Besonderheiten in der Wahrnehmung, im Verhalten und Erleben

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Besonderheiten in der Wahrnehmung, im Verhalten und Erleben von
Menschen mit Autismus und Down-Syndrom
Mitschrift vom Vortrag von Dr. Stefan Meir am 21.3 2014 im Bürgerhaus in Kuchen.
Stefan Meir erläutert verschiedene Komponenten des kognitiven
Verarbeitungsprozesses:
Aufmerksamkeit:
Was ist hier wichtig, worauf richte ich meine Aufmerksamkeit?
Bei Menschen mit geistiger Behinderung ist das Tempo oft langsamer, sie können nicht so schnell
erkennen, was wichtig ist. Im Gespräch ist es gut, sich zu vergewissern: Reden wir beide vom
gleichen, oder haben wir unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Dinge gelegt? Das ist besonders
schwierig, wenn kein Blickkontakt da ist, z. B. quer durch einen Raum rufen, telefonieren.
Aufmerksamkeit ist abhängig von der Motivation, in der Situation aktiv zu sein: Wenn ich denke, ich
kann sowieso nichts ändern, habe ich wenig Motivation, aufmerksam zu sein und auf etwas zu
reagieren.
Konsequenzen für die Teilhabe:
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Besonderes Sozialverhalten, vor allem hinsichtlich Nähe-Distanz und/oder empathisch-autistisch.
Erregungskontrolle, z. B. sich über etwas aufregen, was andere als „nicht schlimm“ bewerten
würden.
Eingeschränkte Handlungsauswahl und -kontrolle: Vergleich: Während „normale“ Menschen ein
Klavier mit 64 Tasten haben, haben Menschen mit Behinderung nur eine Harmonica mit 5 Tasten.
Eingeschränkte Flexibilität.
Wahrnehmung:
Das, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, nehme ich wahr. – Aber jeder Mensch nimmt es ein
bisschen anders wahr. Menschen mit Autismus orientieren sich an Details, haben wenig Blick für das
Ganze. Das kann zu Schwierigkeiten führen, wenn viele Reize gleichzeitig kommen, z. B. in der
Cafeteria: Personen reden, Hintergrundmusik, man soll aussuchen, was man will,… Das kann auch
eine gesuchte Fähigkeit sein, z. B. in der Arbeit mit Computerprogrammen die Fehler herauszufinden.
Hilfreich: strukturierte Anleitung, Pläne, z. B. TEACCH-Konzept.
Informationsverarbeitung:
Menschen mit Down Syndrom können Dinge nur langsam verarbeiten. Ihnen fällt leichter, wenn
Abläufe gleich bleiben, vertraute Dinge sich wiederholen. Häufig wechselnde Anforderungen
belasten.
Menschen mit Autismus verarbeiten zwar formal schnell, aber der Fokus der Aufmerksamkeit ist
anders.
Konsequenzen für die Teilhabe:
Interaktionen sind belastet (von Missverständnissen), weil das Zusammensein wenig berechenbar/
vorhersehbar ist.
Hilfreich: Arbeiten mit dem Timer
Emotionalität und Empathie:
Menschen mit down syndrom sind sehr emotional und nehmen Gefühle bei anderen auch gut wahr.
Sie „bringen das Eis zum Schmelzen“, können sich aber auch schwer abgrenzen, vor den Erwartungen
anderer schützen.
Konsequenzen für die Teilhabe:
Menschen mit down syndrom sind besonders zugänglich, es ist leicht, mit ihnen in Beziehung zu
kommen. Manchmal läuft Beziehung über andere Sinneskanäle, z. B. riechen oder schmecken.
Menschen mit Autismus sind eher sachbezogen, die Wahrnehmung für Gefühle scheint nicht
vorhanden. Sie wirken manchmal rücksichtslos, was Beziehungen schwierig macht. Allerdings können
sie gut mit emotionalen Belastungen umgehen (weil sie sie nicht so stark spüren).
Konsequenzen für die Teilhabe:
Die Kontaktaufnahme ist nicht unkompliziert. Allerdings merken sich Menschen mit Autismus gut
Name, Alter, Adresse von Personen.
Gedächtnis
Menschen mit down syndrom haben ein gutes Gedächtnis für visuelle Reize, das akustische
Gedächtnis ist oft schwächer.
Menschen mit Autismus haben ein gutes Gedächtnis für Fakten und Zahlen.
Beide Gruppen erinnern sich, indem sie Situationen wieder durchleben, oft verbunden mit
Selbstgesprächen.
Konsequenzen für die Teilhabe:
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Gesprochenes wird nicht so gut erinnert, aufschreiben und Erinnerungssymbole bleiben im
Gedächtnis.
Reine Wiederholung, z. B. eines Merksatzes, bedeutet nicht, dass der Inhalt auch verstanden
wurde.
Pausen einplanen, in denen die Verarbeitung/ das Wieder-Durchleben Platz hat.
Zeitwahrnehmung:
Menschen mit down syndrom haben eine konkrete Vorstellung der Gegenwart. Vergangenheit und
Zukunft sind für sie schwer zu benennen und einzuschätzen.
Konsequenzen für die Teilhabe:
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Anfang und Ende einer Handlung mit Ritualen „markieren“.
Erst was beenden, bevor das nächste losgeht.
Sich konkret ausdrücken, weil Abstraktes oft nicht verstanden wird, Bsp.: „Gib mir die Butter“
statt „Könntest du mir die Butter geben?“
Menschen mit down syndrom spielen gerne in Theatergruppen, da können sie ganz im Hier und
Jetzt sein.
Menschen mit Autismus bleiben manchmal in ihrer Wahrnehmung an etwas hängen, dann verlieren
sie das Zeitgefühl. Beispiel: ein Mann mit Autismus macht eine Wohnungsführung mit Besuchern. Als
er den Löffel in der Spüle entdeckt, kann er nicht mit der Führung weitermachen, weil ihn der Löffel
so beschäftigt.
Konsequenzen für die Teilhabe:
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Erzwungene Eile führt eher zu Widerstand und Blockieren.
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Beim Hängenbleiben braucht’s einen Impuls von außen, besonders wirksam ist, wenn er von einer
akzeptierten Person kommt.
Wenn Menschen Verhalten zeigen, das man nicht tolerieren kann, z. B. Gewalt, muss man gut
vorbereiten, was die Person statt der Gewalt machen kann. Wenn’s schon passiert ist, muss man
gut nachbereiten und besprechen, was das nächste Mal anders sein soll.
Nach dem Vortrag gab es die Möglichkeit, Fragen zu stellen:
Frage: Wenn Menschen so festhängen, wie kann man ihnen wieder raus helfen?
Antwort: „Hör auf“ reicht nicht. Bsp. Trauer oder Zorn: Man sollte nicht zu früh eingreifen, sondern
erst, wenn die Intensität nachlässt. Man kann in der Wohnung / im Zimmer eine Erinnerungsecke
schaffen und vereinbaren, dass man sich dort erinnert/ oder ärgert. Wenn man weggeht, soll man
wieder in der Gegenwart sein. Manchen hilft aufschreiben der Erinnerung (oder auf Band sprechen
oder ein Video drehen), um die Erinnerung zu verarbeiten.
Frage: Bedeutet Autismus auch immer eine intellektuelle Entwicklungsverzögerung?
Antwort: Nein. Aber bei Autismus zeigen sich Extreme, z. B. kann jemand sehr gut Zahlen merken,
aber überhaupt nicht Bildergeschichten sortieren. – Man sollte nicht auf die Extreme achten, sondern
auf das, was einigermaßen normal funktioniert.
Frage: Ab welchem Alter ist Autismus diagnostizierbar?
Antwort: manchmal gibt es frühe Zeichen schon im Kindergarten, sicher ist es ab 7/8 Jahren
diagnostizierbar. Diagnosen braucht man z. B., um Fördergelder zu bekommen, um besser
unterstützen zu können, um sich bestimmte Verhaltensweisen besser erklären zu können.
Frage: Wenn ein 4jähriger im Kindergarten schon bei kleinen Anlässen Wutanfälle bekommt, was
kann man tun?
Antwort: Wenn es mit „ich will aber das andere …“ zu tun hat: Wahlmöglichkeiten reduzieren! Es gibt
2 Sachen, das Kind kann entweder/ oder wählen, mehr nicht.
Körperkontakt, das Kind in den Arm nehmen. Das Kind in der Erregung nicht allein lassen (z.B. nicht
allein aus dem Zimmer schicken), das vermittelt eher „du bist nicht O.K.“
Situationen so gestalten, dass es erst gar nicht zur Erregung kommt. Wenn es für ein Kind belastend
ist, über längere Zeit in der Gruppe zu sein, muss man Pausen schaffen. Denn unter Stress verlieren
autistische Menschen den Zugang zu Dingen, die sie in entspannten Zustand können. (Autistische
Menschen finden „volle Inklusion“ nicht so toll/ eher anstrengend. – Hinten in der Ecke dabei sein, ist
O.K., aber nicht voll im Zentrum. Kleingruppe ist oft besser als große Gruppe. Man kann
Willkommens- und Abschiedsrituale machen als Begrenzung für die Gruppenphasen)
In der menschlichen Entwicklung ist es eine Zeit lang normal, nach anderen zu treten, wenn man
zornig ist. Aber dann entwickeln sich Menschen weiter, und lernen anders damit umzugehen. Wenn
Menschen in der Erregung hängen bleiben, sollte man nicht zu komplizierte Zusammenhänge
vermuten, sondern eher sich vorstellen, man hätte Migräne. – Würde man selbst dann auch genervt
sein von Dingen? Um dem Menschen rauszuhelfen, kann man einen Handlungsvorschlag machen,
wie es weitergehen kann.
Um Sozialverhalten einzuüben, müssen Konsequenzen unmittelbar kommen und man muss andere
Verhaltensmöglichkeiten mit der Person besprechen (siehe Literatur-Hinweis „social stories“. Man
muss nicht der „Autisten-Versteher“ sein wollen. Vielfalt verschiedener Menschen ist besser, als alle
Autisten zusammenzufassen. Es soll Reibung stattfinden in einem guten Maß, und dafür muss
Unterstützung eingefordert werden. Die Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit von
Menschen mit Behinderung setzt sich dafür ein. Es ist auch wichtig, dass verschiedene Disziplinen
zusammen arbeiten.
Frage: Wie kann man Menschen mit down Syndrom unterstützen, dass sie sich besser abgrenzen
können.
Antwort: konkrete Regeln für bestimmte Situationen aufstellen, dabei direktiv sein, das muss so sein!
(Bsp.: Wenn dich ein fremder Mann anspricht …). In Situationen, wo das Gebraucht-Werden sehr
positiv erlebt wird, ist es schwierig, das „Willig-Sein“, „zur Verfügung-stehen“ zu durchbrechen.
Frage: Welche Weiterbildungsmöglichkeiten gibt es in Sachen Autismus?
Antwort:
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Fortbildungen im TEACCH-Konzept (Anne Häußler)
Fortbildungen in der ABA-Verhaltenstechnik
Supervisoren, die sich auf Autismus spezialisiert haben (Bielefeld)
Fortbildungen beim Franziskuswerk Schönbrunn bei München oder bei der Stiftung Liebenau
Fallberatungen von Stefan Meir, St. Lukas-Klinik (oder anderen Kinder- und Jugendpsychiatrieen)
Beratungslehrer an Schulen
Frühförderstelle, SPZ
Literatur-Tipps:
Matzies, Melanie: Sozialtraining für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS),
Kohlhammer-Verlag, ISBN: 978-3-17-020681-6.
Anne Häußler, Antje Tuckermann: Praxisbuchreihe rund um TEACCH, z. B. Rund um Haus und Garten
oder Neue Materialien zur Förderung der Sozialen Kompetenz. Borgmann Media
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