Untitled - HAWK

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Im dritten Kapitel habe ich einen begrifflichen Rahmen entworfen, der es uns
möglich machen soll, über Männlichkeit nachzudenken. In den nächsten vier
Kapiteln soll dieser Rahmen nun angewendet werden, in einer lebensgeschichtlichen Analyse von vier Gruppen australischer Männer, an denen unterschiedliche Möglichkeiten des Wandels von Männlichkeit untersucht werden können.
Das Sammeln von Lebensgeschichten ist eine der ältesten Forschungsmethoden der Sozialwissenschaft. Lebensgeschichten beinhalten eine Fülle
persönlicher Erfahrung, Ideologie und Subjektivität. Und damit wird in der
Regel diese Methode gerechtfertigt, wie Ken Plummer in Documents of
Life' ausführlich beschreibt. Aber Lebensgeschichten verweisen paradoxerweise auch auf soziale Strukturen, soziale Bewegungen und Institutionen.
Das heißt, daß sie kollektive Prozesse genauso dokumentieren wie subjektive.
Die philosophische Argumentation Jean-Paul Sartres in Search for a
Method' vermag diesen Widerspruch zu erhellen. Die Lebensgeschichte ist
ein Projekt, die Vereinheitlichung von Praxis über die Zeit (vergleiche die
Behandlung der existentiellen Psychoanalyse im ersten Kapitel). Die Lebensgeschichte als Projekt ist das Bindeglied zwischen den sozialen Bedingungen, die Praxis determinieren, und der zukünftigen sozialen Welt, die durch
Praxis erst entstehen wird. Deshalb geht es in der Lebensgeschichtenanalyse
i mmer um das Entstehen der sozialen Welt in der Zeit. Es geht wirklich um
Geschichte.
Diese Methode ist daher hervorragend geeignet, soziale Veränderungen
zu erfassen. In diesem Sinne wurde sie auch in einem frühen Klassiker der empirischen Soziologie gebraucht, in William Thomas' und Florian Znanieckis
,The Polish Peasant in Europe and America'; und auch heute noch, zum Beispiel in Bob Blauners einzigartiger, drei Jahrzehnte umfassenden Untersuchung der Rassenbeziehungen in den USA, Black Lives, White Lives'.
Die Möglichkeiten dieser Methode haben allerdings ihren Preis. Die Methode
der Analyse von Lebensgeschichten ist in den Sozialwissenschaften sowohl
eine der ergiebigsten als auch der zeitintensivsten. Um damit soziale Verän-
derungen größeren Umfangs untersuchen zu können, bedarf es eines Kompromisses zwischen Genauigkeit und Umfang. Eine lebensgeschichtliche
Analyse von Männlichkeit kann beispielsweise keine breite Stichprobe umfassen und zugleich ein tiefes Verständnis einzelner Situationen ermöglichen.'
Statt die Untersuchung zu begrenzen, beschloß ich, mich auf bestimmte
Situationen zu konzentrieren, die theoretischen Gewinn versprachen. Unter
Berücksichtigung der Krisenanfälligkeit der Geschlechterordnung (drittes
Kapitel), versuchte ich Gruppen von Männern auszumachen, deren Konstruktion oder Integration von Männlichkeit unter Druck geraten war.' Vier
Gruppen von Männern standen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die aufgrund folgender Überlegungen ausgewählt wurden.
Die Krisenanfälligkeit der Machtbeziehungen gefährdet hegemoniale
Männlichkeit unmittelbar. Am deutlichsten wird diese Tendenz im Leben
von Männern, die mit Feministinnen in Kontexten leben und arbeiten, wo die
Geschlechterordnung ihre Legitimität vollends verloren hat. Die Umweltbewegung ist so ein Kontext. In der einen oder anderen Weise müssen Männer
in der Umweltbewegung sich mit Forderungen nach einem Umbau von
Männlichkeit auseinandersetzen.
In der bestehenden Geschlechterordnung werden emotionale Bindungen
in erster Linie durch die heterosexuelle Paarbeziehung strukturiert. Das zumindest ist die nicht hinterfragte Bedeutung von Liebe' in der Populärkultur,
die auch institutionell sehr gestützt wird. Deshalb ist Männlichkeit zwangsläufig bei Männern in Frage gestellt, die sich sexuell für Männer interessieren. Männer in schwulen oder bisexuellen Subkulturen werden mit Geschlechterfragen darum ähnlich stark konfrontiert wie Männer in der Umweltbewegung, wenn auch auf eine andere Art.
Bezogen auf den Produktionsbereich wurde Männlichkeit mit der Rolle
des ,Familienernährers' assoziiert. Dieses Verständnis von Männlichkeit gerät in Gefahr, wenn es für den Mann unmöglich wird, seine Familie zu ernäh
ren. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist für einen beträchtlichen Teil der Arbeiterklasse zur Realität geworden, vor allem die Jugend ist davon betroffen.
2
Die Vorzüge der Analyse von Lebensgeschichten werden in Plummer 1983, McCall
und Wittner 1990 beschrieben. Bezogen auf sozialen Wandel siehe Thomas und
Znaniecki 1927. Sartres Erörterung der progressive-regressiven Methode' findet
man in Sartre 1968, das Beste, was über die biographische Methode zu finden ist,
aber in den Sozialwissenschaften kaum bekannt. Ich bin mir dessen bewußt, daß
Sartres Ansatz nicht geschlechtsneutral ist; ich habe ihn unter Berücksichtigung
poststrukturalistischer Schriften zu Subjektivität und sozialem Geschlecht verwendet, z.B. Weedon 1987.
Die Stichprobe ist demnach weniger repräsentativ denn strategisch. Bei der Erfassung mündlicher Geschichtszeugnisse ist diese Methode üblich. In der Soziologie
verwendet man sie nach der Grounded Theory" von Glaser und Strauss 1967 als
theoretische, von den bisherigen Daten geleitete Stichprobenauswahl.
Deshalb haben wir in der dritten Gruppe junge Männer aus der Arbeiterklasse ohne feste Arbeit befragt.
Aber Krisentendenzen kommen auch bei den Wohlhabenden zum Vorschein. Kulturell wird hegemoniale Männlichkeit sowohl mit Autorität als
auch mit Rationalität verknüpft, beides ausschlaggebende Zuschreibungen
für die Legitimation des Patriarchats. Aber durch den Wandel von Technologie und ökonomischen Gegebenheiten können Autorität und Rationalität ihre
Bedeutung verlieren. Mittelschichtsmänner, deren Beruf zwar technisches
Wissen erfordert, denen aber die soziale Autorität des Kapitals oder traditioneller Berufe fehlt - Männer der neuen Klasse', wie manche Theoretiker es ausdrücken - sollten uns Aufschluß geben über die sich wandelnden
Muster der Hegemonie.
Die Interviews wurden alle nach demselben Schema durchgeführt, das
allerdings breiten Raum ließ, um flexibel auf die jeweilige Gesprächssituation einzugehen. Die Interviewer baten um eine Geschichte (,die Geschichte
Ihres/Deines Lebens'). Wir konzentrierten uns auf die Praxen, durch die Beziehungen konstruiert wurden, zum Beispiel was die einzelnen Personen in
verschiedenen Lebensbereichen wirklich gemacht haben. Wir benutzten institutionelle Übergänge (zum Beispiel den Wechsel an die High School) als
Anknüpfungspunkt für die Erinnerung; aber wir fragten auch nach der Bedeutung von Beziehungen innerhalb von Institutionen wie Familie oder Arbeitsplatz. Wir suchten nach Hinweisen auf die Strukturen des sozialen Geschlechts (Macht, Arbeit und Kathexis) in unterschiedlichen Lebensabschnitten. In diesen Feldinterviews war es nicht möglich, unbewußte Motive freizulegen. Trotzdem forschten wir nach Auslösern für emotionale Prozesse und
fragten deshalb nach frühen Erinnerungen, Familienkonstellationen, Beziehungskrisen und Zukunftswünschen.
Unter diesen Vorzeichen erbrachten die auf Tonband aufgezeichneten
Interviewsitzungen in den meisten Fällen reichhaltige und faszinierende Erzählungen. In der neueren Methodendiskussion neigt man dazu, jegliche Ge
schichte als dichterischen Entwurf zu betrachten, den man nach Sprachfiguren, bedeutungsvollen Pausen und erzählerischen Kunstgriffen absucht, mittels derer der Sprecher als Erzähler eine sinnhafte Geschichte konstruiert. Jeder seriöse Forscher, der mit Lebensgeschichten arbeitet, muß sich dieser
Merkmale einer Erzählung bewußt sein. Aber wenn wir ausschließlich die
Sprache betrachten, entgeht uns der entscheidende Punkt einer Lebensgeschichte - und darüber hinaus mißachten wir damit die Bemühungen des Befragten, die Wahrheit zu berichten. Eine autobiographische Geschichte geht
in ihrer Bedeutung weit über die sprachliche Ebene hinaus. Aber diese Bedeutung ist nicht unbedingt leicht zu erkennen. Es ist mühsam und zeitaufwendig, die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und
sie mit anderen Hinweisen in Beziehung zu setzen. Meine Arbeit mit diesen
Geschichten vollzog sich in folgenden Schritten:
In einer ersten Analysephase habe ich mir die Aufzeichnungen angehört,
die Transkripte gelesen, den Inhalt zusammengefaßt und zu jedem Interview
eine Fallgeschichte geschrieben. Jedes Interview wurde auf drei Ebenen be
trachtet: (a) die Folge der Ereignisse in der Erzählung; (b) die Analyse
struktureller Aspekte unter Berücksichtigung der drei Strukturebenen von
Geschlechterbeziehungen; (c ) die dynamische Analyse der Konstruktion und
Veränderung von Männlichkeit, mit dem Versuch, das jeweils darin sichtbar
werdende Konzept von Geschlechterbeziehungen zu erfassen. Jede Fallstudie
war damit sowohl der Versuch, eine Person zu porträtieren, als auch dieses
Portrait als Hinweis auf sozialen Wandel zu betrachten.
In einer zweiten Phase wurden die Fälle in den vier Gruppen noch einmal gemeinsam interpretiert. Es ging darum, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung von Männern in spezifischen sozialen Positio
nen zu erfassen, und ihre kollektive Positionierung in übergreifenden Prozessen sozialen Wandels zu verstehen. Auch hier benutzte ich ein Analyseraster
aus der Geschlechtertheorie, um systematische Vergleiche zu ermöglichen.
Die Fälle wurden so abstrahiert und zusammengefaßt, daß bei jeder Thematik
während der Analyse die ganze Gruppe im Blick war, ohne gleichzeitig den
Einzelfall mit seiner Lebensgeschichte aus den Augen zu verlieren. Jede der
vier Gruppen wurde gesondert analysiert, um ein kollektives Portrait von
Männern zu ermöglichen, die sich in einem spezifischen Wandlungsprozeß
befinden. Diese Portraits bildeten die Grundlage für die folgenden Kapitel.
Ich habe diese arbeitsintensive Analyseprozedur kurz dargestellt' - anstatt gleich in die Interviews hineinzuspringen -, um klarzumachen, daß die
folgende Argumentation auf einer systematischen Grundlage beruht. Lebens
geschichten sind wunderbar verschieden, und man läßt sich von den lebhaften Charakteren und packenden Episoden leicht mitreißen. Meine Vorge3
Weitere Einzelheiten: Die Lebensgeschichten wurden in New South Wales gesammelt, die meisten in Sydney, 1985 und 86. Einige der Interviews paßten nicht in eine
der vier Gruppen. Die Interviews dauerten ein bis zwei Stunden und wurden aufgezeichnet. Den Teilnehmern wurde das Ziel unserer Untersuchung mitgeteilt, nämlich
Veränderungen von Männlichkeit und männlichen Lebensläufen zu erfassen. Wir
benutzten einen Interviewleitfaden mit den anzusprechenden Themen, ließen den
Interviewern aber freie Hand, wie sie diese Themen ansprechen sollten, oder bei
welchen Antworten sie nachhaken sollten. Es waren drei Interviewer, zwei Männer
und eine Frau. (Einer davon war ich, auch wenn ich die wenigsten Interviews durchgeführt habe.) Die Aufnahmen wurden vollständig transkribiert. Zur Auswertung habe ich die Bänder und die Transkriptionen verwendet, um einen vollständigen Eindruck von den Inhalten und Emotionen zu bekommen. Das Erstellen der 36 Fallinterpretationen dauerte bis Ende 1988. Die Interpretationen der vier Gruppen und ein
paar Aufsätze über Einzelaspekte schrieb ich von 1989 bis 1992. Als Anregung
dienten mir dabei nicht nur wissenschaftliche Interpretationen, wie David Riesmans
,Faces in the Crowd° 1952, sondern auch Romane, die die Interaktion von Lebensgeschichten zum Thema haben, vor allem Heinrich Bölls wunderbarer Roman Gruppenbild mit Dame" 1971.
hensweise betont aber das Allgemeine und die Routinen das Alltags. Das
mag zwar manchmal langweilig sein, ist aber notwendig, wenn wir Veränderungen größeren Maßstabs verstehen wollen.
Diese vier Untersuchungen sollen jedoch für sich genommen diese Veränderungen nicht darstellen. Sie sollen vielmehr spezifische Situationen beleuchten, die aus den genannten Gründen ausschlaggebend für eine Verände
rung von Männlichkeit sein könnten. Die Ergebnisse der Untersuchungen
werden im dritten Teil des Buches der Erörterung übergeordneter Aspekte
dienen, sind aber natürlich auch in die Argumentation des ersten Teils eingeflossen.
Nicht alle Aspekte dieses Vorhabens waren erhellend; Forschung kann
ihre Ergebnisse nicht schon im Vorfeld garantieren. Manche Leute glauben,
daß Erkenntnisse über diese Thematik der Mühe nicht wert sind; das hat die
se Untersuchung auch gezeigt. Sie wurde finanziert vom australischen
,Research Grants Committee`. Noch bevor irgendwelche Ergebnisse publiziert waren, wurde dieses Projekt im parlamentarischen Ausschuß gegen die
Verschwendung von Steuergeldern von den Parteien der konservativen Koalition angegriffen.
Ich bin froh, daß die Leser nun selbst entscheiden können, ob diese Kritik berechtigt war.
4. Lebe Wild und gefährlich
(Live Fast and Die Young)
Wenn es um die Veränderung von Männlichkeit ging, hat man sich in letzter
Zeit vor allem mit berufstätigen Männern aus der Mittelschicht beschäftigt.
Dabei ging man in der Regel davon aus, daß Männer aus der Arbeiterklasse
diesbezüglich konservativ, wenn nicht reaktionär seien.
Gerade in der Arbeiterklasse wurden aber, wie Judith Stacey in den USA
beobachtet hat, neue Familienformen geprägt. Lynne Segal stellt fest, daß Arbeiterparteien in der Geschlechterpolitik viel progressiver waren als Parteien,
deren Stammwähler vor allem aus gehobenen Kreisen kommen.' Autoren, die
einer sozialistischen Analyse der Klassenbeziehungen nahestehen, haben die
Arbeiterklassen-Männlichkeit genauer beschrieben. Ihr Standpunkt stellt die
körperliche Arbeit, die Beziehungen am Arbeitsplatz und die Löhne in den
Vordergrund. Andrew Tolson behauptet zum Beispiel, daß in unserer Gesellschaft der Hauptaspekt von Männlichkeit der Arbeitslohn ist`. In seiner Analyse
männlicher Emotionen und Strategien nimmt er aber Konflikte am Arbeitsplatz
als Bezugspunkt. Paul Willis setzt Männlichkeit mit der Arbeitsplatzkultur und
Lohnformen in Beziehung. Mike Donaldson hat kürzlich behauptet, daß das
Bewußtsein männlicher Arbeiter hauptsächlich durch die Erfahrung von Familien-Haushalt und Arbeitsplatz geprägt ist', wobei Männlichkeit durch die
Wechselwirkung zwischen beidem sowohl konstruiert als auch zersetzt wird.'
Die Bedingungen kapitalistischer Arbeitsplätze haben sicherlich eine
Auswirkung auf die Männlichkeit der dort tätigen Männer. Aber der Kapitalismus garantiert keine Arbeitsplätze. Mit Beginn der wirtschaftlichen Rezes
sion Anfang der 70er Jahre wurden schätzungsweise 30 Millionen Menschen
in den OECD-Staaten arbeitslos. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung
sind in unterentwickelten Volkswirtschaften eine Dauererscheinung. Eine
große Zahl von Jugendlichen wächst nun ohne jegliche Hoffnung auf einen
sicheren Arbeitsplatz heran, der doch im Mittelpunkt des herkömmlichen
Männlichkeitsmodells der Arbeiterklasse stand. Statt dessen erleben sie nur
1
2
Stacey 1990; Segal 1990 (S. 294-319).
Tolson 1977 (S. 58-81); Willis 1979; Donaldson 1991
phasenweise Beschäftigung und langfristige wirtschaftliche Randständigkeit.
Was wird unter solchen Lebensumständen aus der Männlichkeit?
Gruppe und
Die fünf jungen Männer der ersten Gruppe lernten wir durch eine Arbeitsvermittlung kennen, deren Klientel in erster Linie arbeitslose Jugendliche
ausmachen: Jack Harley (22 Jahre), Fel' (21), Patrick Vincent (17), Alan
Rubin (29) und Mal Walton (21). Alle fünf gehen stempeln und besitzen im
besten Fall eine flüchtige Erfahrung von beruflicher Tätigkeit. Mit 15 oder
16 haben sie die Schule verlassen, einer wurde hinausgeworfen und zwei andere haben vor allem geschwänzt. Einer ist Analphabet, ein anderer nahezu.
Sie alle befinden sich am äußersten Rand des Arbeitsmarktes.
Auch mit dem Gesetz sind sie schon in Konflikt geraten. Die meisten
von ihnen haben die Schule gehaßt und hatten feindselige, teilweise gewalttätige Auseinandersetzungen mit Lehrern. Vier von den fünf sind bereits
einmal verhaftet worden und zwei waren zumindest ein Jahr in Haft. Trotz
eines anglo-australischen Hintergrund befinden sie sich außerhalb der
,anständigen' Arbeiterklasse. Drei haben ein Motorrad, und für zwei davon
ist Motorradfahren eine große Leidenschaft.
Ich werde ihre Erfahrungen denen dreier Männer vergleichbaren Alters gegenüberstellen, die trotz einer ähnlichen Herkunft eine andere Position am Arbeitsmarkt erreicht haben. Stewart Hardy (24 Jahre) ist Computertrainee bei ei
ner Bank; Danny Taylor (23) arbeitet im Büro einer Umweltschutzorganisation;
Paul Gray (26) arbeitet zeitweilig im Büro einer Wohlfahrtseinrichtung.
Alle acht jungen Männer sind Kinder von Arbeitern, und mehrere wuchsen in eher ärmlichen Verhältnissen auf. Unter solchen Umständen verliert
die Unterscheidung zwischen Broterwerb und Hausarbeit völlig an Bedeu
tung. In den meisten Fällen waren die Mütter während der Kindheit der Jungen erwerbstätig. In einigen Fällen waren die Mütter zeitweise - mäßige
Verbesserungen und deutliche Abstürze sind kennzeichnend für diesen Bereich des Arbeitsmarkts - die hauptsächlichen Geldverdiener der Familie. Ein
Umstand, der mühelos akzeptiert wird; nur einer von den acht äußert Unbehagen beim Gedanken an berufstätige Frauen.
Man findet hier kaum die Vorstellung von der klassischen Aufspaltung
in instrumentelle und expressive Eigenschaften bei Männern und Frauen.
Ebenso wie bei den Arbeiterklassen-Mädchen aus der Untersuchung von
Linley Walker sind in den Augen dieser jungen Männer die Frauen keineswegs Gefühlsspezialistinnen oder in einer Weise personenorientiert, die man
bei den Männern nicht finden würde.'
3
Walker 1989.
Die Familien, in denen sie aufwuchsen, weisen zwei unterschiedliche
ökonomische Muster auf. Einmal funktioniert die Familie als eng zusammengeschweißte Kooperative. Der Vater von Stewart Hardy war ein Hans
Dampf-in-allen-Gassen und reiste als Landarbeiter von einem Gelegenheitsjob zum nächsten. Seine Frau begleitete ihn und half dazu, indem sie beispielsweise auf den Farmen, auf denen er gerade arbeitete, die Wäsche
wusch. Während seiner Highschool-Zeit arbeiteten sie gemeinsam bei einer
Putzkolonne und Stewart mußte mitarbeiten.
Bei den Eltern von Mal Walton war vor allem das andere Muster zu beobachten. Er hat seinen Vater nie gesehen, der das Weite suchte, als seine
Mutter mit ihm schwanger war. Seine Mutter ernährte ihr Kind und ihre ei
gene Mutter mit ihrem Lohn als Fabrikarbeiterin, und später mit der Arbeit
auf einem Campingplatz.
Wie die amerikanischen Familien aus der Arbeiterklasse, über die Stacey
berichtet, scheinen auch diese Familien noch früher als die Mittelschicht
postmoderne Züge aufzuweisen. Nicht daß man sich bewußt für eine andere
Familienform entschieden hätte. Man stellt nicht in Frage, daß zwei Einkommen besser für die Familie sind als eines, aber manchmal hat eben nur
eine/r Arbeit. Das Muster mit zwei Berufstätigen wurde bei den Waltons erst
wieder eingeführt, als der Freund seiner Mutter Frau und Kinder verließ, um
bei ihnen einzuziehen. Mal weigerte sich, ihn als Ersatzvater zu akzeptieren,
obwohl er die disziplinarischen Maßnahmen seiner Großmutter hinnahm.
Abstrakte Arbeit
Jede der drei Strukturebenen der Geschlechterbeziehungen findet sich recht
vollständig in den einzelnen Interviews wieder. Beginnen wir mit dem Produktionsbereich. Die Lebensgeschichten offenbaren als entscheidenden
Aspekt, daß Männlichkeit nicht in Relation zu einem bestimmten Arbeitsplatz geformt wird, sondern in Bezug auf den Arbeitsmarkt als Ganzes, und
zwar als ständiger Wechsel von Arbeitslosigkeit und Beschäftigung. Das
zeigt sich am deutlichsten in den konkreten Lebensläufen.
Alan Rubin ist der älteste von allen und hat auch mehr Arbeitserfahrung
als die meisten. Mit 15 hat er - entgegen dem Wunsch seiner Eltern - die
Schule verlassen, nachdem er zuletzt systematisch geschwänzt hatte. Er fand
Arbeit in einer Buchbinderei, was möglicherweise von seiner Mutter arrangiert worden ist. Dann arbeitete er bei der Gemeinde, weil er dort in der
Verwaltung jemanden kannte. Dann reiste er nach Neuseeland, um dort zu
surfen. Als ihm das Geld ausging, arbeitete er in einer Autofabrik, konnte
den Job aber nicht ausstehen - nicht daß er etwas gegen körperliche Arbeit
hätte, sagt er, aber dort sei es zugegangen wie im Konzentrationslager, die
Manager Idioten und die Arbeiter , Roboterameisen'. Nach Australien zu-
rückgekehrt, fuhr er eine Weile mit Berufsspielern durch Land, dann arbeitete er bei der Post und sortierte die Sendungen; das war mein intellektueller
Job`, meint er sarkastisch. Danach verdingte er sich zwei Jahre lang mit dem
Lackieren von Containern, bis er genügend Geld zusammen hatte, um nach
Europa zu fahren. Nach seiner Rückkehr verfiel er schnell wieder in seinen
alten Trott, tat zur Abwechslung einmal gar nichts', ging die meiste Zeit
stempeln, nur unterbrochen von Gelegenheitsjobs. Er wohnt bei seinen Eltern, um Geld zu sparen.
Obwohl dies die längste Arbeitsgeschichte darstellt, ist sie dennoch charakteristisch. Alan hat keine markttauglichen Fähigkeiten oder Qualifikationen, und deshalb kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Alles was er anzu
bieten hat, beschreibt Marx als Teilung der Arbeit' - kleinster gemeinsamer
Nenner - die Fähigkeit zu tun, was fast jeder X-beliebige machen könnte:
,Er wird in eine einfache, eintönige Produktivkraft verwandelt, die weder körperliche
noch geistige Spannkräfte ins Spiel zu setzen hat. Seine Arbeit wird allen zugängliche
Arbeit. Es drängen daher Konkurrenten von allen Seiten auf ihn ein...
In den Augen eines Arbeitgebers ist Alan beliebig ersetzbar. Und auch für
Alan ist der eine Job so gut wie jeder andere - zumindest was die Arbeit anbelangt. Was den Unterschied ausmachen kann, sind die kollegialen Beziehungen. Alan hat alle möglichen Jobs gemacht, und sein Fazit läßt sich nur
mit völliger Langeweile umschreiben, eine Entfremdung, die man mit Händen zu greifen können glaubt.
Eine Reaktion, die nicht überrascht, angesichts eines unpersönlichen Arbeitsmarktes, der die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen,
derart beschneidet, und angesichts von Arbeitgebern, die keinerlei Interesse
für den einzelnen Arbeiter zeigen. Ein eigenes Auskommen zu haben ist für
Jugendliche der Arbeiterklasse sehr wichtig, wie Bruce Wilson und Johanna
Wyn in ihrer Melbourner Studie gezeigt haben.' Der Eintritt ins Arbeitsleben
ist ein bedeutsames Ereignis. Arbeitsmarktschwäche' ist eine elegante Umschreibung für eine Wirklichkeit, die diese jungen Männer und viele andere
am eigenen Leib erfahren müssen.
Jack Harley hat schon als Schafscherer, Arbeiter, Drucker, Barmann und
Lastwagenfahrer gearbeitet. Er versucht nicht, sich neue Fähigkeiten anzueignen, hält überhaupt wenig von irgendwelchen Qualifikationen. Er hatte
nur kurzfristige Jobs und nimmt einfach, was er kriegt. Seine Quasi-Ehefrau
Ilsa arbeitete als Telegraphistin in einem Landstädtchen. Als die Telecom
automatisierte, wurde sie entlassen. Sie arbeitete dann als Verkäuferin, aber
als nach drei Monaten das Geschäft nachließ, stand sie abermals auf der
Straße.
4
5
120
Marx 1985 (S. 93).
Wilson und Wyn 1987.
Jacks Kumpel Eel versuchte aus dieser Welt der abstrakten' Arbeit auszubrechen und begann eine Lehre. Aber sein erster Arbeitgeber entließ nach
der dreimonatigen Probezeit alle bis auf einen Lehrling. Eel war jedoch nicht
der Glückliche. Er bekam eine neue Chance in einer kleinen Firma, bei der
alles klappte. Aber der Betrieb ging in Fels drittem Ausbildungsjahr pleite.
Er fand in den sechs Wochen, die die Vorschriften vorgeben, keinen neuen
Ausbildungsplatz, und deshalb mußte er schließlich seine Ausbildung abbrechen.
Solche Erlebnisse fördern nicht gerade eine optimistische Einstellung
und Vertrauen in die Wirtschaft. Jack Harley hatte nie einen sicheren Arbeitsplatz und er erwartet auch nicht, daß sich das noch einmal ändern wird.
Er wird weiter stempeln und den einen oder anderen Nebenjob machen. Das
Arbeitsamt empfindet er nicht als hilfreich, er mag die Leute dort nicht, weil
er glaubt, daß sie sich nicht für junge Leute ohne Qualifikationen einsetzen.
Unterstützung findet er eher in der Familie und bei Freunden.
Die Leute überleben auf einem unpersönlichen Arbeitsmarkt, indem sie
ihre Beziehungen nutzen. Die ersten zwei Jobs bekam Alan Rubin durch Beziehungen. Jack arbeitete für die Tante seiner Frau als Barmann, und für ih
ren Vater, der mit seiner Familie übers Land zog und Schafe schor. Sein Vater nahm ihn mit auf eine Motorradtour quer durch Australien und verschäffte ihm zeitweilig einen Job im Pilbara Minenrevier. Fast jede Arbeitsgeschichte aus dieser Gruppe läßt die Wichtigkeit privater Beziehungen erkennen, vor allem familiärer Natur, um sich auf dem Arbeitsmarkt irgendwie
durchzuschlagen.
Außerdem hat Jack in Bezug auf das Geldverdienen etwas entwickelt,
was man vorsichtig ausgedrückt einen radikalen Pragmatismus nennen
könnte. Es ist ihm völlig egal, wenn seine Frau einen besseren Job hat als er.
Und genauso lässig erzählt er, daß er jederzeit einen Job annehmen würde,
während er noch stempelt, aber dann eben unter falschem Namen (ein Vergehen, wenn er erwischt wird). Sein Verhältnis zu den Gewerkschaften ist im
besten Fall manipulativ. Die Transportgewerkschaft mochte er, aber er hat
seine Fahrerlaubnis verloren und deshalb war es aus damit. Die Schafscherergewerkschaft mochte er nicht, weil andauernd gestritten wurde und er seine Arbeit verlor. Er arbeitete als Streikbrecher in einer Druckerei, weil er
,das Geld brauchte', und nun hat ihn die Druckergewerkschaft auf eine
schwarze Liste gesetzt.
Keinen der fünf verbindet etwas mit den Gewerkschaften. Bedenkt man,
daß gewerkschaftliches Engagement einer nach und nach gewachsenen Solidarität von unten bedarf, ist dies auch nicht verwunderlich. Als eine Art Mo
bilisierung der Arbeiterklasse ist die herkömmliche Form der Gewerkschaftsarbeit völlig bedeutungslos für Menschen, die so sehr am Rande des Arbeitsmarktes stehen.
Für einige dieser Gruppe führte ein radikaler Pragmatismus zum Verbrechen. Wobei Aufregung und Unterhaltung dabei auch eine gewisse Rolle
spielen, fürjunge Männer vor allem beim Stehlen von Autos. Aber vor allem
ist es eine Art Arbeit. Mal Walton beschreibt seine ersten Erfahrungen und
den ruinösen Wechselkurs:
Ich trieb mich herum und habe an den Haustüren das Milchgeld geklaut. Wir haben Autos
aufgebrochen und haben... das war damals die Zeit, als ich Stereoanlagen geklaut und
verhökert habe. Und wir haben das gemacht, weil... - mit Drogen hatte ich bis zum Ende
der Schulzeit nichts zu tun. Vielleicht hat mich das ewige Nichtstun einfach gelangweilt.
Ich habe nicht gearbeitet, nein, ich hatte zwar einen Job, aber nach ein paar Wochen haben sie mich hinausgeworfen. Wir haben immer nach guten Anlagen Ausschau gehalten,
Stereoanlagen und ob sie uns wohl 500$ einbringen würden, oder so. Und wir würden sie
dann einfach zu unserem hiesigen Drogendealer bringen und sagen, nimm das und gib
uns eine Stange', oder,gib uns zwei Stangen' oder so. Das haben wir immer so gemacht.
Wir hatten Glück und wurden nie verhaftet. Ein paar Mal wurden wir verfolgt, konnten
aber entwischen, wurden nie geschnappt. Geschnappt wurde ich dann nur einmal, als ich
ein Kochbuch klaute.
Dealer zu sein ist ganz offensichtlich das lukrativere Geschäft. Zumindest einer aus der Gruppe ist ein Dealer und behauptet, damit 300$ die Woche zu
verdienen (Der Betrag scheint in Anbetracht seines Lebensstandards hoch; vielleicht war das seine einträglichste Woche). Zwei andere haben wahrscheinlich auch etwas mit Rauschgift gehandelt. Mit Drogen zu dealen ist in ihrem
Denken nichts Besonderes. Es ist einfach eine weitere Möglichkeit, an Geld
zu kommen, ebenso episodisch und unsicher wie die anderen Jobs. Die moralische Entrüstung der staatlichen ,Drogen-Offensive' (der militaristische Name
einer nationalen Kampagne aus dem Jahre 1986, an die amerikanische AntiDrogen-Kampagne angelehnt) verfehlt hier völlig ihre Wirkung. Ebenso könnte
man eine Kampagne gegen das Handeln mit Gebrauchtmöbeln starten.
Machtbeziehungen haben diese Männer vor allem in Form von Gewalt erfahren. Einem behüteten akademischen Betrachter erscheint ihr Leben voller
Gewalt: Schikanen und gräßliche Prügelstrafen in der Schule, Angriffe auf
Lehrer, Kämpfe mit Geschwistern und Eltern, Schlägereien auf Schulhöfen
und Parties, Verhaftungen, tätliche Angriffe in Besserungsanstalten und Gefängnissen, das Verprügeln von Frauen und Schwulen, Faustkämpfe Mann
gegen Mann und gezogene Messer. Aber auch das Rasen mit Autos, Lastwagen oder Motorrädern, mit mindestens einer Verfolgungsjagd durch die Polizei samt Straßensperre und einem schweren Unfall.
Pat Vincent macht die ersten Erfahrungen mit Gewalt in der Familie.
Sein Vater prügelt ihn, aber er nimmt es ihm nicht übel, auch wenn er immer
noch Angst hat vor dem Alten, wenn er in Fahrt ist'. Seine große Schwester
behandelte ihn nicht viel anders: wenn du irgendwelchen Ärger machst,
kriegst du was aufs Dach'. Seinen Lehrern gegenüber - bis auf einige weni122
ge, die er mochte - nahm Pat eine aggressive Haltung ein, vielleicht als präventive Maßnahme, er deckte sie ein' (mit Beschimpfungen). Einmal warf
einen Stuhl nach einem Lehrer und wurde von der Schule verwiesen.
Auch gegenüber seinen Mitschülern war er gewalttätig - tägliche Raufereien mit zwölf Jahren in seinem ersten Jahr an der katholischen High
School. Er hatte das Gefühl, daß sich die Schule nicht um ihn kümmerte, und
er wollte jemand sein, Schulversager zu sein, ist besser, als ein Niemand zu
sein.' Damit war unter den anderen Jungen sogar Ansehen zu erlangen:
,Wenn du dich prügelst und siegst, bist du der Held.'
Aber dieses Ansehen hatte seine Grenzen. Pat scheint nicht der Anführer
gewesen zu sein, vielleicht weil er zu gewalttätig erschien, vor allem als alle
etwas älter wurden. Die Raufereien wurden seltener und schließlich hat er
sich das Schlägern abgewöhnt'. Jetzt vermeidet er es, vor allem bei jemandem, der dir die Scheiße aus dem Leib prügeln würde'. Aber als er nach einer Haftstrafe wegen Autodiebstahls in eine Besserungsanstalt geschickt
wurde, hatte er dort zwei Kämpfe, in denen er seine Gegner windelweich'
schlug, vielleicht um in den Ruf zu kommen, ein gefährlicher Mann zu sein.
Pat Vincent, Jack Harley und Eel bekennen sich zum Kämpfen mit so
ähnlichen Worten, daß man es als herrschende Ideologie in ihrem Umfeld
betrachten muß. Gewalt ist in Ordnung, wenn sie gerechtfertigt ist, und ge
rechtfertigt ist sie immer dann, wenn der andere damit anfängt. Eel macht
fast ein Gesetz daraus:
Ich bin gegen unnötige Gewalt. Aber wenn Gewalt provoziert wird, wenn jemand damit
anfängt, hat er es nicht anders verdient.
Hier haben wir es mit einer Art Ethik zu tun, einer Verpflichtung, Gewalt
nicht unerwidert zu lassen. Gewalt gegen Frauen sehen sie allerdings unterschiedlich. Eel berichtet mit sichtlichem Vergnügen, wie seine Motorradclique eine lästige Frau los wurde:
Es waren nicht viele, nein, sehr wenige. Da war meine Braut, ihre Schwester, und ein
paar von den jungen Burschen hatten Freundinnen, aber das war's dann schon. Alle
Puppen waren praktisch schon vergeben, verstehen Sie. Die meisten von denen sind recht
schweigsam. Eine Schlampe mit einer großen Klappe hat eines nachts eine aufs Maul bekommen, seitdem hat sie sich nicht mehr blicken lassen. Sie hatte es zu weit getrieben,
und einer meiner Kumpels sagte, wenn du nicht das Maul hältst, hau' ich dir eine rein.
Sie hat nicht aufgehört, und so hat er's getan. Sie war ziemlich sauer. Ein anderer Kerl
hat dann ihm von hinten eine übergebraten und so weiter. So sind wir sie recht geschickt
losgeworden.
Kein Wunder, daß in der Clique nicht mehr Frauen sind. Eine ähnliche Behandlung von Frauen kennt man von den männerdominierten Rockergruppen
in den USA.'
6
Hopper und Moore 1990.
123
Pat Vincent jedenfalls würde dieses Verhalten mißbilligen. Männer, die
Frauen schlagen, sind für ihn Waschlappen' (ein Ausdruck starker Mißbilligung), denn wenn Typen Mädels schlagen', können sie sich nicht selbst
verteidigen. In einer männlichen Welt der Gewalt wird Frauen nicht zugetraut, daß sie sich behaupten könnten, und deshalb werden sie beim Austausch körperlicher Aggressionen nicht als ebenbürtige Gegner betrachtet.
Tätlichkeiten in der Familie oder gegenüber Freundinnen und Lebensgefährtinnen ereignen sich oft genug. Aber stolz kann man darauf nicht sein.
Institutionalisierte Macht und organisierte Gewalt begegneten den jungen
Männern in Gestalt der Staatsmacht. Der Charakter dieser Begegnung wird in
Paul Grays frühester Kindheitserinnerung deutlich. Seine Familie holte zu
Weihnachten immer Jungen aus dem Waisenhaus, um sie an ihrem Festessen
teilhaben zu lassen. Als Paul sechs oder sieben war, fuhren sie auf dem Highway:
Wir fuhren durch den Busch und da war so'n Bulle auf einem Motorrad. Und er [der
Waisenjunge] sah ihn und brüllte so laut er konnte Hey, du Schwein!`. Und deshalb verfolgte er uns, aber wir bogen zu einem Motel für Reiche ab - und wissen Sie, der Bulle ist
einfach vorbeigedonnert.
Aber die Gelegenheiten, wo arme Leute sich erfolgreich als wohlhabend ausgeben können, sind selten, und der strenge Arm des Gesetzes lastet schwer
auf ihrer Schulter.
Zuerst einmal begegnet diesen jungen Männern der Staat in Gestalt der
Schule. Die Dynamik dieses Aufeinandertreffens kann ihren weiteren Lebensweg beeinflussen und ist oft Zeichen für ein Versagen des öffentlichen
Erziehungssystems.
Für die meisten von ihnen ist die Schule alles andere als eine ermutigende Erfahrung. Sie empfinden die schulische Autorität als fremde Macht und
beginnen, ihre Männlichkeit in Abgrenzung von dieser Macht zu entwickeln.
Unter bestimmten Umständen (zum Beispiel bei Angriffen auf Lehrer) kann
dies direkt zu Polizei und Gerichten führen. Oder aber sie brechen ab oder
werden ohne Qualifikation von der Schule verwiesen, wie Linley Walker für
junge Frauen aus der Arbeiterklasse gezeigt hat. In Schulen, die es mit benachteiligten Jugendlichen zu tun haben, sind diese Probleme an der Tagesordnung, wie zum Beispiel an der New York Highschool, die Michele Fine
untersucht hat.'
Pat Vincent wurde aufgrund seiner Gewaltneigung von zwei Schulen
verwiesen und beendete seine schulische Ausbildung nach der zehnten Klasse. Er war arbeitslos, wurde drogensüchtig und stritt sich ständig mit seinen
Eltern wegen des Hausarrestes, den sie über ihn verhängten. Sein Vater, ein
Baggerfahrer, verschaffte ihm schließlich einen Ausbildungsplatz. (Da es ein
7
12 4
Walker 1989, Fine 1991.
Gewerbe ohne reguläre Ausbildungsordnung war, stellte es wohl eher eine
Art informelles Angelerntwerden dar.) Pat beschreibt, was dann passiert ist:
Wie lange waren Sie dort?
Sieben Wochen.
Was passierte dann?
Ich wurde eingesperrt und deshalb habe ich die Stelle verloren.
Weshalb wurden Sie eingesperrt?
Hab' ein paar Autos geklaut und bin wo eingestiegen und wurde geschnappt.
Wo haben sie Sie hingeschickt?
Nach Alpha (Jugendstrafanstalt], eineinhalb Wochen war ich da, dann bin ich abgehauen. Dann wurde ich wieder geschnappt und sie brachten mich nach Beta [Anstalt mit höherem Sicherheitsstandard] für vier oder fünf Wochen, und ich kam dann raus, weil die
Strafe in gemeinnützige Arbeit umgewandelt wurde.
Wegen Ihres Alters?
Nein, weil... - ein paar Mal bin ich verhaftet worden, insgesamt sechzehn Anklagepunkte..
Bin abgehauen, dafür gab's drei Monate... Ich habe darum gebeten, gemeinnützige Arbeit
machen zu dürfen und es hat geklappt. Seitdem hatte ich keinen Ärger mehr. Halt' mich
raus.
Diese lakonische Schilderung umfaßt ein ganzes Jahr innerhalb und außerhalb,von Gefängnismauern: er wird zweimal festgenommen, mißachtet die
Kautionsauflagen, wird überwacht, steht vor Gericht, begreift aber rasch die
Kniffe des Jugendstrafrechts und die Lebensweise in den Besserungsanstalten.
Pat hegt keinen Groll gegenüber der Polizei. Bei seiner ersten Festnahme, nach einer Verfolgungsjagd in einem gestohlenen Auto, denkt er:
,Scheiße, es ist aus! Ich dachte, sie würden mich umbringen.' Aber die Poli
zei war nicht so brutal wie er erwartet hatte, und auch nicht die Betreuer in
der Besserungsanstalt. Trotz der Gerüchte, die er gehört hatte, wurde er weder vergewaltigt noch verprügelt. Über die Einrichtung Beta behauptet er sogar: Wie Urlaub, Mädels gab's da drin fast jede Nacht.' Aber das ist die
Prahlerei eines Mannes, der hart erscheinen möchte, eine bei ihm nicht seltene Verhaltensweise. Aber er lernt auch, seine Männlichkeitsfassade etwas
moderater zu präsentieren. Bald wird er achtzehn und dann hat er es mit den
Gefängnissen der Erwachsenen zu tun, was eine andere Dimension darstellt.
Deshalb versucht er momentan, sich Ärger vom Hals zu halten.
Aber im Zuge dieser Manöver ist bereits etwas auf der Strecke geblieben. Aus der Besserungsanstalt hat Pat seiner Mutter einen verletzenden
Brief geschrieben, weshalb sie ihn nicht mehr sehen will. Seine Mutter ar
beitet in einer Fabrik als Vorarbeiterin, bestreitet den Großteil des Familieneinkommens und ist möglicherweise - Pat drückt sich hier vage aus - Gewerkschaftsdelegierte. Sie hat anscheinend versucht, ihrem Kind den rechten
Weg zu weisen und die Familie aus der Armut zu führen. Pats dickköpfiger
Kampf mit dem Gesetz, seine Vorwürfe gegenüber seiner Familie und die
125
Verweisung von der Schule waren zuviel für sie. Nun ist er bei seinem großen Bruder untergeschlüpft.
Die Erfahrungen der anderen sind sehr ähnlich, wenn auch im Detail
unterschiedlich. Jack Harley wurde von einer Besserungsanstalt ins Gefängnis befördert. Mal Walton wurde wegen Diebstahls eingesperrt, kam aber auf
Kaution frei. Eel war mindestens einmal im Gefängnis, und kennt die Polizei
als regelmäßige Besucher seiner rauschhaften Feste. Von den Arbeitslosen ist
Alan Rubin der einzige, der nicht verhaftet wurde, aber er scheint ohnehin
der beste Taktiker zu sein. Bei denen, die Arbeit haben, hat Paul Gray eine
ähnliche Entwicklung wie Jack Harley vorzuweisen, von einer Jugendanstalt
ins Gefängnis wegen eines Drogendeliktes.
In diesem Klassenumfeld ist Staatsgewalt kein abstrakter Begriff, sondern von greifbarer Gegenwart im Leben dieser jungen Männer. Gegenüber
der Macht des Staates kann man sich nicht verhalten wie bei den Prügeleien
in der Peer-group, auch wenn Pat Vincent das zuerst versucht hat. Die Polizei
ist eine Großmacht in der Politik der Straße, bei einer Konfrontation mit ihr
zieht man den Kürzeren, wie hart man auch sein mag. Die angemessene Taktik ist jene, die Paul Grays Eltern auf dem Highway so schlau praktizierten:
Ausweichen. Und so lernen die Jungs, der Polizei aus dem Weg zu gehen,
den Wohlfahrtsstaat an der Nase herumzuführen und alle halblegalen
Schlupflöcher so weit wie möglich zu nutzen, ohne dabei zu Waschlappen'
zu werden.
Keiner der fünf Arbeitslosen empfindet den Staat in irgendeiner Weise
als wertvoll, aber einer aus der Gruppe, die Arbeit haben. Nachdem Stewart
Hardy die Schule verlassen hatte und in die Großstadt gekommen war,
merkte er, daß seine Eltern Recht gehabt hatten, als sie von der Notwendigkeit sprachen, sich zu qualifizieren. Er besuchte den technischen Zweig einer
Highschool, machte dort den Abschluß und begann dann zu studieren.
Entscheidend für diese Entwicklung war Stewarts Fähigkeit, die Möglichkeiten des Erziehungssystems für sich zu nützen, statt dagegen anzukämpfen. Ansätze dafür finden sich schon in seiner Highschool-Zeit. Eine
Zeitlang war er sehr aufsässig, aber diese Phase dauerte nicht allzu lange. Im
Verlauf seiner Pubertät entwickelte er ein einvernehmlicheres Verhältnis zu
seinen Lehrern. Mit etwas Mühe gelang es Stewart, sich an einer beruflichen
Karriere auszurichten und eine Märilrlichkeit zu entwickeln, die sich eher
durch Wissen und Berechnung auszeichnet als durch Aggressivität.
Zwangsheterosexualität
Pat Vincents Sexualität erwachte, als er ungefähr elf Jahre war; Kinderkram', wie er heute meint. Er kann sich nicht mehr erinnern, wie er etwas
darüber erfahren hat, er schien es einfach irgendwie zu wissen. Jedenfalls
126
erinnert er sich an seinen ersten Koitus im Alter von 13: Ich legte mich einfach auf das Mädchen drauf und packte sie irgendwie. Dann machte ich einfach weiter.' Sex erscheint zufällig und einfach, etwas, das stets verfügbar
ist. Für Pats Selbstbild ist Sexualität sehr wichtig, auffallend weniger wichtig
für Alan Rubin, der sich über die atemlosen Jungengespräche nach dem Motto ,Hast-du-dies-schon-gemacht-hast-du-das-schon-gemacht?' lustig macht.
Er erinnert sich an seinen ersten Koitus mit 15:
Wollen Sie meine Meinung darüber wissen?
Ja.
,Also was?'... Es stellte sich am Ende als ein wenig langweilig heraus.
Das ist keine vorherrschende Meinung. Eel teilt eher Pats Besorg-es-ihnenEnthusiasmus, obwohl er später - mit 17 - damit angefangen hat. Seine erste
Sexualpartnerin war eine ältere Frau, die mir eine Menge beigebracht hat'.
Danach hatte er Beziehungen mit Frauen seines Alters:
Ich ging mit dieser anderen Puppe aus und sie zog nach Gamma [eine andere Stadt]. Als
sie dort lebte, trafen wir uns immer noch. Dann hatte ich vor, hinzufahren und einen Monat dort bei ihr zu verbringen, um zu sehen, wie es ihr geht und so weiter. Aber in der
Zwischenzeit hatte ich dieses andere Mädchen getroffen, mit der ich nun zusammen bin.
Nur so eine Bettwärmer-Geschichte, verstehen Sie. Und ungefähr eine Woche, bevor ich
nach Gamma fahren wollte, hat sie mir gesagt, sie sei schwanger. Ich bin total ausgetickt.
Ich bin dann nach Gamma gefahren und hatte nicht vor, zurückzukommen. Aber am
Schluß bin ich dann doch zu ihr zurück, weil ungefähr zwei Monate später SchluB war
zwischen mir und der Puppe in Gamma. Aber ich bin immer nur wegen dem Kind bei ihr
geblieben.
Eels Abneigung gegenüber Frauen ist nicht zu übersehen. Er schimpft auf
seine Mutter, sie macht mir die Hölle heiß und ich mach' ihr die Hölle heiß',
auf die neue Frau seines Vaters, eine Schlampe', er schimpft auf seine
Schwiegermutter, ein wahres Miststück' und auch auf seine Frau:
Na gut, sie ist meine Frau, aber bei der erstbesten Gelegenheit sie loszuwerden, ist es
vorbei mit ihr.
Warum?
Ich halt's einfach nicht aus mit ihr. Ich habe mit ihr jetzt für was-weiß-ich, drei Jahre zusammengelebt, und sie macht mich noch wahnsinnig.
Was macht sie denn?
Oh... was sie sagt, wie sie etwas macht, wie sie andauernd irgendwelchen Quatsch erzählt... immer jammernd, weil ich nie mit ihr weggehe.
Warum lassen sich die Frauen eine solche Behandlung gefallen? Sexualität
ist zweifellos aufregend und lustvoll. Aber wahrscheinlich liegt der Grund
eher bei den fehlenden Alternativen. Gayle Rubin sprach von obligatorischer
Heterosexualität' und Adrienne Rich von Zwangsheterosexualität' im Zusammenhang mit dem kulturellen und sozialen Druck, der auf Frauen ausgeübt wird, sich Männern sexuell zur Verfügung zu stellen, egal unter welchen
Bedingungen. Hinzuzufügen wäre, daß Zwangsheterosexualität - und das
127
wird in diesen Lebensgeschichten sehr deutlich - kein auf Frauen beschränktes Phänomen ist.'
Dieser Zwang wirkt sich sogar auf das Verhältnis der Männer zu ihrem
Körper aus. Mal Walton hat das Masturbieren nur zufällig gelernt und es hat
ihm ziemlich gefallen:
Danach habe ich sehr viel masturbiert - wohl zu viel. Und irgendwann holt dich das dann
einfach ein. Ich habe in einem Buch gelesen, daß, wenn man zu oft masturbiert, und weil
die Hand härter ist als eine Vagina, man sich daran gewöhnt, daß es so hart ist. Und
dann geht man mit einem Mädchen und man kann, man kann es einfach nicht genießen.
Ist Ihnen das passiert?
Ja. Deshalb hab' ich total damit aufgehört. Ich brauch' es jetzt jedenfalls nicht. Nicht
mehr, das war's, sobald ich das herausgefunden hatte. Das hat mich wahnsinnig gemacht.
Der männliche Körper muß also zur Heterosexualität getrimmt werden. Andere Körper ebenso wie der eigene. Fels Freund Gary ist für ihn mehr oder
weniger wie ein Bruder ... alles haben wir zusammen gemacht: wir wurden
zusammen eingesperrt, wurden verprügelt, haben zusammen gefeiert.' Gary
hätte eines nachts Eel fast mit einem Gewehr Kaliber 22 im Verlauf eines alkoholgeschwängerten Streites umgebracht, weil Eel eine Exfreundin Garys
beleidigt hatte. Aber wenn es um die Verteidigung männlicher Sexualität
geht, sind sie sich schnell wieder einig.
Ich habe Schwierigkeiten, mich mit Schwulen abzufinden ... wir gingen immer Schwulenklatschen zum Cross und all das, ich und Gary, und ein paar von den anderen Jungs.
(Kings Cross ist in der Nähe des sozialen Schwerpunkts der Schwulen Sydneys.1 '
Aber Eel hat an dieser Front Ärger bekommen, weil sein älterer Bruder
,schwul geworden ist'. Eel respektiert mit sarkastischem Humor die Fähigkeit
seines Bruders, mit einer homophoben Umgebung zurecht zu kommen:
Alle seine Kumpels sind modische Yuppies, Schwule. Er kommt ab und zu raus und besucht mich und Mama. Und alle meine Kumpels hängen auch rum - sie sind alle wie ich.
Wenn sie da sind, fühlt er sich verlegen, genauso wie ich mich bei ihm Zuhause fühlen
würde. Aber er kommt damit zurecht, sehr gut sogar. Er versucht irgendwie, wenn er her
kommt, es beiden Seiten recht zu machen. Wenn die Jungs nicht da sind, gibt er sich so,
wie er ist. Und wenn die Jungs herüberkommen, benimmt er sich nicht so schlimm, wie er
eigentlich ist. Gerade so, daß sie einfach nicht..., daß er keinen Ärger bekommt, oder ich
oder Mama.
Die Sexualität der fünf Männer ist ausschließlich heterosexuell. Aber es
gibt in der Arbeiterklasse auch viele homosexuelle Gelegenheiten, wie die
AIDS-Forschung herausgefunden hat.' Paul Gray fand solche Gelegenheiten
früh, bei sexuellen Spielen mit einem Freund in der Grundschule. Sein erster
Koitus und seine erste Beziehung hatte er aber mit einem Mädchen, primitiv
und unbefriedigend: rein, raus, rein, raus, und ab geht die Post, so was war
das'. Dann entdeckte er die Klappen, öffentliche Toiletten, wo sich Männer
für anonyme homosexuelle Kontakte treffen:
Danach habe ich das mit den Klos herausgefunden, und deshalb war Sex nun eben diese
Klos. Ich habe einfach mal das Gekritzel an den Wänden gelesen. Na gut, dann habe ich
eben die andere Seite davon erkundet. Es war gut, es hat mir immer Spaß gemacht. Aber
wenn es vorbei war, wollte ich gehen, ich wollte nie über Nacht bleiben.
Es ist gut möglich, daß er sich damit auch Geld verdient hat. Trotz einiger
Beziehungen mit Männern hat er nie eine schwule Identität entwickelt. Aber
gleichzeitig war es ihm auch nicht möglich, die Identität einer heterosexuellen Männlichkeit auszubilden. Er fand vielleicht eine radikalere Lösung, wie
wir gleich sehen werden.
ännllchhelt als kollektive Praxis
Die Reaktionen dieser Männer auf ihre Lebensumstände sind ebenso individueller wie auch kollektiver Natur. Das sieht man an Eels Aussagen über seine Motorradclique:
Es war eigentlich keine richtige Gang.
Sie meinen damit, Ihr wart nicht wie die Hell's Angels?
Nein, nichts in der Art. Ich mein', gefeiert haben wir genauso wild wie die, aber wir hatten nicht diesen Ruf, verstehen Sie?. Hängten es nicht an die große Glocke. Wir machten
immer diese Wochenendfahrten, Tagesfahrten, Nachtfahrten, Parties und diese ganzen
Sachen.
Sein Bruder wuchs in der selben Schule der Aggression auf wie Eel, aber er
wurde noch größer und stärker: Er nahm mich hoch und knallte mich runter.
Wenn ich ihm Ärger machte - dann tat's weh!' Deshalb ließ Eel seine Ausflüge zum Kings Cross bleiben. Solange sie mir nicht in die Quere kommen,
kümmert es mich einen Scheißdreck, was sie treiben. Solange sie nicht meinen Weg kreuzen.'
Jeder hat sich total zugedröhnt?
Ja, ja, wir hatten einige tolle Parties. Wir besorgten uns immer ein paar Gramm und taten sie in eine Flasche, ein paar Gramm Speed oder sowas ähnliches. Manchmal brachte
jemand etwas Heroin oder sowas mit, wir rauchten uns blöd. Wir zerlegten das Haus, das
ich gemietet hatte, haben es total verwüstet. Die ganzen Parties, jede Nacht eine Partie.
Ich zog von zu Hause aus, zusammen mit einem Typ von der Arbeit konnten wir... er und
noch ein paar Mädels zogen mit mir zusammen. Aber bald haben sie uns hinausgeworfen,
und so sind wir in die Delta Road gezogen. Jede Nacht ne Partie. Immer kam irgendjemand daher und brachte was zu saufen mit, oder etwas Schnee oder irgendwas. Ja, so
war das, und immer waren da Bullen, die unsere Personalien aufnehmen wollten. So an
die 20 Motorräder standen jede Nacht vor dem Haus, sieben Tage die Woche. Eine einzi-
8
9
128
Rubin 1975, Rich 1980.
Connell, Davis und Dowsett 1993.
129
ge große Party, weil viele von uns zu der Zeit keine Arbeit hatten und wir nichts besseres
zu tun hatten.
Die Parties endeten oft mit Gewalttätigkeiten. Eels Beschreibung, wie eine
,Schlampe mit zu großer Klappe' von einem seiner Kumpels zum Schweigen
gebracht wurde, habe ich bereits zitiert. Häufiger waren aber Auseinandersetzungen zwischen den Männern.
Es handelt sich dabei nicht um unkontrollierte, psychotische Gewalt. Sie
ist vielmehr sozial definiert und sogar dosiert. Eel und seine Kumpel haben
Leute rausgeschmissen, die zu aggressiv wurden, um die gute Stimmung in
der Gruppe nicht zu gefährden:
Wie kamen die Leute miteinander aus?
Normalerweise ganz hervorragend, es war phantastisch. Und ab und zu passiert es halt,
daß da jemand ist, wo du einfach jedesmal die Wände hochgehen könntest, wenn der den
Mund aufmacht, sowas in der Richtung. Aber die werden eigentlich recht schnell wieder
hinausgedrängt. Ansonsten kamen wir alle wunderbar miteinander aus. Und das ist noch
immer so.
Die auftretenden Gewalttätigkeiten sind auf die Gruppe beschränkt, und haben deshalb auch keine polizeilichen Aktivitäten zur Folge. Wird die Gewalt
nach außen gerichtet, geschieht dies hauptsächlich symbolisch, wie Eel zugibt:
Waren Sie in viele Kämpfe verwickelt?
Nicht wirklich, sehr wenige eigentlich. Die meisten brauchen nur einen Blick auf uns zu
werfen und schon suchen sie das Weite. Kein großes Drama. Jeder, der den Mut gehabt
hat, es mit uns aufzunehmen, hat meistens schnell wieder einen Rückzieher gemacht.
Wart Ihr einfach zahlenmäßig überlegen oder... ?
Nein, ich denke, es hat viel mit dem Auftreten zu tun. So wie wir aussehen, und die Tatsache, daß wir Ohrringe und Tätowierungen tragen, und die Motorräder. Das genügt in der
Regel, daß alle anständigen Leute Schiß bekommen. Deshalb finden die meisten Kämpfe
eigentlich zwischen uns persönlich statt - Meinungsverschiedenheiten, verstehen Sie.
Die Ausnahme waren Ausflüge, um Homosexuelle zu verprügeln, und vielleicht auch asiatische Einwanderer.
Eel betont ausdrücklich, daß seine Gruppe keine Hell's Angels sind, aber
auch keine Comancheros' oder ,Bandidos', zwei Motorradclubs, die am ,Vatertags-Massaker' 1984 in Milperra, einem Vorort Sydneys, beteiligt waren.
Aber sie stammt mit Sicherheit aus dem gleichen Milieu, einem Netzwerk
von ,Outlaw'-Motorradclubs, das sich in den 50er und 60er Jahren in Australien und in den USA gebildet hat. Chris Cunneen und Rob Lynch beschreiben die zunehmenden Konflikte zwischen diesen Gruppen und der Polizei,
die in den jährlichen Ausschreitungen während des Bathurst Motorradrennens ihren Höhepunkt finden. Ihre Analyse der Bedeutung, die die Staatsgewalt bei der Entstehung dieser Konflikte spielt, bestätigte sich auch in diesen
Lebensgeschichten.''
10
130
Cunneen und Lynch 1988; Hopper und Moore 1983 über die USA.
Wie im ersten Kapitel beschrieben wurde, hat die Sozialwissenschaft
Männlichkeit mehr und mehr als kollektives Phänomen eingeschätzt, und unsere Erkenntnisse stützen diesen Ansatz. Natürlich sind auch individuelle
Handlungen notwendig. Eel trägt Ohrringe, trägt sein Haar vorne ganz kurz
und hinten lang, hat Tätowierungen auf beiden Armen und ein Motorrad. Für
sich allein betrachtet, würde das wenig bedeuten. Es ist die Gruppe, die auf
grundlegende Weise Männlichkeit repräsentiert. In einem anderen Milieu hat
Eel wenig zu melden. Momentan absolviert er einen kleinen Kurs an einer
Technikschule. Die Erfahrung, die er dort macht, sind beredtes Beispiel für
die Bedeutung des Milieus.
Na ja, mir fällt es irgendwie schwer, mit Frauen zu reden, besonders mit denen in diesem
Kurs. Da ist eine, da hätt' ich nichts dagegen, die kennenzulernen. Ich möchte nichts Falsches sagen, verstehen Sie, weil ich nicht weiß... Das ist eine ganz andere Sorte Mädchen...
macht mich manchmal ganz verrückt. Einmal habe ich sie und ein anderes Mädchen und
[ein Freund] im Auto mitgenommen, habe zuerst die anderen abgesetzt und dann sie nach
Hause gefahren. Wir können eine Viertelstunde nebeneinander im Auto sitzen und keiner
sagt ein Wort. Weil ich einfach nicht weiß, was ich sagen kann und was nicht.
Eine ganz andere Herausforderung, als sich einen Bettwärmer' aufzureißen,
in einem Setting, das ihm vertraut ist.
In den anderen Fällen findet sich keine so zusammengeschweißte Peergroup. Pat Vincent beispielsweise hat kein Motorrad und nur eine lose Clique
von Freunden. Er und sein bester Freund kommen gut miteinander aus, ge
hen zusammen surfen oder machen einen drauf, und quatschen viel miteinander, aber - wie Pat anmerkt - nicht sehr viel persönliches Zeug'. Es scheint
eine ritualisierte Beziehung zu sein, wo eine akzeptable Form von Männlichkeit gelebt wird. Pat ist schwulenfeindlich (,...sollten erschossen werden').
Deshalb sind er und sein Freund auch darauf bedacht, ihre Freundschaft nicht
in ein homoerotisches Fahrwasser geraten zu lassen.
Die Interviews lassen auch auf gewichtige Unstimmigkeiten in den Einstellungen gegenüber Sexualität und Geschlecht innerhalb dieses Milieus
schließen. Eine eher fadenscheinige, verächtliche Frauenfeindlichkeit, die
Frauen im Grunde genommen als bloße Einwegbehälter für den männlichen
Samen betrachtet werden, besteht neben großem Respekt und sogar Bewunderung für die Stärke der Frauen. Manchmal finden sich diese Sichtweisen
bei ein und demselben Mann. Homophobie ist weit verbreitet, aber nicht allgegenwärtig. Einige der jungen Männer handeln nach dem Motto: Leben und
leben lassen. Man fürchtet sich einerseits davor, Vater zu werden, weil es eine Bindung bedeuten würde, andererseits besteht auch der Wunsch danach,
vor allem nach einem Sohn. Wut auf die schwanger gewordene Freundin die Jungs suchen die Schuld nie bei sich selbst - liegt im Widerstreit mit der
praktischen Bereitschaft, mit den Frauen zusammenzuleben und die Betreuung des Kindes zu übernehmen. Die rituelle Verurteilung radikaler Feministinnen, die wir in den Interviews erwartet hatten, ging einher mit einer freimütigen und unbefangenen Befürwortung der Gleichberechtigung. Pat Vin-
cent zum Beispiel war gar nicht klar, was Feminismus eigentlich ist. Aber als
der Interviewer es ihm erklärte, stimmte Pat von ganzem Herzen zu:
Mal Walton ist ein Einzelkind und hat seinen Vater nie gesehen. Er hat
bis vor kurzem mit seiner Mutter und Großmutter gelebt:
Ich bin der Meinung, daß Frauen die gleichen Rechte haben sollten. Ich denke, sie haben
auch die gleichen Rechte, auch wenn viele Kerle noch Vorurteile haben und behaupten,
Frauen könnten das oder jenes nicht. Ich glaube, sie können alles, was wir können.
Wie war es, bei Ihrer Mutter und Großmutter aufzuwachsen?
Hart.
Diesen ideologischen Spannungen werden von verschiedenen Männern unterschiedlich gehandhabt, anscheinend unabhängig von der sozialen Position.
Und es scheint keinen kollektiven Prozeß zu geben, der diese Widersprüche
lösen hilft.
Auf der Ebene der Persönlichkeit habe ich mir die Lebensgeschichten hinsichtlich emotionaler Muster angesehen. Die klassische Psychoanalyse ist
hier keine große Hilfe. Angesichts der wirtschaftlichen Arrangements scheint
in diesen Familien weniger Aussicht auf primäre Identifikation mit der Mutter als in traditionellen bürgerlichen Familien zu bestehen. Aber es gibt auch
kein klar umrissenes Muster einer Identifikation mit dem Vater. Und überraschenderweise gibt es auch wenig Anzeichen für eine emotionale Besetzung
der Geschlechterdifferenz, wie wir es eigentlich erwartet hatten.
Jack Harley beispielsweise, ein Motorradfahrer mit einer langen Latte an
Gewalttaten und Vergehen, findet überhaupt nichts dabei, zuhause zu bleiben
und sich um das Kind zu kümmern, wenn seine Frau eine besser bezahlte
Stelle als er finden sollte. Einige seiner Kumpels machen genau das. Er hofft
auf eine Ausbildung als Barmann. Ihn interessiert daran vor allem der zwischenmenschliche Aspekt, Leuten zu begegnen und sich ihre Sorgen anzuhören. Eigentlich nicht unbedingt ausgesprochen männlich, sondern eher Frauenarbeit, die klassische Funktion einer Bardame.
Was hier sichtbar wird, ist eine Verbindung von scharf gezogenen Geschlechtergrenzen und einer (aus bürgerlicher Sicht) bemerkenswerten Indifferenz gegenüber der psychologischen Bedeutung dieser Grenze. Eine klare
Grenze wird bei Gewalt und Sexualität gezogen, beides unmittelbar körperliche Vorgänge. Jack ist homophob und macht sich Sorgen, daß Schwule und
Lesben immer zahlreicher werden. Er hat aber auch eine Lösung anzubieten:
Sex mit Männern ist in Ordnung, wenn ein Mann eine Frau werden möchte
(was auch eine Geschlechtsumwandlung nicht ausschließt); aber Sex mit
Männern, so wie sie sind, ist schlecht.
Eine solche Sicht der Geschlechterdifferenz - in einem eher ärmlichen
Kontext - ergibt psychodynamisch einen Sinn, wenn man einen weiteren
Gedankengang berücksichtigt. Aber schauen wir uns eine persönliche Entwicklung etwas genauer an.
13 2
Warum war es hart?
Zwei Frauen - und es fehlte einfach ein Mann, der mir mal - Sie wissen schon - den
Hintern richtig versohlt hätte. Weil ich schon... weil ich schon so ziemlich meinen Kopf
durchsetzte, wissen Sie, und deshalb habe ich mir einen Vater gewünscht, damit er mir in
den Arsch tritt und sagt das hättest du nicht machen sollen'. Ich habe nämlich immer das
Gegenteil gemacht. Ich habe meiner Mutter in den Arsch getreten und gesagt, nein, ich
will das machen'.
Aber als seine Mutter wollte, daß er seinen Stiefvater als Autorität respektiert, hat er sich widersetzt. Nur auf seine Großmutter hat er gehört. Als er in
die Pubertät kam, glaubte seine Mutter, keine Kontrolle mehr über ihn zu haben, jede Nacht trieb er sich herum und schlief mit Mädchen. Trotz Prügel
wurde er in der Schule immer schlechter. Mal weigerte sich, zu lernen, man
hielt ihn für einen Störer, und er wurde in eine Sonderklasse versetzt. Immer
öfter erschien er gar nicht mehr in der Schule. So früh wie es gesetzlich
möglich war, ging er von der Schule ab, ohne überhaupt Lesen gelernt zu haben; ein gravierender Makel auf dem Arbeitsmarkt. Er versuchte diesen Analphabetismus sowohl vor dem Arbeitsamt als auch vor den Arbeitgebern zu
verbergen.
Mal beging schon als Jugendlicher kleinere Delikte. Nach der Schule
verübte er schwerwiegendere Diebstähle, um sich Rauschgift leisten zu können. Mit 15 wurde er verhaftet, kam aber auf Kaution frei und hat es seither
geschafft, nicht mehr mit Gerichten zu tun zu bekommen. Nach drei recht
chaotischen Jahren, zumeist arbeitslos, hat er sich gefangen und ein paar
Gelegenheitsjobs gefunden, auch Schwarzarbeit. Davon hat er sich ein Motorrad geleistet und ein paar kunstvolle Tätowierungen. Mit dem Motorrad
hatte er bald einen Unfall und wurde schwer verletzt. Zur Zeit lebt er mit seiner Freundin zusammen und zum ersten Mal in einem eigenen Haushalt,
worauf er mächtig stolz zu sein scheint. Sie haben 2.000 Dollar Schulden und
er versucht nun herauszufinden, ob er sie durch Schwarzarbeit wieder loszuwerden kann.
Die Geschlechterpraxis ist hier im Grunde die gleiche wie bei Pat Vincent, Jack Harley, Eel und Paul Gray: Gewalt, Verweigerung in der Schule,
kleine Gaunereien, schwerer Drogen- und Alkoholmißbrauch, Gelegenheits
jobs, Motorräder und Autos, kurze heterosexuelle Affären. Etwas Rasendes
und Protziges hat dieses Verhalten. Hier wird nicht einfach das herkömmliche Männlichkeitsstereotyp übernommen, wie auch Paul Willis in seiner
Fallstudie über Bike Boys' in Großbritannien richtig bemerkt." Mal zum
Beispiel interessiert sich nicht für Sport, findet ihn ,langweilig'. Auch Pat
11
Willis 1978.
133
Vincent denkt so, Eel jedoch nicht, er hat seinen Spitznamen bekommen,
weil er als Kind begeisterter Anhänger der Rugby Mannschaft aus Parramatta
war, die sich the Fels' [,die Aale'] nannten.
Diese Praxis erinnert an das, was Alfred Adler männlichen Protest' genannt hat. Adlers Konzept (bereits im ersten Kapitel erwähnt) beschreibt eine
Motivstruktur, die sich aus der frühkindlichen Erfahrung der Machtlosigkeit
speist, die wiederum ein übertriebenes Machtstreben zur Folge hat, das in der
westlichen Kultur mit männlichem Verhalten verbunden wird. Auch diese
jungen Männer reagieren auf ein Gefühl der Machtlosigkeit, sie erheben Anspruch auf einen Teil der Macht, die auf ihr Geschlecht bezogen ist und treiben männliche Gepflogenheiten (Schwulenklatschen, wildes Motorradfahren) ins Extrem.
Aber der Unterschied ist, daß wir es hier nicht mit etwas Individuellem
zu tun haben, sondern mit einem kollektiven Verhalten. Sehr ähnliche Muster
kollektiver Praxis findet man in der amerikanischen Arbeiterklasse, vor allem
bei ethnischen Minderheiten und Straßenbanden''. Abgesehen von dem
Spannungspegel, den Armut und ein gewalttätiges Umfeld hervorbringen,
scheint es allerdings keinen üblichen Entwicklungsgang für diese Einstellung
zu geben. In Interaktion mit diesem Milieu legen sich die heranwachsenden
Jungen eine angespannte und groteske Maske zu und erheben einen Machtanspruch, für den ihnen alle Grundlagen fehlen.
Sie machen sich viele Gedanken um die äußere Wirkung, versuchen mit
aller Kraft, diese Männlichkeitsfassade aufrecht zu erhalten. Gerade bei Patrick Vincent habe ich das Gefühl eines falschen Selbst, mit einer offensicht
lich rigiden Persönlichkeit begegnet er den Anforderungen des Milieus, ohne
daß sich dahinter ein entwickelter Charakter befände. Er erschreckt mich. Eel
und Mal Walton erzählten, daß sie, sobald sie ein bißchen Geld gespart hatten, es mit beiden Händen wieder ausgaben. Eel fand das selbst beängstigend:
Am Schluß brachte ich in zwei Monaten allein 3000 $ mit Speed durch. Ich war völlig im
Arsch, zwei Monate lang. Ich wußte nicht mehr, wo ich war.
Haben Sie das genossen?
Ja, ich hab' es genossen. Ich genieß es immer noch, aber ich würde es nicht mehr so weit
treiben wollen.
Warum?
Nach den zwei Monaten habe ich eine Veränderung an mir bemerkt. Ich war sehr gereizt
- ein falsches Wort und ich bin an die Decke gegangen. Hab' Leute geschlagen, Sachen
im Haus zertrümmert, Wände eingerannt, hab' um mich geschlagen, Fenster eingeschlagen und so weiter...
In diesem Sinn ist Protestmännlichkeit nicht nur das Übernehmen der stereotypen männlichen Rolle. Sie ist vereinbar mit einer respektvollen und
12
134
Messerschmidt 1993, Kapitel 4.
aufmerksamen Haltung gegenüber Frauen (Mal Walton - im Kontrast zu Eels
Misogynie), einem egalitären Standpunkt in Geschlechterfragen (Pat Vincent), Zuneigung für Kinder (lack Harley) und einem Sinn für Selbstdarstellung, der im herkömmlichen Rollenverständnis entschieden weibliche Züge
aufweist. Mal Walton ist ein lebendes Kunstwerk. Sein Körper ist mit kunstreichen Tätowierungen übersäht, die er über die Jahre mit ebensoviel Sorgfalt
geplant und finanziert hat, als handelte es sich um einen Kleiderschrank voller Haute Couture.
Alan Rubin ist als Kind aus der Kontrolle geraten, hat die Schule geschwänzt
und mit 15 hingeschmissen. Er stammt aus dem selben sozialen und ökonomischen Milieu wie die gerade vorgestellten Männer. Aber er hat einen gelassenen, ironischen, intellektuellen, ,boheme-mäßigen' (sein Ausdruck) Stil
entwickelt. Er zieht über die Halbstarken' und Idioten' her und hat nichts
gegen Schwule. Ich denke, er hat die protestierende Männlichkeit durchschaut und sich bewußt davon distanziert.
Stewart Hardys abgebrochene Ausbildung wurde bereits erwähnt. Sein
Vater - ein Tagelöhner - hat kaum mit seinem Sohn gesprochen, außer wenn
dieser in die Kneipe gekommen ist, um ihn um Geld zu bitten. Seiner Mutter
stand er näher, stritt sich aber auch mit ihr, vor allem wenn Stewart mit seinem betrunkenen Vater aneinandergeriet.
Stewart konnte an seiner Familie nichts Positives finden und hat sich
weit von ihrem Leben entfernt, sowohl sozial als auch geographisch. Auch
von den brutalen Schulcliquen hat er sich - nach einem kurzen Flirt mit ih
rem aggressiven Gehabe - distanziert. Sein Schlupfloch fand er im Glauben.
Durch ein paar junge Frauen wurde sein Interesse geweckt und er engagierte
sich ein paar Jahre lang in einer sehr bibeltreuen Kirchengemeinde, was seine
ganze Energie in Anspruch nahm und ihn seine rauhen Schulkameraden vergessen ließ. Als er in die Großstadt ging, hatte er es endgültig geschafft, seine
Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er fand einen Bürojob, verlor den gerade erst gefundenen Glauben wieder, begann sich mit Computern zu beschäftigen, besuchte ein technisches College und versucht nun zu studieren. Er hat
eine Beziehung mit einem Mädchen, das sechs Jahre jünger, aber sexuell erfahrener ist als er. Der Intellektualismus ihres Freundeskreises verunsichert
ihn und er fragt sich, was sie wohl hinter seinem Rücken über ihn reden.
Auch Paul Grays und Danny Taylors Ausgangspunkt war mehr oder weniger die protestierende Männlichkeit. Bei Paul gab es Gewalt in der Familie,
Diebstähle, Besserungsanstalten und Gefängnisse. Dannys Männlichkeit
drückte sich etwas gemäßigter aus, seine Vorbilder waren ein footballverrückter Bruder und Vater. Wie Stewart Hardy haben Paul und Danny sich
135
von ihren Ursprüngen wegentwickelt, allerdings sehr viel radikaler und in der
Absicht, die hegemoniale Form von Männlichkeit zu negieren und ihr bewußt zu entsagen. Dannys Entwicklung wird im fünften Kapitel genauer betrachtet, deshalb hier nur das Wesentliche. Er hat sich mit seiner Mutter versöhnt, erlebte sich später in einer Liebesbeziehung als emotional abhängig,
hat sich davon zu befreien versucht und sich schließlich für Umweltschutz
engagiert. Er hat von einer Umweltschutzorganisation eine Stelle angeboten
bekommen, und auf der persönlichen Ebene hat er versucht, die feministische
Kritik an der männlichen Frauenverachtung zu akzeptieren.
Die Entwicklung von Paul Gray ist noch überraschender. Sein früher
Abgang von der Schule, seine kleinen Delikte, Aufenthalte in Heimen und
Gefängnissen, Gewalttätigkeiten gegenüber Mutter und Schwester und seine
erstes sexuellen Erfahrungen erinnern sehr an die Geschichten von Jack
Hartley, Patrick Vincent und Mal Walton. Aber andererseits hat sich Paul in
den Klappen mit Schwulen getroffen. Am Ende seiner Pubertät war er Zaungast in der Welt der Homosexuellen, mit einer heimlichen Vorliebe für Frauenfummel, und gleichzeitig hat er sich nach einer Beziehung mit einer Frau
gesehnt. Er ist durch Australien gereist, saß wegen Drogenbesitzes im Gefängnis, wo er beinahe vergewaltigt wurde. Zufällig lernte er dann eine Frau
kennen, mit der er ein paar Jahre liiert war, und reiste schließlich nach Übersee.
Als er wieder in Australien war, begann er, regelmäßig Frauenkleider zu
tragen, und versucht` nun, als Frau zu leben. Das hat seine Verwirrung' (wie
er es bezeichnet) behoben und ihn von Spannungen' erlöst, aber es wird
deutlich, daß es ihm auch Mühe bereitet:
Haben Sie sich so auch schon in der Öffentlichkeit gezeigt?
Ja, seit eineinhalb Jahren, wenn ich ausgehe, dann hauptsächlich als Frau.
Ist das für Sie ein Unterschied?
Ja, schon. Weil... ich bin mir dann der Menschen um mich herum stärker bewußt. Es fällt
mir immer noch schwer. Aber es ist eine Sache der Selbstüberwindung. Und ich habe da
so eine Regel: sobald ich aus der Haustür bin, gibt's kein Zurück mehr. Ich gehe vor allem in Schwulenbars oder so. Ins Kino, in Restaurants. Die meisten meiner Freunde, fast
alle, wissen es jetzt. Mein Arbeitskollege weiß es auch. Erst letzte Woche habe ich es ihm
gesagt und das war eine lustige Angelegenheit, es ihm zu sagen.
Aber alles hat seinen Preis. Er überschreitet die Grenze nicht völlig (was die
wenigsten Transvestiten machen), und nimmt dafür physische und soziale Risiken in Kauf. Außerdem ist daran seine längste Beziehung zerbrochen, weil
seine Partnerin seine Neigung nicht tolerieren konnte.
Die Wissenschaft betrachtet Transvestismus und Transsexualität als pathologische Syndrome,
die durch Störungen in der Frühentwicklung verur3
sacht werden. Natürlich hatte Paul Gray einen distanzierten Vater. Aber das
ließe sich über der Hälfte der Männer in dieser Gruppe auch sagen. Seine
13
136
Stoller 1968; zur Kritik siehe das erste Kapitel.
Kindheit war für dieses Milieu durchaus nicht ungewöhnlich. Und in seiner
Pubertät besaß er alles andere als eine weibliche Identität, sondern war gewalttätig, kriminell und scharf auf Mädchen. Die konventionelle Psychopathologie begreift weder die strukturelle Ebene, noch die aktive Rolle des Individuums in einer solchen Geschichte. Das Ergebnis der widersprüchlichen
Beziehungen und Gefühle in Pauls Leben hätten kaum vorhergesagt werden
können. Paul konstruierte dieses Ergebnis als eine Praxis, muß immer noch
weiter daran arbeiten, und auch dafür bezahlen.
Die Lebensgeschichten zeigen trotz grundsätzlich vergleichbarer Ursprünge
sehr auseinanderstrebende Entwicklungen. Die resultierenden Männlichkeiten repräsentieren in den meisten Fällen zwei der Positionen, die im dritten
Kapitel beschrieben wurden. Protestierende Männlichkeit ist eine marginalisierte Form von Männlichkeit, die Inhalte der hegemonialen Männlichkeit
aufgreift, diese aber im Kontext der Armut modifiziert. Stewart Hardy und
Alan Rubin haben - jeder auf seine Weise - eine Komplizen-Männlichkeit
entwickelt, die sich zwar von den allzu offensichtlichen Machtpositionen distanziert, aber die Privilegien des eigenen Geschlechts dennoch akzeptiert.
Danny Taylor und Paul Gray haben diese Privilegien zurückgewiesen.
Paul ist - wie man vielleicht hinzufügen muß - nicht auf eine Geschlechtsumwandlung aus. Er will sich nicht operieren lassen, sondern er will einfach
,als Frau leben', auch im Alltag. Seine Praxis stellt nichtsdestotrotz eine Abkehr von einer männlichen Identität dar. In dieser Hinsicht ist er - trotz eines
völlig anderen Erscheinungsbildes - mit Danny vergleichbar, der sich von
seinem männlich geprägten Bewußtsein zu befreien versucht. In diesen zwei
Fällen wird die Begrenztheit einer Klassifikation von Männlichkeiten überschritten. Wir können diese Persönlichkeiten nicht mehr als Typen von
Männlichkeit definieren. Und trotzdem ist ihr Verhalten natürlich in den Begriffen einer Männlichkeitspolitik verstehbar.
Eine aktive Auseinandersetzung mit bestimmten Situationen und der
Versuch, sich eine eigene Lebensweise zu konstruieren, sind ganz entscheidend bei der Entstehung des sozialen Geschlechts. Der politische Charakter
dieser Prozesse bildet die Grundlage für die Unterschiede zwischen den einzelnen Männern.
Sie alle sind sozial benachteiligt. Der Ausgangspunkt der Konstruktion
ihres sozialen Geschlechts war geprägt von Armut und weitgehendem Ausschluß von kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen. Die Wut der Motor
radfahrer auf Spießer' ist sowohl ein Klassenvorurteil als auch ein Ausdruck
kollektiver Männlichkeit. Die Ablehnung der protestierenden Männlichkeit
durch Stewart Hardy ist eng verknüpft mit seinem schwer errungenen sozia137
len Aufstieg und seiner Entdeckung einer klassengebundenen Praxis, die versucht, Einfluß auf Erziehung, Religion und Wirtschaft auszuüben.
Obwohl Alan Rubin sich der protestierenden Männlichkeit und ihren
Verhaltensregeln verweigert, ist er gegenüber Konventionen und Autoritäten
noch verbitterter als die Motorrad-Typen. Er hält das politische und ökono
mische System für durch und durch korrupt' und Religion für , Mumpitz'. Er
schimpft über die ,Plastikmenschen', die nur vor sich hinleben', ohne eine
Ahnung zu haben, was eigentlich vor sich geht. Alan verweigert sich einer
Anstellung, wo er von Leuten Anweisungen erhält, die ich für Idioten halte',
und Profite für Unternehmer zu erwirtschaften, die schon längst Millionäre
sind. Der Kodex der Rache - wenn mir jemand die Hölle heiß macht, kann
er das Gleiche von mir haben' - besitzt hier als Klassenstatement eine tiefere
Bedeutung. Aber de facto schlägt Alan noch nicht zurück. In ihrem Forschungsklassiker schrieben Richard Sennett und Jonathan Cobb über die
verborgenen Klassen-Verletzungen' bei amerikanischen Männern." Hier
handelt es sich zu einem guten Teil auch um Klassenverletzungen, weil man
sich der Beschränktheit der eigenen Möglichkeiten und Handlungen bewußt
ist, aber auch Klassenhaß spielt eine Rolle.
Trotz seiner gehobenen Bildung bleibt Stewart Hardy homophob und
misogyn. Sein Verhalten gegenüber Frauen ist manipulativ. Wenn man ihn
auf den Feminismus anspricht, antwortet er ausschweifend und konfus, aber
vor allem verärgert. Und ganz anders als Pat Vincent oder Jack Hartley hegt
er die übliche Abneigung gegen die Vorstellung, seine Frau könnte mehr
Geld als er selbst verdienen, weil es sein Selbstwertgefühl verletzten würde.
Stewart und Alan wollen zwar die Vorteile der männlichen Vorherrschaft
genießen, aber nicht den Preis dafür zahlen. Körperlichen Konfrontationen gehen sie aus dem Weg, auch den emotionalen Anstrengungen, die die Gemein
schaft mit ihren Kumpels erfordert. Sie schauen mit Verachtung auf die auf naive Weise maskulinen Idioten und die kleinen Scheißer' herab - auf Leute wie
Eel oder Patrick, die die Dreckarbeit der Geschlechterpolitik für sie erledigen.
Trotz ihrer aufrichtigen Distanz zur hegemonialen Männlichkeit, hat man
doch Schwierigkeiten, sie als Widerstandskämpfer gegen das Geschlechtersystem zu sehen. Vielmehr ist ihre Männlichkeit ein Komplize im Patriar
chatskollektiv. Und man könnte sogar soweit gehen, zu sagen, daß diese
Männer weniger zur Aufrechterhaltung des Patriarchats beitragen, deshalb
aber auch weniger Widerstand und Veränderungsbereitschaft aufbringen als
die protestierende Männlichkeit. Diese entwickelt sich in einer randständigen
Klassenlage, wo der für hegemoniale Männlichkeit essentielle Machtanspruch
permanent durch wirtschaftliche und kulturelle Schwäche in Frage gestellt
wird. Mal Walton mag kräftig sein und seine Tätowierungen angsteinflößend, aber er kann nicht einmal lesen. Eel ist vielleicht der zäheste Bursche
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13 8
unter diesen Raufbolden, aber der Arm des Gesetzes ist trotzdem stärker als
sie alle zusammengenommen, und dessen sind sie sich auch bewußt.
Aufgrund ihrer Klassensituation und ihrer Praxis (z.B. in der Schule) haben diese Männer den Großteil der patriarchalen Dividende eingebüßt. Die
wirtschaftlichen Vorteile beispielsweise, die Männer in der Regel gegenüber
Frauen genießen, hinsichtlich Beförderungschancen und Weiterbildung, haben sie verpaßt. Wenn sie diese Fliederlage akzeptieren, billigen sie auch ihre
soziale Benachteiligung. Wenn sie direkt dagegen angehen wollen, stellt sich
ihnen die Staatsmacht in den Weg.
Eine Möglichkeit, diese Widersprüche zu lösen, besteht in dem bemerkenswerten Versuch, die Randständigkeit und Stigmatisierung anzunehmen
und ihnen Wert zu verleihen. Auf der Ebene der Person hat das eine ständige
Beschäftigung mit Wirkung oder Glaubwürdigkeit zur Folge. Dies ist aber
kein zwangsläufiger Schutzmechanismus einer traditionellen Unterschichtsmännlichkeit. Jack Harley ist es - wie schon gesagt - egal, ob nun seine Frau
mehr verdient als er. Aber er ist außer sich, wenn man ihm das Kind eines
anderen unterschieben will oder wenn seine Frau fremdgeht. Eine glaubhafte
Abschreckungsstrategie ist ihm wichtig, Angriffe zu verhindern durch den
Ruf, jemand zu sein, der zurückschlägt. Immer wieder fallen in dem Gespräch mit ihm Sätze wie: wenn mir jemand ein Messer auf die Brust setzt,
tu' ich das gleiche'.
Auf Gruppenebene betrachtet, erscheint die kollektive Männlichkeitspraxis wie eine Art Inszenierung. Eels Parties finden vor Beobachtern statt,
die zum Schweigen gebrachten Frauen und die Bullen vor der Tür; und auch
die Motorradfahrer werden bei ihren gemeinsamen Ausfahrten von den
,normalen' Leuten beobachtet. Was immer man von ihrem Skript halten mag,
man muß anerkennen, daß sie es sehr gekonnt darstellen.
Das Tragische an ihrer Männlichkeitsinszenierung ist, daß sie zu nichts
führt. Keiner der fünf hat einen Schimmer von einer individuellen oder gemeinsamen Zukunft, außer einfach so weiterzumachen. Eel wird einen klei
nen Computerkurs absolvieren und malt sich aus, daß er dabei gut zurechtkommen wird, aber diese Vorstellung wird sofort zunichte gemacht:
Ich denke wirklich nicht viel über die Zukunft nach, ich lebe einfach in den Tag hinein.
Eines Tages wird aus mir hoffentlich ein Computerfachmann werden. Und wenn mit diesem Trainingskurs alles klappt, wenn ich danach irgendwie Fuß fassen kann, arbeite ich
mich hoch zu einem Fachmann, einem Programmierer oder Systemanalytiker. Entweder
klappt das oder ich bin mit vierzig tot.
Weshalb?
Ich weiß nicht. Naja, nach dem Motto: lebe schnell und stirb jung... ich liebe meine Motorräder. Ich werde Mottorad fahren bis ich tot umfalle. Ich werde auf dem Motorrad
sterben. Ich werde auch nicht die wilden Parties aufgeben. Das ist auch eine Art Lebensstil, oder? Wie die Rastafari, ich bin ein Anhänger dieser Religion.
Sennett und Cobb 1973.
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Diese Bemerkungen sind nicht so beiläufig wie sie klingen. Der Tod, und vor
allem der Tod auf dem Motorrad, ist ein mächtiger Topos in der internationalen Motorradszene."
In den Interviews mit Pat Vincent und Mal Walton, die eigentlich nicht
so eloquent waren wie Eel, finden sich immer wieder Passagen über die Dinge, die sie ihren Kindern mitgeben wollen. Pat wünscht sich einen Sohn, und
er malt sich aus, daß er ihm Boxen und Krafttraining beibringt, damit er, sobald der Junge achtzehn ist, jedem, der ihn angreift, fertig machen kann. Mal
wünscht sich auch einen Sohn, der seinen Namen weiterträgt, aber auch eine
Tochter (,weil man sie herausputzen kann, bis sie richtig süß aussehen'). Er
will, daß sein Sohn das verwirklicht, was ihm verwehrt wurde. Er will ihm
auch sein äußerst kostbares Wissen vermitteln, nämlich:
Klar, wenn er einen Joint rauchen will, kein Problem, solange er ihn mit mir raucht. Oder
wenn er ihn in meiner Nähe raucht. Und ich will nicht... seine erste Erfahrung mit Drogen
soll wirklich... nicht daß er sich etwas Speed besorgt, das aber verschnitten ist, was manche Leute machen, und er es sich reinpfeift ohne es vorher zu filtern, dann hätte er einen
wirklich schlechten Trip. Ich will, daß er zu mir kommt und sagt: Schau mal Paps, ich
will Speed ausprobieren' oder ich will einen Joint rauchen' oder ich will mich zusaufen'. Solange er zu mir kommt und es dann tut und ich Bescheid weiß, so daß ich weiß,
daß er weiß, worauf er sich einläßt und worum es da geht.
Protestierende Männlichkeit wirkt wie eine Sackgasse. Sie ist zwar eine aktive Reaktion auf die Situation und gründet in einer maskulinen Arbeiterklassen-Ethik der Solidarität. Aber diese Solidarität trennt die Gruppe vom Rest
der Arbeiterklasse. Der Verlust der ökonomischen Basis männlicher Autorität
führt zu einem gespaltenen Bewußtsein - Egalitarismus und Misogynie statt zu neuen politischen Zielen.
Die Fluchtwege von der hegemonialen Männlichkeit, die Danny Taylor
und Paul Gray eingeschlagen haben, sind auf ihre Art genauso dramatisch
wie die Verhaltensmuster der Rocker. Im Gegensatz dazu sind sie aber sehr
stark individualisiert. Danny versucht, die hegemoniale Männlichkeit und deren kollektiven Charakter völlig zu negieren, indem er ein neues Selbst sucht,
kein gemeinsames Projekt mit anderen.
Paul ist sogar noch viel mehr mit sich selbst beschäftigt. Er arbeitet gerade an seinem Coming Out als Mann in Frauenkleidern gegenüber seinen
Freunden und Verwandten, an seiner Arbeitsstelle hat er sich gerade zu sei
ner Neigung bekannt. Er versucht, sich den öffentlichen Raum zu erobern,
während er Frauenkleider anhat, versucht herauszufinden, wie es sein Sexualleben verändert, wenn er als Frau lebt, und versucht, seine Vergangenheit neu zu sehen. Er ist kein gewöhnlicher Transsexueller" und behauptet
nicht, wirklich eine Frau' zu sein. In seinem Leben hat sich ein Widerspruch
15
16
Congdon 1975, Willis 1978.
Nach der Definition, die beispielsweise Bolin 1988
det.
140
für seine Untersuchung
verwen-
entwickelt, der die Bedeutung seines sozialen Geschlechts gespalten, aber
nicht überwunden hat. In guten Momenten fühlt er sich wie eine Frau im
Entstehen, und gibt sich widerstreitenden Phantasien hin, die ihm seine Zukunft als Mann und als Frau mit männlichen Genitalien beschreiben. Wo die
Entwicklung auch hinführen mag, sie ist jedenfalls völlig individualisiert.
Pauls Geschlechterpraxis tendiert dazu, die kulturelle Dimension des sozialen Geschlechts noch weiter zu entfalten, wohingegen das Verhalten der
Rocker sie abschwächt. Pauls Verhalten besitzt auch eine politische Dimen
sion, die zwar schwer zu fassen ist, die aber seinem Wechsel der Position im
Geschlechterverhältnis innewohnt. Geschlechterpolitik kann durchaus darauf
abzielen, die Sphäre, in welcher das soziale Geschlecht ausgedrückt oder repräsentiertwird, komplizierter und wechselseitig befruchtender zu gestalten,
statt sie schrumpfen zu lassen.
Trotzdem ist es mehr als unwahrscheinlich, daß Dannys grüner Aktivismus oder Pauls Stöckelschuhe die Vorboten einer Massenbewegung bei der
Arbeiterjugend darstellen. Die langfristigen Aussichten haben eher mit den
Rahmenbedingungen zu tun, die zwar von der protestierenden Männlichkeit
überlagert werden, aber dennoch die Lebensgeschichten dieser arbeitslosen
Männer bestimmen: die wirtschaftliche Logik, die egalitäre Haushaltsführung
ermöglicht und die Stärke der Frauen erfahrbar macht, aber auch das Interesse einiger Männer an Kindern (ein Interesse, das nur wenige bei ihren Vätern
wahrgenommen haben). Diese Aspekte sprechen für eine häusliche Gleichberechtigung der Geschlechter, die im Gegensatz steht zum hypermaskulinen
Auftreten in der Motorradszene.
Hier finden sich interessante und vielleicht wichtige Möglichkeiten. Ob
sie verwirklicht werden, hängt davon ab, ob sich bei den Männern aus der
Arbeiterklasse ein explizit politischer Umgang mit Geschlechterfragen ent
wickelt. Wie die Vereinigten Stahlarbeiter Amerikas (in Kanada) und die
Bauarbeitervereinigung (in Australien) gezeigt haben, kann sich etwas derartiges auch in männlich geprägten Gewerkschaften entwickeln." Aber in einer
Zeit, da die Gewerkschaften sich eher auf dem Rückzug befinden, oder für
die Verteidigung der noch existierenden Arbeitsplätze kämpfen, fällt es
schwer, an einen Wandel auf breiter Front zu glauben.
17 Corman, Luxton, Livingstone
und
Seccombe 1993, Burgmann 1980.
5, Eine ganz(e) neue Weit
Dieses Kapitel behandelt Erfahrungen, die sich radikal von denen der protestierenden Männlichkeit unterscheiden. Es geht um eine Gruppe von Männern, die versucht haben, ihre Männlichkeit zu reformieren, teilweise aufgrund feministischer Kritik. Sie sind genau jene ,Softies', die von der mythopoetischen Männerbewegung und anderen Männlichkeitserneuerern verspottet werden. Aus der Nähe betrachtet sind ihre Geschichten viel schwieriger,
aber auch interessanter, als solche Abwertungen vermuten lassen.
Im vorangegangenen Kapitel wurde die divergente Entwicklung des sozialen Geschlechts trotz gleicher Ausgangssituation hervorgehoben. Die
Männer, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, haben dagegen sehr ähnli
che Entwicklungen durchgemacht. Deshalb werden wir ihre Lebensgeschichten eingehender untersuchen und den internen Widersprüchen größere Aufmerksamkeit zuwenden.
Zuerst ist wichtig, in welchem gesellschaftlichen Umfeld die Begegnung
dieser Männer mit dem Feminismus stattgefunden hat. Wie in den Vereinigten Staaten hat sich auch in Australien mit Beginn der Studentenbewegung
eine Gegenkultur zu entwickeln begonnen. Gegen Ende der 70er Jahre entstand im Zuge der Umweltbewegung ein über die östlichen Staaten verstreutes Netzwerk von Landkommunen und alternativen Haushalten. Die Alternativszene blieb aber im wesentlichen ein städtisches Phänomen.
Mit dem Rückzug radikaler politischer Ideen Mitte der 70er Jahre verschob sich auch der Schwerpunkt der Alternativkultur in Richtung auf Introspektion und persönliche Beziehungen. Bereits anfang der 80er Jahre gab es
ein gut entwickeltes therapeutisches Umfeld, das sich individueller Heilung
und Wachstum widmete. Oft in Verbindung mit einem Interesse an Meditation, Vegetarismus, ganzheitlichen Philosophien und an der Erhaltung der natürlichen Umwelt.'
Zur selben Zeit entstanden im Dunstkreis dieser Umweltschutzbewegung
neue Aktivitäten. Gruppen wie ,Friends of the Earth', Greenpeace oder die
1
Hintergrundinformationen über die australische Alternativszene liefern Smith und
Crossley 1975.
143
Bewegung gegen den Uranabbau wurden zu Trägern einer neuen Jugendbewegung. Und dadurch wurden auch etablierte Gruppen wie die Australien
Conservation Foundation' zu militanteren Aktionen angestachelt. Anfang der
80er Jahre war diese Bewegung so stark, daß es ihr gelang, eine langanhaltende Blockade einer Staudammbaustelle am abgelegenen Franklin River in
Tasmanien zu organisieren. Diese sehr öffentlichkeitswirksame und populäre
Aktion zum Schutz der Wildnis hat auch zur Niederlage der konservativen
Bundesregierung bei den Wahlen 1983 beigetragen.'
Aus der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre ist auch eine Bewegung zur Befreiung der Frauen hervorgegangen, die etablierte Frauenorganisationen verdrängte und rasch an Bedeutung gewann. Im internationalen Jahr
der Frau 1975 war dieser neue Feminismus bereits ein Hauptthema in den
Medien. Ende der 70er Jahre hatte sich der Feminismus konsolidiert und in
der Gesellschaft etabliert, in Form von vielfältigen Fraueneinrichtungen, in
der Verwaltung, an den Universitäten, unter den Studierenden und in der Alternativszene.
Auch der Einfluß auf die Umweltbewegung war Anfang der 80er Jahre
sehr groß. ®ko-Feminismus hatte sich international zu einem der Hauptthemen des feministischen Denkens entwickelt, auf einer Wellenlänge mit der
Kritik der Grünen an zerstörerischem Wachstum. Es gab zwar Konflikte mit
den Männern in den Umweltschutzgruppen, viele von ihnen zeigten sich aber
auch für feministisches Gedankengut empfänglich. In der australischen Politik findet man kaum einen Bereich, wo der feministische Druck erfolgreicher
gewesen wäre. Männer, die sich mit Umweltschutz beschäftigen, können ungeachtet ihrer eigenen Lebensgeschichte eine Geschlechterpolitik, wie sie der
Feminismus zur Diskussion gestellt hat, einfach nicht ignorieren.
Die sechs Männer, die wir in diesem Kapitel vorstellen werden, kommen
alle aus der Umweltbewegung, haben teilweise aber auch noch weitergehende Erfahrungen in der Alternativszene gemacht. Barry Ryan (22 Jahre) macht
eine Ausbildung zum Krankenpfleger, Danny Taylor (23) arbeitet im Büro
einer Umweltorganisation, Bill Lindeman (28) ist freier Photograph, Nigel
Roberts (31) ist zur Zeit arbeitslos, Tim Marnier (33) arbeitet im öffentlichen
Dienst, und Peter Geddes (50) ist freier Journalist.
Alle sechs sind heterosexuell, zwei von ihnen haben Kinder. Sie stammen alle aus der Stadt, haben aber im Lauf ihres politischen Engagements
zumeist eine Zeitlang auf einer Farm oder im Busch gelebt. Drei waren un
mittelbar an der Aktion am Franklin-Staudamm beteiligt. Und alle haben bei
irgendwelchen anderen Aktionen in Australien mitgemacht, zum Beispiel
zum Schutz des Regenwaldes.
2
3
144
Die Aktion am Franklin-Staudamm wird dokumentiert in Wilderness Society 1983.
Die australische Umweltschutzbewegung beschreibt Hutton 1987; eine hervorragende Studie über Strategien und Realismus der Basis bietet Watson 1990.
Die Geschichte der Bewegung dokumentiert Curthoys 1988.
Die frühesten Erinnerungen dieser Männer und was sie uns von ihren Herkunftsfamilien berichten, deuten auf die üblichen Kindheitserfahrungen. In
allen Fällen war die Mutter primäre Bezugsperson. Bei fünf von den sechs
blieb die Mutter während der ersten Jahre den ganzen Tag zuhause. Die Bedingungen einer präödipalen Identifikation mit der Mutter waren sehr viel
günstiger als bei den meisten Männern im vorangegangenen Kapitel, was
natürlich auch ein deutliches Licht auf die finanziellen Verhältnisse dieser
Familien wirft.
Die feministische Theorie der Objektbeziehung hat uns sehr deutlich auf
die seelische Belastung durch eine Störung dieser frühen Mutter-Kind-Dyade
aufmerksam gemacht, eine Belastung, die in den Kindheitserinnerungen fast
aller Männer dieser Gruppe erkennbar wird. Aber auch die mächtigen und distanzierten Väter spielen eine wesentliche Rolle als Identifikationsfiguren in
der klassischen postödipalen Situation. Bei Barry Ryan ist die Identifikation
mit seinem Vater am augenfälligsten, bei Tim Marnier ähnlich deutlich. Beider Väter waren berufstätig, mit erkennbarer sozialer Autorität, und werden
von ihren Söhnen als irgendwie entfernt geschildert. Aber sogar in diesen
Fällen ist Identifikation nicht alles. Barrys Eltern haben sich getrennt, als er
12 war. Im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern wollte Barry bei seinem Vater bleiben, und die Umstände legen nahe, daß hinter der Identifikation ein gewisses Maß an ödipalem Begehren zu vermuten ist.
Aber andere Lebensläufe zeigen, daß man seinen Blick nicht zu sehr auf
die ödipale Triade von Vater, Mutter und Sohn beschränken darf. Der Vater ist
im Umfeld eines kleinen Jungen nicht der einzige Repräsentant von Männlich
keit. Tatsächlich kann er in manchen Familien weniger gegenwärtig sein als
zum Beispiel ein älterer Bruder. Demgemäß war es auch der Bruder, der Danny
Taylor bei der Hand nahm und ihm alles über Sex beibrachte, der am Ende seiner Kindheit und zu Beginn seiner Adoleszenz sein bester Freund' war. Wir
gingen zusammen raus, spielten immer zusammen, teilten uns ein Zimmer und
teilten auch sonst sehr viele Dinge.' Der Bruder wurde für ihn zu einem Modell
für seine sich entwickelnde Männlichkeit. Und ein Modell hegemonialer
Männlichkeit: sein Bruder war ein Footballstar, angestachelt von seinem football-verrückten Vater. Deshalb fing auch Danny an, Football zu spielen.
Oberflächlich betrachtet gibt es also zwei Arten der Reproduktion hegemonialer Männlichkeit: vom Vater zum Sohn, und vom älteren Bruder zum
jüngeren Bruder. In der psychoanalytischen Terminologie würde man diese
Prozesse als Identifikation bezeichnen, oder in den Begriffen der Geschlechtsrollentheorie als erfolgreiches soziales Lernen. Aber diese Lesarten
sind zu mechanisch. Schließlich handelt es sich hier um eine aktive Aneignung des Gegebenen, die zielgerichtete Konstruktion des In-der-Welt-Seins.
Ich möchte diese Aneignung als den Moment des Sich-Einlassens mit der
hegemonialen Männlichkeit bezeichnen, der Moment, in dem der Junge das
145
Konstrukt der hegemonialen Männlichkeit für sich übernimmt. Dieser Moment ist in allen sechs Lebensläufen auszumachen. Keiner dieser Männer
wurde sozusagen als Feminist geboren. Jeder kam in seiner Entwicklung an
einen Punkt, wo er sich substantiell mit der hegemonialen Männlichkeit eingelassen hat. In den Gesprächen finden sich die vertrauten Themen: Konkurrenzdenken, Karriereorientierung, Unterdrückung von Emotionen, Homophobie.
Wie ich im zweiten Kapitel zu zeigen versuchte, ist die körperliche Ebene entscheidend für die sozialen Prozesse. Zentralen Anteil an diesem Moment des Sich-Einlassens haben demnach auch spezielle Erfahrungen des ei
genen Körpers und eine bestimmte physische Sensibilität. Barry Ryan, der
eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert, sagt, er habe gelernt, ,weibliche' Eigenschaften wie Empfindsamkeit, Expressivität oder Fürsorge an
sich zu schätzen, und hat gleichzeitig männliche Eigenschaften, die man ihm
in der Schule beigebracht hat, abzulehnen begonnen. Aber andererseits sagt
er von sich:
Ich bin immer noch ziemlich männlich und fühle mich auch entschieden als Mann, mag
das auch. Manche Eigenschaften gefallen mir auch sehr: körperliche Stärke zum Beispiel,
ich mag meinen Körper wirklich. Auch diese eher mentale Stärke, die man Männern beibringt, seine Gefühle auch einmal beiseite lassen zu können, finde ich großartig.
Dieser Prozeß der Maskulinisierung erfaßt auch die Wahrnehmung und körperliche Reaktionen wie die sexuelle Erregung. Er rückt körperliche Erfahrungen in den Vordergrund, bei denen Frauen als die anderen' begriffen
werden und sexuelles Begehren als ein Begehren eben dieser anderen definiert wird. Die zwangsläufige Heterosexualität formiert sich auf der Ebene
körperlicher Vorgänge, als Wahrnehmungsmuster oder Wahrnehmungsvermögen (zum Beispiel sexuelle Erregung ausschließlich als Reaktion auf
Frauen). Ich werde dieses Muster heterosexuelle Sensibilität' nennen, ein
unbeholfener Ausdruck für ein allerdings sehr wichtiges Konzept.
Diese heterosexuelle Sensibilität kann als gegenläufige Bewußtseinsschicht innerhalb einer sozialen Praxis, die Weiblichkeit hervorbringt, existieren. Dies zeigt sich in Barry Ryans Selbstempfinden als männliche Kran
kenschwester. In der Regel liegt sie aber den sozialen Praktiken zugrunde,
die Männlichkeit konstruieren. Aus diesem Grund empfinden Männer heterosexuelle Anziehung als etwas Natürliches, untrennbar verknüpft mit ihrem
männlichen Körper.
In der Jugend wird die Konstruktion von Männlichkeit zu einem kollektiven Prozeß, der gewöhnlich in einer Gruppe von Gleichaltrigen abläuft.
Man kennt ihn aus vielen Jugendstudien, was deshalb keines großen Kom
mentars bedarf. Peter Geddes erinnert sich mit gemischten Gefühlen an seine
Jugend:
Als Jugendlicher gingst du abends aus und hast dich betrunken, um Schüchternheit oder
Nervosität zu besiegen. Und dann hast du dich an jede rangeschmissen, wirklich an jede,
146
vor allem natürlich an die Hübscheren, aber wenn das nicht geklappt hat, war es wirklich
auch egal, solange du nur eine gefunden hast, die sich flachlegen ließ. Nach diesem Muster verlief mein jugendliches Sexualleben und eigentlich auch noch meine Ehe zum
größten Teil: ich war besoffen und bekam meinen Schwanz hinein und hatte dann
schließlich einen Orgasmus... dann sagte ich danke, das war ganz nett, gute Nacht', dann
ging ich nach Hause oder drehte mich um und schlief ein.
Die Familie und die Peer-group boten reichlich Gelegenheit, die hegemoniale
Männlichkeit und deren Strukturierung sexuellen Begehrens zu festigen.
Die herkömmlichen Bindungen waren aber alles andere als spannungsfrei,
wodurch die Entwicklung auch in andere Richtungen gelenkt werden konnte.
Danny Taylors Weg zum Erwachsenen verlief nicht so geradlinig wie der
Beginn vermuten lassen könnte. Seine Versuche, den Bruder zu imitieren
und sich Männlichkeit anzueignen, führten zu einer Dialektik.
Um seinen Vater zu beeindrucken, fing er an, Football zu spielen, aber es
klappte nicht. Die Allianz zwischen Vater und Bruder erwies sich als zu
stark. Danny wurde schrecklich eifersüchtig auf seinen Bruder und ärgerte
sich über dessen Überlegenheit. Er wandte sich seiner Mutter zu, die begriff,
was vor sich ging und ihm eine Extraration liebevoller Zuwendung' gab. In
der Mitte seiner Pubertät - Danny datiert es genau auf sein 15. Lebensjahr hatten sich die emotionalen Verknüpfungen neu konfiguriert und die Familie
war gespalten und zerstritten.
Erst vor ein paar Monaten habe ich mit meinem Bruder gestritten, und er sagte - aus
heiterem Himmel, es hatte gar nichts damit zu tun - Mein Gott, Mama hat dich wie einen kleinen Prinzen behandelt". Das hat die alten Gefühle wieder aufleben lassen. Die
Fronten waren klar: mein Vater und mein Bruder - meine Mutter und ich. Und dazwischen ein breiter Graben. Zwischen meiner Mutter und meinem Bruder gab es eine
wirkliche Verbitterung, und die Beziehung zwischen mir und meinem Vater war
schrecklich. Ich habe ihn meistens angeschnauzt, und wenn er aggressiv gegenüber
meiner Mutter war oder sauer auf sie, dann hatte ich das Gefühl, daß er mich damit
auch treffen will. Und andersherum, wenn mein Vater irgendwas an mir auszusetzen
hatte, was sicher auch manchmal nicht unberechtigt war, kam mir immer meine Mutter
zu Hilfe.
Es scheint also, als könne eine ödipale Entfremdung zwischen Mutter und
Sohn in einer späteren Praxis rückgängig gemacht werden, jedenfalls bis zu
einem gewissen Grad. Für Danny war das eine tiefgreifende Veränderung.
Die wiedergewonnene Solidarität mit seiner Mutter war der Ausgangspunkt
für Solidarität und sogar Identifikation mit anderen Frauen. Dannys Geschichte läßt vermuten, daß diese Neukonfiguration der Familienbeziehungen
die emotionale Grundlage seines etwas anderen Umgangs mit dem sozialen
Geschlecht als junger Erwachsener darstellte.
147
Auch andere der befragten Männer gingen auf Distanz zu ihren Vätern,
wenn auch nicht so dramatisch. Bill Lindeman sprach sehr warmherzig von
seinem Vater, warf ihm aber seinen tragischen' Lebensweg vor, den größten
Teil seines Lebens, 35 Jahre, oder was auch immer, sich für das Geld abgerackert zu haben'. Nigel Roberts war stärker verbittert über seinen Vater,
beschrieb ihn als bleichen, niedergeschlagenen Menschen, der nie ein Mann
geworden ist'. Nigels Engagement in der Studentenbewegung führte zu körperlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei und zu Verhaftungen, er hat
das aber nicht lange ertragen. Er erzählte, daß er als Jugendlicher keine Beziehung zu Mädchen knüpfen konnte, weil er kein Macho war, aber auch
nicht fähig war, sich auf andere Art darzustellen.
Keine dieser Episoden bedeutete eine positive Wendung hin zu einer alternativen Form von Männlichkeit. Der entscheidende Moment war hier ein
Akt der Negation, ein extremes Auf-Distanz-Gehen zu den akzeptierten Ge
schlechtervorgaben. Man denke an Nigel Roberts Vorwurf an den Vater, kein
ganzer Mann zu sein.
Aber die Geschlechterordnung ist in sich widersprüchlich, praktische Erfahrungen können die patriarchalen Konventionen untergraben. Fünf von den
sechs Männern berichten von der Begegnung mit einer starken Frau im Ver
lauf ihrer Selbstfindung. Peter Geddes' Vater beispielsweise kam nach dem
zweiten Weltkrieg nicht mehr mit seinem Leben zurecht, und fand erst durch
seine Frau wieder zu sich. Peter widersetzte sich zwar der snobbistischen Art
seiner Mutter, anerkannte sie aber als treibende Kraft in der Familie. Nigel
Roberts wußte nicht, was er nach der Schule anfangen sollte, trieb sich in der
ländlichen Alternativszene herum und fand seine hauptsächliche Stütze in der
Beziehung zu seiner Freundin. Als diese Männer es dann später mit dem Feminismus zu tun bekamen, gab es in ihren Erfahrungen bereits etwas, das
sich vom feministischen Bild der starken Frau angesprochen fühlte.
Zur grünen Politik kamen die sechs Männer auf verschiedenen Pfaden. Der
Umweltaktivismus von Nigel Robert war ein Aspekt seiner jugendlichen Radikalität. Für Peter Geddes war es eher das Ende einer langen Odyssee, ausgelöst
von seiner beruflichen Krise als Journalist. Bill Lindeman interessiert sich für
die Natur, weil seine Familie den Busch liebte und im Urlaub oft dort zeltete.
Obwohl Tim Marnier aus einer sehr fortschrittlichen Familie stammt und
in einer Kommune mit Feministinnen aufwuchs, kam er eher aus Zufall denn
aus Neigung zum Naturschutz. Irgendwann hatte er die Schnauze voll vom
Taxifahren, meistens betrunkene Männer in der Nacht'. Ein Freund bot ihm
einen Teilzeitjob bei einem ökologischen Forschungsprojekt an, der sich zu
einer Vollzeitstelle entwickelte, die mittlerweile mein Leben verändert hat'.
Danny Taylor fand zur Umweltbewegung, als er sich nach einer persönlichen Krise in der Alternativszene herumtrieb. Wie für Bill Lindeman waren
Sympathien für die Naturschutzbewegung auch für Barry Ryan eine nahelie
gende Folge eines tendenziell eher fortschrittlichen Denkens in Familie und
Schule. Als das Staudammprojekt am Franklin River die Gelegenheit für eine
Aktion bot und er gerade auf einer Motorradtour mit einem Freund durch
Australien unterwegs war, schloß er sich spontan an.
Die Männer fanden in der Umweltbewegung eine verlockende Kombination aus persönlichen Beziehungen und politischen Idealen. Grüne Politik
betraf nicht nur einen begrenzten Bereich ihres Lebens, sondern entsprach
einer Vielzahl verschiedener Bedürfnisse: sich mit anderen solidarisch zu
fühlen, klare moralische Entscheidungen zu treffen, persönliche Werte verwirklichen zu können, etc. Diese politische Bewegung hatte sozusagen auch
Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden ihrer Aktivisten.
Barry Ryans Beschreibung seiner Initiation' in diese Bewegung vermittelt einen Eindruck hiervon:
Wir reisten herum und fanden uns irgendwann in Tasmanien wieder. Die Blockade am
Franklin River fand dort unten statt. Ich wollte nur ein paar Wochen bleiben, aber als ich
dort war, lernte ich so viele wunderbare Menschen kennen, die furchtbar nett zueinander
waren. Sie verlebten eine schöne Zeit dort, brachten aber gleichzeitig etwas Wertvolles
zustande und lernten ungeheuer viel. Die Gelegenheit war einfach zu gut, als daß ich sie
hätte verpassen dürfen, und deshalb bin ich einfach dort geblieben,..
Ein halbes Jahr bin ich in Tasmanien geblieben. Ich habe viel Zeit im Busch verbracht, habe die Arbeiten am Staudamm photographiert, habe bei der Blockade mitgemacht [was auch Auseinandersetzungen mit den Bauarbeitern bedeutete], habe ein biß
chen im Büro mitgeholfen, und es war einfach toll. Es war die beste Zeit meines Lebens...
Ich habe dort wirklich entdeckt, wie gut man in Gruppen zusammenarbeiten und Beziehungen zu anderen knüpfen kann. Ich hatte dort meine ersten Beziehungen zu Frauen, wofür
ich sehr dankbar bin... sehr gute Beziehungen, weil das Menschen waren, die sich ihrer
selbst ziemlich bewußt sind, denke ich, mit ziemlich viel Selbstvertrauen - das brauchte man
auch, wenn man an einer solchen Aktion beteiligt war - und sie waren größtenteils auch älter als ich. Und nach dem halben Jahr hatte ich einige sehr, sehr gute Freundschaften mit
Frauen, und genauso auch sexuelle Beziehungen. Und ich stellte fest, daß ich vor allem mit
Frauen befreundet war, mein Interesse an männlichen Freunden war geringer.
Andere Formen politischen Engagements wecken natürlich auch Gefühle und
befriedigen persönliche Bedürfnisse. In der Umweltbewegung geschah dies
allerdings in einer Art und Weise, welche die hegemoniale Männlichkeit durch
einen ganz eigenen Ethos und eigene Organisationspraktiken herausforderte.
In verschiedenen Prämissen der Umweltbewegung war diese Herausforderung enthalten, wie die Interviews zeigten:
(1) Praxis und Ideologie der Gleichheit: Es gibt keinen Chef, bei der Arbeit
herrscht Basisdemokratie, keine Gruppe besitzt Vorrechte gegenüber einer
anderen, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Hierarchie und autoritäre Strukturen werden grundlegend in Frage gestellt.
149
(2) Betonung von Gemeinsamkeit und Solidarität: Was Barry Ryan gut in
Gruppen zusammenarbeiten' nannte, war keine Ausnahme. Bill Lindeman
erinnert sich:
Ich war auf einem dieser Workshops für Gewaltfreiheit als Trainer, und die Gruppen waren sehr klein. Und das war einfach toll, die Atmosphäre war so offen und das Gruppengefühl so positiv... es war genau die Art von Workshop, die uns vorgeschwebt hatte, als
Gruppe etwas zu lernen und auch noch so schnell. Es gab ja keine Vorbilder oder Modelle. Wir lasen alles, was Ghandi geschrieben hatte und die Bücher des,Movement for a
New Society' aus den USA, das waren unsere Grundlage. Aber wir mußten Übungen entwickeln und modifizieren, und Methoden, wie man mit Leuten arbeiten kann. Um den
Leuten etwas zu vermitteln, wie man alleine und als Gruppe in einer bestimmten Situation
wirkungsvoll handelt, im Sinne der Blockade.
(3) Praxis und Ideologie persönlichen Wachstums: Für alle sechs Männer war
ihr politisches Engagement Bestandteil ihrer persönlichen Entwicklung hin zu
einem besseren, weiseren Menschen. Für Peter Geddes und Danny Taylor stand
die Suche nach Selbstverwirklichung im Vordergrund. Die Alternativkultur
hatte auch diverse Methoden in ihrem Angebot, wie man sich auf die Suche
nach innerem Frieden und wahrem Selbst machen konnte. Eine wichtige dieser
Methoden nannte Bill Lindeman die zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern', durch gegenseitige kritische Rückmeldungen und dem Anspruch, die
bestehenden Beziehungen - seien sie sexueller, freundschaftlicher oder beruflicher Art - zu reformieren. Außerhalb der Umweltbewegung finden diese Bestrebungen eine nahtlose Fortsetzung in Seminaren, Workshops und Gruppentherapien, mit denen humanistische Therapieschulen ihre Brötchen verdienen.
(4) Ideologie einer organischen Ganzheit: Dieses Denken ist in der Alternativszene weit verbreitet, in Verbindung mit einer Kritik an der entfremdenden
und mechanischen westlichen Zivilisation. Die Verbindung mit der Natur
steht im Mittelpunkt. Für Peter Geddes und Bill Lindeman war es eine transzendentale Erfahrung, eine Zeitlang alleine im Busch zu sein. Oder wie Bill
Lindeman es ausdrückt:
Die Erfahrung des Alleinseins, herumzuwandern, Sachen zu machen und sie wertzuschätzen, die herrliche Umgebung zu genießen, das alles gibt mir ein wundervoll klares und
reines Gefühl.
Drogen würden ein solches Gefühl nur vernebeln. Obwohl sie alle Erfahrung
mit Drogen besitzen, haben die meisten damit aufgehört. Natürliche Ernährung ist ein zentraler Bestandteil ihres Naturverständnisses. Peter Geddes hat
sogar einen Naturkostladen eröffnet. Und Danny Taylor ist nicht der einzige
Vegetarier unter ihnen.
Auch ohne den Feminismus würden diese Inhalte grüner Politik schon
ausreichen, die hegemoniale Männlichkeit in Frage zu stellen, zumindest
theoretisch: Dem Dominanzstreben steht das Bekenntnis zu Gleichheit und
Basisdemokratie entgegen, dem individualistischen Konkurrenzdenken die
gemeinschaftliche Arbeit. Ganzheitliche Ideologien müssen nicht unbedingt
150
antisexistisch sein, wie viele alternative Frauen bestätigen können, die zuerst
als Erdmutter verehrt und dann mit Kind und Schmutzwäsche alleingelassen
wurden. Aber die Betonung des persönlichen Wachstums untergräbt andererseits die defensive Struktur hegemonialer Männlichkeit, vor allem die Gefühlskontrolle.
Wir sehen also, daß die Umweltschutzbewegung ein recht fruchtbarer
Boden für eine neue Männlichkeitspolitik ist. Aber das allein macht das soziale Geschlecht noch nicht zu einem politischen Thema. Da bedurfte es
schon noch des feministischen Einflusses.
Die meisten Männer dieser Gruppe lernten den Feminismus in der Alternativkultur oder direkt in einer der Aktionsgruppen kennen. Barry Ryan machte
da eine Ausnahme. Er wurde mit der Geschlechterpolitik durch eine feministische Mutter konfrontiert, und auch in der Schule hatten sie einen Kurs über
Antisexismus. Beides untergrub seine Bereitschaft, sich an den maskulinistischeu Gruppenritualen der Gleichaltrigen zu beteiligen. Aber auch Barry hat
erst durch die Umweltbewegung einen wirklichen Zugang zum Feminismus
gefunden, der über Theoretisches hinausgeht.
Die Auseinandersetzung mit dem Feminismus mußte in Anbetracht des traditionellen Männlichkeitskonzepts, in das sie hineingeboren wurden, Zwangsläufig unangenehm werden. Barry erinnert sich daran, wie feministische Literatur damals auf ihn wirkte:
Nach der Universität war ich in der Lage, wissenschaftliche Bücher zu verstehen, und ich
habe auch einige heftige Sachen gelesen, denen ich für lange Zeit ein schlechtes Gewissen wegen meiner Männlichkeit zu verdanken hatte. Und ich erinnere mich, daß es sehr
schwer für mich war, weil da diese widersprüchlichen Bedürfnisse in mir waren. Ich
brauchte Sex und Beziehungen, und andererseits wollte ich diese Wünsche und meinen
eigenen Sexismus unterdrücken, und beides konnte ich nicht unter einen Hut bringen.
Und deshalb hatte ich starke Schuldgefühle.
Schuld ist ein Schlüsselbegriff. Barry verstand den Feminismus als eine Anklage. Der zentrale Begriff der Geschlechterpolitik, die ihm vermittelt wurde,
war , Sexismus', worunter er die persönliche Einstellung eines Mannes gegenüber Frauen verstand. Er empfand es als seine Aufgabe - als Reaktion auf
die feministische Anklage - seinen Kopf umzukrempeln, eine unterstützendere Einstellung gegenüber Frauen zu entwickeln und andere Männer für ihr
Verhalten zu kritisieren.
Die anderen Männer der Gruppe teilten diese Auffassung weitestgehend.
Für Bill Lindeman zum Beispiel waren Feministinnen Frauen, die ihre Stärke spüren', die stark, unabhängig und aktiv werden'. Sie standen dem Femi
nismus äußerst positiv gegenüber, ganz im Gegensatz zu den anderen Grup-
pen befragter Männer. Und trotzdem war ihr Verständnis vom Feminismus
beschränkt.
Das zeigt sich in der Art, wie Nigel Roberts seine Erfahrungen mit dem
Feminismus bewertet. Er erinnert sich, daß es erst konkret wurde, als er mit
einer Feministin zusammenlebte:
Bewußt war es mir eigentlich schon davor, dadurch daß ich ein bißchen was darüber gelesen und darüber nachgedacht hatte. Es kam mir einfach unlogisch vor, daß Frauen,
obwohl sie genauso Menschen sind, eine spezielle Rolle zugewiesen wird und sie abgewertet werden. Das ergab für mich einfach keinen Sinn. Und deshalb haben Kathy und
ich einfach versucht, die Rollen zu tauschen - die meiste Zeit ging sie arbeiten, während
ich zuhause blieb und den ganzen Haushaltskram machte, was mir auch wirklich gefällt.
Ich habe einfach durch die alltägliche Praxis gelernt, dadurch daß ich mit Leuten redete
und meinen gesunden Menschenverstand benutzte. Verstehen Sie, weil ich die herkömmlichen Normen dieser Gesellschaft nie akzeptierte, mußte ich sie in mir auch nie bekämpfen.
. . . ich habe den Feminismus durch die tägliche Praxis gelernt, nicht durch das Lesen
feministischer Bücher, dadurch wurde es wahrscheinlich viel realer und bedeutender.
Damit konfrontiert zu werden, brachte für mich große Veränderungen, weil ich erkannte,
daß es auch noch eine andere Lebensweise gibt, nämlich eine weibliche, die ich nicht
kannte bzw. nicht in Betracht gezogen hatte. [Das beinhaltet] Menschen etwas zu geben,
sich um andere zu kümmern, und solche Dinge.
Dieser Ausschnitt ist bezeichnend für die Art, wie diese Männer über Ferninismus und Geschlechterpolitik reden. Sie beschränken ihren Blick auf Erwartungen und Einstellungen, persönliche Umgangsformen und direkte Interaktionen, anstatt auch die wirtschaftliche Diskriminierung, institutionalisierte
Aspekte des Patriarchats und den Feminismus als politische Bewegung wahrzunehmen.
Trotz seiner Beschränktheit war ein derartiges Verständnis von Feminismus
innerhalb dieses kulturellen Milieus durchaus wirkungsvoll. Es reichte allemal aus, um - in Kombination mit ihrem radikalen umweltpolitischen Ethos
und diversen persönlichen Erfahrungen - bei diesen Männern einen Veränderungsprozeß in Gang zu setzen. Es ging bei diesem Prozeß um nichts weniger, als sich von der vertrauten traditionellen Form von Männlichkeit zu verabschieden und die eigene Persönlichkeit umzuformen in ein neues nichtsexistisches Selbst.
Ihr von Schuldgefühlen geprägtes geschlechterpolitisches Engagement
war nur Teil einer umfassenderen persönlichen Veränderung. Die Idee von
einem neuen Selbst war keine bloße Rhetorik. Drei von den sechs machten
eine persönliche Krise durch, die von einem Gefühl der Wertlosigkeit gekennzeichnet war. Nigel Roberts beispielsweise fühlte sich mit zwanzig wie
152
,ein Versager auf der ganzen Linie', beruflich, familiär, sexuell und politisch.
Er hatte das starke Gefühl, sein Leben ändern zu müssen.
Solche Gedanken passen äußerst gut zu der Idee vom persönlichen
Wachstum in der Alternativkultur, was es oft auch nötig macht, sich von der
bürgerlichen Gesellschaft loszusagen. Dieses neue Selbst trägt oft auch spi
rituelle Züge. Häufig spielt der Einfluß eines Heilers (oft sind dies Frauen) zum Beispiel eines Yogalehrers oder Akupunkteurs - eine wichtige Rolle.
Die Umwälzung ist umfassend, denn das neue Selbst offenbart sich in allen
Lebensbereichen. Das tagtägliche Handeln soll, wie Bill Lindeman schildert,
eine innere Realität ausdrücken:
Meine Moralvorstellungen haben sich verändert, und wie ich Dinge angehe, meine Einstellungen gegenüber anderen, wie ich mich ernähre, und so weiter. Ich will, daß diese
Veränderungen soweit wie möglich aus mir selbst kommen... ich glaube, es ist wichtig für
mich, mit meinem Körper in Kontakt zu sein, zu fühlen, was er - auch aufgrund von bewußter Ernährung, Übungen, frische Luft und das ganze Zeug - was er mir mitteilt.
Was passiert, wenn man mit dieser Einstellung versucht, Männlichkeit zu
verändern? Im Mittelpunkt steht das Verzichten. Peter Geddes gab mit dreißig eine erfolgversprechende Karriere und den dazugehörigen, von Streß geprägten Lebensstil auf:
Um neun Uhr morgens verließen wir das Hotel, und um vier Uhr nachmittags schauten
wir am Strand dem startenden Flugtaxi hinterher. Meine Frau trug ein Kostüm und Stökkelschuhe, wir winkten. Wir stiegen in unseren Pick-up-Truck und fuhren zu unserer kleinen Hütte, wo es nicht mal Strom gab. Das war der Anfang eines neuen Lebens.
Auch Bill Lindeman und Tim Marnier haben - wenn auch weniger dramatisch - auf Weiterbildung oder Karrierechancen verzichtet, genauso wie
Nigel Roberts auf sein Studium.
Das hat sowohl praktische als auch symbolische Auswirkungen. Auf eine
berufliche Karriere zu verzichten, bedeutet einen Bruch mit dem männlichen
Verhalten in der traditionellen Arbeitswelt, wie wir sie im ersten Kapitel erör
tert haben. Dadurch verdient man weniger und tut sich schwer, eine herkömmliche Familie zu ernähren. Das Überleben hängt statt dessen von Praktiken der
Einkommensteilung in Gemeinschaftshaushalten ab. Dieser Verzicht beinhaltet
aber auch alltägliche männliche Privilegien und Verhaltensmuster, zum Beispiel sich bei Diskussionen und Entscheidungen bewußt zurückzuhalten.
Diese Verzichtshaltung hat auch Auswirkungen auf Sexualität und Gefühle. Da sexistisches Verhalten gegenüber Frauen den Kern des Patriarchats
bildet, ist der entscheidende Beitrag, den ein Mann leisten kann, sich jegli
cher sexistischen Äußerung und Handlung zu enthalten. Barry Ryan sieht
seinen Hauptbeitrag zur Geschlechterpolitik vor allem in einer solchen Zurückhaltung. Unerwartete Belastungen waren die Folge, als er merkte, daß er
schließlich gar nicht mehr fähig war, eine sexuelle Beziehung einzugehen.
Innerhalb einer Partnerschaft führt die Verzichtshaltung leicht zu Schuldgefühlen, wenn die Männern sexuell initiativ werden und damit ihren männ153
lichen Anspruch auf die Frau zum Ausdruck bringen. Nigel Robert und Barry
Ryan fühlten sich in Beziehungen unwohl, bis sie heterosexuellen, feministischen Frauen begegneten, die sexuell die Initiative ergriffen und das Geschehen bestimmten. Nigel zog mit einer Frau zusammen, ein wahres Energiebündel', die ein wenig von ihrer Entschlossenheit auch auf ihn übertrug, als
sie ihm zwei Tage Zeit ließ, sich zu entscheiden, ob er mit ihr ein Kind haben
wolle.
Der Augenblick der Abwendung von der hegemonialen Männlichkeit ist
oft gleichbedeutend mit einer Entscheidung zur Passivität. Das ist alles andere als einfach, wenn man bedenkt, daß diese Männer mit einer Männlichkeit
herangewachsen sind, die von Dominanz und Anmaßung geprägt war. Danny
Taylor sagte über den langen Kampf gegen seinen Sexismus, daß es manchmal schwer ist, nicht aggressiv zu sein'. Und gleichzeitig kann der Verzicht
auch ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Passivität befriedigen, das von der
hegemonialen Männlichkeit normalerweise unterdrückt (bzw. heftig verleugnet) wird und nun wieder zum Vorschein kommt. Aber die ganze Thematik
ist sehr problematisch, was sich auch in der Ambivalenz der Handlungen widerspiegelt. Peter Geddes' Verzicht auf seine männliche Karriere war ein äußerst männlicher Schritt. So hat er unter anderem seiner Frau nichts von seinem Entschluß mitgeteilt, bis er bereits den Kaufvertrag für ihre Farm unterzeichnet hatte. Die Verzichtsleistung wird zu einer Demonstration unabhängiger Willenskraft, die jenes männliche Ego voraussetzt, das durch den Akt
eigentlich verworfen und geleugnet werden soll.
Aber Verzicht und Verweigerung sind hier gar nicht der springende
Punkt. Sie sollen vielmehr den Raum schaffen, in dem die neuen persönlichen Qualitäten wachsen können. Über diese Qualitäten, die sie entwickeln
wollten, waren sich die sechs Männer ziemlich einig.
Zwei davon stehen im Mittelpunkt: Zum einen die Fähigkeit, Gefühle ausdrücken und gerade in emotionalen Belangen ehrlich sein zu können. Danny
Taylor erzählte uns eine Geschichte, um seine Offenheit zu illustrieren:
Ich bin viel offener und wirklich sehr, sehr ehrlich. Die Leute sagen mir immer, du bist so
offen, du bist so entwaffnend'... [Über eine extrovertierte' neue Kollegin] Als sie neu dazukam, war ich etwas verblüfft und ging auf Abstand. Alle anderen wurden sehr schnell
warm mit ihr, ich aber nicht. Als sie sich ein bißchen eingelebt hatte, fing ich an, mich mit
ihr zu unterhalten. Und ich war sehr ehrlich zu ihr, sprach darüber, wie es mir ging und
was mir Sorgen machte, meine Probleme und so, aber auch darüber, was mir gefiel
[lacht]. Und mein Gott, dann hat sie mir auch erzählt, was in ihr vorgeht. Und es war
wirklich sehr entwaffnend für sie, weil ich durch diese Oberflächlichkeit und das Getue
gedrungen bin und einfach zum Wesentlichen gekommen bin. Und jetzt sind wir befreundet, sie steht mir näher als jeder andere dort.
Die zweite gewünschte Qualität sind Emotionen, die es auch wert sind, ausgedrückt zu werden: sensibel sein, tiefe Gefühle haben, für Mensch und Natur sorgen. Die Erfahrung der Einsamkeit im Busch ist eine Dimension davon. Sich um seinen Nächsten zu kümmern - bei politischen Aktionen, zu154
hause, am Arbeitsplatz oder in der Sexualität - ist eine andere. Am schärfsten
kritisierten die Männer jene Menschen, denen diese Fürsorge nicht gelang;
die beispielsweise den Gemeinschaftsprozeß zuhause oder am Arbeitsplatz
zu ihrem Eigennutz manipulierten.
Offenheit und Fürsorglichkeit sollen in ebenfalls neugestalteten Beziehungsmustern zum Tragen kommen. In Lebensgemeinschaften mit Frauen bedeutet das, sehr aufmerksam' darauf bedacht zu sein, nicht zu unterdrücken,
Gespräche nicht zu dominieren und keine sexistischen Ausdrücke zu benutzen.
In den Interviews herrschte die einhellige Meinung, daß Männer das gute Benehmen der Feministinnen übernehmen sollten und in Gesellschaft von Frauen
- in diesem Milieu heißt das: fast immer - sehr vorsichtig aufzutreten.
Problematischer war es anscheinend, die Beziehungen zu anderen Männern umzugestalten. Fast alle wünschten sich einen besseren Kontakt zu ihren Geschlechtsgenossen und berichteten von Schwierigkeiten auf dem Weg
dorthin. Bill Lindeman sprach von Fortschritten:
Ich tat mich im Umgang immer leichter mit Frauen als mit Männern. Ich konnte einfach
nicht sagen Na gut, ich werde jetzt ein besseres Verhältnis zu Männern haben', weil es
einfach nicht passierte. Es entwickelte sich erst langsam, indem ich mich entschied, Zeit
zu investieren, auch wenn die Zeit anfangs nicht immer sehr angenehm war. Das ging so
für sechs Monate oder ein Jahr. Dadurch hat sich ziemlich viel verändert, und nun sind
die Freundschaften mit Männern sehr viel intensiver. Und jetzt sind mir meine Männerfreundschaften sogar wichtiger als die mit Frauen.
Wie haben Sie Ihre Beziehungen zu Männern verändern können?
Indem ich es geschafft habe, offener, näher, vertrauensseliger, fürsorglicher zu sein,
auch körperlich fürsorglich, mit Berührungen und Gakuschel.
Das klassische Hindernis für Freundschaften zwischen heterosexuellen Männern ist die Angst vor Homosexualität. Alle sechs sind heterosexuell, und ein
fester Bestandteil hegemonialer Heterosexualität in der australischen Kultur
ist der Antagonismus zwischen normalen' und schwulen Männern, verbunden mit der Angst, für homosexuell gehalten zu werden. Im vierten Kapitel
konnten wir diesen Mechanismus bei den Unterschichtsjugendlichen beobachten. Drei der grünen Aktivisten erwähnen kurze homosexuelle Kontakte,
ohne Begeisterung und in einem Fall sogar mit Abscheu. Politisch unterstützten sie die Schwulen, privat fanden sich herzliche Freundschaften mit
schwulen Männern ebenso wie leichte Anzeichen von Homophobie. Der Feminismus hatte ihren Sexismus in Frage gestellt, aber ihnen keine Hilfestellung in Bezug auf Homosexualität unter Männern geboten. Der Veränderungsprozeß ihrer Männlichkeit hat die heterosexuelle Sensibilität ihres Körpers nicht in Frage gestellt. Deshalb waren diese Schwierigkeiten bei der Erneuerung ihrer Männerfreundschaften nicht thematisierbar.
In dem Ausmaß, in dem dieser Veränderungsprozeß auch den Körper
betraf, treffen Bill Lindemans Beschreibungen zu: Botschaften des Körpers
an das Gefühl werden zugelassen, und der Körper wird besser behandelt, in
dem man sich gesünder ernährt und Streß meidet. Der Versuch, Beziehungen
155
neu zu gestalten, kann auch als der Erwerb einer Art von Weiblichkeit betrachtet werden. Allerdings richtete sich ihr Veränderungsprozeß nicht auf
die Praktiken, durch die Männlichkeit in den Körper eingebettet wird (siehe
Kapitel 2).
Der Körper wird vielmehr als ein natürliches Objekt betrachtet, das sich
i m Idealfall in Einklang mit der Natur befindet. In einer Art sprachlichem
Kunststück redete Bill Lindeman sehr bezeichnend von mein Körper' und
,ich', als ob es sich um zwei getrennte Personen handelte, die über eine Telephonleitung kommunizieren. Gleichzeitig wird Männlichkeit aufgespalten in
soziale Konventionen, die man ablegen kann, und natürliche Eigenschaften
des Körpers, die unveränderlich sind. Die Männer benutzten eine Art Geschlechtsrollentheorie, die sie freilich nicht sehr weit bringen kann.
Offenheit und Ehrlichkeit sind aber noch in anderer Hinsicht problematisch für Männer, die Passivität gegenüber Frauen zum Prinzip erhoben haben. Will man ehrlich sein, muß man manchmal auch seine Unzufriedenheit
ansprechen. Ärger ist etwas Alltägliches in privaten und beruflichen Beziehungen, auch noch so viel Gemeinschaftsgefühl oder feministische Prinzipien können das nicht verhindern. Folge ist eine emotionale Zwickmühle: die
eine Norm verlangt, seine Gefühle auszudrücken, die andere, bestimmte Gefühle zu unterdrücken.
Das Gefühl der Ausweglosigkeit wird verstärkt durch den Eindruck, es
bewege sich nichts mehr vorwärts. Die persönlichen Qualitäten, die man entwickeln wollte, waren klar; unklar war den Männern allerdings, wohin alle
diese Veränderungen am Ende führen würden. Der Verzicht auf vernünftige
Berufskarrieren hatte auch alle konventionellen Vorstellungen eines Lebenswegs zunichte gemacht, bisher ohne eine Aussicht auf Ersatz.
ie Annullierung vors Männlichkeit
Der Moment der Abwendung erscheint manchmal als reiner Willensakt. Die
Erneuerung des eigenen männlichen Selbst bedarf in der Tat eines starken
Willens, in Anbetracht des Spotts der anderen Männer, eigener homophober
Anteile und der ambivalenten Reaktionen mancher Feministinnen. Aber der
Wille allein reicht nicht aus. Auch alle Beziehungen und Gefühle, welche die
Männlichkeit ursprünglich geformt hatten, sind in den Veränderungsprozeß
verwickelt. Teilweise unterstützen sie die Bemühungen um Erneuerung, teilweise begrenzen sie sie auch.
Alle sechs Männer haben in ihrer Herkunftsfamilie die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern kennengelernt, wir können deshalb
von einer primären Identifikation mit der Mutter ausgehen. Alle durchliefen
dann - wenn auch in unterschiedlicher Form - einen Prozeß der Maskulinisierung durch den Einfluß von Vätern, Brüdern oder patriarchalen Symbolen.
156
In einigen Fällen kam es in der Folge zu einer Distanzierung von der hegemonialen Männlichkeit, durch eine erneute Annäherung an die Mutter oder
durch das Gewahrwerden und Bewundern weiblicher Stärke. Aber gegen
Ende der Pubertät schienen die meisten dabei zu sein, eine hegemoniale oder
zumindest komplizenhafte Männlichkeit aufzubauen.
Doch statt dessen ließen sie sich auf einen Veränderungsprozeß ein, der
darauf ausgerichtet war, die Folgen der ödipalen Maskulinisierung rückgängig zu machen. Sehr wahrscheinlich wurde dieser Prozeß unterstützt von der
Emotionalität präödipaler Beziehungen, vor allem natürlich durch die Primärbeziehung zur Mutter.
Ein direkter Nachweis solcher archaischer Schichten der Persönlichkeit läßt
sich schwer erbringen, aber in den Interviews gab es doch einige sehr interessante Hinweise. Zum Beispiel lieferte Peter Geddes im ersten Teil des Inter
views eine journalistisch klare Geschichte, ging auf die Fragen ein und präsentierte eine lebendige, chronologisch aufgebaute Erzählung. Als er im zweiten
Teil des Interviews von seinem Leben in der Alternativszene zu einem Bericht
über die Veränderung seiner Persönlichkeit kam, veränderte sich sein Redestil.
Er erzählte nun eher unchronologisch, verfolgte Themen und Assoziationen
ohne offensichtliche Ordnung, wobei Einfälle, Begebenheiten und Kommentare
gleichzeitig aus seinem Mund strömten. Folgt man Julia Kristevas These, daß
die Trennung von der Mutter und das Aufkommen der ödipalen Kastrationsangst mit einer bestimmten Phase der Sprachentwicklung in Zusammenhang stehen, in der Subjekt und Objekt unterschieden werden und Behauptungen und Bewertungen sich bilden (die thetische' Phase), ergibt Peters
Sprachwandel einen Sinn, als Versuch, ödipale Männlichkeit ungeschehen zu
machen.'
Fast alle der Befragten machten ganzheitliche Philosophien zu einem Bestandteil ihrer alternativen oder ökologischen Weltanschauung. Die Betonung
einer undifferenzierten Ganzheit - besonders als passiv-rezeptive Haltung
gegenüber einer umfassenden Natur - ist eine so deutliche Reminiszenz an
die mütterliche Primärbeziehung, daß sie sogar in der alternativen Literatur
Erwähnung findet. Bill Lindemns wundervoll klares und reines Gefühl' im
Einklang mit der Natur erinnert an das ozeanische' Gefühl, dessen Ursprung
für Freud in der frühesten Phase des Lebens liegt.' Auch der Wunsch nach
Passivität, der sich im Verzicht auf das männliche Streben nach Geltung und
Erfolg ausdrückt, hat seine Grundlage wahrscheinlich in der Befriedigung
dieser ersten Beziehung.
Gleichzeitig zielen die Entwicklungsideale Offenheit, schonungslose
Ehrlichkeit und Verletzbarkeit' exakt darauf ab, Barrieren zu beseitigen,
Trennungen und Differenzierungen rückgängig zu machen und einen unmittel
baren Kontakt wiederherzustellen - das bedeutet nichts anderes, als den Weg
4
5
Kristeva 1978.
Freud [1930] 1977.
157
zurückzugehen, auf dem die ödipale Männlichkeit geformt wurde. Auch der
Drang, den Konflikt zwischen Macht und Sexualität dadurch zu lösen, daß man
eine Beziehung zu einer starken Frau eingeht, die die Initiative ergreift und einen mitreißt, ist ebenso unmißverständlicher Anklang an die Mutterbeziehung.
Damit soll aber überhaupt nicht der Schluß nahegelegt werden, Umweltpolitisches Engagement oder der Versuch, die eigene Männlichkeit zu verändern, wären regressiv. Wenn überhaupt, dann sind diese Anklänge an die
frühe Kindheit eher Hinweise für die Ernsthaftigkeit des Vorhabens. Diese
Männer sind weit davon entfernt, mal eben trendgemäß auf neuer sensitiver
Mann' zu machen. Sie haben sich einer wirklichen und weitreichenden Veränderung ihrer Persönlichkeit verschrieben. Emotionen aus archaischen
Schichten ihrer Psyche unterstützen meiner Meinung nach allerdings die spezifische Form ihres Veränderungsprojekts.
Diese Emotionen bergen für einen Erwachsenen erhebliche Risiken. Die
Absicht, offen zu sein und sich bewußt nicht durchzusetzen, kann auch dazu
führen, gar kein Selbst zu haben; man fordert die Aufhebung des eigenen
Selbst heraus. Ich hatte das Gefühl, meine Mitte zu verlieren', sagte Nigel
Roberts über seine Beziehung zu einer Feministin. Und Danny Taylor hat eine passiv-abhängige Beziehung zu einer von ihm angebeteten Frau aufgebaut, die ihn in eine Position bringt, die Feministinnen früher immer bei
Frauen kritisiert hatten:
Ich war wirklich erstaunt, daß sie mich mochte, und ich glaube, ich war eine Zeit lang so
eine Art Schoßhündchen für sie... Ich habe mich irgendwie mit ihr identifiziert, und alles,
was sie erreichte, hatte auch ich erreicht, ihr Erfolg war mein Erfolg. Ich hatte kein ,Ich'.
Ich hatte daß Gefühl, daß ich einfach verwelken und davongepustet werden würde, sollte
die Beziehung einmal enden.
Die Beziehung endete tatsächlich mit einer sehr schwierigen Trennung und
für Danny mit einer langen Phase des Widerwillens gegen sich selbst.
Die Annullierung der Männlichkeit war für diese Männer ein Ziel,
machte ihnen gleichzeitig aber auch Angst. Die ödipale Maskulinisierung
strukturierte ihre Welt und ihr Selbst entsprechend den Kategorien ihres so
zialen Geschlechts, so wie bei fast allen Männern. Die Männlichkeitsentwicklung ungeschehen zu machen, forderte einen Verlust von Persönlichkeitsstrukturen heraus, der ziemlich beängstigend sein kann: eine Art geschlechtsbezogenes Schwindelgefühl.
Folglich gibt es auch eine starke Motivation, diesen Strukturverlust in
Grenzen zu halten. Sichtbar wird dies beispielsweise in der widersprüchlichen Art und Weise, in der sich das männliche Selbst beim Ausstieg aus der
Karriere seiner selbst versichert. Aber auch in der Aufrechterhaltung heterosexueller Sensibilität und Objektwahl.
Das geschlechtsbezogene Schwindelgefühl kann Männer aber auch dazu
veranlassen, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, wie die Welt strukturiert
werden kann. Eine von Freuds subtileren Äußerungen zur ödipalen Bezie15 8
hungsstruktur kann uns hier weiterhelfen. Er beobachtete, daß der ,komplette' Odipuskomplex die Überlagerung zweier unterschiedlicher Muster
sexueller Anziehung und Angst mit sich bringt. Das eine führt zur Identifikation mit dem Vater, das andere führt dazu, den Vater als sexuelles Objekt zu
wählen und in Folge zu Rivalität und Identifikation mit der Mutter.
Man muß Freuds Pansexualismus gar nicht akzeptieren, um ihm zuzustimmen, daß Machtkonstellation und emotionale Abhängigkeit in der patriarchalen Familie eine ödipale Identifikation mit der Mutter ermöglichen, die
man allerdings deutlich von der primären Identifikation unterscheiden muß,
und die auch eine andere Rolle für Geschlechterpolitiken spielt. Es handelt
sich um eine hochstrukturierte, geschlechtsbedingte Beziehung, und deshalb
um eine mögliche Antwort auf das geschlechtsbezogene Schwindelgefühl.
Im Vordergrund steht dabei wohl eher eine gemeinsame Erfahrung von Verletzbarkeit als das Erlebnis mütterlicher Allmacht, das Karen Horney und
Dorothy Dinnerstein bei ihrer Analyse der Primärbeziehung so betont haben.
Aber statt einer schnellen Solidarität kann es dabei durchaus zur Rivalität mit
der Mutter bezüglich der väterlichen Zuneigung kommen. Wie schon erwähnt, entschied sich Barry Ryan nach der Trennung seiner Eltern, bei seinem Vater zu leben. Auch als Erwachsener sucht Barry die Zuneigung seines
Vaters stärker als die anderen befragten Männer.
Wo sie zustandekommt, bietet die ödipale Identifikation mit der Mutter
eine emotionale Grundlage, um den Verlust männlicher Strukturen besser
verarbeiten zu können. Mit einiger Sicherheit kann man davon ausgehen, daß
eine Solidarität mit Frauen und eine Distanzierung von Männern die Folge
ist, vor allem von Männern mit traditioneller Männlichkeit. Das kam in den
Interviews ziemlich häufig vor.
Diese sechs Fallbeispiele belegen recht deutlich, daß diese Solidarisierung
mit Frauen nicht mit einer fortschreitenden und tiefgehenden Feminisierung
einhergehen muß. Sie befinden sich nicht auf dem Weg zur Transsexualität.
Vielmehr scheint die ödipale Identifikation mit der Mutter als unbewußter Widerspruch neben der ödipalen Maskulinisierung bestehen zu können.
Durch die Auseinandersetzung mit dem sozialen Geschlecht als Erwachsener wird dieser Widerspruch wieder lebendig, vor allem in Form von
Schuldgefühlen. Für die klassische Psychoanalyse stehen diese Schuldge
fühle bei Männern in einem engen Zusammenhang mit der ödipalen Maskulinisierung, und die Identifikation mit dem Vater ist die Grundlage des ÜberIchs. Nach diesem Modell wären zumindest zwei unserer Fälle paradox. Die
Schuldgefühle waren da, aber sie bezogen sich auf die Erfüllung der väterlichen Gesetze, nicht auf ihre Mißachtung. Barry Ryan fühlte sich einfach
schuldig, weil er ein Mann ist. Bill Lindeman fühlte sich wegen einer bestimmten Beziehung schuldig, die wenig partnerschaftlich war (,Ich habe sie
6
Horney 1932, Dinnerstein 1979.
159
gebraucht', sagte er mit einem doppeldeutigen Ausdruck), und auch grundsätzlich wegen männlicher Aggressivität.
Eine Hauptströmung in der feministischen Literatur, die Barry und Bill
Anfang der 80er Jahre sehr aufmerksam gelesen haben, präsentiert ein sehr
übles Bild vom Mann, geprägt von sexueller Gewalt, Pornographie und
Krieg. Ich glaube, daß die starken Schuldgefühle mit dem Widerspruch zwischen ödipaler Maskulinisierung und ödipaler Identifikation zu tun haben,
der durch den politischen Kontext nun aktualisiert wurde.
Aber nicht alle Männer in dieser Gruppe berichten von Schuldgefühlen.
Obwohl Nigel Roberts die gleichen Bücher gelesen hat, reagiert er darauf mit
größerer Gelassenheit. Vielmehr kritisierte er sogar eine durch Schuldgefühle
ausgelöste Feminisierung:
Ich glaube, daß viele profeministische Männer immer noch ihre Geschlechtsgenossen
verurteilen, für das, was sie sagen und wie sie sich verhalten, genau wie die Feministinnen auch. Wenn man den Feminismus kennenlernt, tendiert man eine Zeit lang dazu, kein
Mann sein zu wollen und auch die anderen Männern zu verabscheuen, und nur noch auf
Frauen zu hören und bei ihnen sein zu wollen. Und in gewisser Weise hast du immer noch
Angst vor anderen Männern, und irgendwie willst du nicht, daß sie so gute Feministen
sind wie du, so in der Richtung.
Es hat vielleicht einen bestimmten Grund, warum Nigel auf den Feminismus
nicht mit Schuldgefühlen reagiert hat. Seine Familie und sein jugendliches Sexualleben haben die Problematik der Geschlechterdifferenz gedämpft. Der Widerspruch der Identifikationen war deshalb bei ihm geringer als bei den anderen.
Nigel schien durch den Feminismus eher aus der Fassung gebracht worden zu sein, weil er sich dadurch in eine ungünstige Lage versetzt fühlte. Er
erkannte die Tatsache der Geschlechterungleichheit an und bekannte sich zur
prinzipiellen Gleichheit der Geschlechter. Er ging noch weiter, zu einer Aufwertung der weiblichen Seite des Lebens'. Aber er konnte aus seiner Überzeugung keinen praktikablen Lebensentwurf machen. Er fühlte sich aus der
Fassung geraten (,ich habe meine Mitte verloren'), oder zumindest davon bedroht, und wollte deshalb mit Feministinnen kein Risiko eingehen. Der
Strukturverlust durch die Auseinandersetzung mit dem Feminismus (die bei
ihm intensiver war als bei den anderen Männern) raubte ihm seine Mitte, ließ
ihn von sich wegdriften. Er fand keine Möglichkeit, wieder zu sich zu finden,
weder durch Identifikation mit Frauen, noch mit feministischen Männern.
Unter dem Strich präsentiert sich der Erneuerungsprozeß von Männlichkeit emotional in sehr unterschiedlicher Gestalt, die alle nicht besonders stabil oder entschlossen wirken. Ich glaube, das kommt daher, weil die emo
tionalen Dilemmata allein auf der Ebene der Persönlichkeit gar nicht zu lösen
sind. Soll die Rekonstruktion des sozialen Geschlechts weiter führen, muß
man neues Terrain betreten, wo die strukturbedingten Ursachen emotionaler
Widersprüche direkt angegangen werden können. Man muß die kollektiven
Praxen mit einbeziehen.
160
Es besteht ein Mißverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Charakter des
Geschlechtlichen und der individualisierten Weise, in der die Alternativkultur es in der Regel behandelt. Therapeutische Methoden zur Veränderung der
Persönlichkeit betrachten das Individuum als die zu reformierende Einheit
und empfehlen als Ausweg eine noch stärkere Individualisierung auf der Suche nach dem wahren Selbst' oder dem wahren Ich'.
Mit einem solchen Fokus führen die Erneuerungsbemühungen eher zu
einer Eindämmung denn zu einer Umwälzung der patriarchalen Geschlechterordnung. Danny Taylor beispielsweise hat vor den sozialen und ökonomi
schen Tatsachen nicht die Augen verschlossen. Er hat sie deutlich beschrieben und die Frauen als die Sklaven der Sklaven' bezeichnet. Aber es ging
ihm ausschließlich um Veränderungen in seinem Kopf, und nicht um einen
Sklavenaufstand. Vielleicht gelingt es Danny, sein neues Selbst zu finden
und eine Männlichkeit zu entwickeln, die Rücksicht auf Frauen, emotionale
Offenheit und sexuelle Zurückhaltung verkörpert. Eine solche Männlichkeit
würde auch in eine modifizierte patriarchale Ordnung passen, zugegebenermaßen nicht genauso gut wie die hegemoniale Ausprägung, aber in einer anerkannten und sicheren untergeordneten Position.
Eine individualisierte Reform von Männlichkeit birgt ein politisches Risiko: statt das Patriarchat abzuschaffen, wird sie letzten Endes eher zu seiner
Modernisierung beitragen. Der empfindsame neue Mann ist bereits eine Me
dienerscheinung, die von unserer Industrie dazu benutzt wird, um Kleider zu
bewerben und zu vermarkten, die Frauen in der Dritten Welt für Hungerlöhne genäht haben.' Die Ahnung, daß der neue Mann eine bloße Mogelpackung
sein könnte, hat viele Feministinnen gegenüber feministischen Männern sehr
skeptisch bleiben lassen.
Ein anderer Standpunkt bringt die Männer dem Feminismus näher:
Schuldgefühle, Distanz zu anderen Männern und eine völlige Unterordnung
gegenüber der Frauenbewegung, eine Haltung, die in den 70er Jahren dem
,Softie' zugeschrieben wurde. Eine individualisierte Logik erkennt die
Quelle der Unterdrückung dabei im persönlichen Sexismus der Männer und
bietet eher eine moralische denn eine praktische Lösung. Nigel Roberts Kritik an dieser Softie-Haltung wurde bereits zitiert. Er macht sich auch darüber
lustig, wie männlich es doch sei, miteinander zu konkurrieren, wer denn der
beste Feminist ist. Aber er weist auch auf die geringe Solidarität zwischen
Männern hin, die ihre Bemühungen unterminiert, sobald ein moralistischer
Individualismus das Verhältnis gegenüber dem Feminismus bestimmt.
7
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Die Arbeitsbedingungen und Löhne in der internationalen Textilindustrie dokumentieren Fuentes und Ehrenreich 1983, sowie Enloe 1990.
Fortgesetzt im Effeminist Manifesto'; Dansky, Knoebel und Pitchford 1977.
Die politische Praxis von zweien der sechs Männer ging darüber hinaus,
an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten und den Männern die Schuld zu
geben. Barry Ryan macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Im Kran
kenhaus begegnete ihm - wie in einer solchen Institution vielleicht nicht anders zu erwarten - ein gehöriges Ausmaß an patriarchaler Ideologie und Praxis.' Es machte ihm Spaß, einfach nur präsent zu sein und dadurch die männlichen Konventionen in Frage zu stellen. Aber er versucht auch am Arbeitsplatz bewußtseinsbildend tätig zu werden:
Meine Aufgabe ist im Moment - da ich in der Ausbildung schon fortgeschritten bin -, daß
ich auch Gruppen leite und den Anfängern etwas beibringe, verstehen Sie. Und da mache
ich dann so Sachen, daß ich die Leute darauf hinweise, daß die Männer in den Gruppen
häufiger reden, und daß ich in den Raum stelle, warum das so ist.
Barry hatte das Gefühl, daß die Arbeit mit anderen Menschen es nötig
machte, die Arbeit an seiner eigenen Persönlichkeit ruhen zu lassen. Er wollte
sich mit einem moderaten, lebbaren Feminismus begnügen.
Auch Bill Lindeman hat versucht, ein besseres Verhältnis zu anderen
Männern aufzubauen, und zwar in einer Art und Weise, die den bloßen ludividualismus hinter sich läßt. Er beschreibt seine Praxis:
Ich fühlte einen sehr starken Drang, wirklich mit anderen Männern zusammenzukommen,
die in ähnlicher Weise versuchen, an sich zu arbeiten. Deshalb ging ich in Männergruppen und solche Sachen. Habe gelesen. Es gibt ein paar wenige Bücher von Männern für
Männer zum Thema , Veränderung". Habe einen Haufen feministischer Bücher gelesen.
Für mich ist der Feminismus - und wie ich ihm in meinen Beziehungen begegnet bin - ein
wirklich starker Katalysator, der meine Veränderung vorantreibt. [Pause] Ich habe viel
gelesen und es hat mir viel gebracht.
Bill hat versucht, sein Umweltengagement mit seiner Beteiligung in antisexistischen Männergruppen zu verbinden. Er versuchte andere Männer mit einer
ähnlichen Kombination von Interessen zu finden, um mit ihnen emanzipatorische Projekte zu organisieren, die auch Photographie und andere Kunstformen
verwenden sollten. Aber das war nicht einfach:
Um Männer mit einer solchen Haltung [Männlichkeit verändern zu wollen] zu finden, die
sich auch für Umweltpolitik interessieren... es ist ein wirklich kleiner Kreis von Leuten,
mit denen ich gerne zusammenarbeiten würde. So geht alles viel langsamer, mit viel mehr
Widerständen.
Diese zwei Projekte sind offensichtlich von begrenzter Reichweite. Zur Zeit
des Interviews war Barry Ryan immer noch in der Ausbildung. Einfluß auf
das Ausbildungsprogramm nehmen zu wollen, ist auch für einen Krankenpfleger am Ende seiner Ausbildung kein sehr aussichtsreiches Unterfangen.
Bill Lindeman versuchte dagegen, Leute zur Zusammenarbeit zu finden, die
9
162
sowohl in der Umwelt als auch in der Männerbewegung aktiv waren. Das beschränkte seine Möglichkeiten beträchtlich.
Aber obwohl beide in ihren Bemühungen zögerlich und nicht sehr einflußreich waren, stellte das aus ihrer Sicht doch ein neues Moment innerhalb
ihres Veränderungsprozesses dar. Die Grenzen individualisierterer Handlun
gen, in denen ein Mann versucht, sich der Maskulinisierung zu entziehen,
werden in Richtung einer politischen Mobilisierung überschritten, ein Prozeß, der die patriarchale Gesellschaftsordnung herausfordert.
Später werde ich noch andere Möglichkeiten der Herausforderung betrachten. Diese zwei Beispiele sind nur eine schmale Basis, um darauf aufzubauen. Und trotzdem möchte ich ihre grundsätzliche Bedeutung unterstreichen,
weil sie eine Grenze überschreiten. Kollektive Veränderungsvorhaben finden
auf der gesellschaftlichen Ebene statt. Sie wenden sich ebenso an die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft wie an die soziale Organisation der Persönlichkeit. Sie beinhalten die Bildung größerer, überindividueller Einheiten (von
Arbeitsgruppen hin zu politischen Bewegungen). In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Augenblick der Herausforderung sehr deutlich von den Bemühungen, das eigene Selbst zu verändern.
Ich möchte auch noch einmal betonen, daß die Umweltbewegung wichtige Hebammendienste für die Geschlechterpolitik geleistet hat. Eine beachtliche Zahl von Männern hat sich hier Gruppenprozessen angeschlossen, die teilweise aufgrund der beteiligten Feministinnen - sich auf die traditionelle
Männlichkeit auswirken. Diese Gruppenprozesse bieten aber auch sehr brauchbare Modelle politischer Praxis, wie die Aktion am Franklin Staudamm bewiesen hat.
Aber auch wenn die Umweltschutzbewegung eine Veränderung von
Männlichkeit möglich macht, begrenzt sie diese gleichzeitig. Denn ein Großteil
der grünen Bewegung - ebenso wie die Alternativkultur generell - versucht,
auf einer geschlechtsfreien Basis zu arbeiten. Es wird sogar versucht, die Geschlechterdifferenz ungeschehen zu machen. Das allgemeinste Ideal ist eine
Verbindung von männlichem und weiblichem Prinzip. Jeder der sechs Männer
dieser Gruppe sah das Ziel in irgendeiner Art von Androgynität.
Problematisch ist eine geschlechtsfreie Praxis in einer nach wie vor patriarchalen Gesellschaft, weil sie sowohl lähmend als auch progressiv wirken
kann. Eine Haltung, welche die traditionelle Männlichkeit einfach negiert
und in dieser Abwehrhaltung verharrt, trägt nicht unbedingt zur gesellschaftlichen Veränderung bei. Um angesichts des geschlechtsbezogenen Schwindelgefühls, das in diesem Kapitel beschrieben wurde, weiter voranzukommen, bedürfte es einer antisexistischen Politik für Männer, die die hegemoniale Männlichkeit ablehnen. Was dies beinhaltet, werden wir im zehnten
Kapitel sehen.
Krankenhäuser siehe Game und Pringle 1983. Eine ausgezeichnete
Erörterung der Arbeitsbedingungen von Männern in solchen Kontexten bietet Williams 1989.
Für australische
163
Ein sehr normaler Schwuler
Es gibt in der westlichen Welt keine Beziehung unter Männern, die mehr
symbolische Last tragen würde als jene zwischen Schwulen und Heterosexuellen. Es handelt sich dabei nicht um eine persönliche, sondern um eine
kollektive Beziehung, die sich auf das soziale Geschlecht auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auswirkt. In diesem Kapitel sollen die Konsequenzen für die Männlichkeitsentwicklung erkundet werden.
Die patriarchale Kultur hat eine sehr simple Erklärung für schwule
Männer: es fehlt ihnen an Männlichkeit. Diese Vorstellung gibt es in unzähligen Formen und Variationen, vom abgedroschenen Witz vom
Schwulen mit der klassischen Fallhand und diversen Tuntigkeiten, bis zur
spitzfindigen psychiatrischen Erforschung der Ätiologie' von Homosexualität in der Kindheit. Die Vorstellung von der fehlenden Männlichkeit
hat ihre Grundlage offensichtlich in der in unserer Kultur vorherrschenden
Meinung über das Mysterium der Sexualität: Gegensätze ziehen sich an.
Wenn jemand von Männlichkeit angezogen wird, dann muß diese Person
weiblich sein - und wenn es ihr Körper nicht ist, dann eben irgendwie ihre
Psyche.
Diese Argumentation ist nicht sehr stimmig (zum Beispiel weil schwule Männer ja voneinander angezogen werden), aber omnipräsent. Entsprechend verursacht sie bei schwulen Männern Verunsicherung bezüglich ihrer Männlichkeit.
Diese Verunsicherung drang während der 70er und 80er Jahre mit dem
Aufkommen der gay communities' in den westlichen Ländern an die Öffentlichkeit. Die Forschung in Großbritannien, USA, Kanada und Australi
en hat die historischen Wurzeln dieser Gemeinwesen untersucht, das mehr
oder weniger im Untergrund operierende Netzwerk vergangener Generationen, das einigen homosexuellen Männern Unterstützung bot. In den 60er
und 70er Jahren bahnten sich dramatische Veränderungen an. Die allgemeine Kultur wurde sexualisiert; orthodoxe Kreise wurden von der Bürgerrechtsbewegung in den USA herausgefordert, von der Neuen Linken und
der Alternativkultur; von der Frauenbewegung und von der politischen
165
Mobilisierung homosexueller Männer und Frauen in der Schwulenbewegung.
Diese sozialen Bewegungen öffneten neue Spielräume für gesellschaftliche Freiheiten, in denen sich in bestimmten Städten von Schwulen dominierte Stadtviertel (die sogenannten gay communities', am bekanntesten sind
jene um die Castro Street in San Francisco und um die Christopher Street in
New York) ausbreiteten und institutionalisierten. Das beinhaltete sowohl Gewerbe (Kneipen, Läden, Nachtclubs, Saunas) als auch politische Gruppierungen (Schwulenbewegung, schwule Kulturinitiativen, AIDS-Aktionsgruppen).
Ein homosexueller Mann zu sein, konnte nun bedeuten, und bedeutete es
auch in zunehmendem Maße, mit einem dieser Gemeinwesen verbunden zu
sein.
Es ist nicht verwunderlich, daß sich auch die sozialwissenschaftliche
Auffassung von Homosexualität gewandelt hat. Psychiatrische Vorurteile mit
Krankheitsursachen und Behandlung, und die soziologische Einordnung der
Homosexualität als ,Abweichung', vergleichbar mit Stottern, Alkoholismus
oder Scheckfälschen, hat man hinter sich gelassen. In den Vereinigten Staaten entwickelte sich zu dieser Zeit eine Sozialpsychologie, die in der Homosexualität eine Identität' erkannte, die Entwicklung dieser Identität verfolgte
und ihre Integration in das Selbst. Dieser Ansatz verschmolz mit einem neuen soziologischen Ansatz, für den Homosexualität eine neue Subkultur darstellte, die - wie andere Subkulturen in einer pluralistischen Gesellschaft durch die Sozialisierung neuer Mitglieder aufrechterhalten wird und über ihre
Grenzlinien zur Gesamtgesellschaft verhandelt.'
Diese wissenschaftlichen Tendenzen schufen ein respektvolleres Bild
männlicher Homosexualität als jenes krankhafter Psychen und heimlicher
Perversion, das man noch vor dreißig Jahren als wissenschaftlich ausgab.
Aber diese amerikanische Betonung von Identität und Subkultur hat die Aufmerksamkeit auch von der politischen Bedeutung sexueller und geschlechtlicher Aspekte abgezogen. Ob die gay community' Schauplatz kultureller Veränderungen und subversiver Prozesse ist, oder doch eher konservativ im Umgang mit den Geschlechterkonventionen, wurde besonders in Großbritannien
diskutiert. Gregg Blachford hat behauptet, die gay communities' würden zwar
in gewisser Weise Widerstand leisten, aber für die männliche Vorherrschaft
in der Gesamtgesellschaft keine wirkliche Gefahr darstellen. Jeffrey Weeks
sieht die Gesellschaftsordnung aus poststrukturalistischer Sicht und attestiert
den sexuellen Subkulturen Vielfalt und ein beträchtliches Veränderungspotential.
Die angesprochenen Länder behandeln Weeks 1977, D'Emilio 1983, Kinsman 1987
und Wotherspoon 1991.
Zu Identität siehe Troiden 1989, Cass 1990; zur Subkultur siehe Epstein 1987, Herdt
1992.
Blachford 1981, Weeks 1986.
In diesem Bereich ist noch sehr viel in Bewegung, vor allem aufgrund
der HIV-Epidemie. Für Leute, die eine neue Welle von Vorurteilen abzuwehren versuchen, sich mit der AIDS-Krankheit und ihren Toten auseinanderset
zen und Ressourcen für Pflege, Behandlung und Prävention mobilisieren, haben theoretische Fragen zum sozialen Geschlecht keine Priorität. Aber diese
Fragen sind deshalb nicht verschwunden, sie sind vielmehr sehr wichtig,
wenn man die Reaktionen der Gesellschaft auf AIDS verstehen will.
Dieses Kapitel beruht auf Gesprächen mit acht Männern, die sich der
,gay community' in Sydney verbunden fühlen. Einige befragte Männer hatten homosexuelle Erfahrungen (drei der Männer aus dem fünften Kapitel und
mindestens zwei jener aus dem vierten Kapitel), aber nur einer hatte mit der
Schwulenszene zu tun (Paul Gray, der schwule Treffpunkte aus Sicherheitsgründen aufsuchte, wenn er sich als Frau kleidete).
Wir unterhielten uns mit Mark Richards (Anfang 20), angehender Krankenpfleger; Dean Carrington (Mitte 20), Lastwagenfahrer; Alan Andrews
(Ende 20), Techniker; Jonathan Hampden (Ende 20), kaufmännischer Ange
stellter; Damien Outhwaite (Anfang 30), arbeitslos, jobbt zwischendurch als
Taxifahrer; Adam Singer (Anfang 30), arbeitet im Büro einer großen Organisation; Gordon Anderson (Anfang 40) Manager; Gerry Lamont (Ende 40),
freiberuflicher Fachmann mit eigener Praxis.
Die meisten hatten auch sexuelle Beziehungen zu Frauen, beschränken
sich bis auf eine Ausnahme mittlerweile aber auf Sex mit Männern. Zwei von
ihnen haben Kinder, andere könnten es sich auch vorstellen. Drei kommen
vom Land (einer aus Übersee), und ihr Umzug in die Großstadt ging einher
mit ihrem Eintritt in die schwule Subkultur. Die meisten stammen aus der
Arbeiterklasse, einige haben allerdings einen sozialen Aufstieg geschafft. Einer kommt aus der privilegierten Welt und war auf einer Eliteschule.
Die früheren Diskurse über Homosexualität beschäftigten sich vor allem mit
ihren Ursachen. Richard von Krafft-Ebing, Begründer der modernen Sexualwissenschaft, definierte Homosexualität als einen sexuellen Instinkt [...]
das genaue Gegenteil der Eigenschaften jenes Geschlechts, dem das Individuum angehört', und sah ihre Hauptursache in einer angeborenen Degeneration. Die Psychiatrie des 20. Jahrhunderts hat verschiedene Entwicklungsstörungen als Ursache angenommen, auch wenn man sich nicht einigen konnte,
worin nun eigentlich die Anomalie besteht. Orthodoxe Psychoanalytiker
machten in der Vergangenheit pathologische Familienstrukturen verantwortlich, distanzierte Väter und verführende Mütter. Sehr einflußreich war in
neuerer Zeit eine Untersuchung des Kinsey Institute in San Francisco, die
keine deutlichen Belege für die These vom distanzierten Vater und der ver167
führenden Mutter erbrachte; man stieß aber in der Kindheit vieler Homosexueller auf Nonkonformität bezogen auf das soziale Geschlecht.'
Der Blick auf die familiären Ursprünge wirft hier kein sehr erhellendes
Licht auf die Lebensgeschichten. Alle Männer dieser Gruppe wuchsen in Familien mit traditioneller Arbeitsteilung und ebenso traditionellen Machtstruk
turen auf. Dean Carrington spricht von seinem Vater scherzhaft als viktorianischem Mann`; die Hälfte der Väter war gegenüber ihren Gattinnen bis
zur Gewalttätigkeit dominant. Die Mütter versorgten den Haushalt und die
Kinder, einige hatten von Zeit zu Zeit auch eine bezahlte Arbeit. Die Familienkonstellation entsprachen kurz gesagt den statistischen und gesellschaftlichen Konventionen des Australiens der 50er und 60er Jahre.'
Aber es finden sich auch kaum geschlechtsbezogene Abweichungen bei
den Jungen. In diesen traditionellen Familienkonstellationen vollzog sich die
Maskulinisierung auf gleiche Weise wie in den heterosexuellen Lebensläu
fen. Ihre Mütter steckten sie in Hosen, nicht in Kleider, die Väter brachten
ihnen Football bei, sie lernten die körperlichen Unterschiede zwischen den
Geschlechtern kennen. Außerhalb der Familie hatten sie es mit einer rein
männlichen Peer-group zu tun, wo sie wie üblich eine sexistische, informelle
sexuelle Aufklärung erhielten; und in der Schule waren sie der dort herrschenden Geschlechterdichotomie ausgesetzt. Mark Richards geriet in eine
wilde Clique und beging kleinere Gaunereien, Jonathan Hampden wurde
Football-Spieler, Gerry Lamont bot seinem betrunkenen Vater Paroli, wenn
dieser seine Frau mißhandelte.
Auch als sie zu arbeiten begannen, blieben die meisten sozial maskulinisiert. Jonathan Hampden beispielsweise hat eine angenehme Arbeit in einem
männerdominierten Handwerk. Dean Carrington, dessen liebevoller Witz
über seinen viktorianischen Vater oben wiedergegeben wurde, ist Lastwagenfahrer, und trotz seiner sexuellen Vorliebe für Männer definiert er Männlichkeit nach wie vor über die Sexualität, indem man aktiv und bestimmend ist.
Gordon Anderson leitet sein Büro mit traditionellen Hierarchiestrukturen und
legt eine kontrollierte und autoritäre Art an den Tag, die sehr gut zu dem gut
geschnittenen, grauen Anzug paßt, den er beim Interview trägt. Gordon ist
beim Geschäft ein gewiefter Taktiker und außerdem auch bei politischen
Themen sehr beschlagen.
Es findet sich in diesen Lebensläufen ein Sich-Einlassen auf die hegemoniale Männlichkeit, wie bei den Umweltschützern in vorhergehenden Kapitel.
Angesichts der Vorherrschaft eines dominanten Männlichkeitsmusters ist
auch zu erwarten, daß sich sein Einfluß auf alle erstreckt.
Krafft-Ebing 1984, Bieber et al. 1962 und Friedman 1988 vertreten unterschiedliche
psychoanalytische Standpunkte. Die angesprochene Untersuchung aus San Francisco
ist Bell et al. 1981.
Auch im Vergleich mit den anderen drei Gruppen der Untersuchung, und entsprechend historischer Untersuchungen wie Game und Pringle 1979 oder Gilding 1991.
Aber wie wir schon im letzten Kapitel bei der Betrachtung der Familiendynamik gesehen haben, lassen die Strukturen, durch die das soziale Geschlecht geformt wird, auch noch andere Möglichkeiten zu. Familien sind
keine starren, mechanischen Systeme. Sie stellen ein Beziehungsgeflecht dar,
in dem das soziale Geschlecht ausgehandelt wird, ihre Konfigurationen wandeln sich mit der Zeit. Allianzen werden geschlossen und zerbrechen, Menschen kommen dazu oder verschwinden.
In Familien mit traditioneller Arbeitsteilung sind Mütter und Schwestern
für die Jungen sowohl die erste Möglichkeit, die biologischen Geschlechtsunterschiede zu erleben, als auch eine mögliche Alternative zur Identifikation
mit dem Vater. Die Strukturen der patriarchalen Familie lassen emotionale
Bindungen unterschiedlichster Art zu, mit entsprechenden Auswirkungen auf
das soziale Geschlecht.
In Jonathan Hampdens Fall finden wir eine sehr starke Identifikation mit
dem Vater, aber auch eine ausgeprägte Identifikation mit seiner älteren
Schwester. Eine Beziehung, die sich entwickelte, als der Vater sich von ihm
zurückzog. In einem späteren Stadium kühlte sich Jonathans Verhältnis zu
seiner Schwester sehr ab. Alan Andrews, wie Damien Outhwaite ein Junge
vom Land, stand schon immer seiner Mutter näher, war als Kind vor allem
mit Mädchen befreundet und hat Frauen schon immer bewundert und sich
ihnen nahegefühlt. Er mußte schließlich von seiner Mutter aus dem Nest geschubst werden. Damien wollte sich der mütterlichen Kontrolle entziehen
und floh in die Stadt; aber auch er hängt immer noch an ihr.
Die maskulinisierte öffentliche Kultur - in Form von Jugendcliquen,
Schulen, Arbeitsplätzen, Sportvereinen, Medien - stützt beharrlich die herkömmliche Definition des sozialen Geschlechts. Aber diese Beharrlichkeit
reizt junge Menschen auch, das soziale Geschlecht für ihren Widerstand gegen die Erwachsenen und das Establishment zu benutzen.
Dieser Widerstand kann so aussehen, daß man wie Jonathan Hampden
als Jugendlicher eine Hypermaskulinität an den Tag legt: Rauchen, Schlagen
und Aufsässigkeit in der Schule, wie wir sie auch von einigen Jungen aus der
Arbeiterklasse aus dem vierten Kapitel kennen. Aber Widerstand zu leisten
kann ebenso bedeuten, etwas völlig Unmännliches zu machen. Zwei aus der
Gruppe haben gegen Ende ihrer Pubertät genau dies getan. Gerade dem muffigen, ländlichen Elternhaus entkommen, brach Damien Outhwaite aus den
Konventionen aus, indem er sich die Haare färbte, die Nägel lackierte, flippige Jeans anzog und zu stricken begann. Mark Richards war ein unkontrollierbarer und feindseliger Jugendlicher, als junger Erwachsener machte er kehrt
und wurde Krankenpfleger.
Das Sich-Einlassen auf die hegemoniale Männlichkeit ist also ein recht
vielschichtiger Vorgang; er ist bei jedem zumindest ansatzweise auszumachen. Die Bandbreite reicht von einem starken Engagement bis zu sehnsüch
tigen Phantasien, aber vorhanden ist er immer. In keiner Weise basiert ihre
Homosexualität auf einem Mangel, einem Geschlechtsvakuum. Und dennoch
16 9
findet die Konstruktion von Männlichkeit durch Beziehungen statt, die alles
andere als monolithisch sind. Die Geschlechterdynamik hat Macht, ist hinreichend komplex und widersprüchlich, um in verschiedenster Art und Weise
modifizierbar zu sein. Bei diesen Männer erfolgte die entscheidende Wendung in der Regel durch eine sexuelle Erfahrung - die Entdeckung der Sexualität, oder eine Entdeckung in der Sexualität.
Sexualität als Initialzündung
Die erste wichtige sexuelle Beziehung fand bei mehr als der Hälfte der Männer mit einer Frau statt. Zwei waren verheiratet und haben Kinder, andere
waren nahe daran zu heiraten. Dean Carrington beschreibt seine erste Beziehung als wunderbar, und wir sind immer noch gute Freunde', mit befriedigender Sexualität und gegenseitiger Fürsorge. Die beiden - sinniert er - hätten leicht heiraten können. Alan Andrews wuchs auf dem Land auf, weshalb
Sexualität für ihn untrennbar mit einer Beziehung zu einer Frau verknüpft
war. Seine Mutter und seine Freunde haben ihn unter Druck gesetzt, damit er
sich endlich eine Freundin sucht. Seine Kumpel versuchten, eine Freundin
für ihn aufzutreiben. Er erzählt eine witzige Geschichte, wie er eines Nachts
- als seine Clique im Busch zeltete - ins Zelt der Mädchen geschubst wurde
und er aus Versehen im Dunkeln nach der Falschen grapschte. Zwangsheterosexualität war - wie wir auch bei den anderen Gruppen gesehen haben fester Bestandteil des Aufwachsens.
So mit 16, 17 wurde der Druck auf Jungen sehr groß, wenn sie immer noch nicht mit einem Mädchen geschlafen hatten. Und ich war zu der Zeit noch jungfräulich. Und so habe
ich mir immer ausgemalt, wie toll es sein würde, wenn ich dann endlich die Richtige gefunden hätte. Aber es war dann ein Junge.
Wie Alan hier andeutet, wird Heterosexualität vom Umfeld als selbstverständlich betrachtet. Aber die Zwangsheterosexualität wurde nicht unbedingt
in die Praxis umgesetzt. Es kommt in den Kindheitsgeschichten sowohl zu
gleich- wie gegengeschlechtlichen sexuellen Erfahrungen.
Adam Singer berichtet, schon seit ich mich erinnern kann, sexuell sehr
aktiv' gewesen zu sein. Er erzählt ausführlich von sexuellen Spielen mit
Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts in der Grundschule und in der Highschool, auch von der , Nudistenkolonie', die von den Grundschülern gleich
hinter dem Schulgelände im Busch gegründet wurde. Jonathan Hampden erinnert sich auch an lustvolle Spiele mit beiden Geschlechtern, wenn auch in
einem nicht ganz so idyllischen Rahmen. Als er sieben war, wurde er bei
Spielen mit dem Nachbarmädchen erwischt. Später wurde ihm nach gegenseitiger Masturbation mit anderen Jungen bewußt, daß Homosexualität verboten war, was bei ihm Schuldgefühle verursachte. In einem Fall erfolgte die
170
Einführung in die Sexualität durch eine erwachsene Frau, eine Verwandte,
was große Gefühlsturbulenzen zur Folge hatte.
Derartige sexuelle Kindheitserfahrungen mit Partnern beiderlei Geschlechts finden sich ebenso bei heterosexuellen wie homosexuellen Erwachsenen. Frühe Kontakte mit Jungen oder Männern verhindern nicht per se eine
heterosexuelle Entwicklung. Auch die Forschung aus anderen Ländern belegt, daß viel mehr Männer in ihrer Jugend gleichgeschlechtliche Kontakte
haben als dann später wirklich vollständig oder überwiegend homosexuell
werden. Die Sexualität junger Menschen ist ein Möglichkeitsraum, kein deterministisches System. Sigmund Freud unterstrich die freie Form kindlicher
Sexualität (sein berühmter Begriff von der polymorph-perversen Anlage'
des Kindes), sah sie aber auf die frühe Kindheit beschränkt. Wie die Fälle
von Adam Singer und Jonathan Hampden zeigen, kann sich eine polymorphe
Sexualität bis in die Pubertät erstrecken.'
Die Sexualität Erwachsener - ob nun homo- oder heterosexuell - setzt
dieser Freiheit ein Ende. Aber diese Entwicklung ist nicht determiniert, sondern vollzieht sich über bestimmte Praxen. Die Entscheidung für ein Sexual
objekt spielt eine Rolle, wie einige, wenn auch nicht alle Interviews bestätigen.
Für Mark Richard endete eine lange Phase jugendlichen Unglücks und
der Auflehnung gegen Autoritäten, als er in ein Jungeninternat geschickt
wurde und sich dort in einen Klassenkameraden verliebte. Er nennt es eine
klassische Internatsgeschichte... eine sehr enge Freundschaft und als Krönung des Ganzen... dann auch noch eine recht starke sexuelle Beziehung'.
Heimlich und verstohlen, aber sehr intensiv.
Wir wurden nie erwischt - und wo haben wir es nicht getrieben! In der Aula und unter
der Treppe. Er nahm Musikunterricht, nur weil ich auch Musikunterricht hatte. Wir hatten am selben Tag Ausgang...
Wußten die Mitschüler davon?
Mein Gott, nein. Nein. Überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben, aber
sie haben nichts mitbekommen.
Von diesem Zeitpunkt an stand Marks Entscheidung für Männer als den Objekten seines Begehrens nie mehr in Zweifel.
Aber es handelt sich dabei nicht um eine fetischistische Fixierung auf einen Teilaspekt des Objekts. Vielmehr hat sich Marks sexuelle Praxis durch
die Beziehung zu diesem Mitschüler konsolidiert und eine Struktur ange
nommen, die er als Ganzes auf spätere Verbindungen übertragen konnte.
Marks Sexualleben zeichnet sich dementsprechend durch einige ziemlich
lang andauernde Partnerschaften aus. Er hat etwas gegen flüchtige Sexualität
6
Andere Hinweise für die Vielfalt kindlicher Sexualität finden sich bei Kinsey et al.
1955, Schofield 1965 (S. 58). Für eine neuere Überblicksstudie siehe Turner 1989.
Das Freud-Zitat stammt aus den drei Abhandlungen [1905] 1991.
und spricht mit deutlicher Ironie von den wundervollen' Auswirkungen von
AIDS, endlich kann nicht mehr jedermann beliebig durch die Gegend vögeln'.
Eine sexuelle Entscheidung kann - wie in Marks Fall - ohne jeglichen
Bezug zu einer homosexuellen Identität oder irgendeiner sozialen Definition
des Schwulseins stattfinden. Die Beziehung an sich war die Grundlage.
Adam Singers Sexualität, die in der Kindheit sehr polymorph pervers war,
konsolidierte sich ebenfalls durch emotionale Bindungen, auch zu Frauen,
aber doch vor allem zu Männern. In der Highschool fielen Adam irgendwann
die älteren Schüler in erotischer Hinsicht auf: Sie waren Schüler, genau wie
ich, aber ihre Männlichkeit war sehr, sehr ausgeprägt'. Auch als Erwachsener
kann er diese Begierde recht anschaulich schildern: Ein großer, muskulöser
Mann, an den ich mich kuscheln kann und der sich um mich kümmert, was
ich sehr mag.' Die Objektwahl wird in diesem Fall durch ein eher widersprüchliches Geschlechterbild definiert (muskulös'/,sich kümmert'), und
dieser Widerspruch ist nicht abstrakter, sondern körperlicher Natur. Dagegen
ist die Vorstellung von seiner ,Traumfrau', mit der er eines Tages Kinder zu
haben gedenkt, eher verschwommen.
Der soziale Prozeß läßt sich mit Begriffen wie homosexuelle Identität'
oder homosexuelle Rolle' in keiner Weise erfassen. Wie bei den heterosexuellen Fällen aus dem zweiten Kapitel bezieht sich die sexuelle Praxis - eben
so wie die sexuellen Phantasien - auf einen auch im sozialen Sinn geschlechtlichen Körper. Es geht um körperliche Lust, um ein Geben und Nehmen. Der soziale Prozeß konstituiert sich vor allem aus Berührungen. Und
trotzdem bleibt es zweifelsfrei ein sozialer Prozeß, zwischenmenschliche Praxis, die von der übergeordneten Geschlechterstruktur bestimmt werden.
Dazu paßt auch eine Äußerung von Dean Carrington, der ebenfalls mit
Männern und Frauen intime Beziehungen hatte. Befragt nach den Unterschieden, gab er eine bemerkenswerte Antwort hinsichtlich der körperlichen
Empfindungen, die deshalb ausführlich zitiert werden soll:
Eigentlich war es dasselbe. Ich meine, Analverkehr oder irgend etwas anderes: Schmusen,
Streicheln, Saugen, Lecken, da gab es rein körperlich eigentlich keinen Unterschied. Aber
vielleicht wollte ich einfach denken, daß es mit einem Mann viel aufregender ist. Weil ich
weiß, daß ich einen Mann stimulieren kann. Ich weiß ja auch, wie ich gerne stimuliert werde.
Und das ist toll, phantastisch. Ich fühle mich da dem anderen näher. Wohingegen meine Geliebte Betty niemals sagen würde... Es hat ihr alles gefallen, aber sie würde nie auf etwas
hinweisen und sagen Ich möchte, daß du es so machst, ich möchte, daß du mehr Druck ausübst, oder etwas ganz Bestimmtes tust, oder was Bestimmtes anziehst'...
Einem Mann kann ich mich viel näher fühlen, weil er den gleichen Körper wie ich
hat... wenn ich mit einem Mann Sex habe, kann ich herausfinden, wie ich mich wohler
fühle... Ich kann dabei wirklich mehr über meinen Körper erfahren. Ich habe zwei Brüste
bekommen, ich weiß, wie sie sind, diese Titten hier: sie sind nicht sehr groß, sondern
ziemlich flach, aber sie sind wunderschön. Und es hat mir so viel gefehlt. So eine Schande, so eine verdammte Verschwendung.
In Deans Aussage geht es um Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Offensichtlich hat er keinen deutlichen Unterschied hinsichtlich der erotischen Quali172
täten von Männern und Frauen ausmachen können und hat mit ihnen auch
keine unterschiedlichen Praktiken erlebt. Seine Antwort entspricht Untersuchungsergebnissen über das sexuelle Repertoire von schwulen und bisexuellen Männern in Sydney.' Die gebräuchlichsten Handlungen zwischen Männern in unserer Kultur (Küssen, erotische Umarmungen, usw.) unterscheiden
sich nicht von der Sexualität zwischen Mann und Frau. Der Unterschied mit
einem Mann liegt in der Gestalt (Anm.: im englischen Original deutsch) des
Körpers: eine Konfiguration, deren Ähnlichkeit sowohl verwirrt als auch beruhigt. Die Ähnlichkeit macht die Erkundung des anderen Körpers gleichzeitig zur Erkundung des eigenen.
Eine vom sozialen Geschlecht beeinflußte Sexualität, so scheint diese Geschichte zu belegen, ist naheliegenderweise eine allmähliche und provisorische Konstruktion. Aber bei der sozialen Identität des Schwulseins ist es etwas anderes. Diese Kategorie ist so ausgearbeitet und verfügbar, daß man sie
auf andere Menschen anwenden kann, ob diese das nun wollen oder nicht.
Damien Outhwaite hat das am Ende seiner rebellischen Jugend erfahren, als
er immer noch an Frauen interessiert war:
Da gab es einen Typen am College, der mich sofort als Schwulen identifizierte und mich
deswegen auch etwas schikanierte... er fand immer Dinge an mir, die mich als Schwulen
auszeichneten. Zum Beispiel war ich der erste, der diese flippigen Jeans trug, als sie damals in Mode kamen - was er für schwul hielt. Und außerdem trug ich meine Bücher immer in einer Schultertasche - was er auch ausgesprochen schwul fand.
Irgendwann hat er dann diese von außen kommende Definition für sich übernommen, bestärkt durch Benachteiligung (er verlor zwei Anstellungen) und
durch sein verstärktes Engagement in der Schwulenbewegung.
Schwulsein ist mittlerweile so konkret definiert, daß es Männern leicht
fällt, die Übernahme dieser gesellschaftlichen Definition als die Entdeckung
einer Wahrheit über sich selbst zu erfahren. Gordon Anderson spricht davon,
, erkannt' zu haben, daß er schwul ist, und auch Alan Andrews benutzte diesen Ausdruck. Alan bietet uns eine klassische Coming-Out-Geschichte in
sechs Kapiteln. Vorgeschichte: aufgewachsen in einem Landstädtchen, eine
freundliche, konservative Familie, ohne große Spannungen. Vorbereitung:
pubertäre Unsicherheiten - ist gerne in Gesellschaft von Mädchen, bekommt
aber keine Freundin; sexuelle Spielchen mit einem Freund, der sich aber
rasch zurückzieht. Kontakt: mit 19 stieß er zufällig auf eine Klappe (Treffpunkt für halböffentliche Begegnungen, ähnlich dem amerikanischen ,tearoom') und hat mit Männern Sex. Dann sucht er gezielt nach Klappen, wird
7
Connell und Kippax 1990.
173
fündig und verlebt wundervolle' Strandferien voller Sex. Bekenntnis: mit 20
, kam ich endlich zu dem Schluß, daß ich schwul war und besuchte zum ersten Mal eine Schwulendisco.' Abtauchen: klapperte alle Szenelokale ab und
hatte eine Vielzahl von Sexualkontakten. Konsolidierung: mit 22 trifft er seinen Traummann, geht eine feste Paarbeziehung ein, hat zunehmend Schwule
in seinem Bekanntenkreis, schließt sich einigen Schwulenorganisationen an
und offenbart sich seinen Eltern.
Das klingt alles sehr schlüssig, fast wie ein Stufenmodell über homosexuelle Identitätsfindung', entwickelt von irgendeinem Sozialpsychologen.
Aber die Geradlinigkeit der Entwicklung täuscht, und am Ende steht nicht
eine homogene Identität, wie sie die Ich-Psychologie, auf der solche Stufenmodelle beruhen, nahelegt.
Alans erste Erfahrung auf einer Klappe war enttäuschend. Es dauerte, bis
er so geschickt wurde, daß es ihm Spaß machte. Als Alan in Sydney die
Kneipenszene kennenlernte - notorisch antisozial... sehr kalte Orte' - wurde
er ausgenützt. Als großer, netter, langsam sprechender Junge vom Land, muß
er in der Szene so etwas wie ein Phänomen gewesen sein, und es fehlte ihm
nicht an Sexualpartnern. Er sehnte sich nach Zuneigung und Liebe, aber alle
wollten bloß Sex von ihm. Er denkt, daß er von einem Paar vergewaltigt'
wurde, sie zwangen mich zum Analverkehr'. Er stand den schwulen Aufreißern zunehmend kritisch gegenüber und sah in ihrem sexuellen Können eine
bloße Überkompensation ihrer Unsicherheit. Er lernte sich unter Heterosexuellen zu verstellen und heimlich zu flirten. Seinen Eltern alles zu gestehen,
fiel ihm sehr schwer, und es lief auch nicht sehr gut. Seine Mutter war außer
sich und sein Vater wollte gar nicht mehr mit ihm reden. Und sie versuchten
beide, seinen jüngeren Bruder von ihm fern zu halten, auf daß die Verderbtheit nicht weitergegeben werde. Alan ist ihnen nicht so feindlich gesinnt, daß
ihn ihr Verhalten nicht verletzen würde.
In einer Geschichte wie dieser bedeutet das ,Coming-Out' eigentlich ein
,Coming-In' nämlich in ein bereits bestehendes schwules Milieu. Es gab
Meinungsverschiedenheiten unter schwulen Theoretikern, vor allem bei jenen, die von Foucault beeinflußt sind, über die kollektive Identität, die in einem solchen Milieu herrscht: ob sie ein Mittel der sozialen Regulierung und also letzten Endes der Unterdrückung - darstellt.' Die Erfahrung von Damien Outhwaite, den man wegen seiner Jeans und seiner Tasche als Schwulen denunzierte, könnte man in diese Richtung interpretieren. Und ebenso wenn auch subtiler - Alan Andrews' Reise durch die Kneipen und Klappen.
Mark Richards distanziert sich von diesem flüchtigen Lebensstil und der
schwulen Subkultur, von den Tunten genauso wie von den Lederkerlen.
Auch das kann als Kritik an der internen Konformität der schwulen Welt interpretiert werden.
8
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Vergleiche auch Sargent 1983, Weeks 1986.
Aber zweifellos haben Damien, Alan und Mark ihre schwule Sexualität
auch als Freiheit wahrgenommen, als Fähigkeit, endlich das zu tun, was sie
wollten. Das darf nicht als falsches Bewußtsein abgetan werden. Dean Carrington beschreibt sehr anschaulich das Bacchantische am Coming-Out:
Die Sau herauslassen! Einfach alles das tun, was du dir 25 Jahre lang versagt hast. Sich
hineinschmeißen ins Vergnügen, es sich sexuell gut gehen lassen, auf Parties gehen und
tanzen und trinken.
Das ist ein entscheidender Teil der ursprünglichen Erfahrung der Schwulenemanzipation, der auch in Zeiten von AIDS immer noch präsent ist, wie der
anhaltende Erfolg des schwulen und lesbischen Mardi-Gras-Festivals in Sydney beweist, wo jedes Jahr Unmengen von Menschen die Straßen bevölkern.
Gordon Anderson hält seine Homosexualität aus guten Gründen immer noch
geheim, weil er sonst sicherlich seine Stellung und möglicherweise auch den
Zugang zu seinen Kindern verlieren würde. Schwule Sexualität und die dazugehörige Szene wirken auf ihn vielleicht deshalb weniger schillernd. Aber
er erfährt sie trotzdem als genußvollen Freiraum im Vergleich zu den sonstigen Zwängen in seinem Leben.
Sexuelle Freiheit, wilde Parties und die Nächte durchtanzen (Gordon
Anderson); so wichtig das ist, sehnen sich die meisten doch nach etwas anderem. Adam Singer nannte seine erste sexuelle Erfahrung keine Beziehung,
sondern eine sexuelle Begegnung'. Alle anderen treffen diese Unterscheidung auch und stimmen mit Adam darin überein, daß eine Beziehung sehr
viel wertvoller ist.
Das Ideal ist in ihren Augen eine langfristige Paarbeziehung, die auch
andere sexuelle Gelegenheiten zuläßt, deren Schwerpunkt aber auf der gegenseitigen Verbindlichkeit liegt. Auf was es ihnen in einer Beziehung an
kommt, ist sowohl das sexuelle Vergnügen, als auch - wie Alan Andrew es
ausdrückte - ,Ehrlichkeit... sich kümmern und teilen und voneinander lernen'. Als Bestandteile einer funktionierenden Beziehung werden auch das
beiderseitige Sich-Einlassen, gemeinsame Interessen und einander einfach
Zuhören genannt.
Wie wird dieser Wunsch verwirklicht? Dieser Abschnitt des Interviews
ist am schwierigsten wiederzugeben, weil es für einige auch am schwierigsten war, darüber zu reden. Drei der Befragten haben momentan eine (in ei
nem Fall bereits elfjährige) Liebesbeziehung mit einem Mann. Die problematischste dieser Beziehungen scheint jene mit dem größten Altersunterschied
zwischen den Partnern zu sein, wo Gegenseitigkeit am schwierigsten zu erreichen ist.
Drei andere Männer suchen bewußt nach einer stabilen Zweierbeziehung, entweder mit einem neuen Partner oder indem sie eine alte Leidenschaft zu neuem Leben erwecken. In der Zwischenzeit begnügen sie sich mit
sexuellen Begegnungen' oder warten einfach - wie einer es formulierte auf bessere Zeiten. Ein weiterer Mann hatte vor allem kürzere Affären mit
175
Männern (längere mit Frauen) und sorgt sich nun um die Moralität solcher
Kontakte. Nur einer von den acht Interviewten konzentriert sich ausschließlich auf gelegentliche Affären und versucht eine vorwiegend schwule Erotik
mit einer Wohngemeinschaft mit der Mutter seiner Kinder zu verbinden.
Das bevorzugte Muster ist - ebenso wie in der heterosexuellen Welt, die
den Männern auch vertraut ist - eine verbindliche, stabile Paarbeziehung.
Aber Beziehungen dieser Qualität findet man nicht so einfach. Die zufälligen
Kontakte in Klappen oder Kneipen machen einen bedeutenden Teil ihrer Lebenspraxis aus. Alle acht kennen diese flüchtigen Kontakte. Für einige waren
sie der Einstieg in die schwule Sexualität, und sie bleiben auch während fester Partnerschaften eine erotische Option.
Die meisten der Männer hatten auch sexuelle Beziehungen zu Frauen.
Man müßte sie als bisexuell bezeichnen. Aber einzig Jonathan Hampden beschreibt seine sexuelle Identität als ,bisexuell`, was er aber auch gleich wieder relativiert: Bisexuell mit einer Vorliebe [für Männer]'. Gerry Lamont
spielt mit dem Begriff ,bisexuell`, aber eigentlich will er damit nur eine
schwule Identität umgehen, vor der er bisher immer zurückschreckte. Er setzt
Schwulsein mit außer Kontrolle sein gleich.
In unserer Kultur gibt es bislang keine positive Kategorie für Bisexuelle,
keine ausgeformte, intermediäre Identität, die Männer übernehmen könnten.
Bisexualität wird vielmehr als ein Hin und Her zwischen hetero- und homo
sexuellen Beziehungen empfunden, oder als ein bewährtes Arrangement, das
die beiden Sexualitäten verbindet, indem die eine der anderen untergeordnet
wird. In anderen Kulturen gibt es viel klarere intermediäre Positionen.' In der
heutigen westlichen Kultur wird die sexuelle Präferenz aufgespalten und die
Bisexualität als etwas Instabiles betrachtet.
Wie ich im dritten Kapitel argumentiert habe, bildet sich eine bestimmte
Form von Männlichkeit immer in Relation zu den anderen Männlichkeiten
und zum Geschlechterverhältnis als Ganzem. Diese Relationen bezeichnen
nicht nur die Unterschiede, sondern beziehen sich auch auf die materiellen
Praktiken. Historisch gesehen ist das Verhältnis zwischen hegemonialer und
homosexueller Männlichkeit von der Kriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen Männern geprägt, aber auch durch Einschüchterung und Gewalttätigkeit gegenüber Schwulen.
Als ich den ersten Entwurf dieses Kapitels verfaßte (1991), war eine
Gruppe Jugendlicher aus Sydney gerade verurteilt worden, weil sie einen homosexuellen Mann in einen Park gelockt und ihn totgeschlagen hatten. Wie
9
176
Vergleiche die klassischen Ausführungen dazu von Williams 1986.
David McMaster in seiner Analyse dieses Falles anmerkt, ist es nicht einfach,
einen Menschen zu Tode zu prügeln. In diesem Fall gehört dazu das Herumtrampeln auf dem Kopf, Springen auf die Genitalien, und das Zerbrechen der
Rippen, indem sich der Angreifer mit seinem vollen Körpergewicht auf den
Brustkorb des Opfers warf. Angriffe auf Schwule sind so alltäglich, daß sie
sogar zu einen Thema der Kommunalpolitik in Sydney geworden sind. Das
Ausmaß der jugendlichen Homophobie in dieser innerstädtischen Jugendkultur hat James Walker mit seiner ethnographischen Studie dokumentiert."
Keiner der befragten Schwulen ist verprügelt worden, aber einige erlebten Anfeindungen. Sie sind sich dessen bewußt, in einer schwulenfeindlichen
Gesellschaft zu leben. Damien Outhwaite wurde gefeuert, weil er schwul ist.
Adam Singer sitzt in einem für ihn uninteressanten Beruf fest, weil dieser
Arbeitsbereich seiner Meinung nach ein sicheres Milieu für einen Schwulen
darstellt. Und Gordon Anderson verheimlicht seine Homosexualität aus
Angst, Beruf und Kinder zu verlieren.
Ich will nicht, daß es aufhört. Ich will auch weiterhin ein guter Vater sein. Ich war eigentlich nie sehr offenherzig, was meinen Lebensstil betrifft. Das ist wahrscheinlich der
Preis, den ich zahlen muß.
Gordon beschreibt anschaulich, wie die Illusion einer heterosexuellen Männlichkeit gegenüber Geschäftsfreunden aufrechterhalten wird. Er hat Freundinnen, die bei Bedarf in seine Wohnung kommen und die Gastgeberin spielen, eine Illusion, die schnell platzen kann, wenn die Frauen dann nicht einmal wissen, wo in der Küche Pfeffer und Salz stehen.
Schwule begegnen heterosexueller Männlichkeit Tag für Tag, aber die
Beziehungen zu normalen' Männern besitzen oft einen bedrohlichen Unterton. Vorsicht, Verschlossenheit und eine Konzentration auf die schwule Sub
kultur sind naheliegende Reaktionen. Aber das bedeutet noch nicht, daß man
die gesellschaftliche Diskriminierung legitimiert. Normale` Männer können
auch als pathetische Bewahrer von altmodischen Ideen und einem langweiligen Lebensstil betrachtet werden. Dean Carrington besuchte einmal seine
Heimatstadt:
Ich habe ein paar Freunde getroffen, zum Beispiel diesen Burschen, mit dem ich zur
Schule ging... Er ist jetzt 25, hat schon das dritte Kind und steckt tief drin in der Tretmühle. Ich wollte ihn wiedersehen. Es ist wirklich schrecklich, in die Stadt deiner Kindheit zurückzukommen und sich so die Augen öffnen zu lassen. Sie sind alle erwachsen geworden und haben geheiratet, und ich nicht. Sie haben - in Anführungsstrichen - das
, Richtige' getan.
10 Meine Ansichten über Gewalt gegen Schwule wurden beeinflußt von McMaster
1991, dessen Beschreibung der Verletzungen in diesem Mordfall ich paraphrasierte.
Zur Jugendkultur siehe auch Walker 1988.
177
Alan Andrews hat ähnlich reagiert, als er mit ansehen mußte, wie sich sein
heterosexueller Bruder nach und nach in einen ungehobelten Säufer verwandelte. Verglichen dazu wirkt die homosexuelle Männlichkeit geradezu hochintellektuell und modern. Mit der Heterosexualität umzugehen, bedeutet deshalb oft, eine kulturelle und oft auch physische Distanz herzustellen.
Das Verhältnis zwischen verschiedenen Männlichkeiten erschöpft sich
aber nicht im Zwischenmenschlichen. Hegemoniale Männlichkeit ist auch
gegenwärtig in kollektiven Praktiken institutioneller und kultureller Art. Der
Kult um das Football-Spielen an der Schule von Jonathan Hampden ist ein
Beispiel dafür; Football wurde von der Schulleitung gefördert und institutionalisierte körperliche Konfrontation und Aggression. Maskulinisierte Autorität am Arbeitsplatz war für Damien Outhwaite und Mark Richards konfliktträchtig. Adam Singer und Gerry Lamont haben sich von ihren maskulinisierten Berufen distanziert.
Aber hegemoniale Männlichkeit besitzt öffentliche Autorität und kann
nicht so ohne weiteres offen herausgefordert werden. Unter anderem beeinflußt sie auch die Wahrnehmung der Homosexualität. Gordon Anderson, der
sich eher einer Ausweichstrategie bedient, kritisiert Männer, die ihr Schwulsein zur Schau stellen, was er für eine typisch australische Neigung hält.
( Aber die gleiche Kritik findet man bei Schwulen in den USA, die nicht in
der Szene leben.)" Adam Singer, Damien Outhwaite und Mark Richards lehnen die hypermännlichen Schwulen ab, finden aber auch Tunten abstoßend.
Mark bringt es auf den Punkt:
Wenn du ein Kerl bist, warum benimmst du dich dann nicht auch so? Du bist keine Frau,
also tu auch nicht so. Das ist doch ein ziemlich überzeugendes Argument. Und Leder und
all das Zeug, ich verstehe wohl einfach nicht, was da dran sein soll. Das ist alles, was es
dazu zu sagen gibt. Ich bin ein sehr normaler Schwuler.
Die sexuell-kulturelle Dynamik, die Mark hier anspricht, ist sehr wichtig.
Sich für einen Mann als Sexualobjekt zu entscheiden, bedeutet nicht nur, sich
für einen Körper mit Penis zu entscheiden, sondern es ist auch die Entscheidung für eine verkörperte Männlichkeit. Die gesellschaftlichen Bedeutungen
von Männlichkeit sind in der Regel darin enthalten. Die meisten Schwulen
sind in dieser Hinsicht sehr normal'. Es ist nicht nur eine Frage, ob man sein
bürgerliches Ansehen verteidigt. Ahnliche Haltungen finden sich auch bei
Männern aus der Unterschicht, die nichts mit der schwulen Subkultur zu tun
haben, wie eine ähnliche Untersuchung gerade belegte."
Aber aus der Sicht hegemonialer Männlichkeit wird diese Normalität'
der Schwulen durch die falsche Objektwahl in der Sexualität völlig entwertet.
Von daher ist das übliche heterosexuelle Schwulenstereotyp immer noch die
Tunte mit der Fallhand. Diese Verkehrung ist ein strukturelles Merkmal von
Homosexualität in einer patriarchalen Gesellschaft, und zwar völlig unab11 Lynch 1992.
12 Connell, Davis und Dowsett 1993.
178
hängig von Persönlichkeitsstil oder Identität von Schwulen wie Mark.
Schwule Theoretiker, die eine zwangsläufige Effiminierung durch Homosexualität unterstellen, haben - so gesehen - also doch recht, wenn auch nicht
in der von ihnen beabsichtigten Weise. Und wenn dies so ist, kann die Herausbildung einer schwulen Männlichkeit - vergleichbar der von Mark Richards, die gängig, wenn nicht sogar vorherrschend ist bei städtischen
Schwulen - nicht stabil sein."
Veränderungen ins Auge sehen
Veränderung ist ein zentrales Thema in den Lebensgeschichten, besonders
der Übergang von einem Milieu in ein anderes. Für einige war es der große
Bruch, als sie aus dem ländlichen Konservatismus in die Freiheit der Großstadt kamen. Als Dean Carrington von seinen Jugendfreunden erzählt, die
, das Richtige getan' haben, geht es um Kleinstadtleben, aber auch um Männlichkeit. Dean zog nach Sydney und begann sofort Sex mit Männern zu haben, hatte sein Coming-Out und zog durch die Kneipen und Nachtclubs der
Szene. Für jene, die aus der Großstadt stammten, waren die Kontraste zwischen den Milieus auch recht gravierend: von einer konservativen Schule in
eine alternative Wohngemeinschaft (Mark Richards), die Arbeit in der Wirtschaft im Gegensatz zur Schwulenszene (Gordon Anderson), die berufliche
Karriere im Gegensatz zur Selbsterfahrungsszene (Gerry Lamont).
Der Prozeß des Coming-Out, sich selbst in einer homophoben Welt als
schwul zu bekennen, durchzieht die Lebensgeschichten fast notwendigerweise wie ein roter Faden. Die Lebensgeschichte wird zu einer Wanderschaft, zu
einer Reise von einem anderen Ort zu jenem, an dem man sich jetzt befindet.
Im Gegensatz zu Theorien, die an einer homosexuellen Identität das Regulative betonen, würde ich eher die Handlungsfähigkeit, die für diese Reise
notwendig ist, in den Vordergrund rücken. Für Dean Carrington war es ebenso Flucht wie Selbsterforschung:
Das ist eines der ganz großen Dinge, die mich hierher brachten [nach Sydneyl, die mich
dazu brachten, meine Eltern zu verlassen, nachzudenken und herauszufinden, wer ich
wirklich bin und was ich wirklich will, und warum ich all das jahrelang gemacht habe,
warum ich mich verändert habe, und wovor ich mich versteckt habe.
I m Gegensatz zu der traditionellen psychiatrischen Annahme eines gestörten
Verhältnisses zu den Eltern findet man in den meisten dieser Fälle eine stabile Ich-Entwicklung, die Trennung ohne Ablehnung möglich macht. Die
meisten Männer haben ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, sofern diese es
zulassen.
13 Vergleiche Mieli 1980.
179
Der Wunsch nach persönlicher Veränderung, der in Dean Carringtons
Aussage deutlich wird, kann zu einer bewußten Veränderung der eigenen
Männlichkeit führen, in der Art, wie sie uns schon im fünften Kapitel begegnete. Damien Outhwaite ist damit schon am weitesten. Er hat an sich gearbeitet, um sein Konkurrenzdenken und sein Dominanzstreben zu überwinden. Er war an einer Aktion der antisexistischen Männerbewegung beteiligt
und setzt sich für nicht-sexuelle physische Nähe zwischen Männern ein. Jonathan Hampden hat - trotz einer heftigen Abneigung gegen Getreidekaffee
- in einer Vegetarier-Wohngemeinschaft gelebt, eine Rebirthing-Therapie
gemacht und träumt jetzt davon, ein Zentrum für Sexualitäts-Workshops aufzubauen.
Der Wunsch, die eigene Männlichkeit zu verändern, muß nicht unbedingt von einer alternativen Weltanschauung getragen werden. Einer der
dramatischsten Momente in der Geschichte von Jonathan Hampden war, als
sein Vater, der mächtige Karrieremensch, dessen emotionaler Rückzug von
seiner,Familie Jonathans Entwicklung beeinflußt hat, eine Familienversammlung einberief.
Er setzte sich hin und sagte: , Was habe ich falsch gemacht?` Zum ersten Mal war er dafür zugänglich und hat sich wirklich hingestellt und gesagt: , Was habe ich falsch gemacht? Offensichtlich habe ich nicht das Richtige getan. Ich dachte, wenn ich hart arbeite, könnte ich Euch alles bieten, was Ihr braucht.' Meine Schwester und meine Mutter
machten ihm Vorwürfe. Ich konnte es nicht mit ansehen, weil ich diesen Mann kannte und
wußte, was er in diesem Augenblick fühlen mußte. Er war so ein stolzer Mann und ich
konnte es mir nicht ansehen, wie er zerbrach, verstehen Sie. Aber sie haben ihm weiter
zugesetzt und gesagt: Schau, wir haben Dir doch jahrelang immer wieder gesagt, daß
wir nicht Dein Geld wollen, sondern Dich.' Und schließlich hat er es verstanden... und er
sagte, daß es ihm so leid tue, und daß er alles hinschmeißen möchte. Wir konnten es nicht
glauben.
Ein Jahr später starb er an einem Herzinfarkt. Jonathan glaubt, daß es vielleicht die ersten Anzeichen der Herzprobleme waren, die seine Männlichkeit
in Frage stellten.
Wenn das stimmt, bedurfte es der Angst vor dem Tod und außerdem des
massiven Drucks von Frauen (nicht von Jonathan, der es sich nicht mit ansehen' konnte), um den Schutzwall der hegemonialen Männlichkeit im Le
ben von Herrn Hampden zu überwinden. Diese Kombination gibt es bei den
meisten Männern nicht, und deshalb auch nicht ein ähnliches Gefühl der
Dringlichkeit. Trotzdem spüren einige den Wunsch, etwas zu verändern, und
der Gedanke ist weit verbreitet, daß sich die Geschlechtsunterschiede verringern und Männer sich den Frauen annähern.
Damien Outhwaite glaubt, daß sich auch die schwule Männlichkeit wandelt und erzählt von einer Party, die ein junger Schwuler in einem Provinzstädtchen veranstaltete. Er lud ein paar Frauen ein, und als diese kamen, ver
ließen ein paar ältere Schwule die Feier. In ihrem sozialen Umfeld waren
Frauen nicht geduldet und sie hatten frauenfeindliche Auffassungen - aber
180
die jüngeren Männer eben nicht. Entsprechend sind es auch die drei jüngsten
der Befragten - Mark Richards, Dean Carrington und Alan Andrews -, die
ihre Frauenfreundschaften am meisten wertschätzen und fördern.
Aber dieser Bewußtseinswandel hat bisher kaum politische Konsequenzen. Die Verwässerung der Schwulenbewegung zu einer bloßen Festigung
schwuler Identitäten und schwuler Gemeinschaften, wie sie Dennis Altman
in den Vereinigten Staaten feststellte, hatte weitreichende Auswirkungen."
Die Männer, die wir befragten, fühlen sich nicht als Teil einer breiteren Reformbewegung. Wenn ihre Bemühungen überhaupt einen persönlichen Rahmen überschreiten, dann in einem therapeutischen Kontext (die Workshops
von Gerry Lamont, das Sexualitätszentrum von Jonathan Hampden), indem
sie andere Männern zu eigenen, individualisierten Veränderungen anleiten.
Das Fehlen eines politischen Bewußtseins zeigt sich deutlich in der Haltung gegenüber dem Feminismus. In der Regel begrüßt man die Frauenbewegung, disqualifiziert sie aber gleichzeitig, in dem man jene Frauen angreift, die zu weit' gehen:
Ich kann diese Emanzen nicht ausstehen, die Männer für den letzten Dreck halten (Mark
Richards).
Ich hatte in dieser Hinsicht noch nie einen inneren Konflikt. Ich habe etwas gegen
Extremismen jeglicher Art - das öffentliche Verbrennen von Büstenhaltern und so Zeug
hab' ich einfach nicht kapiert (Gordon Anderson).
Die Einstellung - und das Ausmaß an Ignoranz gegenüber dem Feminismus
- paßt sehr gut zu den gängigen Meinungen der heterosexuellen Männer, die
wir befragten.
Schwule Männlichkeit als Entwurf und Geschichte
Verglichen mit der Lebenswirklichkeit dieser schwulen Männer wirken die
gebräuchlichen Interpretationen von Homosexualität allesamt zu monolithisch, gleichgültig, ob sie sich auf das traditionelle Schema normal - abweichend' oder das etwas neuere Schema dominante Kultur - Subkultur'
stützen. Ihre Sexualitäten haben sich im Verlauf vielfältiger Verhandlungen
an den unterschiedlichsten Schauplätzen entwickelt: emotionale Bindungen
im Elternhaus und auf dem sexuellen Marktplatz; ökonomische und kollegiale Beziehungen; Autoritätsbeziehungen und Freundschaften. Der Druck,
den diese Beziehungen ausübten, ging oftmals in unterschiedliche Richtungen.
Diese Vielschichtigkeit zu betonen, heißt nicht, daß man die Bedeutung
der gesellschaftlichen Strukturen leugnet, und auch nicht, daß man keine Ahnung hätte, was hinter all den Vorgängen stecken mag. Trotz der Vielfalt im
14 Altman 1982.
Detail findet sich dennoch eine logische Struktur in all diesen Erzählungen.
Bei allen findet sich erstens das Sich-Einlassen auf die hegemoniale Männlichkeit, zweitens eine Beschränkung der Sexualität auf Beziehungen zu anderen Männern, und drittens die aktive Beteiligung an der,gay community'.
Mit diesen drei Punkten will ich kein neues allgemeines Modell der
Identitätsbildung bei Homosexuellen anbieten. Es gibt überhaupt keine allgemeine homosexuelle Identität, genausowenig wie es eine allgemeine heterosexuelle Identität gibt. Viele Männer, die mit Männern schlafen, begeben
sich nie in die schwule Subkultur. Und andere, die in ihr leben, finden ganz
andere Kriterien bei der Konstruktion ihrer Sexualität - wie jene Männer, die
auf Leder und das ganze Zeug' stehen, wie sich Mark Richards ausdrückte."
Aber diese drei Aspekte umreißen einen spezifischen Entwurf: die Entstehung einer homosexuellen Männlichkeit als historisch verwirklichte Konfiguration von Praxis. Sie sind durchaus vergleichbar mit den zentralen
Aspekten bei der Konstruktion heterosexueller Männlichkeit im fünften Kapitel, und haben tatsächlich den gleichen Ausgangspunkt.
Für sich genommen haben diese Aspekte keinen Wert, dieser liegt in ihrer Verbindung. Die Begrenzung der Sexualität auf ein männliches Umfeld
nimmt ihren spezifischen Charakter an, weil zuvor die Bindung - wie begrenzt auch immer - an die hegemoniale Männlichkeit stattfand. Schwule
Männer können - genauso wie heterosexuelle Männer - das Objekt ihres Begehrens nicht frei wählen. Ihr Begehren wird von der bestehenden Geschlechterordnung strukturiert. Adam Singer wird sexuell nicht von einem
männlichen Körper angezogen, sondern von einem männlichen Körper mit
femininen Verhaltensweisen. Bei Dean Carrington dreht sich die Erotik vor
allem um körperliche Übereinstimmungen, und zwar Übereinstimmungen,
die durch das soziale Geschlecht definiert werden (wo es doch verschiedene
Lesarten der körperlichen Übereinstimmungen und Unterschiede gibt; man
denke an seine Begeisterung für Brüste, eines der wichtigsten Geschlechtssymbole in unserer Kultur). Diese geschlechtsstrukturierte Erotik hat die Entstehung einer schwulen Subkultur in den Großstädten gefördert, mit der diese
Männer zurechtkommen müssen; was manchmal - wie bei Alan Andrews Erfahrungen mit den Schwulenkneipen - problematisch ist, und manchmal erleichternd wirkt, indem die Szene ein Selbstverständnis liefert, was es hier
und jetzt bedeutet, ein schwuler Mann zu sein.
Wenn der Männlichkeitsentwurf in dieser Art strukturiert wird, wohin
führt dann die historische Entwicklung? Welche Möglichkeiten eröffnen oder
verschließen sich?
Diese Männer erscheinen eher als Produkte der Geschichte, denn als ihre
Macher. Ihre privatisierte Politik hat wenig Einfluß auf die Form der Geschlechterbeziehungen. Der Lebenslauf als Reise zwischen den Milieus setzt
die Geschichte voraus, die diese Milieus entstehen ließ. Die Männer sind in
15
182
Eine genaue Beschreibung der Lederszene bietet M. Thompson 1991.
der Lage, schwule Identität und schwule Subkultur mit ihren sexuellen, sozialen und auch wirtschaftlichen Verknüpfungen, die sie bereits so vorgefunden haben, abzulehnen, anzunehmen oder eine für sie akzeptable Form des
Umgangs auszuhandeln. Sie sind die Erben der homosexuellen Emanzipation
und der rosa Kapitalisten' der 70er Jahre (der Generation, die jetzt durch
AIDS verwüstet wird), sie haben aber keine Beziehung zu dieser Geschichte.
In dieser Hinsicht paßt das Bild vom kontrollierten Raum'; ein Ausdruck von Gregg Blachford, der die Möglichkeiten der Schwulenbewegung,
gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen, für äußerst begrenzt hält. Auch
ihre geschlechtsstrukturierte Erotik, ihre doch zumeist recht maskuline Erscheinung, die Fixierung auf Paarbeziehungen und ihre fehlende Solidarität
mit dem Feminismus deuten in die gleiche Richtung. Von ihnen wird die Geschlechterördnung nicht wirklich in Frage gestellt.
Aber das ist noch nicht das Ende vom Lied. Dieser Männlichkeitsentwurf
eröffnet auf andere Weise Veränderungsmöglichkeiten. Dieselbe Verdinglichung von Homosexualität, die man in der Theorie gemeinhin als Form so
zialer Kontrolle interpretiert, ist für diese Männer gleichzeitig die Bedingung
ihrer Freiheit. Sie bildet das notwendige Gegengewicht zur obligatorischen
Heterosexualität, die sie umgibt und dauernd in ihr Leben eindringt. Sie
macht verbotene Freuden realisierbar, betont das Bacchantische ihrer Sexualität
und ermöglicht langdauernde Beziehungen zu anderen schwulen Männern (Es
ist bemerkenswert, daß die längste Beziehung in der Gruppe auf einer Klappe
ihren Anfang nahm, dem klassischen Ort für flüchtige Kontakte).
Obwohl die meisten auch sexuelle Erfahrungen mit Frauen machten, sehen
sie sich weder selbst als bisexuell, noch werden sie von der Gesellschaft so gesehen. Eindeutiger Bezugspunkt ihrer Objektwahl, aber auch ihrer Persönlichkeit, ist Männlichkeit.
Die dominante Kultur hält schwule Männer für verweiblicht. Eine solche
Zuschreibung ist für die von uns befragten Männer, die sich in der Regel wie
ein Mann' benehmen, ganz offensichtlich falsch. Aber nicht so falsch ist es,
wenn man damit die Ungeheuerlichkeit meint, die sie der hegemonialen Männlichkeit antun.
Ihre männliche Objektwahl untergräbt die Männlichkeit, mit der sie auftreten. Aber das ist ein strukturelles Merkmal von Homosexualität in einer
patriarchalen Gesellschaft, in der hegemoniale Männlichkeit ausschließlich
heterosexuell zu sein hat, und deren Hegemonie bis in die Erziehung von
Jungen hineinreicht. Man kann nicht homosexuell werden, ohne diese Hegemonie in irgendeiner Weise zu beschädigen. Deshalb verwundert es auch
nicht, daß sich zwischen ganz traditionellen Elementen von Männlichkeit so
etwas wie die lackierten Fingernägel von Damien Outhwaite finden, oder
Mark Richard mit seiner Ausbildung zum Krankenpfleger, und die Identifikation mit Frauen bei Alan Andrews und Jonathan Hampden.
Homosexuelle Männlichkeit stellt für eine Geschlechterordnung wie die
moderne westliche einen Widerspruch dar. Diese Lebensgeschichten zeigen
183
(wie andere, vergleichbare auch), daß der mögliche Widerspruch Wirklichkeit geworden ist und sogar alltäglicher Bestandteil des eigenen Lebens wird.
Der unpolitische Eindruck, den diese Männer erwecken, ist ein Anzeichen
für die Etablierung einer öffentlich sichtbaren Alternative zur hegemonialen
Männlichkeit. Sie müssen nicht wie die Generationen vor ihnen für ihre bloße Existenz als schwule Männer kämpfen. Das ist um so bedeutender, weil
ihr Ausgangspunkt die hegemoniale Männlichkeit war.
Sexualität ist der springende Punkt dieses Entwurfs, und sexuelle Beziehungen geben ihm eine radikale Wendung. Verglichen mit heterosexuellen
Beziehungen finden wir bei Schwulen ein bemerkenswertes Ausmaß an Reziprozität.'' Es gibt Ausnahmen, aber in der Regel ist Reziprozität das Ideal,
das man weitgehend auch verwirklicht.
Die Bedingungen von Reziprozität sind komplex: Die Partner sollten ungefähr gleichen Alters sein, aus einer ähnlichen Schicht stammen (beide Bedingungen waren bei Alan Andrews Erfahrungen in der Kneipen-Szene nicht
gegeben) und in der Geschlechterordnung eine ähnliche Position einnehmen.
Ironischerweise erhöhen die Schwierigkeiten, diese wertvollste Form der Beziehung, die langfristige Partnerschaft, zu verwirklichen, den Wunsch danach.
Schließlich ist da noch die spezifische Art und Weise, in der der Körper in die
sexuelle Praxis einbezogen wird: das Sich-Spiegeln vom Liebhaber im Geliebten, das Dean Carrington so naiv wie eindrucksvoll beschrieben hat, wo die Erkundung eines anderen Körpers zur Erforschung des eigenen wird.
Wir haben es hier selbstverständlich nicht mit einer Bande von Revolutionären zu tun. Aber auch nicht mit reinen Mitläufern. Der sehr normale
Schwule' nimmt eine widersprüchliche Position in der Geschlechterpolitik
ein. Die freundlichen und friedvollen Beziehungen zu Frauen, die die jungen
Männer zuhause und am Arbeitsplatz verwirklichen, und die Reziprozität ihrer sexuellen Beziehungen, sind Anzeichen für den Wandel, der aus dieser
Widersprüchlichkeit erwachsen kann.
16 Ich verdanke diese Beobachtung Sue Kippax; Belege dafür finden sich in Connell
und Kippax 1990.
184
I m vierten und sechsten Kapitel hatten wir es mit marginalisierten und untergeordneten Männlichkeiten zu tun. In folgenden Kapitel geht es um hegemoniale und komplizenhafte Männlichkeit, und besonders darum, inwieweit
Rationalität ein Veränderungspotential in sich trägt.
Ein vertrautes Klischee der patriarchalen Ideologie ist, daß Männer rational und Frauen emotional seien. Diese Annahme ist in der abendländischen Philosophie tief verwurzelt. Es ist zudem einer der Leitgedanken der
Geschlechtsrollentheorie, der sich in der Dichotomie instrumentell versus
expressiv' ausdrückt. Aber auch das Alltagsverständnis sieht bei Frauen und
Männern diesen grundsätzlichen Unterschied. In unserer Gesellschaft sind
Wissenschaft und Technik kulturell eindeutig als männliche Bereiche definiert, die in der dominanten Ideologie Garanten des gesellschaftlichen Fortschritts darstellen. Hegemoniale Männlichkeit bezieht einen Teil ihrer Vorherrschaft aus dem Anspruch, die Macht der Vernunft zu verkörpern, und
somit die Interessen der Gesamtgesellschaft zu vertreten. Man darf nicht den
Fehler machen, hegemoniale Männlichkeit einfach mit bloßer physischer
Aggression gleichzusetzen. In seinem Ansatz der patriarchalen Gesellschaft
betont Viktor Seidler die Aufspaltung in Körper und Geist, sowie die Art und
Weise, in der männliche Autorität mit entkörperlichter Vernunft in Beziehung gesetzt wird - und damit die Widersprüche der Körperlichkeit, die wir
i m zweiten Kapitel erörterten, überwunden werden.'
In einem wegweisenden Aufsatz haben Michael Winter und Ellen Robert
vermutet, daß eben diese Verbindung von Männlichkeit und Rationalität ein
wesentlicher Schauplatz von Wandel war. Das Fortschreiten des Kapitalis
mus bedeutete fortschreitende Rationalisierung, nicht nur der Wirtschaft,
sondern auch der Kultur, und eine Vorherrschaft des technischen Denkens,
das sich weniger am Endzweck orientiert, als vielmehr an der Effizienz der
Mittel. (Die Fernsehindustrie in den USA ist ein schlagendes Beispiel, die
1
Zu Rationalität, Männlichkeit und der europäischen Philosophie siehe Seidler 1989.
Zur Dichotomie „instrumentell versus expressiv" siehe Parsons und Bales 1956. Zur
Maskulinisierung von Wissenschaft und Technik siehe Easlea 1981 und 1983.
185
mit bemerkenswerter technischer Virtuosität und enormem Aufwand Fernsehmüll produziert.)
Winter und Robert behaupten, daß männliche Dominanz gegenüber
Frauen heutzutage weniger durch Religion legitimiert oder durch Gewalt erzwungen, als vielmehr durch die technische Organisation der Produktion ge
rechtfertigt wird. Die Männlichkeit von heranwachsenden Jungen wird auf
die Bedürfnisse der späteren Berufstätigkeit zugeschnitten, und die Männlichkeit als Ganzes auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und der dazu passenden gezähmten Kultur:
, Männlichkeit bekommt zunehmend Züge, die eine Verinnerlichung technischer Vernunft
durch den Einzelnen repräsentieren. Denn diese technische Vernunft stellt in der heutigen
Gesellschaft nichts anderes als die Hauptform der Unterdrückung dar."
Über die Bedeutung dieses Aspekts kann es keinen Zweifel geben. Die geschichtliche Entwicklung der Rationalisierung ist heute eines der zentralen
Themen der Kulturgeschichte, und auch der Zusammenhang zur gesellschaftlichen Konstruktion des sozialen Geschlechts wird zunehmend gesehen. Die Strategie von Winter und Robert, die Berufswelt und deren Beherrschung durch die technische Vernunft ins Visier zu nehmen, scheint folgerichtig.
Aber sie haben ihre These zu stark generalisiert, die Berufswelt ist nicht
so allumfassend wie sie glauben. Historisch gesehen gab es eine wichtige
Unterscheidung zwischen Formen von Männlichkeit, die auf Dominanz be
ruhten (z.B. Leitung einer Firma, militärisches Kommando), und solchen, die
auf technischem Wissen basieren (z.B. Spezialisten, Wissenschaftler). Letztere haben den hegemonie-orientierten Formen den Vorrang in der Geschlechterordnung der spätkapitalistischen Gesellschaft streitig gemacht, allerdings
ohne restlosen Erfolg. Deshalb bestehen sie innerhalb der hegemonialen
Männlichkeit als Modifikationen mit unterschiedlichem Schwerpunkt nebeneinander.
In bestimmten Kontexten überwiegt eine Männlichkeit, die auf technischem Wissen basiert, besonders in der Berufswelt der sogenannten neuen
Mittelschicht' ist dies der Fall, oder der neuen Klasse' der intellektuell gebil
deten Arbeitskräfte, der Technostruktur oder des neuen Kleinbürgertums, wie
konkurrierende Theorien es jeweils fassen. Der rote Faden, der sich durch die
verschiedenen Theorien zieht, ist das Aufkommen einer wissensbasierten Industrie, das gestiegene Bildungsniveau und die Vervielfältigung von Bildungszertifikaten, der Einfluß von Fachwissen und die Berufskultur professionalisierter und technischer Arbeit.' Ich schlage vor, die Krisentendenzen
von Rationalisierung anhand von Männern zu erforschen, die in solchen
2
3
186
Winter und Robert 1980 (S. 270).
Zur neuen Mittelschicht gibt es sehr viel Literatur. Besonders nützlich fand ich
Gouldner 1979, der besonders die kulturelle Bedeutung höherer Bildung hervorhebt,
und Sharp 1983.
Kontexten arbeiten, die zwar Expertenwissen besitzen, denen es aber an gesellschaftlicher Autorität in Folge von Reichtum, traditionsreichen Berufen
oder Firmenmacht mangelt.
Die Grundlage für die folgenden Ausführungen bilden die Lebensgeschichten von neun Männern in einer solchen Lage. Ihr Alter bewegt sich
zwischen Mitte 20 und Mitte 40. Sie arbeiten als: Buchhalter, Architekt, In
formatiker, Journalist, Bibliothekar, Pilot, Lehrer und Angestellter einer
Wohlfahrtsorganisation. Vier von ihnen leben mit ihren Frauen bzw. Freundinnen zusammen; einer ist gerade dabei zu heiraten; zwei haben sich vor
kurzem getrennt; zwei leben schon lange als Single.
Diese Gruppe ist heterogener als die drei vorhergehenden. Material aus
Fallstudien läßt sich immer nur schwer zusammenfassen. Ich bin mir dessen
bewußt, daß ich hier noch selektiver vorgehen mußte, hoffe aber, genug ein
gehende Beschreibungen zu bieten, um die Thematik zugänglich zu machen.
Konstruktion vors Männlichkeit
Wie die Männer aus dem fünften und sechsten Kapitel stammen auch die
meisten dieser Gruppe aus eher konventionellen Familienverhältnissen. Da
gab es einen berufstätigen Vater, der die Autorität für sich beanspruchte, und
da war eine Hausfrau und Mutter, die sich um die Kinder kümmerte und auch
für den Gefühlshaushalt der Familie zuständig war. (Eine Ausnahme ist Don
Meredith, dessen Mutter ihren Mann verließ und die Familie alleine ernährte.) Nur wenige der Eltern scheinen eine partnerschaftliche und gefühlvolle
Ehe geführt zu haben.
Die Familie von Chris Argyris ist für die Gruppe recht präsentativ: Sein
,Vater war der König', groß und stark (aber nicht gewalttätig), autoritär im
Auftreten, die Art von Mensch, der dein Leben bestimmt'. Die Mutter war
,weich, still, warmherzig, wunderbar'. Sie hielt sich im Hintergrund, mit einer Leih-Autorität - Das sag' ich deinem Vater!'. So zumindest sah es an
der Oberfläche aus. Aber mit zunehmendem Alter erkannte Chris in ihr einen
,schlauen Fuchs' , eine erfolgreiche Manipulatorin; und gleichzeitig entdeckte er bei seinem Vater einen weichen Kern. Trotzdem bestand für das
Kind kein Zweifel an der Polarität von männlich und weiblich.
Er warf sich auf die männliche Seite, wurde in der Highschool zum begeisterten Football-Spieler und legte in seiner Peer-group das Verhalten eines
Säufers und Maulhelden an den Tag. Er erzählt, daß er mit Frauen einfach
wenig zu tun hatte. Er hatte ein paar Brüder, ging auf eine Jungenschule, und
in seiner Freizeit spielte er Football. Auch als Erwachsener ist er immer noch
Football-Fan, lehnt Gewalt außerhalb des Sports aber grundsätzlich ab.
Paul Nikolaou kannte eine solche Peer-group nur von außen. Als einziges Kind armer Einwanderer, die hart arbeiten mußten, empfand er das Fa187
milienleben als gefühlskalt und hierarchisch. Der Vater beherrschte die Mutter, und diese beherrschte das Kind. Er hat die Geringschätzung seines Vater
für die Mutter übernommen.
Seine Eltern wollten, daß er es einmal besser hat, und zwangen ihn,
stundenlang zu lernen. In seiner Schule, in der Sport dominierte, hat ihn das
isoliert. Er hat in einer Art ethnischer Enklave etwas Unterstützung gefunden,
wo sie sich über die englischstämmigen Jungen lustig machten, über deren
, angestrengte Versuche, männlich zu wirken... sich vor den Mädchen zu produzieren und solche Dinge'. Im Widerspruch zum angelsächsischen Klischee
vom mediterranen Macho, besteht Paul darauf, daß dieses Gehabe in der europäischen Kultur nicht so vorherrschend sei'. Aber wenn er die gesellschaftliche Definition von Männlichkeit in Frage stellt, heißt das noch lange
nicht, daß er seine eigene in Frage stellt. Er wird bald eine junge Frau gleicher Herkunft heiraten und möchte, daß sie beim Nachwuchs Zuhause bleibt,
während er den Lebensunterhalt verdient. Er will aber auch ab und zu die
Windeln wechseln. Aus seiner Sicht hat das mit den natürlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen zu tun:
Ich glaube, daß eine Frau physisch und psychisch geeigneter ist, die Strapazen und Widerwärtigkeiten zu ertragen, die es mit sich bringt, wenn man versucht, einen Haushalt zu
führen und die Familie zusammenzuhalten. Ein Mann muß körperlich nicht unbedingt
stärker sein... aber... grundsätzlich ist er einfach..., nicht ehrgeiziger, aber gierig auf die
Arbeit; und die Verantwortung, das Geld nach Hause zu bringen, zum Beispiel.
Pauls Äußerung über die englischstämmigen Jungen zeigt noch etwas anderes: die Bedeutung negativer Modelle. Über die Hälfte der Befragten hat sich,
ohne danach gefragt zu werden, über andere Männer oder deren Männlichkeit geäußert, die sie ablehnen oder von denen sie sich distanzieren. Hugh
Trelawney hat in seiner Erzählung eine ganze Reihe negativer Beispiele zu
berichten: Die Trottel' vom A-Level an seiner Schule, ein schwuler Gewichtheber, ,Waschlappen', die ihre Probleme öffentlich zur Schau stellen,
, Sharpies' [die Prolos unter den Surfern], Schwule, besonders Tunten, aber
auch die Blödmänner, mit denen er an der Universität Football spielte:
Von den Football-Typen wurde ich nie so richtig akzeptiert, denn das waren starke und
ruhige Typen, aber rauh. Sie achteten sehr darauf, wie man sich verhält, was man über
sich und andere erzählt und so. Ich hatte eher eine Schwäche für Nicht-Footballer, die
immer zugedröhnt waren, immer witzig und ironisch, die die Footballer verarscht haben
und sagten, sie seinen eine Bande von Rindviechern. Deshalb war ich wieder ein Außenseiter, weil ich ein bißchen anders war. Aber da waren noch andere, die so wie ich waren
und trotzdem Football spielten, wissen Sie, die auch nicht so ganz zu dieser Szene dazugehörten. So hatte ich wenigstens ein paar, mit denen ich was anfangen konnte.
Die von Hugh so anschaulich beschriebenen Gegensätze illustrieren ausgezeichnet den relationalen Charakter von Männlichkeitsdefinitionen. Auch an
der Äußerung von Paul Nikolaou ist das zu sehen, und außerdem wird daran
deutlich, daß Definitionen von Männlichkeit nicht das Ergebnis eines einsamen
Individuums sind, sondern durch einen kollektiven Prozeß in einer Gruppe ent188
stehen. In seinem Fall war es die ethnische Peer-group seiner Jugend, aber bezüglich seiner baldigen Heirat auch das ethnische Netzwerk insgesamt.
Ein Zitat von Don Meredith zeigt die Konstruktion des sozialen Geschlechts in der Berufswelt, unter den Lehrerkollegen:
Na ja, meine Kollegen stehen dem Sport im Grunde alle sehr positiv gegenüber. Ich meine, wir haben sogar einen Footballer aus der ersten Liga, das ist so ein Typ, der immer
sehr freundlich und umgänglich ist, alle mögen ihn, aber er verhält sich andererseits extrem sexistisch. Aber die Leute scheinen ihn ganz toll zu finden... ich glaube, daß er die
Atmosphäre im Lehrerzimmer mit seinem Verhalten beeinilußt. Na ja, sie machen halt
gerne Witze, sie wollen ihren Spaß haben, das ist ja gut so... Aber an ernsthaften Gesprächen sind sie eigentlich nicht interessiert. Es sind vor allem Frauen, und sie sind sehr...
ja, auch in gewisser Weise sexistisch. Sie mögen es, wenn man mit ihnen flirtet und lieben
diese kleinen Spielchen... Und mich halten sie für jemanden, der für so etwas nicht zu haben ist.
Der Footballer kann mit seiner hegemonialen Männlichkeit darauf vertrauen,
bei anderen - sogar bei Frauen - Zustimmung zu finden. Don dagegen, der
bei den sexistischen Witze nicht mitlacht, hält man für ,verbiestert'.
In den Erzählungen finden sich die unterschiedlichsten Verläufe solcher
Vermännlichungsprozesse. Charles Lawrence, der sich in einer HightechIndustrie hochgearbeitet hat, reproduziert den Persönlichkeitsstil und das
häusliche Arrangement seines Vaters. Er hat einen durch und durch konventionellen Standpunkt gegenüber der Geschlechterdichotomie: Eines ist sicher: Ich werde die Frauen, und wie sie denken, niemals verstehen können'.
Da wird man etwas vorsichtig, wenn er dann mit ähnlicher Gewißheit behauptet, daß seine Frau eine äußerst hingebungsvolle Gattin und treusorgende Mutter' sei.
In anderen Erzählungen erscheint die Reproduktion von hegemonialer
Männlichkeit nicht ganz so problemlos. Peter Blake erinnert sich an seine
Reaktion auf eine neue Schule:
Sie haben von uns erwartet, zur Elite zu gehören und solchen Unsinn. Man hat uns das
recht explizit gesagt. Die Aula, wo alle sich versammelt hatten, war mit uralten Fahnen
von irgendwelchen Kolonien oder Staaten geschmückt. Gedenktafeln für die Kameraden,
die in wer weiß welchem Krieg gefallen sind. Für die großen Anführer der Ersten Krikketmannschaft und der Ersten Rugbymannschaft, die großen Debattierer und Schwätzer.
Es war das klassische Beispiel einer australischen Schule, die genau weiß, wie eine englische Schule auszusehen hat. Ich fand das wirklich furchtbar.
Football gespielt hat Peter trotzdem. Es war die Zeit des Vietnamkrieges, und
sein Dissidententum speiste sich aus der politischen Radikalität dieser Jahre.
Er versuchte, sich emotional zu distanzieren, wie er es in seinem konfliktträchtigen Elternhaus gelernt hatte. Auch als Erwachsener blieb er politisch unentschlossen, wenn man von einer kurzen Phase in der Studentenbewegung absieht.
189
nstrukti®n von Rationalität
Diskussionen über die neue Mittelschicht haben die wachsende Bedeutung
formeller Bildung als kulturellem und institutionellem System in den Vordergrund gerückt. Alle Männer dieser Gruppe haben studiert, die meisten an
der Universität. In Anbetracht der Selektivität des australischen Erziehungssystems müssen sie also in der Schule alle recht erfolgreich gewesen sein,
manche sogar sehr erfolgreich. Ihr Expertenwissen wird aber auf zwei sehr
unterschiedliche Arten definiert.
Greg Brook ist Computer-Fachmann und erinnert sich, daß er in der
Grundschule sehr gut war, wie ein Schwamm' habe er Wissen in sich aufgesaugt, immer Klassenbester'. Er kam in eine Begabtenklasse, absolvierte
mühelos die Highschool, um dann zu studieren. Sozial gesehen war das für
ihn ein ziemlicher Aufstieg. Seine Mutter arbeitete als Bedienung, und sein
Vater, der nur die Grundschule besucht hatte, verkaufte Obst und Gemüse
von einem Lastwagen herunter, weil er sich keinen Laden leisten konnte.
So klingt Greg Brooks Geschichte vom Beginn seines Berufsleben aus
seiner persönlichen Sicht. Von der institutionellen Seite betrachtet wird ein
Erziehungssystem sichtbar, das aufgrund seiner Struktur eine intelligente'
Minderheit selektiert und fördert. Nichts anderes bedeuten Begabtenklassen
und Studienzulassungen. Die Definition des Erziehungssystems, Greg sei talentiert, haben die Ausbildung zu einem kompetenten Fachmann und die
Formung seiner Persönlichkeit strukturiert. Ein Prinzip, das er auch in seinen
Intimbeziehungen beibehält, wo er sich für heikel und wählerisch' hält, was
Frauen anbelangt und betont, am liebsten seien ihm intelligente Mädchen,
weil Klugheit eine Form von Attraktivität sei. Für Greg werden Menschen
auf dem Marktplatz der zwischenmenschlichen Beziehungen bewertet und
geprüft:
Ich glaube, daß ich etwas über dem Durchschnitt liege, und ich suche nach einer Frau,
die auch überdurchschnittlich ist. Wahrscheinlich werden meine Ansprüche mit der Zeit
immer höher.
Charles Lawrence war ein passabler, keinesfalls brillanter Schüler, machte
aber viel Sport. Er wollte unbedingt Pilot werden. Er bewarb sich bei einer
Fluggesellschaft, bestand aber die Tests nicht. Seine Familie wollte unbedingt, daß er studiert. Er arbeitete statt dessen als Erntehelfer, um sich das
Geld für eine Flugschule zusammenzusparen. Er wurde ein qualifizierter Piloten, verlor aber, als es wirtschaftlich bergab ging, sofort seine Stelle. Widerwillig begann er nun doch zu studieren und verbrachte ein paar unglückliche Monate an der Universität. Schließlich beschloß ich, daß ich fliegen
werde, daß ich einfach fliegen werde.' Er wagte den Sprung und ging zur
Luftwaffe, wo er auf einer Ausbildung zum Piloten bestand.
Bei der Armee wurde er mit einer anderen Art von Ausbildung konfrontiert, mit einem machtvollen System, das seinem Nachwuchs technische Fä190
higkeiten vermitteln und ihn zugleich an sich zu binden versucht. Das Fliegen
und die Air Force gingen dir in Fleisch und Blut über.' Er beurteilt die unbeliebten, aber sehr effektiven Ausbildungsmethoden recht nüchtern. Die Vorerfahrungen der angehenden Piloten wurden ignoriert. Der Druck war groß, die
Kritik auch, aber auch das Gefühl, zu einer auserwählten Elite zu gehören - nur
jeder Fünfte überstand die Ausbildungszeit. Gleichzeitig verlangte man von den
jungen Männern, untereinander und mit den Offizieren eine Gemeinschaft zu
bilden, Ehrgeiz und Leidenschaft für die Aufgabe zu entwickeln, hart zu arbeiten und die Gepflogenheiten der Air Force zu übernehmen. Man wollte, daß sie
heiraten, sich in der Nähe des Stützpunkts niederließen und traditionelle Ehen
führten, wo die Frauen ganz dem Beruf des Mannes ergeben wären.
Gegen dieses Ausmaß an Vereinnahmung durch die Air Force hat Charles sich gewehrt. Er hat sich von der oberflächlichen Kameradschaft distanziert und so schnell wie möglich die Armee für einen Job in der zivilen Luft
fahrt verlassen. Jetzt arbeitet er sich langsam hoch, macht Fortbildungen und
sieht seiner Beförderung zum Flugzeugkapitän entgegen.
An diesen zwei Fällen sieht man, wie unterschiedlich Expertentum definiert und gerechtfertigt werden kann. Greg Brook war der Nutznießer allgemeiner Vorstellungen von intellektuellem Talent, die sich in den Lehrplänen
und pädagogischen Beurteilungen niederschlugen. Mit seinen schulischen
Leistungen hätte er so ziemlich jede Ausbildung und jeden Berufsweg wählen können, die Entscheidung war relativ beliebig. Er zeigt sich im Interview
nicht interessiert, diese Entscheidung zu begründen oder sich auf eine bestimmte berufliche Laufbahn festzulegen.
Bei Charles Lawrence dagegen spürt man eine deutliche Berufung. Er
engagiert sich mit Leib und Seele für seine Arbeit. Aber auch das ist gesellschaftlich bedingt. Seine Familie nahm deutlichen Anteil: seine Mutter
suchte eine Flugschule für ihn, sein Vater hat einen Teil der Ausbildungskosten übernommen. In der Welt des Fliegens, vor allem in der Air Force, wurde er von einem mächtigen Vereinnahmungsprozeß erfaßt, der ihn in eine institutionelle Schablone pressen sollte.
Dieses spezialisierte Expertentum unterscheidet sich von einem generalisierten, nicht nur hinsichtlich seiner Inhalte, sondern auch durch seine institutionellen Grundlagen. Im Gegensatz zu den anderen Befragten hat sich
Charles ziemlich skeptisch gegenüber formaler Erziehung geäußert. Er macht
einen Unterschied zwischen sich und den wirklich klugen Köpfen" in der
Schule, und er besteht darauf, daß Intelligenz' wie bei seinem Vater nichts
mit Qualifikationen zu tun hat, sondern mit gesundem Menschenverstand
und richtigem Verhalten.
Peinlich genau nimmt er es dagegen mit Flughandwerk und -erfahrung
und mit dem Ziel, sehr tüchtig in seinem Handwerk' zu werden. Air ForcePiloten leben nur fürs Fliegen. Und die Air Force kultiviert einen Mann
schaftsgeist, der Können und Enthusiasmus noch steigern soll. Das Ganze ist
äußerst maskulinisiert und vorsätzlich heterosexuell. (Bis 1992 wurden
Schwule aus der australischen Armee geworfen, wenn sie entdeckt wurden.)
Obwohl sich Charles einer vollständigen Vereinnahmung durch dieses Milieu
widersetzt hat, bleibt bemerkenswert, daß er auch nach seinem Wechsel in
die zivile Luftfahrt Teil einer technischen Peer-group geblieben ist. Er identifiziert sich auf seinen Flügen nun mit der ,Technik-Crew', die eine Gemeinschaft bildet und sich bewußt von der ,Kabinen-Crew' abgrenzt. Diese Abgrenzung hat auch mit dem sozialen Geschlecht zu tun. Aus der Sicht von
Charles besteht die Kabinen-Crew aus Frauen und Schwulen, mit denen er
nichts zu tun haben möchte.
Auch in anderen Arbeitsbereichen kennt man diese technischen Peergroups, die eine äußerst maskulinisierte Auffassung von Expertentum vertreten,
wie beispielsweise Cynthia Cockburn für die Gruppe der Techniker i m Bereich
der neuen Technologien in Großbritannien festgestellt hat.' Die Arbeitswelt eines Charles Lawrence ist eine fast archetypische Verkörperung instrumenteller
Vernunft, in der sehr wenig Anlaß besteht, Männlichkeit zu modifizieren. Und
in der Tat dient der instrumentelle Fokus auf Zweck-Mittel-Relationen dazu,
den Einfluß der Ausbildung auf die rationale Analysefähigkeit zu beschränken
und somit das Geschlechterverhältnis vor Kritik zu schützen.
Aber die Arbeitswelt und ihr Wissen verändern sich. Techniken entwickeln
sich weiter und neue Arten von Expertenwissen entstehen. Peter Streckfuss arbeitet beispielsweise - nach einer Umschulung - als Psychologe in der Bera
tung. Er neigt eher der humanistischen Psychologie zu, wo neue Gedanken und
Ansätze relativ häufig sind. Er beschäftigt sich mit der Selbsterfahrungsszene
und Aktivitäten, wie sie im fünften und sechsten Kapitel erwähnt wurden.
Die Selbsterfahrungsszene stellt für Leute wie Peter eine technische
Peer-group mit einer eigenen Sprache dar. Mit dem Workshop hat diese Szene ihre spezifische Form gefunden, um Ideen und Methoden zu verbreiten.
Diese Peer-group ist nicht im gleichen Maß maskulinisiert wie jene von
Charles Lawrence. Viele Therapeuten sind Frauen, und man steht in der Regel feministischen Ideen nahe. Darüber hinaus wird das soziale Geschlecht
auch thematisiert. Sexualität und das Verhältnis zwischen Mann und Frau
sind Hauptthemen von Workshops und Therapien. Und man versucht, die
Methoden für eine Veränderung von Männlichkeit einzusetzen. Technische
Rationalität kann deshalb Bestandteil eines Veränderungsentwurfs sein.
grabe.' Hegemoniale und komplizenhafte Männlichkeit stellen eine mögliche
Lösung für dieses Problem dar, indem sie geschlechtlich motivieren. Jeder
zweite Mann in dieser Gruppe ist in seiner Karriere auch gefühlsmäßig sehr
engagiert. Charles Lawrence und Peter Streckfuss sind Beispiele, auch wenn
Peter das typischere ist, weil er während seines Berufslebens öfter einmal eine andere Richtung eingeschlagen hat.
Die andere Hälfte der Befragten sind beruflich vergleichsweise wenig engagiert. Peter Blake erklärt, warum sein Beruf weniger Berufung denn letzter
Ausweg für ihn war:
Karrieren und Arbeitsplätze
Jürgen Habermas hat argumentiert, daß die Rationalisierung der Kultur eine
Motivationskrise für den Kapitalismus entstehen lasse und die gesellschaftliche Begründung ökonomischer Leistung und politischen Konsenses unter-
In einer hierarchisch organisierten Firma dieser Art soll sich das Expertenwissen vor allem an der Spitze konzentrieren. Die Rationalität der Organisation wird durch formale Autorität und dichte soziale Kontrolle gewährleistet.
Bei der anderen Art von Arbeitsplatz stehen statt formaler Entscheidungsstrukturen gemeinsame Ziele im Mittelpunkt. Chris Argyris langweilte
4
5
19 2
Cockburn 1988.
Ich wußte, daß mir das Unterrichten nicht gefallen würde, ich wußte, daß ich nicht in einem
privaten Unternehmen Karriere machen wollte, und ich wollte auch auf keinen Fall im öffentlichen Dienst nach oben kommen, indem ich eine absurde Karriereleiter hinaufkrieche.
Und so würde er Bibliothekar. Und auch für Clyde Watson war Buchhalter
nicht sein ,Traumberuf', er ist einfach in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Clyde macht zur Zeit noch ein kaufmännisches Studium. Es stellt keine
intellektuelle Herausforderung dar und liefert ihm auch keinen Berufsethos,
sondern einen Business-Jargon vom Erreichen persönlicher Ziele'. Clyde begründet damit, warum er keine feste Freundin hat (weil deren persönliche
Ziele nicht mit seinen kompatibel wären) und warum sein Bruder unfähig ist
(er spornt sich selbst nicht genug an). Da draußen ist es eben ziemlich öde.
Wenn unsere Interviewgruppe für kaufmännische Ausbildung repräsentativ wäre, könnte man folgern, daß die Motivationskrise des Kapitalismus
sich auf dem Höhepunkt befindet. Aber die Argumentation von Habermas
unterschätzt die Fähigkeit von Institutionen, auf einer kollektiven Ebene Praxis zu organisieren. Rationalität kann auch relativ losgelöst von individuellen
Motiven entstehen, nämlich durch die Struktur der Arbeitsplätze. In den Interviews zeigten sich zwei unterschiedliche Formen.
Charles Lawrence ist froh über einen Arbeitsplatz mit klarer Hierarchie
und Arbeitsteilung: ,Technik-Crew' versus ,Kabinen-Crew', Flugkapitän,
Kopilot, Bordtechniker. Peter Blake, der für eine Weile auf der anderen Seite
der Cockpittür gearbeitet hat, erinnert sich, wie er aus der Alternativszene direkt zur Fluglinie gekommen ist:
Aus einer Welt der langen Haare und Bärte, wo man Haschisch geraucht und highmachende Pilze gegessen hat - und weiß Gott was noch alles -, in eine konservative Plastikwelt, wo dein Schnurrbart nicht bis über deine Mundwinkel gehen darf und wo man 24
Stunden am Tag höflich sein muß. Das war wirklich hart.
Habermas 1973.
193
sich im Finanzamt zu Tode. In dem kleinen Wohlfahrtsbüro, das er nun leitet,
wird auf Formlosigkeit, Gleichberechtigung und Teamarbeit Wert gelegt. Damit möchte man die Entscheidungsfindung verbessern und auch die Dienstleistung. Das ist vergleichbar mit den Umweltschutzorganisationen aus dem
fünften Kapitel. Chris hat diese Art des Umgangs in einer alternativen Wohngemeinschaft kennengelernt. Aber die schiere Arbeitsbelastung (Chris war
drauf und dran, durchzudrehen' und mußte auf eine Vier-Tage-Woche zurückschrauben) und die wirtschaftlichen Zwänge, die ein Komitee zur Supervision nötig machten, untergraben diesen Arbeitsstil.
Ein solcher Arbeitsstil ist aber keineswegs auf alternative Projekte beschränkt. Clyde Watson führt die Bücher bei einer kleinen Firma im Finanzgeschäft. Er beschreibt im Interview seinen Arbeitsplatz detailliert als frei, ab
wechslungsreich und ,entspannt'. Es gibt wenig formale Strukturen und kaum
Arbeitsteilung; alles wird je nach Arbeitsanfall ausgehandelt. Clyde übertreibt
wahrscheinlich die Freiheitsgrade, die ihm die Arbeit läßt, um seine Wichtigkeit herauszustreichen. Aus seinen Worten wird schon deutlich, daß es auch
Chefs gibt, und daß er kein Chef ist. Aber was er damit eigentlich sagen will,
klingt überzeugend. In seiner Firma herrscht ein unbürokratischer Arbeitsstil,
die Anweisungen sind nur ungefähr und die Hierarchie recht durchlässig. Das
war in der Finanzbranche während des Spekulationsbooms Ende der 80er Jahre
wohl auch nicht ungewöhnlich. Was Clyde erzählt, erinnert an die Anfangsphase bei der Computerfirma Apple' und - wenn auch auf anderem Niveau - an
die berühmten Junk-Bond-Geschäfte eines Michael Milken.'
Die Erfahrungen mit Kontrolle am Arbeitsplatz fallen sehr unterschiedlich
aus. Um so überraschender ist es, daß fast alle in dieser Gruppe das Verhältnis
von Autorität und Kompetenz ähnlich sehen. Ob Charles Lawrence sich dem
starken Druck durch seine Vorgesetzten bei der Air Force zu entziehen versucht, oder ob Chris Argyle gegen die Trostlosigkeit im Finanzamt ankämpft,
es geht immer darum, Autoritäten abzuwehren, sie auf Distanz zu halten. Die
Grundhaltung gegenüber Autorität ist kritisch, und einige können mit anschaulichen Horrorgeschichten über arrogante oder strenge Vorgesetzte aufwarten.
Aber überwiegend haben diese Männer doch karriereorientierte Jobs.
Wenn nicht ein früher Tod oder der Konkurs der Firma dazwischenkommt,
werden sie nach und nach die Karriereleiter hinaufklettern und selber Macht
über Untergebene haben. Einige sind bereits soweit. Der Aufstieg in einer
Firma wie der Fluggesellschaft von Charles Lawrence ist relativ einfach, aber
das ist nicht überall der Fall.
Peter Blake, bewußt Nonkonformist, hatte als Student radikale Gedanken, einen Vollbart und könnte, wenn er etwas schauspielerte, auch als Flugbegleiter zurechtkommen. Als Bibliothekar hat er nun einige Angestellte unter sich. Er fühlt sich mit dem Delegieren von Arbeit nicht sehr wohl und
mag es auch nicht, eine Sekretärin in Anspruch zu nehmen, weil er sich ihr
6
194
Zur Firma Apple siehe Roszak 1986; zu Junk-Bonds siehe Vise und Coll 1991.
gegenüber nicht wie ein Chef verhalten möchte. Er ringt noch mit sich, wie
er seine Untergebenen beaufsichtigen und wie er seine Autorität mit seinem
Gleichheitsgrundsatz vereinbaren soll. Bis jetzt ist er immer noch unentschlossen und setzt bis auf weiteres auf , Kommunikation'.
Folglich könnten wir argumentieren, daß für diese Gruppe von Männern
Fachkompetenz und Autorität am Arbeitsplatz charakteristischerweise in einem schwierigen Verhältnis stehen. Technische Rationalität wäre demnach
nicht vollständig in eine hierarchische Gesellschaftsordnung integriert. Unangenehme Kompromisse wie bei Peter Blake sind die naheliegende Folge.
Eine andere wahrscheinliche Konsequenz wäre, daß gebildete, heterosexuelle Männer sich bei Fragen männlicher Autorität und technischer Rationalität am Arbeitsplatz uneins sind. Gleiche Berufschancen von Frauen wären
auf jeden Fall ein strittiges Thema. Und eigentlich wäre Chancengleichheit eine
rationale Managementstrategie hinsichtlich Kompetenz, weil man dadurch die
am besten qualifizierte Person für die Stelle bekommt. Aber gleichzeitig höhlt
sie die Männlichkeitskultur technischer Berufe aus, indem sie Frauen in vormals reine Männerclubs einschleust. Die politischen Möglichkeiten sind bedeutend, die sich durch solche Trennlinien bei Männern eröffnen.
lnae Arrr2twnn21p
Rationalität des Arbeitsplatzes ist also eine zwiespältige Sache. Die Gleichsetzung von Männlichkeit und Rationalität wird in anderen Lebensbereichen
noch auf andere Weise in Frage gestellt. Auch die Körperlichkeit, die wir im
zweiten Kapitel diskutierten, kann man hier nicht ausblenden, vor allem nicht
in Bezug zur Sexualität - traditionell stellt sie sowohl eine Gefahr für die Vernunft, als auch eine wichtige Arena für die Definition von Männlichkeit dar.
Die Männer dieser Gruppe sind in einer Welt der Zwangsheterosexualität
aufgewachsen, die Gespräche dokumentieren deren gesellschaftlichen und persönlichen Druck. Homosexuelle Erfahrungen sind unter diesen Umständen be
merkenswert - seien es Kindheitserfahrungen oder Erlebnisse im Erwachsenenalter. Die sexuellen Lebensgeschichten unterscheiden sich in dieser Gruppe
in der Tat beträchtlich. Einige hatten seit der Schulzeit ein reges Sexualleben
wie Hugh Trelawney, den man an seiner Universität zum Animal of the Year'
wählte. Andere erinnern sich an keine erotischen Erlebnisse aus der Kindheit
und haben auch als Erwachsene ein eingeschränktes Sexualleben. Einige haben
sich - wie Paul Nikolaou oder Charles Lawrence - sehr geradlinig entwickelt.
Andere - wie Peter Streckfuss - haben grundlegende Veränderungen ihrer Sexualität erfahren und dies als Schlüsselerlebnis empfunden.
Auch wenn sich ihre sexuelle Praxis unterscheidet, teilen sie doch einen
kulturellen Erfahrungsschatz bezüglich Sexualität. Sie wuchsen meist in traditionellen, patriarchalen Familien auf, die sich durch eine repressive Ein195
stellung gegenüber Sexualität auszeichneten. Die meisten wurden von ihren
Eltern nicht aufgeklärt, und von der Kirche haben sie auch nur Verbote vermittelt bekommen. Wenn sie als Kinder schon sexuell aktiv waren, handelte
es sich um heimliche Experimente und verstohlene Genüsse.
Sex wurde für sie als Jugendliche und junge Erwachsene in der Regel zu
einer spannungsgeladenen und angstbesetzten Angelegenheit. Don Meredith,
der in der Nacht wachlag und lauschte, wie sein Vater die Haushälterin vö
gelte, war in seiner Highschool-Zeit in Mädchen verknallt, brachte es aber
nicht weiter, als im Bus neben ihnen zu sitzen. Auf dem College hat er aus
der Ferne junge Feministinnen angehimmelt, konnte aber nicht an sie herankommen: Ich hatte immer das Gefühl, nichts zu haben, womit man Frauen
anziehen kann'. Erst nach einer Reihe nervenzermürbender Fehlschläge verlor Don seine Unschuld, woran er sich noch sehr lebhaft erinnert. Aber seine
Probleme waren damit nicht beendet: er mußte feststellen, daß er unfähig war
zu ejakulieren. Das beschäftigte ihn pausenlos, so daß er sogar eine therapeutische Behandlung erwog. Seine Partnerin, wie er nebenbei erwähnte, schien
das nicht zu bekümmern'.
Sexualität ist nicht grundsätzlich eine Quelle emotionaler Zerrissenheit,
ein Reich des Irrationalen, aber sie kann dazu gemacht werden. Das ist zumindest die Schlußfolgerung aus unseren Interviews.
Das Konfliktpotential der Sexualität kann durch verschiedene körperreflexive Strategien gemildert werden. Sie kann im voraus festgelegt werden, durch
einen Lebenslauf, der ihr einen begrenzten, definierten Bereich zuweist. Eine
Strategie, wie sie Paul Nikolaou benutzt hat, der ja gerade dabei ist zu heiraten.
Sein soziales Umfeld setzt ihn unter Druck, damit er und seine Braut ihre sexuelle Unschuld bis zur Hochzeit bewahren. Es wäre ,beschämend', sich der Lust
hinzugeben. Obwohl er und seine Braut sich wildem Gefummel hingeben, zieht
sie immer die Bremse, bevor sie bis zum Äußersten gehen. Sowohl das Problem als auch seine Lösung sind kollektive Praxen.
Sexualität kann auch durch kommunikative Prozesse modifiziert und
handhabbarer gemacht werden. Nachdem Don Meredith endlich seine Jungfräulichkeit losgeworden war, hat er einen spezifischen sexuellen Stil ent
wickelt. Er versucht, sich in seine Sexualpartnerinnen einzufühlen, verwendet viel Zeit auf das Vorspiel und auf das Reden danach, und hat einige sexuelle Tricks entwickelt wie z.B. mit dem Finger zu stimulieren.
In der gesamten Gruppe herrscht eine sexuelle Etikette, die Verständigung und ein Lustgleichgewicht zwischen Mann und Frau in den Mittelpunkt
stellt. Greg Brook dazu:
Ich versuche immer, den anderen so viel wie möglich zu verwöhnen. Ich werde mich nicht
hinstellen und sagen, Naja, jetzt bin ich dran, verdammt noch mal, du bist nächste Woche
wieder an der Reihe.' Und die meisten Frauen, die ich aufgerissen habe, sind genauso drauf.
In seiner gerade beendeten Beziehung hatte Greg das Gefühl, zu wenig mitteilsam zu sein, deshalb versucht er nun, sich stärker zu öffnen:
196
Die letzte Beziehung mit einer Frau war so. Ich habe mir einfach gedacht, scheiß drauf,
wenn du sie liebst, sag ihr einfach, was gerade in dir vorgeht. Warte nicht einen Monat
oder eine Woche und auch keine Stunde mehr, sag ihr einfach, wie es in dir aussieht. Und
ich habe mich dabei auch so viel besser gefühlt... Ich glaube, ich bin jetzt ehrlicher und
bekomme deshalb auch positivere Rückmeldungen. Weil ich auf einmal offen und ehrlich
bin, ist es der andere auch. Und wenn sie nicht genauso offen sind, neige ich dazu... naja,
nicht sie zu ignorieren, aber mich von ihnen abzuwenden.
Es ist nicht einfach, eine Balance zu erlangen. Die Abstimmung zwischen
den Partnern kann zu ernsthaften Konflikten führen. Peter Streckfuss entdeckte das Füllhorn der Sexualität Mitte der 70er Jahre und forderte von seiner Frau Arm eine offene Ehe'. Sie hatte gar keine Wahl: Er scheint zuerst
fremdgegangen zu sein und erst hinterher um Erlaubnis gebeten zu haben.
Aber schließlich hat sie es sich nicht mehr gefallen lassen und es war die
Hölle los', aber schließlich handelte er sich eine Art Erlaubnis aus. Als Peter
dann mit den Freundinnen seiner Frau Affären hatte, war sie sehr verletzt'.
Nächtliche Krisengespräche erbrachten schließlich eine Art Verhaltensrichtlinie für ihn: die Affären nicht mit nach Hause bringen und seine Frau wissen
zu lassen, was vor sich geht. Doch bald darauf hörten die Seitensprünge auf.
Peter bezeichnet sich jetzt als ,einsam'.
Aber die Sexualität kann auch objektiviert werden. Hugh Trelawney,
dessen Selbstverletzungen und Veränderungen schon im zweiten Kapitel angeklungen sind, arbeitet nun für ein teilweise pornographisches Magazin.
Etwas abwehrend meint er, der Job sei etwas heikel', andererseits gefällt ihm
aber auch die Aufmerksamkeit, die er deswegen erfährt. Die Leute sind fasziniert, wenn er von seiner Arbeit erzählt, und auf Parties fragen ihn die anderen Männer, ob er was mit den Pornodarstellerinnen habe.
Am Anfang war es schon relativ aufregend. Aber es dauert nicht lange, dann widert es
dich an.
Dort, wo er arbeitet, wird Sexualität durch die Arbeitsroutine und durch Witze banalisiert. Hugh betont die journalistische Qualität seiner Arbeit und versucht sie auf die Ebene des normalen Journalismus zu heben.
Daß sich Hugh mit dieser Art der Rechtfertigung nicht recht wohl fühlt,
läßt vermuten, daß die Macht instrumenteller Rationalität begrenzt ist. Er
wird einfach das Gefühl nicht los, Sexualität sei ein Bereich zwischen
menschlicher Erfahrungen, den man nicht in dieser Art behandeln sollte. Der
Prozeß der Rationalisierung wird in diesem Fall mit noch nicht völlig überwundenen Moralvorstellungen konfrontiert. 7
Aber auch außerhalb der Sexualität gibt es Lebensbereiche, wo die Rationalität nur beschränkt wirksam werden kann oder sogar eine Hinwendung
zum Irrationalen zu beobachten ist. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist
Charles Lawrence. Dieser große Verantwortung tragende Fachmann der
hochrationalisierten Luftfahrt erweist sich als ziemlich abergläubisch. Er er7
Eine hervorragende Erörterung dieer Aspekte findet sich bei Poole 1991.
197
wähnt, was ihm eine Wahrsagerin über seine früheren Leben erzählt hat, ist
davon überzeugt, daß sein beruflicher Erfolg vor allem mit Glück zu tun habe, kauft Lotterielose und legt zeitweise einen beträchtlichen Fatalismus an
den Tag. (Als ich über Charles nachdachte, fiel mir ein, wie ich kürzlich auf
einem Flug mit American Airlines im Bordmagazin ausgerechnet ein Horoskop entdeckte.) Es sieht so aus, als habe die in der Technik verkörperte Rationalitätjegliches Gefühl der Einflußmöglichkeit bei den Menschen zerstört
und die Kontrolle der Welt damit in die Hände des Zufalls oder esoterischer
Kräfte gelegt.
Im Spätkapitalismus finden sich freilich noch stärkere irrationale Strömungen. Der Glaube an die Astrologie ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.
In den USA sind New Age und fundamentalistische Sekten stark auf dem
Vormarsch. Und ebenso auffallend ist die Wiedergeburt des Faschismus in
Europa und die wachsende Unterstützung von Rassismus und Chauvinismus.
Die mythopoetische Männerbewegung in den USA ist Teil dieses Spektrums;
geprägt von esoterischem und vernunftfeindlichem Gedankengut, versucht
sie, primitive männliche Gefühle zurückzuholen. Kein Mann dieser Interviewgruppe hat etwas mit dieser Männerbewegung zu tun, die in Australien ohnehin nicht sonderlich verbreitet ist. Aber anhand ihrer Äußerungen ist es nicht
schwer, abzuschätzen, welche Resonanz sie in der neuen Mittelschicht finden
könnte.
Vernunft nd Veränderung
Im Leben dieser Männer gibt es einige Bereiche, in denen die Rationalität
beschränkt oder umstritten ist. Man kann hier nicht zu dem Schluß kommen,
daß hegemoniale Männlichkeit und der Rationalismus einer fortgeschritten
kapitalistischen Berufswelt schlicht ein und dasselbe sind.
In einigen Aspekten ist allerdings ein Widerstand gegen Veränderungen
nicht zu verkennen. Männer wie Charles Lawrence oder Paul Nikolaou wollen nicht, daß sich das Verhältnis der Geschlechter wandelt und vertreten ei
ne konservative sexuelle Ideologie, die von der traditionellen Arbeitsteilung
und der Ehe als Institution getragen wird. Andere Männer mußten ihre männliche Position innerhalb von Institutionen neu aushandeln, und diese Verhandlungen waren alles andere als einfach. Greg Brook hängt - ebenso wie
Charles und Paul - einer urtümlichen Geschlechtertheorie an:
Ich glaube, daß die Frauenbewegung zu weit gegangen ist. Weil Frauen einfach Frauen
sind. Und sie müssen auch Frauen bleiben. Die Feministinnen, die von der harten Sorte
jedenfalls, haben den Bogen einfach überspannt und haben aus Frauen, aus diesen Frauen, geschlechtslose Wesen gemacht. Das sind keine Frauen mehr.
Greg bekundet nach allen Seiten Toleranz, gegenüber (echten) Frauen, die er
für gleichberechtigt hält, und auch gegenüber Homosexuellen, solange sie
sich zurückhalten'.
Aber im Gegensatz zu Charles und Paul muß sich Greg am Arbeitsplatz
mit weiblicher Autorität auseinandersetzen. Er hat in der Firma seiner
Schwester gearbeitet und mußte feststellen, daß sie darauf bestanden hat, die
Chefin zu bleiben. Sie wollte seinen ,Vorschlägen', welche Richtung die
Firma einschlagen sollte, nicht folgen. Die Spannungen nahmen zu:
Ich war total erstarrt, meine Muskeln verkrampften sich und ich drehte durch. Es war vor ihrem [seiner Freundin] Haus, ich saß im Auto, es war unglaublich. Plötzlich brach alles aus
mir heraus und meine Unterarme verkrampften sich. Ich konnte meine Hände eine Stunde
lang nicht vom Lenkrad nehmen. Konnte nicht mehr loslassen. Und sie [seine Freundin]
sagte bloß nun komm schon, laß los, laß los... weine, wenn du magst, mach, was du willst,
aber laß das Lenkrad los, sag, was dich bedrückt, du hast einfach alles in dir aufgestaut.'
Mehrere Aspekte sind hier verdichtet: wie Männlichkeit in den Körper eingeschrieben ist, die emotionale Arbeitsteilung der Geschlechter, die Verlagerung von Konflikten. Es ist außerdem bezeichnend, daß sich Greg auf dem
Höhepunkt seiner seelischen Krise ausgerechnet an das Lenkrad eines Autos
klammert. Es gibt eine symbolische Verbindung zwischen Autos und jugendlicher Männlichkeit, und seine Schwester hat sich seinem Versuch widersetzt, ihre Firma von Greg lenken zu lassen.
Reine wirtschaftliche Rationalität ist mit einer unbedingten männlichen
Autorität gegenüber Frauen nicht kompatibel. An diesem Widerspruch setzen
Maßnahmen zur Chancengleichheit an. Die instrumentelle Rationalität der
Ökonomie hat - in wie auch immer begrenztem Ausmaß - die Möglichkeit,
das soziale Geschlecht zu sprengen. Für Greg Brook hat sie mit Sicherheit
hegemoniale Männlichkeit erschüttert.
Jeder Mann dieser Interviewgruppe hat irgendwie das Gefühl, daß sich
das Geschlechterverhältnis im Wandel befindet, ob sie diesen nun begrüßen
oder bekämpfen. Einige akzeptieren den Wandel nur sehr widerwillig. Peter
Streckfuss merkt an, er mache nun mehr Hausarbeit:
Ich mache mehr traditionell eher weibliche Tätigkeiten, ich putze, ich koche, ich mache
den Abwasch.
Aber er kreidet seiner Frau an, daß sie nicht im Gegenzug die entsprechenden männlichen Aufgaben' übernimmt, wie zum Beispiel Holz zu hacken
oder Geräte zu reparieren. Und er zieht über die Feministinnen her:
Mir geht das Gemecker der Frauen auf den Geist, daß sie doch all diese Sachen machen
und daß sie sich für gleich halten. Aber wenn es drauf ankommt, haben sie keine Ahnung,
wo man bei einem Motor das verdammte Öl nachschaut, und sie wollen es auch gar nicht
herausfinden. Über so etwas rege mich auf.
Unter gewissen Umständen kann ein Wandel der eigenen Männlichkeit auch
ein Weg der Vernunft sein. Bei Hugh Trelawney war dies sicher der Fall.
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Nach einer körperlichen und seelischen Krise beträchtlichen Ausmaßes hatte
Hugh das Gefühl, grundlegende Veränderungen' nötig zu haben:
Ich habe mir noch einmal angeschaut, wie ich mit anderen Menschen umgehe, meine
konkurrierende und auf Status ausgerichtete Wesensart. Vor allem meinen Umgang mit
Frauen habe ich analysiert. Mir fiel dabei auf, daß ich nicht mehr der war, der Lohnungleichheit und die Haltung, Frauen als grundsätzlich unterlegen zu betrachten, verabscheut. Im Grunde war ich ein verdammter Chauvinist. Liebe und Sex waren für mich
immer noch nicht mehr als ein Spiel, eine lustiges Spiel, vergleichbar mit Football.
Deshalb machte sich Hugh daran, seine Persönlichkeit zu verändern. Er beschloß, den Leuten besser zuzuhören, Mitgefühl zu entwickeln, Beziehungen
aufzubauen, offener, verwundbarer und weniger wetteifernd zu sein.
Ich versuche jetzt, weniger furchteinflößend aufzutreten. Nur ich, meine Persona. Die
Leute scheinen immer noch nach Schwachpunkten bei mir zu suchen, und ich versuche
jetzt mehr auf sie zuzugehen. Mehr wie ein menschliches Wesen als eine Maschine. Ich
habe immer gedacht, es ginge darum, nicht-menschlich zu sein, weil das bedeuten würde,
daß man sich mit nicht so vielen emotionalen Traumata auseinanderzusetzen hätte, wenn
man maschinenhafter wäre.
Die Prozesse verlaufen hier ähnlich wie bei den Veränderungen von Männlichkeit im fünften Kapitel. Aber in der Praxis hat sich nicht so viel Grundlegendes
geändert, auch wenn Hugh uns das gerne glauben machen würde. Er läßt sich
immer noch auf One-nicht-stands ein, scheut Bindungen (,immer noch ein Herumtreiber'), und er denkt, er kann sich dieses Verhalten leisten, weil es in seiner
Altersgruppe einen Frauenüberschuß gibt. Feministische Kritik an Männern wie
er einer ist, nimmt er zur Kenntnis, aber er weist sie zurück und regt sich darüber auf. Er glaubt, daß sein Verhalten in Ordnung ist, solange er ehrlich zu der
Frau ist. Er macht einen Unterschied zwischen der sexuellen Revolution und
dem Feminismus, und er stellt den radikalen Feminismus in Frage, mit der interessanten Begründung, daß dieser doch nur die Männer ausrotten wolle.
Hugh wertet auch die Schwulenbewegung ab - Schwänze in Arschlöchern' -, nicht ohne sofort hinzuzufügen, daß es für ihn in Ordnung sei, was
Schwule machen. Und danach folgen lange Tiraden über,feminine' Schwule,
die sich über die Farbe ihrer Gardinen Gedanken machen. ja, er will, daß
Männer Frauen anders behandeln. Nein, er will nicht mit anderen Männern in
einen Empfindsamkeitswettbewerb treten... was bei einigen bloß dazu führt,
daß sie ziemlich langweilig werden.' Durch seine Arbeit bei einem Pornomagazin ist er - ungeachtet seiner persönlichen Absichten - an der Vermarktung weiblicher Sexualität und der Legitimierung einer ausbeuterischen
männlichen Sexualität beteiligt.
Bei Hugh findet sich ein chaotischer Wust an guten Absichten, Ängsten,
Ausdrücken aus der humanistischen Therapieszene (,Persona' ist jungianisch), Groll und Arglist. Mit besonderer Klarheit zeigen sich hier die Ver
wirrungen und Reaktionen, die bei dem Versuch entstehen, eine unterdrükkende Männlichkeit zu verändern, ohne die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Strukturen anzutasten.
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Wie ich zu Beginn dieses Kapitels anmerkte, trägt Rationalität einen Teil
der heutigen Legitimation des Patriarchats, vielleicht sogar den entscheidenden Teil. Aber diese Art der Legitimation ist nicht ohne Gefahren. Wie die
Lebensgeschichten zeigen, kann Rationalität in gewisser Hinsicht das Verhältnis der Geschlechter durcheinanderbringen. Die gesellschaftlichen Ausprägungen dieser Rationalität (wie zum Beispiel Marktrationalität oder die
Gleichheit vor dem Gesetz) höhlen die Geschlechterhierarchie aus und stärken den feministischen Widerstand. Die Institutionalisierung von Rationalität
an Arbeitsplätzen, die auf Fachwissen basieren, untergräbt Autorität und setzt
hegemoniale Männlichkeit Spannungen aus. Man kann technische Vernunft
für ein Reformprojekt einsetzen, auch wenn sie nicht auf die Endziele dieser
Reform ausgerichtet ist.
Bei genauer Betrachtung erscheinen hegemoniale und komplizenhafte
Männlichkeit ebensowenig einheitlich wie untergeordnete und marginalisierte Männlichkeit. Obwohl diese Männer nur aus einem einzigen Bereich
des gesellschaftlichen Spektrums stammen, ist ihr Leben voller Kontraste:
patriarchale Häuslichkeit und sexuelles Abenteurertum, Gleichheit und Hierarchie am Arbeitsplatz, versöhnliche und feindselige Haltungen gegenüber
dem Feminismus. Auch Versuche, Männlichkeit zu reformieren und zu modernisieren, lassen sich ausmachen, wenn auch zugegebenermaßen innerhalb
wohldefinierter Grenzen. Um die verschiedenen Politiken der Veränderung
von Männlichkeit zu begreifen, mit denen wir uns im dritten Teil beschäftigen werden, sollten wir diese Vielschichtigkeit im Kopf behalten.
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