verlauf der Therapie Musiktherapeutische Arbeit zielt immer auf die Lösung eines Problems ab. In der ersten Therapiestunde ist das Ziel die Kontaktaufnahme von Klient(en) und Therapeut. Durch die musiktherapeutische Arbeit soll der Klient in die Lage versetzt werden, sein Problem zu lösen. Die Bearbeitung des Problems geschieht zunächst auf der nonverbal-musikalischen Ebene. Wenn möglich soll der Klient durch die musikalische Auseinandersetzung zu einer verbalen Bearbeitung des Problems befähigt werden. Die Therapie verläuft normalerweise in drei Phasen (vgl. Bruhn 1999, S. 40). Zu Beginn der ersten Phase muß zunächst das Problem benannt und die Erwartungen des Klienten an die Therapie geklärt werden. Vorerfahrungen können auch in dieser Phase geklärt werden. Gerade bei Berufsmusikern können die Vorerfahrungen problematisch sein, wenn es z.B. darum geht, „unperfekt“ zu spielen. Am Ende dieser Eingangsphase wird die vorläufige Arbeitsrichtung zwischen Therapeut und Klient vereinbart. Die Entwicklung der Musik in der ersten Phase verläuft in vier Stufen und in immer wiederkehrender Weise. Dieses ist allerdings bisher nicht empirisch abgesichert (vgl. Bruhn 1999, S. 40 f und Seidel in: Decker-Voigt 1983, S. 50 ff). www.foepaed.net 39 1. Exploration: In dieser Phase erkunden die Gruppenmitglieder die Instrumente. Das führt häufig zu einem intensiven, oft lautstarken Nebeneinanderhermusizieren. Es wird ein elementares Bedürfnis ausgelebt, sich auszudrücken und zu musizieren. Ergebnis ist häufig ein „Klangbrei“ von großer Heterogenität und großer undurchhörbarer Komplexität. 2. Differenzierung: Nach dieser eher chaotischen Phase haben die Klienten ein großes Bedürfnis, ihre Improvisationen zu strukturieren. Es werden Spielregeln eingeführt und musikalische sowie soziale Prozesse reflektiert. 3. Kommunikation: Die Klienten nehmen Kontakt zu den anderen Gruppenmitgliedern auf und erproben die gewonnenen Fähigkeiten und Erkenntnisse. Die Musik und musikalische Äußerungen werden klarer und strukturierter. Sie werden auch ohne verbale Äußerung immer besser aufgenommen und verstanden. 4. Spezialisierung: Die Gruppe beginnt eingebrachte Themen zu bearbeiten. Dies geschieht zum Teil auf rein musikalische Art und Weise, zum Teil aber auch mit Hilfe der verbalen Kommunikation. In der zweiten Phase der Arbeit werden nun die Probleme bearbeitet. Zu Beginn dieser Phase leisten die Kinder immer noch Widerstand, testen die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten aus und erkämpfen sich ihre Rangposition innerhalb der Gruppe. Später wagen die Kinder es, sich vorsichtig innerhalb der Gruppenaktivitäten zu profilieren, bis sich dann alle Beteiligten emotional in die Gruppenaktivitäten, den Gruppenprozeß einbringen (vgl. Bruhn 1999, S. 41). Wurde in der ersten Phase bereits ein Arbeitsziel festgelegt, so muß es häufig umdefiniert werden. Es kann in dieser Phase zu scheinbaren Stillständen kommen, da die Arbeit nicht immer kontinuierlich verläuft. Entscheidend für den Erfolg der Therapie sind vor allem die Beziehung zwischen Therapeut und Klient sowie die Angemessenheit der therapeutischen Interventionen (vgl. Bruhn 1999, S. 41). www.foepaed.net 40 In der dritten Phase muß der Therapeut den Abschied einleiten. Erreichte Ergebnisse werden abgerundet, und die Beziehung zwischen Therapeut und Klient muß aufgelöst werden. Diese Phase kann auch mehrere Sitzungen beanspruchen (vgl. Bruhn 1999, S. 41). 3.6 Musiktherapie in der Sonderpädagogik Der Bereich der Behindertenarbeit wird in der musiktherapeutischen Diskussion häufig ausgeklammert, weil mit der Musik keine „Heilung“ herbeigeführt werden kann. Im Unterschied zur Musiktherapie mit Nicht-Behinderten steht bei der musiktherapeutischen Förderung von Menschen mit Behinderung meist kein akuter psychischer Konflikt im Zentrum der Arbeit, sondern eine dauerhafte Beeinträchtigung des Lebens. Daher ist die musiktherapeutische Arbeit häufig nicht auf eine bestimmte Anzahl von Stunden begrenzt. Sie wird teilweise zu einer lebenslangen Begleitung durch die Musiktherapie (vgl. Bruhn 1999, S. 65 und Huppmann & Strobel 1997, S. 130 f). Diese auch musikalische Heilpädagogik genannte Arbeit ist - wie schon angedeutet zwischen der Musiktherapie und der Musikpädagogik einzuordnen. Sie wird hauptsächlich erlebnis- und übungszentriert durchgeführt. Selbst bei schwerstbehinderten Kindern findet man häufig ein starkes Interesse für Musik. Musiktherapie ist dann oft eine gute Möglichkeit für diese Menschen, die personelle und materielle Umwelt zu erschließen. Auch bei Menschen mit autistischem Verhalten findet man nach EUPER oft eine ausgesprochen gute musikalische Begabung (Bruhn 1999, S. 68 und Huppmann & Strobel 1997, S. 131). Das besondere Interesse an der Musik wird eingesetzt, um auf verschiedenen Ebenen Lernprozesse zu erleichtern oder in Gang zu setzen. So kann die Musik als Kommunikationsmittel helfen, soziale Schwierigkeiten zu verringern. Durch den gezielten Einsatz von Musik können auch Lernleistungen gesteigert werden. Eine regelmäßige Teilnahme an einer Musiktherapie kann nachweislich Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistungen und Verbalisation verbessern. Motorische Defizite können durch musikalische Unterstützung gebessert werden. Außerdem bietet die Musik als Medium die Möglichkeit für Menschen mit Behinderungen, Freude zu erfahren, sich auszudrücken und sich selbst zu verwirklichen (vgl. Huppmann & Strobel 1997, S. 132). www.foepaed.net 41 Die guten Erfolge der Musiktherapie bei der Förderung von Menschen mit Behinderungen lassen sich zum Teil auch durch die Musik selbst begründen. Durch den erlebniszentrierten Zugang zum Singen, Spielen und Musizieren wird der Umgang mit der Musik als angenehm empfunden und erlernte Fähigkeiten besser auf das alltägliche Leben übertragen (vgl. Bruhn 1999, S. 65). Die Effekte der Musiktherapie können auch unabhängig von der Musik sein, wenn kognitive, motorische, soziale und verbale Ziele angestrebt werden. Die Musik wird in diesem Fall übungszentriert eingesetzt, z.B. im lerntheoretischen Sinne als Verstärker für erwünschtes Verhalten (vgl. Bruhn 1999, S. 65). Für Menschen mit geistiger Behinderung ist die soziale Isolation häufig ein großes Problem. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Fähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung sind gemeinsame Aktivitäten oft nur in begrenztem Umfang möglich. Die Musik bietet dabei, gerade in der Integrationspädagogik, eine gute Möglichkeit, gemeinsame Erfahrungen zu machen und somit das Gemeinschaftsgefühl in der Klasse zu stärken. Eine Untersuchung von JELLISON (1988) zu diesem Thema ergab, daß die Interaktion zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern nach einer Phase der gemeinsamen musikalischen Aktivität signifikant höher war als vorher (vgl. Bruhn 1999, S. 65 f). 3.6.1 Musiktherapie bei Menschen mit schwersten Behinderungen Wie schon erwähnt ist die Musiktherapie im Bereich der schweren Behinderungen gut einzusetzen. Die Arbeit in diesem Bereich gestaltet sich zwar sehr schwierig, ist aber auch besonders effektiv. Menschen mit schwerster Behinderung sind ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen und können daher ihr Leben nicht selbst gestalten. Der Kontakt zu den Bezugspersonen ist stark beeinträchtigt. Die Musiktherapie bietet eine gute Möglichkeit, mit dem Kind in Kontakt zu treten und die Verarbeitung der Umweltreize zu fördern. MÖLLER beschreibt die Kontaktaufnahme mit schwerstbehinderten Kindern in vier Stufen (vgl. Bruhn 1999, S. 68 f): www.foepaed.net 42 1. „Ich fühle den Kontakt zwischen uns.“ Dies ist eine sehr niedrige Ebene des Kontakts. Der Therapeut greift verschiedene Ausdrucksformen des Kindes wie z.B. stimmliche Klänge, Atmen oder Bewegungen auf und gibt sie in musikalischer Form wieder. 2. „Ich sehe und höre den Kontakt zwischen uns.“ Der Therapeut bemerkt an feinen Veränderungen im Verhalten des Kindes, daß es die musikalische Ansprache erkennt und beantwortet. Die Reaktionen erfolgen meist in den Pausen des Musizierens. Der Therapeut versucht, nur zu spielen, wenn das Kind ihn ansieht oder sich bewegt. 3. „Du kontrollierst den Kontakt.“ Das Kind erkennt, daß es den Therapeuten zum Musizieren veranlassen kann, indem es bestimmte Bewegungen oder Klänge macht. Es weiß jedoch noch nicht, daß der Therapeut auf ein solches Signal wartet. 4. „Unser Kontakt nimmt die Form eines Dialogs an.“ Die musikalischen Kontakte werden zweiseitig. Das Kind beginnt sich auszudrücken und erkennt die Wechselseitigkeit des Kontakts. Der Erfolg einer Musiktherapie mit schwerstbehinderten Kindern ist aufgrund der sehr kleinen Fortschritte nur schwer bzw. nur für jemanden zu erkennen, der mit dem Kind täglich arbeitet. Damit der Klient selber Klänge erzeugen kann, müssen Instrumente den Fähigkeiten entsprechend verändert oder vom Therapeuten selber hergestellt werden. Die Arbeit mit schwerstbehinderten Menschen ist größtenteils erlebniszentriert. Lediglich während der ersten Stufe des Kontakts wird übungszentriert gearbeitet, wenn es um das Erlernen des Ursache-Wirkung-Prinzips geht. Mit Hilfe der Musiktherapie werden die taktil-kinästhetischen, akustischen und visuellen Bereiche verknüpft (vgl. Bruhn 1999, S. 69). www.foepaed.net 43 3.6.2 Musiktherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung Bei der Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung muß berücksichtigt werden, daß es sich aufgrund der meist organischen Ursache um eine dauerhafte Beeinträchtigung handelt. Daher sind diese Menschen lebenslang auf pädagogische oder soziale Hilfe angewiesen. Auch die musiktherapeutische Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung ist im allgemeinen als lebenslange Erfahrung ausgelegt (vgl. Bruhn 1999, S. 70). Es wird überwiegend übungs- und erlebniszentriert gearbeitet. So kann das Erleben der eigenen Person durch Erfahrungen, die während der Musiktherapie gemacht werden, verändert werden. Die Musik kann auch als nonverbales Kommunikationsmittel den Kontakt zu Menschen mit geistiger Behinderung erleichtern oder intensivieren. Sie erleichtert dem Kind dabei als zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit, den Kontakt herzustellen und die gemeinsame Aktivität zu lenken. Dadurch werden den Menschen mit geistiger Behinderung soziale Erfahrungen ermöglicht, die sie ohne die Musik nicht oder nur eingeschränkt machen können. Durch den Umgang mit der Musik entsteht häufig das Gefühl, etwas geschafft und eine Leistung vollbracht zu haben, wodurch das Selbstbewußtsein gestärkt wird. Dies kann gerade in der Integrationspädagogik von besonderem Interesse sein (Schwarting in: Decker-Voigt 1983, S. 143 f / Huppmann & Strobel 1997, S. 142 ff / Bruhn 1999, S. 71) . In der übungszentrierten Arbeit können kommunikative Fähigkeiten erlernt, die Wahrnehmungsfähigkeit gefördert oder auch Verhalten und Lernen direkt beeinflußt werden. Durch den Umgang mit Musik kann der Mensch mit geistiger Behinderung lernen, sich in soziale Systeme einzuordnen, andere Menschen in Beziehung zu sich selbst wahrzunehmen oder auch eigene und fremde Gefühle zu erkennen. Das Einhalten von Spielregeln kann in der musiktherapeutischen Arbeit erlernt und dann auf alltägliche Situationen übertragen werden. Im Bereich der Wahrnehmungsförderung ist besonders die Klangdifferenzierung im Rahmen der musiktherapeutischen Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung von Bedeutung. Des weiteren bietet sich die Musik als Übungsfeld für die Wahrnehmung von Zeit, Zeitdauer und zeitlichen Abläufen an. Beim Erlernen motorischer Fertigkeiten kann der Rhythmus die Kontrolle über Bewegungen verbessern und somit den Lernprozeß unterstützen (vgl. Bruhn 1999, S. 71 f). www.foepaed.net 44 3.7 Musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten Da die Ursachen der autistischen Störungen noch nicht endgültig geklärt sind, gibt es viele Möglichkeiten der therapeutischen Intervention. Aus diesem Grund gibt es noch keine ursächliche Behandlung, die besonders effektiv und somit wünschenswert wäre. Die Musiktherapie gehört zu den an der Basis angreifenden Behandlungsformen. Sie wird in der Therapie der autistischen Störungen häufig angewandt, und es wurde vielfach im Rahmen von Fallstudien über Erfolge berichtet. Bisher gibt es allerdings noch keine empirischen Untersuchungen (vgl. Kehrer 1995, S. 127 / Bruhn 1999, S. 82). Im allgemeinen muß aufgrund des autistischen Verhaltens des Kindes zunächst auf einer Stufe der absoluten Kontaktlosigkeit begonnen werden. Die weitere Entwicklung der Förderung von Kindern mit autistischem Verhalten beschreibt SCHUMACHER (1999) in sieben Stufen (vgl. Schumacher 1999, S. 245 ff): Modus 0 Musikinstrumente werden wie Personen scheinbar Kontaktlosigkeit ignoriert. Es sollte dem Therapeuten aber bewußt sein, daß die Reaktionen des Kindes zwar nicht sichtbar, aber durchaus vorhanden sind. Modus 1 Es wird, unter Umständen nur kurzfristig, Kontakt Kontakt-Reaktion zu den Instrumenten gesucht. Dieser Kontakt äußert sich meist in einer sehr kurzen Berührung der Instrumente. Der Therapeut wird weiter als Person ignoriert. Modus 2 Das Kind stellt den Kontakt zu den Personen und Funktional-sensorischer den Instrumenten her, um eigene (sensorische) Kontakt Bedürfnisse zu befriedigen, ohne daß das Gegenüber als eine Person mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen verstanden wird. Modus 3 Das Bewußtsein für die eigene Person wächst. r Kontakt zu sich - Dadurch ist das Kind in der Lage, die eigene Selbsterleben Stimme und die Musikinstrumente auszuprobieren. Das Kind hört sich selbst beim Musizieren zu. www.foepaed.net 45 Modus 4 Durch die Sicherheit der eigenen Existenz Kontakt zum Anderen - entsteht das Bedürfnis, Wahrnehmungen und Intersubjektivität Gefühle mit anderen zu teilen. Das Kind ist in der Lage, sein Gegenüber wahrzunehmen und ihn in das eigene Erleben einzubeziehen. Modus 5 Die Spieler hören, sehen und spüren sich. Sie Beziehung zum Anderen - reagieren aufeinander, indem sie die Musik Interaktion gegenseitig aufgreifen. Modus 6 Kind und Therapeut machen gemeinsame Begegnung - musikalische Erfahrungen. Es kommt zu einem Inter-Affektivität dynamischen Affekt und die Fähigkeit, miteinander zu musizieren, wird deutlich. Zwischen den verschiedenen Modi besteht sowohl ein qualitativer als auch ein quantitativer Unterschied. Die Qualität der Beziehung verändert sich in der oben beschriebenen Art und Weise. Außerdem nimmt die Dauer der Kontakte von Modus zu Modus zu (vgl. Schumacher 1999, S. 248). Um sich ein besseres Bild von der musiktherapeutischen Förderung bei autistischen Störungen machen zu können, werde ich im folgenden die Arbeit von JULLIETTE ALVIN und KARIN SCHUMACHER vorstellen. Im Zentrum der musiktherapeutischen Arbeit von JULLIETTE ALVIN steht der Klang als primäre Wirkung der Musik. Sie verwendet hauptsächlich das Cello, arbeitet aber auch mit Stimme und Klavier, sowie Instrumenten, die für die Kinder leicht zu spielen sind. Dazu gehören Glockenspiele, Trommeln, Becken, Maracas, Flöten, Kazoos, Melodikas und Gitarren (vgl. Alvin 1984, S. 10 f). ALVIN sieht die autistischen Störungen vor allem als eine schwere Kommunikationsstörung. Sie empfiehlt den Gebrauch der Musik als Medium für die Förderung der Entwicklung des Kindes mit autistischem Verhalten. Ziel der Therapie nach ALVIN ist im allgemeinen die Entdeckung der musikalischen Persönlichkeit des Kindes. Durch gemeinsame musikalische Erfahrungen soll eine vertrauensvolle Beziehung www.foepaed.net 46 zwischen Therapeut und Kind aufgebaut werden. Klang und Musik haben dabei die Kraft, zum Kind durchzudringen und Abwehrmechanismen aufzubrechen (vgl. Alvin 1988, S. 93 und S. 140). Im folgenden stelle ich einige methodische Schwerpunkte der Arbeit von ALVIN vor. Zu Beginn der Förderung von Kindern mit autistischem Verhalten stehen rezeptive Techniken, die sie auch „Wahrnehmungstechniken“ nennt. Der Übergang vom Hören zum Zuhören sei auch bei Kindern mit autistischem Verhalten beobachtbar. Die Auswahl der Musik, die dem Kind vorgespielt werden soll, ist dabei sehr schwierig, weil seine Reaktionen kaum vorauszusehen sind (vgl. Alvin 1988, S. 144). ALVIN nutzt Rituale, Symbole und Eigenarten des Kindes und verwertet sie musikalisch. Dazu muß der Therapeut aber zunächst diese oft bizarren Vorlieben akzeptieren und darauf achten, daß das Kind die Musik nicht als Möglichkeit zum Rückzug nutzt, sondern kreativ damit umgeht. So kann die Vorliebe für parallele Linien dadurch genutzt werden, daß der Therapeut dem Kind bevorzugt Saiteninstrumente mit parallelen Saiten anbietet (vgl. Alvin 1988, S. 94). Ihr Vorgehen beschreibt ALVIN in verschiedenen Stufen. In der ersten Stufe wird dem Kind die Möglichkeit gegeben, die Musikinstrumente und seine Stimme nach Lust und Laune zu gebrauchen. Das Kind kann dadurch eine sehr persönliche Beziehung zur Musik aufbauen. In dieser ersten Phase der Arbeit soll das Kind den Klang der Stimme und der Instrumente bewußt aufnehmen. Menschen mit autistischem Verhalten können eher Beziehungen zu Gegenständen als zu Menschen aufbauen. Daher wird sich das autistische Kind zunächst mit einem Musikinstrument und seinem Klang identifizieren. Dieses Instrument wird dann sein Mittel zur Kommunikation mit der Umwelt. Indem sich das Kind zunehmend der verschiedenen Klänge bewußt wird, die es mit dem Instrument erzeugen kann, erwirbt es ein elementares Ausdrucksmittel, mit dem es auf seine eigene Weise und spontan umgehen kann (vgl. Alvin 1988, S. 149 ff). Nachdem das Kind seine Möglichkeiten erkannt hat, wird in der zweiten Stufe versucht, den nonverbalen Kontakt zum Kind aufzubauen. Dazu muß das Kind zunächst, nachdem ihm die Anwesenheit des Therapeuten bewußt geworden ist, sein Mitwirken akzeptieren. ALVIN steigert dann zunächst vorsichtig den körperlichen nonverbalen Kontakt, indem sie z.B. mit dem Kind zusammen auf demselben Musikinstrument in nächster Nähe spielt. www.foepaed.net 47 Kann das Kind den Kontakt zum Therapeuten zulassen, wird versucht, das Kind beim Musizieren zu unterstützen. Zunächst handelt es sich beim Musizieren der Kinder um ein freies Improvisieren ohne feste Regeln. Durch das Mitspielen des Therapeuten erhält die Musik des Kindes eine neue Dimension. Im Laufe der Improvisationen verbessert sich die instrumentale Technik und damit auch die Ausdrucksmöglichkeit des Kindes (vgl. Alvin 1988, S. 144 f). Nach diesen zwei Stufen des Aufbaus wird in der weiteren Entwicklung versucht, das Aktionsfeld des Kindes zu erweitern. Das Kind soll einen Sinn für musikalisches Sozialverhalten gegenüber den Instrumenten, der eigenen Stimme und anderen Personen entwickeln. Dadurch wird der gesamte Reifungsprozeß des Kindes und die Selbsterkenntnis gefördert (vgl. Alvin 1988, S. 145). Für KARIN SCHUMACHER steht die Störung der Wahrnehmung am Anfang der autistischen Störungen. Auch die sozialen Beeinträchtigungen sind ihrer Meinung nach auf eine mangelhafte Wahrnehmung der sozialen Signale der Umwelt zurückzuführen. Trotzdem sieht sie die soziale Isolation als grundlegendes Problem, daß in der musiktherapeutischen Arbeit besonders zu berücksichtigen ist. „Störungen des zwischenmenschlichen Gefüges ziehen [...] immer Entwicklungsstörungen nach sich. Therapie heißt, dieses gestörte Gefüge durch das Wiederherstellen positiver zwischenmenschlicher Erfahrungen zu beeinflussen.“ (Schumacher 1999, S. 13) Ziel der Arbeit von SCHUMACHER ist demnach, einen Kontakt zum Kind aufzubauen und einen Dialog herzustellen. Die Entwicklung einer zwischenmenschlichen Beziehung ist dann die Basis jeglicher weiteren Entwicklung. Als Voraussetzung beim Therapeuten sieht SCHUMACHER (vgl. Schumacher 1988, S. 149): Akzeptieren des So-Zustandes des Kindes positive Hypothese, die Kontakt erwartende Haltung Wahrnehmung der Fähigkeiten des Kindes behutsames Ausbalancieren von Nähe und Distanz vom Kind ausgehendes Entwickeln der Spielform www.foepaed.net 48 Das Heranführen an das instrumentale Spiel ist nach Meinung von SCHUMACHER erst sinnvoll, wenn das Kind bereits ein gewisses Körpergefühl entwickelt hat. Sie beginnt ihre Arbeit mit selbstklingenden Instrumenten, wie z.B. Rasseln, Glöckchen oder Klappern, aber auch mit Saiteninstrumenten, die keine zielgerichteten Bewegungen erfordern. Das Instrument sollte möglichst unmittelbar durch die Bewegungen des Spielers erklingen. Dadurch wird jede Bewegung des Kindes hörbar und somit für das Kind besser verständlich (vgl. Schumacher 1988, S. 150). „Sinn-voll ist es, die körpereigenen Instrumente (Klanggesten und Stimme) sowie alles Hörbare im Raum (Holztüren, Fensterbretter, Boden, Wände etc.) einzubeziehen. Jede Gelegenheit kann für eine klingende, multisensorische Erfahrung genutzt werden.“ (Schumacher 1988, S. 150) Das methodische Vorgehen von SCHUMACHER in der musiktherapeutischen Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten läßt sich wie folgt beschreiben. Zunächst wird vom Therapeuten ein Kontakt angeboten, indem er die Bewegungen und stimmlichen Äußerungen des Kindes musikalisch aufnimmt. Danach initiiert der Therapeut ein koordiniertes Reizklima, indem er propriozeptive, akustische, taktile und visuelle Reize in für das Kind verständlicher Weise verknüpft. Vom Kind ausgehend entwickelt der Therapeut eine Spielform. Diese Gestaltung der Beziehung kann verschiedene elementare Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele beinhalten. Auf der Basis dieser Beziehung entwickeln Therapeut und Kind gemeinsam die Spiel- und Ausdrucksfähigkeit des Kindes (vgl. Schumacher 1988, S. 149). www.foepaed.net 49 4. Musiktherapeutische Förderung von zwei autistischen Jungen an der Schule für Geistigbehinderte in Ellerbeck 4.1 Methodisches Vorgehen Die praktische Arbeit für mein Thema der wissenschaftlichen Hausarbeit war mir sehr wichtig, da ich vorher nur wenige Erfahrungen mit dem Medium Musik machen konnte. Dabei habe ich mich für eine Fallstudie entschieden. Zu dieser Entscheidung bin ich aufgrund mehrere Faktoren gekommen. Da die autistischen Störungen nur sehr selten auftreten, ist es schwer, ausreichend viele Schüler für eine statistisch abgesicherte Arbeit zu finden. Zudem ist die musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten sehr zeitaufwendig. Daher ist eine statistische Erhebung zu diesem Thema im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit und ohne weitere Hilfe nicht durchführbar. Um ein solches Vorhaben durchzuführen, müßten mehrere auf einem großen Gebiet verteilte Personen zusammenarbeiten. Zudem sind die Erfolge dieser Arbeit nur schwer statistisch zu erheben, da der Aufbau eines Kontakts, der für meine Arbeit ein wichtiges Ziel war, nur sehr ungenau erfaßbar ist. 4.2 Beschreibung der Rahmenbedingungen Meine praktische Arbeit habe ich an der Ellerbecker Schule für Geistigbehinderte, in der ich bereits mein Prüfungspraktikum ableistete, durchgeführt. Daher kannte ich bereits einige Lehrer und einen der zwei Jungen, mit denen ich musiktherapeutisch arbeiten wollte. Die Schulleiterin sowie die Klassenlehrer der zwei Jungen waren sehr an meiner Arbeit interessiert und haben mich gut unterstützt. Die Organisierung eines passenden Raum gestaltete sich sehr schwierig. Die einzigen Räume, die für meine Zwecke in Frage kamen, waren die Aula und der Psychomotorikraum, weil nur diese von den anderen Klassenräumen ausreichend isoliert waren. Die Aula erschien mir aufgrund der Größe, die nach BENENZON (siehe Kapitel 3.5.1) ca. 5x5 Meter betragen sollte, weniger geeignet. Daher habe ich mich für den Psychomotorikraum entschieden. www.foepaed.net 50 Der Psychomotorikraum ist ca. 4x8 Meter groß und durch vier Fenster und eine große Balkontür hell und freundlich. Links an der Wand stehen große Schränke, die verschiedenstes Arbeitsmaterial enthalten. Rechts an der Wand steht ein Schrank, in dem der größte Teil der Musikinstrumente aufbewahrt wird. An der linken Wand befindet sich eine kleine Höhle, die mit Decken verdunkelt ist (1,5x1,5 Meter). Daneben ist ein sehr kleines Bällebad (1,5x2 Meter). In der Mitte des Raums liegen meistens zwei Bodenmatten. An der rechten Wand neben einer Tür, die in einen kleinen Nebenraum führt, steht ein kleiner Tisch. Bällebad Arbeitsbereich Tisch Matten Höhle Waschbecken Schränke Schränke Psychomotorikraum in der Ellerbecker Schule Der Psychomotorikraum war sehr oft belegt, so daß er schwer war, einen Termin für meine Förderung zu finden, an dem der Raum nicht besetzt war und der in den Stundenplan der Jungen paßte. Da sich im Nebenraum ein Materiallager der Schule befindet, kam es auch vereinzelt zu Störungen während der Therapie. In der Schule war nur eine sehr begrenzte Anzahl von Musikinstrumenten vorhanden. Dazu gehörten eine Gitarre, Handtrommeln, zwei Kongas, mehrere Tamburine, ein Xylophon, Metallophone, Klangstäbe, ein Becken und Röhrenglocken. Ich habe daher noch ein Schlagzeug, eine zweite Gitarre und einen E-Baß mitgebracht. Im Vergleich zur Minimal – Ausstattung, die ich in Kapitel 3.5.1 beschrieben habe, sind dies nur wenige Musikinstrumente. Für die Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten muß ohnehin die Anzahl der Musikinstrumente begrenzt werden und es hat sich gezeigt, daß auch mit dieser vergleichsweise geringen Auswahl an Musikinstrumenten sinnvoll gearbeitet werden kann. www.foepaed.net 51 Da auch der Therapeut zum Setting gehört, beschreibe ich kurz, welche Vorerfahrungen ich zu Beginn meiner Arbeit hatte. Das Gitarrenspielen habe ich mir selber beigebracht und während meiner Schulzeit in der Jugendarbeit eingesetzt. Mit 16 Jahren habe ich angefangen, in einer Band Baß zu spielen. Da ich das Fach Musik nicht studiert habe, hatte ich vor der Beschäftigung mit dem Thema meiner wissenschaftlichen Hausarbeit nur im Rahmen des Studiums am HPI von Musiktherapie gehört, war aber sehr am Einsatz von Musik in der Sonderpädagogik interessiert. Dieses Interesse liegt zum Teil auch in den Erfahrungen während meines Zivildienstes begründet. In dieser Zeit habe ich hauptsächlich mit einem Jungen mit autistischem Verhalten gearbeitet und dabei auch das Medium Musik eingesetzt. Vor meiner praktischen Arbeit habe ich verschiedene Bücher zum Thema „Musiktherapie“ gelesen, mich mit einer Musiktherapeutin unterhalten und mir einige Förderungen auf Video angesehen. 4.3 Beschreibung der Kinder 4.3.1 Kind A A ist ein 17jähriger Junge mit autistischem Verhalten. Seine Mutter erzieht A, der keine Geschwister hat, allein. Er ist seit einem Jahr in seiner jetzigen Klasse und gut in die Klassengemeinschaft integriert. Sein Klassenlehrer ist sehr um A bemüht, hat aber nicht immer genügend Zeit, sich mit A so zu beschäftigen, wie er gerne möchte. A war als Kind sehr an Musik interessiert, hat in letzter Zeit allerdings nur wenig Gelegenheit gehabt, zu musizieren. Seit dem Eintritt in die Pubertät ist sein Verhalten problematischer geworden. A zeigt lediglich im Zusammenhang mit Süßigkeiten Eigeninitiative. Wenn er über durch die Schule oder über den Hof gehen soll, muß ihn jemand an die Hand nehmen. Im allgemeinen fordert er dann einen Lehrer dazu auf. Motorik A ist körperlich seinem Alter entsprechend entwickelt. Die motorische Entwicklung ist insgesamt als auffällig zu bezeichnen. Seine Bewegungen erscheinen sehr hypoton, und es zeigen sich Schwächen im Krafteinsatz. Im allgemeinen sind seine grobmotorischen Fähigkeiten jedoch besser als der allgemeine motorische Entwicklungsstand. www.foepaed.net 52 Dies zeigt sich im Sportunterricht beim Werfen, Fangen und Balancieren auf Kästen und Bänken. Seine Leistungen im Sportunterricht sind vor allem durch die sozialen und motivationalen Beeinträchtigungen beeinflußt. Besonders geschickt ist er beim Radfahren und Rollschuhlaufen. Sehr auffällig ist auch As Gang. Häufig geht er federnd und nur auf den Ballen. As feinmotorische Fähigkeiten sind im Vergleich zu den grobmotorischen wesentlich schwächer. Beim Schneiden und Kleben hat er große Schwierigkeiten. Wahrnehmung Bei As Wahrnehmung fällt besonders das häufige Zurückziehen auf die nahen Sinne wie Tasten und Lecken auf. Dieses Verhalten zeigt A immer, wenn er verunsichert ist. Dann klopft er meist Personen und die Ecken von Tischen mit dem Mittelfinger ab oder beleckt Türen und Stühle. Dieses Zurückziehen auf die nahen Sinne ist vermutlich durch Probleme bei der Wahrnehmungsverarbeitung zu erklären. A scheint Schwierigkeiten zu haben, Zeit richtig wahrzunehmen und Ereignisse zeitlich zu ordnen. Der Ablauf der Woche beschäftigt ihn sehr viel und er fragt häufig nach, was morgen, übermorgen oder nächste Woche passiert. Kommunikation As sprachliche Fähigkeiten sind nicht dem Alter entsprechend entwickelt. Er kann die Äußerungen von anderen Personen verstehen und auf sie reagieren. Auch der aktive Wortschatz ist dem Alter entsprechend. Auffälligkeiten zeigen sich allerdings im Satzbau. A verwendet zum Teil Zwei-Wort-Sätze und eigene Wortschöpfungen. Es zeigen sich auch für Menschen mit autistischem Verhalten typische Auffälligkeiten, wie pronominale Umkehr und Echolalie. A verwendet Sprache häufig in stereotyper Weise. Dabei benutzt er meist immer wiederkehrende Floskeln, die von aktuellen Ereignissen handeln. As Stimme ist in für den Autismus typischer Weise auffällig. Am Satzende hebt er die Stimme in immer gleicher Weise an, als würde er eine Frage stellen. Insgesamt ist seine Stimme sehr hoch und singend. Im Bereich der Mimik und Gestik fällt auf, daß A in Situationen, in denen er seine Mitmenschen verärgert, anfängt zu lächeln. As Lehrer meint, daß er die entsprechende Person in diesen Momenten bewußt provoziert und sich auf die bekannte Reaktion freut. Unter Umständen freut er sich, weil er nur in diesen Situationen die Reaktionen seiner Umwelt sicher voraussagen kann. www.foepaed.net 53 Sozialverhalten As Sozialverhalten ist für einen Menschen mit autistischem Verhalten sehr ungewöhnlich. Er hat große Freude an Gesprächen mit den Personen aus seinem Umfeld. Dabei handelt es sich allerdings meist um sprachliche Interaktionen, die als stereotyp bezeichnet werden können. Er wiederholt immer dieselben Fragen, die häufig etwas mit aktuellen Ereignissen zu tun haben. Es scheint so, als würde er seine Gesprächspartner nur in seine sprachlichen Stereotypien einbeziehen und nicht im eigentlichen Sinne eine Kommunikation suchen. Seine Kontakte sind größtenteils auf die erwachsenen Personen aus seinem Umfeld begrenzt. In diesem Schuljahr hat A begonnen, Kontakt zu seinen Mitschülern zu suchen. Auch der Umgang mit seinen Klassenkameraden erscheint stereotyp. Während der Pausen steht A meistens auf dem Schulhof und beobachtet die anderen Kinder. Er steht immer in derselben Ecke des Pausenhofes. Von sich aus sucht er keinen Kontakt zu seinen Mitschülern, die sich aber von Zeit zu Zeit ihrerseits mit A beschäftigen. Diesen Kontakt kann A gut zulassen. Stereotypes Verhalten Bei A sind verschiedene Arten von stereotypem Verhalten zu beobachten. Die sprachlichen Stereotypien und das Abklopfen seiner Umgebung mit dem Mittelfinger habe ich bereits erwähnt. Die meisten Stereotypien haben den Charakter von Ritualen, die immer in gleicher Form wiederholt werden müssen. Geht As Umwelt nicht auf diese Rituale ein, reagiert er mit Wutausbrüchen, Weinen und Schreien. Das Abweichen von Ritualen scheint bei A körperliche Schmerzen zu verursachen. Er schreit teilweise bei seinen Wutausbrüchen sehr laut und schrill: „Aua!“ 4.3.2 Kind B B ist ein 10jähriger Junge mit autistischem Verhalten. Seine Mutter erzieht B, der auch keine Geschwister hat, allein. Er ist seit 2 Jahren in seiner jetzigen Klasse und gut in die Klassengemeinschaft integriert. Kontakt kann er nur schwer zulassen. Seine Klassenlehrerin hat ein gutes Verhältnis zu ihm. Auch A ist sehr an Musik interessiert. Im Rahmen des Klassenunterrichts hat er viel Freude, wenn Lieder mit Gitarrenbegleitung gesungen werden. Er verhält sich dabei aber meist passiv und hört zu. www.foepaed.net 54 Motorik B ist körperlich seinem Alter entsprechend entwickelt. Motorische Auffälligkeiten sind nicht zu beobachten. Im Sportunterricht zeigen sich vor allem aufgrund der fehlenden Motivation Probleme. Im letzten Schuljahr wurde vor allem das Hin- und Herrollen von Bällen geübt. Das Radfahren hat B im letzten Jahr gelernt, und in den Pausen fährt er gerne auf dem Schulhof. Besonderes Geschick hat B beim stereotypen Kreisenlassen von runden Gegenständen entwickelt. Wahrnehmung Bs Wahrnehmung erscheint unauffällig. Aufgrund der großen Einschränkungen im Kontakt zu andern läßt sich dies allerdings nur schwer beurteilen. Kommunikation Die sprachlichen Fähigkeiten von B sind nicht seinem Alter entsprechend. Er verwendet lediglich Ein- und Zwei-Wort-Sätze. Sein passiver Wortschatz hingegen ist seinem Alter gemäß entwickelt. B versteht die sprachlichen Äußerungen seiner Umwelt, reagiert aber nicht immer entsprechend. Auch B zeigt die für die autistischen Störungen typische Echolalie und pronominale Umkehr. Er setzt Sprache nur selten als Kommunikationsmittel ein. Lediglich beim Fragen nach den von ihm für seine Stereotypien bevorzugten Gummihandschuhen hat seine Sprache eine kommunikative Absicht. Gestik und Mimik sind unauffällig. Seine Stimme klingt monoton und singend. Er hebt seine Stimme meistens in der Mitte einer Äußerung an und senkt sie dann am Ende. Sozialverhalten B zieht sich häufig von der Klassengemeinschaft zurück, indem er im Klassenraum eine eigene Ecken aufsucht. Dort hantiert er dann mit Gegenständen, die vorzugsweise aus Gummi sind. An Kontakten zu seinen Mitschülern oder den Lehrern hat er nur sehr wenig Interesse. Von Zeit zu Zeit sucht er allerdings die Nähe von Erwachsenen, die ihm dann auf den Rücken klopfen sollen. Kontakte zwischen B und seinen Mitschülern gehen immer von den Klassenkameraden aus, die durchaus an ihm interessiert sind. B nimmt nicht von sich aus am Unterrichtsgeschehen teil. Er ist nicht von sich aus motiviert und benötigt immer intensiven Zuspruch, damit er sich auf gemeinsame Vorhaben konzentrieren kann. Es kommt häufig vor, daß er die Mitarbeit völlig verweigert. Bei längerer Belastung neigt B zum Weinen und Schreien. www.foepaed.net 55 In den Pausen spielt er nicht mit den anderen Kindern. Meist sitzt er allein auf einer Bank und wartet bis die Pause vorbei ist. Die Lehrer haben in diesem Schuljahr begonnen, ihm in den Pausen das Fahrrad als Beschäftigung anzubieten. Stereotypes Verhalten Wenn sich B während des Unterricht von der Klasse zurückzieht, liegt er häufig auf dem Boden und lautiert zu Schaukelbewegungen des Oberkörpers. Häufig bewegt er auch Gegenstände aus Gummi, meist Gummihandschuhe, vor seinen Augen und Ohren. Da er bei dieser Tätigkeit kaum ansprechbar ist, wird ihm das Hantieren mit den Gummihandschuhe nur nach erledigter Arbeit erlaubt. Des weiteren kreiselt B gerne mit runden Gegenständen, wie z.B. Deckeln von Marmeladengläsern. Wie schon erwähnt zeigen sich bei B auch sprachliche Stereotypien. 4.4 Die Förderung Da ich A bereits aus meinem Praktikum kannte, habe ich gleich mit der Musiktherapie begonnen. Um B besser einschätzen zu können und einen ersten Kontakt aufzubauen, hospitierte ich zunächst einige Stunden in seiner Klasse. In Anlehnung an die Therapie von ALVIN (siehe Kapitel 3.7) gab ich den Kindern zu Beginn er Therapie die Möglichkeit, die Musikinstrumente zu erkunden. Ich habe ihnen zunächst alle Instrumente vorgestellt und sie aufgefordert, diese dann selber auszuprobieren. Meine Arbeit war vor allem erlebniszentriert mit einem geringen übungszentrierten Anteil. Da die Störung der zwischenmenschlichen sozialen Beziehungen für die Probleme von Menschen mit autistischem Verhalten zentral anzusehen sind (siehe Kapitel 2.3), stehen sie auch im Zentrum meiner musiktherapeutischen Arbeit. Ziel meiner therapeutischen Arbeit war demnach die Herstellung und Vertiefung des Kontakts zu den Kindern mit Hilfe der Musik als nonverbales Kommunikationsmittel (vgl. auch ALVIN und SCHUMACHER Kapitel 3.7). Durch das gemeinsame Musizieren sollte den Kinder die Möglichkeit gegeben werden, intensive soziale Erfahrungen zu machen. www.foepaed.net 56 4.4.1 Förderung von Kind A A kannte ich bereits aus meinem Praktikum. Gerade während des Schwimmunterrichts hatte ich viel Zeit und Gelegenheit, mich mit ihm allein zu beschäftigen. Daher habe ich meine musiktherapeutische Arbeit mit A begonnen und nicht mit B. Um die für A neue und ungewohnte Situation zu erleichtern, beschlossen der Klassenlehrer und ich, daß ich den täglichen Toilettengang, der vor der Therapiezeit liegt, an den Therapietagen übernehmen sollte. Dazu ging ich mit A auf eine andere Toilette als sonst. Diese Toilette liegt direkt neben dem Psychomotorikraum und A kannte sie vorher noch nicht. Dadurch sollte A ein deutliches Signal erhalten, daß an den entsprechenden Tagen etwas anderes passierte. Der Wechsel im Tagesablauf war für A zunächst ein Problem, das sich aber bereits nach zwei Wochen als nicht weniger schwerwiegend zeigte. Während der ersten zwei Wochen war bei A keine Reaktion auf die von mir gespielte Musik zu beobachten. Zunächst blieb er an der Tür stehen, griff nicht aktiv in den musikalischen Prozeß ein. Er schien aber aufmerksam zuzuhören. Bereits in der dritten Therapiestunde zeigte sich eine Reaktion, die ich aufgreifen konnte. A tippte mit einem Finger im Rhythmus der Musik auf seinen Stuhl. Ich vermutete, daß A besonders am Rhythmus der Musik und an Rhythmusinstrumenten interessiert sein könnte und stellte das Schlagzeug vor seinen Stuhl. Er fing spontan an, darauf zu spielen. Am Ende dieser Stunde war As Klassenlehrer sehr überrascht, wie gut und ausdauernd A mitmachte. Um zu kontrollieren, ob das Schlagzeug auch von A selbst bevorzugen würde, stellte ich es in der folgenden Therapiestunde in eine andere Ecke des Raum. Als A dann in den Raum kam, lächelte er kurz, ging dann direkt zum Schlagzeug und setzte sich hin. As Spiel war zu Beginn der Therapie sehr monoton, ungleichmäßig und er spielte mit nur einer Hand. Die andere Hand hatte er auf seinem Schoß. Nach kurzer Zeit war sein Rhythmus wesentlich gleichmäßiger, aber weiterhin monoton. Während A Schlagzeug spielte, habe ich ihn auf der Gitarre oder dem Baß begleitet. Im Verlauf der Therapie zeigte sich, daß A den Baß zur Begleitung seiner Musik bevorzugte. Er spielte dann ausdauernder und lauter. Zu Beginn einer Therapiestunde, als A bereits am Schlagzeug saß, sagte er, ich solle das „Rot-Schwarze“ nehmen. Da mein Baß schwarz ist und einen schwarz-roten Gurt hat, meinte er vermutlich, daß ich ihn auf dem Baß begleiten sollte. www.foepaed.net 57 Ich bot ihm immer wieder andere Musikinstrumente an, die er aber zunächst immer verweigerte. Erst in der vorletzten Therapiestunde fing A an, auch auf dem Klavier zu spielen. Dazu mußte ich allerdings zunächst allein beginnen, bis er dann von sich aus aufstand und zusammen mit mir spielte. In der vierten Therapiestunde kam es zu einem sehr intensiven Kontakt zwischen uns. Zu Beginn der Stunde begleitete ich A auf der Gitarre. A spielte dabei eintönig und unterbrach sein Musizieren oft. Er spielte aber plötzlich sehr abwechslungsreich, nachdem ich die Gitarre gegen den Baß tauschte. Er schlug z.B. ungewöhnlich laut und schnell auf das Becken. Diesen Impuls versuchte ich, durch schnelle und unruhige Baßläufe widerzuspiegeln und zu unterstützen (imitating / reflecting). Als A sich dann offensichtlich wieder beruhigt hatte, spielte er wesentlich leiser und gleichmäßiger auf der Snaredrum und den Röhrenglocken. Diese Stimmung habe ich versucht, auf dem Baß durch ruhige und tiefe Töne nachzuahmen. Am Ende dieser Stunde wirkte A sehr ruhig und entspannt. As Verhalten am Ende einer Therapiestunde war auch im allgemeinen verändert. So konnte er schon nach kurzer Zeit allein ohne die sonst übliche Unterstützung eines Erwachsenen auf den Hof und zum Bus gehen. Er konnte nach der Therapie auf einige Rituale auf dem Weg zum Bus verzichten und wirkte insgesamt wesentlich entspannter als vorher. Die Therapie war für A eine wichtige und freudige Abwechslung im Schulalltag. Er ging gerne mit mir in den Therapieraum und zeigte nie Angst oder Unmut. Als ich ihm in der letzten Therapiestunde sagte, daß wir keine Musik mehr machen würden, war er anscheinend sehr traurig. Er fragte immer wieder nach, ob wir denn nicht in der nächsten oder übernächsten Woche oder nach den Ferien Musik machen wollen. 4.4.2 Förderung von Kind B Der Verlauf der Förderung von Kind B unterschied sich stark vom Verlauf der Arbeit mit Kind A. Ich kannte B vor dem Beginn meiner praktischen Arbeit für meine wissenschaftliche Hausarbeit noch nicht. Daher wollte ich eigentlich einige Stunden in seiner Klasse hospitieren, damit ich ihn besser einschätzen und er sich an mich gewöhnen konnte. www.foepaed.net 58 In der zweiten Stunde, in der ich in Bs Klasse hospitierte, verweigerte er die Mitarbeit im Unterricht. Daher entschied ich spontan, mit B in den Therapieraum zu gehen, der für die Therapie mit A schon vorbereitet war. In dieser Stunde zog sich B, gleich als er in den Therapieraum kam, in die Höhle auf der linken Seite des Raumes zurück. Er hörte mir lange beim Spielen auf der Gitarre zu bis er aus der Höhle kam und das Schlagzeug sehr vorsichtig betastete. Es folgten dann viele Stunden, in denen ich keine Reaktionen von B beobachtete, die ich hätte aufgreifen können. In der siebten Therapiestunde ordnete ich die Musikinstrumente auf einer Bodenmatte in der Mitte des Raums an, damit ich B besser beobachten und gegebenenfalls auf ihn reagieren konnte. B setzte sich gleich zu Beginn der Stunde zu mir auf die Matte und hörte mir konzentriert zu. Er unterbrach zeitweise sein stereotypes Wedeln mit dem Gummihandschuh und juchzte. Als ich diese Juchzen mit der Musik aufgriff und imitierte, war wieder keine Reaktion zu beobachten. In dieser Stunde konnte ich bei B ein Verhalten beobachten, das er später noch öfter zeigte. Nach einer Phase eines sehr intensiven Kontakts, in der er mir lange und konzentriert zuhörte, zog er sich zurück. Diese Verhalten zeigte mir, daß ich B zu nahe gekommen in. Daher beschloß ich, den Wunsch nach Distanz – im Sinne des Ausbalancierens von Nähe und Distanz (vgl. Schumacher Kapitel 3.7) - zu respektieren. So habe ich diese Stunde, da sie ohnehin fast vorbei war, beendet. Nach dem Umzug in die Aula aufgrund von Renovierungsarbeiten, veränderte sich Bs Verhalten. Zunächst war er sehr verwirrt. Dann fand er in dem Stuhllager, das sich an die Aula anschloß, einen Metalldeckel, den er kreiseln lassen konnte. Er lief damit durch den Raum, warf den Deckel durch die Luft und hockte sich von Zeit zu Zeit auf den Boden, um den Deckel kreiseln zu lassen. Das Kreiseln und Werfen des Metalldeckels sowie Bs Laufen durch den Raum versuchte ich musikalisch aufzugreifen (vgl. SCHUMACHER Kapitel 3.7). B reagierte zunächst nicht auf mein Spielen. Dann ließ er seinen Metalldeckel liegen, ging zum Schlagzeug und betastete es vorsichtig. Als ich ihm einen Stick in die Hand gab und anfing auf dem Becken zu spielen, ging er weg und untersuchte den Baß. Erst als er das Klavier ausprobierte, fing er kurz an zu Spielen und zog sich danach in einen Nebenraum zurück. www.foepaed.net 59 Nach diesen ersten vorsichtigen Kontaktaufnahmen zu den Musikinstrumenten griff B in der letzten Stunde das erstemal aktiv in den musikalischen Prozeß ein. In dieser Stunde untersuchte er zunächst vorsichtig die Instrumente. Dann lief er durch die Aula und juchzte dabei sehr laut. Als ich sein Juchzen dann aufgriff und mit der Gitarre begleitete, stellte sich B vor mich, sprang auf und ab und juchzte dabei sehr begeistert. Nachdem wir so sehr lange zusammen gesungen haben, zog sich B wieder zurück, zog sich selber die Schuhe an und verließ den Raum. Insgesamt hatte ich den Eindruck, daß B immer gerne an der Therapie teilnahm. Er zeigte nie Angst und verzichtete einmal sogar auf ein Stück Kuchen, um gleich mit mir nach oben zu laufen. Auf dem Weg in den Therapieraum lief er wie immer voraus, um sich dann in eine Ecke zurückzuziehen und der Musik zuzuhören. Daß B wesentlich später als A auf meine Kontaktangebote reagiert hat, liegt vermutlich daran, daß wir uns vor Beginn der Therapie nicht kannten. 4.5 Beurteilung der Therapie Am Anfang meiner Arbeit tendierte ich dazu, die Therapie mit A, aufgrund der frühen Erfolge, als besonders erfolgreich zu beurteilen. Es zeigte sich aber, daß sich der musikalische Prozeß in der Musiktherapie mit A zunächst kaum weiterentwickelte. Erst am Ende meiner praktischen Arbeit konnte man größere Veränderungen in As Verhalten während der Therapie beobachten. Der scheinbare Stillstand im therapeutischen Prozeß kann aber auch auf mein vorschnelles Vorgehen zu Beginn der Arbeit mit A zurückgeführt werden. Aufgrund meiner fehlenden Erfahrung habe ich nicht abgewartet bis A von sich aus Kontakt zu den Instrumenten suchte, sondern habe ihm das Schlagzeug direkt angeboten. Besser wäre es gewesen, auf As Initiative zu warten und ihm in der Zwischenzeit auf verschiedenen Instrumenten musikalische Kontaktangebote zu machen. B hingegen reagiert lange Zeit kaum auf die Musik. Er griff nicht aktiv in den musikalischen Prozeß ein, sondern hörte nur zeitweise konzentriert zu. Zu Beginn der Förderung schien er mich, die Musik und die Instrumente in der meisten Zeit zu ignorieren. Erst in den letzten beiden Stunden reagierte er beobachtbar. www.foepaed.net 60 Es zeigt sich also, daß die sehr unterschiedlichen Verläufe der Förderungen schwer zu vergleichen sind. Weil ich A schon kannte, war der Kontakt zwischen uns schon zu Beginn von anderer Qualität als der zwischen B und mir. Da sich im Verlauf beider Therapien Fortschritte ergaben, würde ich beide Förderungen als erfolgreich bezeichnen. Eine qualitative Bewertung erscheint mir aufgrund der sehr komplexen Prozesse nicht sinnvoll. Beide Jungen hatten an der musiktherapeutischen Arbeit große Freude. Sie sind immer gerne mit mir in den Therapieraum gekommen und haben ihren Möglichkeiten und der Therapiesituation entsprechend reagiert und Fortschritte gemacht. Beide haben offenbar intensive soziale Erfahrungen gemacht. Sie konnten sich aber auch jederzeit zurückziehen. Bei der Förderung vom Menschen mit autistischem Verhalten ist es sehr wichtig, soziale Erfahrungen zu ermöglichen, aber auch Rückzüge des Klienten zu akzeptieren. Da Fortschritte nur sehr langsam zu erwarten sind, muß der Therapeut sehr geduldig und vorsichtig vorgehen. Drängt man den Klienten zum Mitmachen, kann sich sein zurückziehendes Verhalten verstärken. Die musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten ist wie erwähnt sehr langwierig. Daher war nicht zu erwarten, daß sich während der kurzen Therapiedauer im Verhalten der beiden Jungen größere Veränderungen ergeben. Bei beiden Jungen haben sich aber am Ende meiner praktischen Arbeit Änderungen im Verhalten während der Therapie ergeben, die vermuten lassen, daß bei einer wesentlich längeren Förderungsdauer größere Erfolge möglich wären. Bezüglich des Settings haben sich interessante Ergebnisse ergeben. Der Umzug in die Aula hat in beiden Förderungen zu positiven Veränderungen geführt. Vor allem das Verhalten von B hat sich stark in der Aula verändert. Aufgrund des größeren Raums konnte B den Abstand zu mir und zur Musik besser variieren und sich dadurch besser auf die neue Situation einlassen. Diese Beobachtung zeigt, daß der Raum für die musiktherapeutische Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten größer sein sollte, als von BENENZON in Kapitel 3.5.1 gefordert. Da ich keine professionelle musikalische Ausbildung habe, sind meine Möglichkeiten, Musik einzusetzen, durchaus begrenzt. Trotzdem konnte ich mit dem Medium Musik zu den Kindern eine gute Beziehung herstellen, die offensichtlich von beiden mit positiven Gefühlen verbunden wurden. www.foepaed.net 61 Schon die Tatsache, daß beide Jungen an der Therapie viel Freude hatten, spricht für einen Einsatz der Musik bei der Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten. Bei Kindern, die wie A nur sehr wenige Interessen haben, bietet die musiktherapeutische Arbeit eine gute Möglichkeit, neue Interessen zu wecken und Eigeninitiative zu fördern. Für meine praktische Arbeit waren meine Erfahrungen die ich beim Spielen in meiner Band gesammelt habe, sehr hilfreich. Dabei konnte ich lernen, spontan auf das Musizieren anderer zu reagieren. Während der musiktherapeutischen Arbeit habe ich allerdings häufig bemerkt, daß mir teilweise die musikalischen Möglichkeiten fehlten, um mich den Anforderungen entsprechend auf den Instrumenten auszudrücken. Um effektiver und sicherer mit der musiktherapeutischen Situation umgehen zu können, ist eine professionelle Ausbildung an einem oder besser noch mehreren Instrumenten durchaus sinnvoll. Für eine anschließende Bearbeitung konkreter Probleme fehlt mir zudem die entsprechende Ausbildung. Die konfliktzentrierte Therapie von behinderten Menschen sollte meiner Meinung nach immer von professionell ausgebildeten Musiktherapeuten durchgeführt werden. www.foepaed.net 62 5. Schlußbetrachtung Da die Ursachen der autistischen Störung nicht endgültig geklärt sind, gibt es keine Therapie, die für jeden Menschen mit autistischem Verhalten die richtige wäre. Die verschiedenen Erklärungshypothesen geben Hinweise für verschiedene Arten der Therapie, die aber immer auf die individuellen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Probleme des einzelnen Menschen mit autistischem Verhalten ausgerichtet werden müssen. Dabei sollte man sich nicht auf eine bestimmte Therapieform beschränken, sondern versuchen, mehrere Ansätze so zu verbinden, daß sie eine möglichst umfassende Förderung ergeben. Für die Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten läßt sich die Musiktherapie vor allem zur Förderung der sozialen Entwicklung einsetzen. Auf musikalischer Ebene können die Kinder soziale Erfahrungen erleben, die sie in anderen Bereichen nicht oder nur eingeschränkt machen können. Die Musiktherapie kann bei Menschen mit autistischem Verhalten elementare Grundlagen schaffen, die in Verbindung mit anderen Formen der Förderung die weitere Entwicklung positiv beeinflussen. Da Menschen mit autistischem Verhalten häufig an Musik interessiert sind, kann Musik im Sinne des therapeutischen Musizierens als Freizeitbeschäftigung eingesetzt werden. Die Kinder haben im allgemeinen viel Freude am Musizieren und können dadurch neue Interessen und mehr Eigeninitiative entwickeln. Das Musizieren kann so für diese Menschen ein erfüllenden Teil des Lebens sein. Für mich war bei der Wahl des Themas meiner wissenschaftlichen Hausarbeit von besonderem Interesse, welche musikalischen Kompetenzen beim Therapeuten vorauszusetzen sind. Durch meine praktische Arbeit hat sich gezeigt, daß sich das Medium Musik auch mit eingeschränkten musikalischen Kompetenzen bei der Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten sinnvoll einsetzen läßt. Mit meiner musiktherapeutischen Arbeit an der Ellerbecker Schule bin ich sehr zufrieden. Bevor ich mich mit dem Thema Musiktherapie beschäftigt habe, hatte ich nur eine vage Vorstellung von der Arbeitsweise und den Möglichkeiten der musiktherapeutischen Förderung von Menschen mit autistischem Verhalten. Durch die Beschäftigung mit der entsprechenden Literatur und meine praktische Arbeit habe ich einen guten Einblick erhalten und denke, daß ich Musik auch später in meiner eigenen Klasse einsetzen werde. www.foepaed.net 63 6. 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Als wir in den Psychomotorikraum (Therapieraum) kommen, ist schon ein großer Teil der zweiten Stunde, in der die Musiktherapie stattfinden soll, vergangen. Da A an der Tür stehen bleibt und nicht weiter in den Raum kommen möchte, spiele ich ihm auf der Gitarre einige Lieder vor und improvisiere ein wenig. A reagiert kaum, scheint aber zuzuhören, denn er schaut mich an. Er unterbricht mich häufig und redet viel. Dabei verwendet er die Sprache stereotyp. Folgerungen für die nächste Stunde: - Dauert es wieder so lange – Toilettengang weglassen - Instrumente vorstellen und zum mitspielen anregen Therapiesitzung am 30.4.99 A kommt heute ohne Widerwillen mit nach oben. Auch der Toilettengang läuft ohne größere Probleme ab. A scheint sich zu freuen und fragt öfter ob wir wieder Musik machen wollen. Er möchte in die Aule (As Klassenlehrer hatte beim erstenmal angekündigt, wir würden in die Aula gehen und Musik machen). Als ich dann mit in die Aula gehen will, zieht mich in Richtung Psychomotorikraum und meint wir sollen Musik machen. A bleibt wieder zunächst an der Tür stehen. Ich fange an, A die Instrumente vorzustellen und ihm verschiedene Melodien darauf vorzuspielen. A unterbricht mich wieder häufig und redet www.foepaed.net 68 mit mir. Dabei handelt es sich wieder um die üblichen stereotypen Frage-AntwortGespräche. Auf die Musik reagiert er anscheinend nicht. Am Ende der Stunde, als ich gerade auf der Gitarre spiele, kommt er aber in den Raum, setzt sich auf einen Stuhl, der weit von den Instrumenten an einem Tisch steht und hört mir zu. Folgerungen für die nächste Stunde: - Weiter Musik vorspielen - Reaktionen genau beobachten - ggf. auf Kontaktangebote reagieren Therapiesitzung am 7.5.99 A kommt in den Raum und setzt sich auf einen Stuhl, der an keinem Instrument steht. Das Xylophon ist das nächste Instrument und ca. eine Armlänge von ihm entfernt. Er klopft einmal vorsichtig darauf, ignoriert die anderen Instrumente aber völlig. Er redet viel, gebraucht die Sprache wieder hauptsächlich stereotyp. Als ich anfange, ihm auf dem Baß Musik vorzuspielen, fängt A an, auf dem Stuhl in einem zur Musik passenden Rhythmus zu klopfen. Wenn die Musik abbricht, hört er auch auf zu klopfen. Nach einiger Zeit wird A ruhiger und spricht nur noch sehr wenig. Wenn mein Spiel sehr rhythmisch wird, lächelt er. Ich schließe daraus, daß A sehr am Rhythmus der Musik interessiert ist und gebe ihm ein Konga. Da ihm anscheinend dessen Kläng nicht gefällt, stelle die Tom vor seinen Stuhl. A fängt spontan an, passend zu der Musik, die ich auf der Gitarre spiele, auf der Tom einen Rhythmus mitzuspielen. Da er begeistert bei der Sache ist, stelle ich auch die Snare und das Becken dazu. A ist vom Klang des Beckens sehr fasziniert. Er schlägt sehr schnell und kräftig auf das Becken, hält sich aber mit der Schulter das Ohr zu. Nachdem geklärt ist, welches Instrument A interessiert, improvisieren wir gemeinsam. Am Anfang ist As Rhythmus noch sehr ungleichmäßig. Nach einiger Zeit wird das aber besser, so daß das gemeinsame Spielen uns beiden viel Spaß macht. A benutzt nur die linke Hand zum Spielen. Als ich A auf den Pausenhof bringe, fragt sein Klassenlehrer nur, ob ich gleichzeitig Schlagzeug und Baß spielen könne. Er sei total überrascht, wie gut A mitgemacht habe. www.foepaed.net 69 Folgerungen für die nächste Stunde: - versuchen, Kommunikation zu initiieren - Schlagzeug nach hinten stellen, um zu kontrollieren, ob A es wirklich bevorzugt Therapiesitzung am 21.5.99 Als A in den Raum kommt und das Schlagzeug sieht, lächelt er und geht spontan darauf zu. Er sagt wieder, daß er in die Aula möchte. Weil das Klavier in der Aula steht, frage ich ihn, ob er Klavier spielen möchte. A möchte nicht, geht zum Schlagzeug und setzt sich spontan hin (Schlagzeug am anderen Ende des Raums). Die Sticks gebe ich ihm in die Hände und er fängt von sich aus an zu spielen. Ich beginne, auf der Gitarre zu spielen. A spielt begeistert mit. Sein Rhythmus ist sehr eintönig. Beim Spielen kommt es zunächst zu keiner Kommunikation. Ich wechsle das Instrument und nehme den Baß. Wenn A auf dem Becken spielt, spiele ich eine tiefe, schnelle und rhythmische Begleitung. Spielt er auf Tom und Snare einen Rhythmus, so reagiere ich mit rhythmischen Baßläufen. Beim Anschlagen der „Röhrenglocken“ spiele ich hohe, eher schwebende Melodien. Dann fängt A plötzlich an, sehr laut und schnell auf das Becken einzuschlagen. Davon lasse ich mich inspirieren und improvisiere sehr laut und unruhig auf dem Baß. A wird nach einigen Minuten wieder ruhiger und spielt auf den „Röhrenglocken“. A unterbricht das Spiel öfter und spricht sehr langsam und ruhig mit mir. Zum Abschluß spielen wir noch sehr entspannte und rhythmische Musik, wobei A sein Schlagzeugspiel durch Schlagen auf den Rand der Trommeln und durch vereinzelten Einsatz des Beckens variiert. Als ich sage, daß die Zeit vorbei ist, will A zunächst nicht aufhören. Ich muß ihm die Sticks aus der Hand nehmen, was er sich ohne weiteres gefallen läßt. Er steht nach Aufforderung selbständig auf und geht mit mir (ohne zu ziehen) auf den Pausenhof. Folgerungen für die nächste Stunde: - die Kommunikation von Baß und Schlagzeug weiterführen - probieren, mit A zusammen Schlagzeug spielen Erweiterung seines Rhythmus Repertoires - auf das Schlagzeug beschränken www.foepaed.net 70 Therapiesitzung am 28.5.99 Als A in den Raum kommt, geht er wieder direkt zum Schlagzeug. Als ich anfange an auf der Gitarre zu spielen steigt A von sich aus mit ein und spielt sehr monoton mit. Er variiert sein Spiel kaum und unterbricht es häufig, um sich mit mir zu unterhalten. Ich spiegle seinen eintönigen Rhythmus durch sehr einfache und monotone Baßläufe wieder. Es sind bei A keine Reaktionen erkennbar. Wir haben bis zum Ende der Stunde zusammen musiziert, es waren aber keine Impulse von A wahrnehmbar. Folgerungen für die nächste Stunde: - andere Instrumente anbieten Therapiesitzung am 4.6.99 A freut sich als er mich sieht und fragt gleich, ob wir wieder Musik machen wollen. Da in unserem Raum heute eine andere Veranstaltung ist, gehe ich mit A nach draußen. Damit scheint er keine Probleme zu haben. Wir setzen uns mit Gitarre und Handtrommel in den Garten, und ich fange an, Gitarre zu spielen. A geht nicht auf das Angebot ein. Da A das Spielen und das gute Wetter zu genießen scheint, spiele ich weiter und dränge ihn zum Mitspielen. Sein Verhalten nach der Stunde hat sich nicht beobachtbar verändert. Therapiesitzung am 11.6.99 A freut sich, mich zu sehen und fragt, ob wir wieder Musik machen wollen. Er kommt sehr schnell mit nach oben. Da heute nach der Therapie Schulschluß ist, nehmen wir Jacke und Rucksack mit nach oben. Er zieht sich die Jacke schnell aus und geht selbständig in den Raum. An das Schlagzeug setzt er sich nicht selbst. Ich habe eine Gitarre auf E-Dur gestimmt, so daß man mit einem Finger und dem Bottleneck sehr leicht verschiedene Akkorde greifen kann. Als ich ihm die Gitarre zeige und frage, ob er probieren will darauf zu spielen, wehrt er ab und setzt sich an das Schlagzeug. Er zeigt auf meine Instrumente und fordert mich auf anzufangen. Daraufhin nehme ich meine Gitarre. A meint plötzlich, ich solle doch das Schwarz-Rote nehmen (mein Baß ist schwarz – der Baßgurt schwarzrot). Als ich den Baß in die Hand nehme, lächelt A mich an, und wir fangen an zu spielen. Das www.foepaed.net 71 eigentliche Spielen ist heute nicht so interessant. Ich versuche nur dann zu spielen, wenn die Initiative von A ausgeht. Dadurch kommt es zu langen Pausen, in denen A sich mit mir „unterhält“ (fragt immer wieder, ob wir nächste Woche Musik machen - und übernächste Woche). Sein Rhythmus ist schon etwas abwechslungsreicher geworden. („Bum Bum Batsch“ statt „Bum Batsch“) Er spielt anscheinend lauter als sonst. Ich kann ihn mit der Akustikgitarre nicht begleiten, weil sie im Vergleich zum Schlagzeug zu leise ist. Nach der Therapie legt A nach Aufforderung die Sticks selber weg und geht alleine aus dem Raum. Die Jacke zieht er sehr schnell an und fragt nach meiner Hand. Er zieht nicht an der Hand und geht sehr schnell die Treppe runter. Einige der täglichen Stereotypien auf dem Weg zum Bus kann er auslassen. Folgerungen für die nächste Stunde: - Spielregeln einführen (gemeinsames Anfangen und Aufhören) - Gitarre wieder anbieten - E-Gitarre ausprobieren Therapiesitzung am 18.6.99 In der Woche vom 14. Bis zum 19.6. findet an der Ellerbecker Schule die Projektwoche statt. Die Therapie mußte daher ausfallen. Therapiesitzung am 25.6.99 As Lehrer berichtete, daß A heute nicht gut drauf ist. Es dauert heute auch länger bis er mit nach oben in den Therapieraum kommt. Als A in den Raum kommt, geht er sofort zum Schlagzeug. Ich biete ihm die Gitarre zum Spielen an. Er lehnt ab und wir fangen an zu musizieren. A spielt heute sehr langsam und eintönig. Ich unterstütze seinen Rhythmus mit dem Baß und spiele auch immer wiederkehrende Motive. Er schlägt sehr lange und laut auf das Becken. Er wirkt sehr unkonzentriert, unterbricht häufig sein Schlagzeugspiel und unterhält sich dann mit mir. Nachdem wir einige Zeit Musik gemacht haben, schlage ich vor, daß wir gemeinsam mit dem Spielen anfangen. Dazu zähle ich zunächst an. A geht aber nur einmal darauf ein. www.foepaed.net 72 Um etwas Abwechslung in seinen Rhythmus zu bringen, fordere ich A auf, etwas schneller zu spielen. Er geht darauf ein, spielt aber sehr ungleichmäßig. Insgesamt ist die heutige Sitzung nicht so intensiv wie sonst. Mit der E-Gitarre kann ich A am Schlagzeug begleiten – sie ist laut genug. Nach der Stunde will A nicht aufhören. Ich muß ihm die Sticks aus der Hand nehmen, was er nur mit Widerwillen zuläßt. A fragt nach meiner Hand als wir auf den Pausenhof gehen. Ich frage ihn, ob es ausreicht, wenn ich mitkomme, und A geht darauf selbständig auf den Hof. Folgerungen für die nächste Sitzung: - auf dem Schlagzeug andere Rhythmen anbieten Therapiestunde am 2.7.99 Da der Therapieraum renoviert wird, müssen wir von nun an in die Aula umziehen. A kommt heute wieder alleine in den Raum und setzte sich spontan ans Schlagzeug. Der Raumwechsel beschäftigt ihn vor der Stunde sehr. Er fragt immer wieder nach, in welchem Raum wir heute Musik machen. Als er in die Aula kommt, scheint ihm der Wechsel aber nichts mehr auszumachen. Heute ist A wieder besser bei der Sache. Er spielt ausdauernder als beim letzten Mal und unterbricht sein Spiel nur selten. Sein Rhythmus ist aber immer noch sehr eintönig. Nachdem wir einige Zeit zusammen gespielt haben, nehme ich mir eine Handtrommel und begleite ihn damit. Es scheint ihm zu gefallen, denn er lächelt viel und spielt sehr ausdauernd. Sein Rhythmus bleibt aber, obwohl ich ihm verschiedene Variationen vorspiele, eintönig. Gegen Ende der Stunde schlage ich vor, daß wir gemeinsam am Klavier spielen. A möchte zunächst nicht und sagt: „Nee gut !“. Als ich anfange zu spielen, kommt er aber doch, zeigt auf das Schlagzeug und meint, ich solle da spielen. Ich fange an zu spielen, A spielt aber sehr zögernd. Daher setze ich mich neben ihn und wir spielen zusammen. Es scheint ihm viel Spaß zu machen, denn er spielt sehr abwechslungsreich. Am Ende der Stunde fange ich an abzubauen und fordere ihn auf, nach unten auf den Hof zu gehen. A fragt, ob ich ihn an die Hand nehme. Darauf schlage ich vor, daß er alleine vorgeht und ich dann nachkomme. Als ich ihm dann folge, ist er bereits auf dem Hof. www.foepaed.net 73 Folgerungen für die nächste Stunde: - Der Ablauf war gut und hat A Spaß gemacht – beim nächsten Mal ähnlich gestalten Therapiesitzung am 9.7.99 Da heute auch die Aula besetzt ist, bleiben wir in As Klasse. Die Klasse ist heute ausnahmsweise frei, weil die anderen Kinder zum Rudern gefahren sind. Der erneute Raumwechsel ist für A sehr verwirrend. Daher dauert es auch lange bis wir endlich in der Klasse sind und anfangen können. Da ich A schon in der vorherigen Stunde erzählt hatte, daß wir heute zum letzten Mal Musik machen, fragt er ständig nach, wann wir denn wieder zusammen musizieren. Es ist für ihn anscheinend nur schwer zu akzeptieren, daß wir aufhören. A spielt heute sehr laut und bezieht auch den Rand der einzelnen Trommeln mit in sein Spiel ein. Er wirkt etwas abgelenkt, unterbricht häufig sein Spiel und fragt immer wieder, ob wir aufhören oder wann wir wieder Musik machen. Als ich ihn auf den Handtrommeln begleite, spielt er besonders begeistert mit und lächelt. Es scheint ihm auch zu gefallen, wenn ich mir seinen zweiten Stick nehme und zusammen mit ihm Schlagzeug spiele. Am Ende der Stunde, die heute nur ca. ½ Stunde lang war, hört er nur mit Widerwillen auf, geht dann aber selbständig auf den Pausenhof. www.foepaed.net 74 Therapie mit Kind B: Therapiesitzung am 30.4.99 Eigentlich war geplant, daß ich in dieser Stunde nur hospitiere und B im Unterricht beobachte. Da B aber keine Lust hat, am Unterricht teilzunehmen und er in diesem Fall jegliche Mitarbeit verweigert, gehe ich mit ihm spontan in den Therapieraum, wo schon alle Instrumente für A aufgebaut sind. B geht direkt zum Schlagzeug und klopft vorsichtig auf das Becken. Danach zieht er sich in eine Höhle zurück, die in diesem Raum steht, weil es sich um den Psychomotorikraum handelt. In dieser Höhle sitzt er sehr lange, hört aber anscheinend interessiert zu. Nach ca. 10 Minuten, ich spiele gerade Gitarre, kommt er aus der Höhle, setzt sich vor mich und hört aufmerksam zu. Dann steht er auf und setzt sich auf einen Stuhl, der ca. 2m von den Instrumenten entfernt ist und hört wieder nur aufmerksam zu. B steht auf und geht auf das Schlagzeug zu. Als er auf das Becken schlägt, fällt es herunter. Durch das sehr laute Scheppern erschrickt B, er setzt sich dann auf die Matte und nimmt zwei Schlegel vom Xylophon. Er spielt allerdings nicht auf dem Xylophon, sondern klopft mit den Schlegeln aufeinander. Folgerungen für die nächste Stunde: - wieder alle Instrumente anbieten - vorspielen und abwarten - fragen, ob er Angst vor dem Becken hat Therapiesitzung am 7.5.99 Weil der Raum in der letzten Stunde besetzt ist, muß die Therapie leider ausfallen. Therapiesitzung am 19.5.99 B kommt bereitwillig mit in den Therapieraum. Heute hat er seine Gummihandschuhe dabei und ist dadurch sehr abgelenkt. Er verkriecht sich sofort in die Höhle und ist mit Stereotypien beschäftigt. Auf die Musik geht er heute nicht ein. Er singt nicht mit, ignoriert mich und zeigt kein Interesse an der Musik. Einmal geht er durch den Raum und klopft www.foepaed.net 75 vorsichtig an das Becken. Die Frage, ob er wegen des letzten Mals Angst davor habe und ich das Becken wieder abbauen soll, verneint er. Ich spiele während der Therapiestunde auf Baß und Gitarre verschiedene Rhythmen und Melodien an und zwinge ihn nicht zum Mitmachen, sondern frage ihn immer wieder, ob er nicht mitmachen möchte. Er will nicht. Der Klang der Gitarre scheint ihm besonders zu gefallen. Wenn ich darauf spiele, unterbricht er häufig sein Spiel, schaut längere Zeit zu mir herüber und hört sich die Musik an. Folgerungen für die nächste Stunde: - auf der Gitarre weiter Musik anbieten - abwarten und Bs Reaktionen genau beobachten Therapiesitzung am 26.5.99 Ich hole B aus der Klasse ab. Als er mich sieht, geht er sofort aus der Klasse und läuft in Richtung Psychomotorikraum davon. Ich komme hinterher und wir gehen gemeinsam nach oben. B zieht sich zunächst die Schuhe aus und versteckt sich in der Höhle. Dort beschäftigt er sich wieder mit seinem Gummihandschuh. Ich setze mich auf eine Matte, spiele Gitarre und Summe dazu. Dabei beobachte ich Bs Verhalten. Es dauert sehr lange, bis er aus der Höhle kommt und sich zu mir auf die Matte setzt. Als ich mich nach kurzer Zeit zu ihm drehe und in direkt ansehe, steht er auf und geht durch den Raum. Da ich diese Verhalten als Rückzug verstehe, suche ich keinen weiteren Kontakt, bleibe auf der Matte sitzen und spiele bis zum Ende der Stunde auf der Gitarre weiter Folgerungen für die nächste Stunde: - weiter vorspielen und abwarten Therapiesitzung am 2.6.99 B kommt wieder sofort mit in den Therapieraum. Als er den Raum betritt, geht er sofort zum Becken und schlägt es vorsichtig mit den Hand an. Dann zieht er sich in die Höhle zurück und beschäftigt sich mit seinem Handschuh. Die Musik scheint er nicht wahrzunehmen. Ich spiele ihm hauptsächlich auf der Gitarre vor. Sein Spiel in der Höhle unterbricht er nur selten, um mir beim Spielen zuzuhören und zuzusehen. www.foepaed.net 76 Nach einiger Zeit kommt er aus der Höhle, geht zum Schlagzeug und betastet das Becken. Als ich auf ihn zugehe, um ein gemeinsames Spiel auf Becken und Gitarre zu beginnen, zieht er sich wieder in die Höhle zurück. Diese verläßt er erst am Ende der Stunde. Als ich sage, daß die Stunde vorbei ist, kommt B aus der Höhle. Ich ziehe ihm die Schuhe an, die er ausgezogen hat, bevor er in die Höhle gegangen ist. Auf dem Weg zur Klasse frage ich, ob ihm das Musikmachen denn Spaß gemacht hat, erhalte aber keine Rückmeldung. Folgerungen für die nächste Stunde: - B genauer beobachten - versuchen, ihn zum Spielen anzuregen - anderes Setting ? Therapiesitzung am 9.6.99 Ich habe heute die Instrumente auf einer Turnmatte die auf dem Boden liegt angeordnet. Dadurch können wir uns beide auf die Matte setzen und B hat die Möglichkeit, alle Instrumente (außer das Schlagzeugs) im Sitzen zu erreichen. Als B in den Raum kommt, geht er zum Schlagzeug und beklopft vorsichtig das Becken. Dann zieht er sich wie immer in die Höhle zurück und beschäftigt sich mit seinem Gummihandschuh. Ich setze mich auf die Matte und fange an, auf der Gitarre zu spielen. Nach einiger Zeit schaut er aus der Höhle und unterbricht seine Beschäftigung mit dem Handschuh. Er schaut mich an und scheint konzentriert zuzuhören. Dann kommt er aus der Höhle und setzt sich zu mir. Er hört zu, greift aber nicht aktiv in die Musik ein. Nach einiger Zeit steht er auf und geht zum Schlagzeug. Er betastet wieder vorsichtig das Becken. Dann geht er zurück in die Höhle und kommt bis zum Ende der Stunde nicht mehr heraus. Er schaut aber immer wieder heraus und sieht zu mir. Folgerungen für die nächste Stunde: - Instrumente wieder auf der Matte anordnen - Weiter vorspielen und genau beobachten Therapiesitzung am 18.6.99 In der Woche vom 14. Bis zum 19.6. findet an der Ellerbecker Schule die Projektwoche statt. Die Therapie mußte daher ausfallen. www.foepaed.net 77 Therapiesitzung am 23.6.99 B wird heute von einer Frau vom Verein „Hilfe für das autistische Kind“ besucht. Die Therapie fällt leider wieder aus. Therapiesitzung am 30.6.99 In Bs Klasse hat heute ein Kind Geburtstag. Es soll Kuchen geben. Als ich B frage, ob er Kuchen essen oder lieber Musik machen möchte, nimmt er meine Hand und geht aus der Klasse. Wir nehmen Bs Tasche und gehen nach oben in den Therapieraum. Als er seine Tasche vor dem Raum auf einen Tisch stellt, frage ich B, ob er seinen Handschuh in die Schultasche legen kann. B dreht sich weg und geht in den Therapieraum. Ich habe die Instrumente heute wieder auf der Turnmatte auf den Boden gelegt. B geht wieder zuerst zum Becken und schlägt es vorsichtig mit der Hand an. Als ich mich mit der Gitarre auf die Turnmatte setze, setzt sich B zu mir und hört mir konzentriert beim Gitarrespielen zu. Er nimmt allerdings kein Instrument in die Hand – er scheint sie zu ignorieren - unterbricht teilweise seine Stereotypien mit dem Handschuh und juchzt. Ich greife darauf sein Juchzen auf und integriere es in die Musik. B reagiert darauf nicht. B hört lange und konzentriert zu. Dann steht er auf und beschäftigt sich mit dem Waschbecken. Als ich ihm folge, hört er auf und setzt sich vor einen Schrank. Ich setze mich dazu und spiele sehr ruhige Musik. Dabei schaut B mir tief in die Augen. Nach kurzer Zeit steht B auf und geht aus dem Raum auf den Flur. Da die Stunde sowieso gerade vorbei ist, höre ich auf und gehe zu B auf den Flur. Da ich Angst habe, ihm zu nahe gekommen zu sein, frage ich, ob ihm das Musikmachen heute Spaß gemacht hat oder ob wir mit dem Musikmachen aufhören sollen und ich nächste Woche nicht wiederkommen soll. Darauf erwidert K: „Nicht aufhören .“ Ihm scheinen die Therapiestunden also zu gefallen. Folgerungen für die nächste Stunde: - Vorsicht mit Nähe - weiter vorspielen und genau beobachten - ggf. Juchzen wieder aufgreifen www.foepaed.net 78 Therapiesitzung am 7.7.99 Da der Therapieraum renoviert wird, müssen wir heute wieder auf die Aula ausweichen. B will zunächst nicht mit in die Aula. Ich gehe also zuerst mit ihm in den Therapieraum, um ihm zu zeigen, daß dort renoviert wird. B ist von der Raumsituation sehr verwirrt und öffnet alle Schränke. Nach kurzer Zeit verlassen wir den Raum und gehen in die Aula. B geht sofort in das Stuhllager und holt sich dort einen Metalldeckel, den er dann zum Kreiseln bringt. Diese Tätigkeit fasziniert ihn so sehr, daß er die Musik nicht wahrzunehmen scheint. Ich versuche das Kreiseln des Deckels mit dem Baß nachzuspielen. Auch das Laufen durch den Raum begleite ich musikalisch. Nach einiger Zeit geht B auf das Schlagzeug zu und betastet das Becken. Ich folge ihm und versuche, ihn zum Spielen zu animieren, indem ich ihm einen Stick in die Hand gebe und selber mit dem anderen Stick zu spielen anfange. Er steigt kurze Zeit mit ein. Dann geht er zum Baß und zupft kurz die Saiten an. Darauf setzt sich B ans Klavier und spielt kurz darauf. Ich begleite ihn auf der Handtrommel. Die anderen Instrumente faßt er nicht an. Nachdem er die Instrumente (heute zum ersten Mal) ausprobiert hat, zieht er ich in einen Nebenraum zurück und ignoriert die Musik. Er kommt aber immer wieder zurück, geht durch den Raum und kreiselt mit dem Metalldeckel. Folgerungen für die nächste Stunde: - Bewegungen von B musikalisch begleiten - Wenn er wieder Kontakt zu den Instrumenten sucht, versuchen, mit ihm gemeinsam zu musizieren Therapie am 13.7.99 B kommt heute sehr schnell mit nach oben. Als wir in die Aula gehen, holt er sich wieder den Metalldeckel aus dem Stuhllager. Er läuft durch den Raum und wirft mit dem Deckel. B zieht sich immer wieder in Nebenräume zurück. Um nicht immer wider mit dem Musikmachen aufhören zu müssen, schlage ich vor, daß B von sich aus dem Raum gehen soll, wenn er keine Lust mehr hat. Ansonsten verbiete ich ihm, in die Nebenräume zu gehen. Nach einiger Zeit geht B zu den Instrumenten und betastet sie. Er probiert alle Instrumente kurz aus. Der Baßverstärker ist leider nicht eingeschaltet, so daß er sofort weiter zum Klavier geht. Auf dem Klavier spielt B etwas länger, hört aber auf zu spielen, als ich mich zu ihm setze und mit ihm zusammen spielen will und rennt weg. www.foepaed.net 79 Ich setze mich auf einen Stuhl und spiele auf der Gitarre. B läuft durch den Raum und fängt von Zeit zu Zeit an sehr laut und schrill zu juchzen. Ich greife das Juchzen auf und spiele dazu auf der Gitarre. B juchzt daraufhin immer mehr und kommt schließlich zu mir. Er steht lange vor mir und wir singen zusammen. Das Singen scheint ihn sehr aufzuregen, denn er springt dabei auf und ab. Nachdem wir so einige Zeit zusammen musiziert haben, geht er plötzlich zu einer Bank, die an der Wand steht und zieht sich alleine die Schuhe an. Dann verläßt er den Raum. www.foepaed.net 80