Die Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche

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K A R L - F R I T Z DAI BER
Die Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche
Die heute unbestrittene Geltung des naturwissenschaftlichen Weltbildes hat sich in
einem langen Prozeß der Emanzipation der Naturerkenntnis von der Vorherrschaft
der Theologie ergeben. Dieser Prozeß war ein revolutionärer Vorgang, Aufstand
einer neuen Denkweise gegen eine dem Anschein nach selbstverständlich gültige
Tradition. Inzwischen haben sich Theologie und Naturwissenschaft gegeneinander
abgegrenzt. Die theologische Aussage beschreibt eine andere Dimension des Wirklichen als die naturwissenschaftliche; die naturwissenschaftliche Aussage liefert das
Material für die theologische Interpretation. Ein Spannungsverhältnis besteht nur
dort, wo die Naturwissenschaft zum geschlossenen weltanschaulichen System wird
oder die Theologie den Widerspruch gegen das allein naturwissenschaftlich Erkennbare als notwendig postuliert.
Wie das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie, so ist auch das Verhältnis von Soziologie und Theologie seinem Ursprung nach das Ergebnis eines
Emanzipationsprozesses, der, von der Theologie aus gesehen, freilich längst nicht in
dem Maße verarbeitet ist, wie es im Blick auf die Naturwissenschaft gesagt werden
kann. Der Grund dafür ist einerseits im Gegenstand der Soziologie zu suchen und
damit auch in innersoziologischen Fragen 1 , andererseits in der relativ spät einsetzenden Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Sozialen. Die Abwendung vom
theologisch fundierten Naturrecht bringt zunächst nur die Erneuerung der antiken
Naturrechtslehre. Erst unter dem Einfluß der großen Revolutionen wird Soziologie
im modernen Sinne möglich. Die Erforschung der sozialen Gegebenheiten beginnt,
weil die Gestaltung des sozialen Lebens zum Problem geworden ist. Der Wandel
der sozialen Wirklichkeit innerhalb der abendländischen Kultur zeigt, wie auch die
Entdeckungen der Ethnologie und der Kulturanthropologie, die Relativität gesellschaftlicher Strukturen.
Die Frage nach der Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche muß davon ausgehen, daß die Soziologie anders als die Theologie nicht an den dauernd
gültigen Grundlagen des Sozialen interessiert ist, sondern wesentlich nur an seinen
konkreten geschichtlichen Gestalten, an den Bestimmungsfaktoren seiner Stabilität
oder Dynamik. Die Richtung dieses Interesses bedeutet keinen unüberbrückbaren
Gegensatz, wenn sich die Theologie ihrer Geschichtlichkeit bewußt ist und sie zugleich sozialethisch jenen Ansatz weiterführt, der in Luthers Stellung zum mosaischen Gesetz als »der Juden Sachsenspiegel« sichtbar wird 2 . Unter dieser theologischen Voraussetzung ist das Gespräch mit der Soziologie möglich und sinnvoll.
1
Hier ist etwa an die Schwierigkeit gedacht, methodisch rein quantitativ vorgehende
Erklärungsweisen innerhalb des sozialen Bereiches anzuwenden. Menschliches Sozialverhalten — der Gegenstand der Soziologie — stellt immer auch die Frage, mit welcher
Methode der Gegenstand hinreichend erfaßt werden kann. Da das quantitativ orientierte
Denken der personalen Freiheit wenig Raum läßt, ist seine Anwendung im Bereich der
Soziologie nur mit Vorbehalten möglich und die Abweisung der sozialphilosophischen
Spekulation entsprechend schwer durchzuführen. Theologische Soziallehren stehen oft
in der Tradition der Sozialphilosophie und versuchen, ihre Auseinandersetzung mit der
Soziologie von daher zu führen.
2
Vgl. hierzu W. ELERT, Morphologie des Luthertums, 2. Bd., 19532,334 ff.
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Die Soziologie versteht sich heute überwiegend als empirische Soziologie, empirisch im Sinne der positivistischen Wissenschaftstheorie2a. Soziologische Entwürfe,
die das Ganze eines sozialen Systems zu deuten versuchen, gelten nicht im strengen
Sinne als soziologische Theorie. Hans Freyers »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters«, David Riesmans »Die einsame Masse«, Herbert Marcuses »Der eindimensionale Mensch« oder auch Dietrich von Oppens »Das personale Zeitalter« sind
»Theorien der Gesellschaft (R. König) 3 . Sie tragen zur Hypothesenbildung bei,
bedürfen aber der exakten Überprüfung im Detail. Die Hypothesen ihrerseits
müssen falsifizierbar sein, sie müssen sich grundsätzlich widerlegen lassen. Erst
wenn sich bestätigt, daß sie nicht als falsch widerlegt werden können, erhalten
sie den Rang von Theorien. Zur empirischen Überprüfung ihrer Hypothesen hat
die Soziologie ein reichhaltiges Instrumentarium entwickelt, das von der Beobachtung bis zu den Methoden der exakten statistischen Analyse reicht. Da empirische
Überprüfungen nur im begrenzten sozialen Feld möglich sind, kommt die Theoriebildung bisher über »Theorien mittlerer Reichweite« (Merton) nicht hinaus. Sogar
die angewandten Begriffe haben zum größten Teil hypothetischen Charakter; sie
bilden exakt genommen keine theoretisch gefaßten sozialen Tatbestände ab, ihre
Definition erfolgt operational, sie formulieren jeweilige Erkenntnisprozesse, empirische Tatbestände, in denen die Hypothesen erfaßt werden.
Geht man von dem aus, wie die Soziologie ihre Aufgaben selbst versteht, kann
von ihr also nicht eine umfassende Deutung der Gesellschaft erwartet werden. Sie
bietet aber eine Reihe von Begriffen, Hypothesen und Theorien, die begrenzte Tatbestände des gesellschaftlichen Lebens in ihrer Gesetzmäßigkeit begreifen lassen.
Unter dem Vorbehalt ihres hypothetischen Charakters sind auch Theorien, die soziale Gesamtsysteme zu erfassen versuchen, wie etwa die strukturell-funktionale
Theorie Talcott Parsons für die Erkenntnis des Sozialen wichtig.
Im folgenden wird versucht, die Bedeutung der Soziologie für die Theologie
unter drei Gesichtspunkten darzustellen. Wir beginnen mit der Bedeutung der Soziologie für die Erkenntnis des sozialen Raumes als des Handlungsfeldes des Einzelnen und der Gruppen. Wir wenden uns sodann der Bedeutung der Soziologie für
die kritische Selbstreflexion in Theologie und Kirche zu und skizzieren schließlich
soziologische Aspekte der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche.
I.
Kirchliches Handeln versteht sich als Dienst. Der von der EKD eingesetzte Ausschuß für Planungs- und Strukturfragen stellt deshalb den Auftrag der Kirche als
Diakonat, Katechumenat und Apostolat dar 4 . Jeder dieser Begriffe markiert in seiner Weise eine bestimmte Form der Hinwendung: Kirchliches Handeln ist bezoge2
a Diese Feststellung gilt trotz der durch die gegenwärtige hochschulpolitische Situation
an den deutschen Universitäten in den Vordergrund getretenen Auseinandersetzung um
die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Soziologie und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Eine informative Einführung in diese Problematik bietet der Artikel »Formen
soziologischer Forschung«, in: EvKom 2 / 1 9 6 9 , 2 4 7 ff.
8
R. KÖNIG, Das Fischer Lexikon — Soziologie, 1 9 5 8 , 10 und R. KÖNIG (Hg.), Handbuch
der empirischen Sozialforschung, 1. Bd., 1962, 3 ff.
4
Die Vorschläge des Ausschusses sind u. a. abgedruckt im Amtsblatt d. Ev. Landeskirche in Württembreg, Bd. 42, Beiblatt Nr. 3.
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nes Handeln, bezogen auf die Menschen einer jeweiligen Zeit. Wer den Dialog mit
anderen sucht, ihn vor allem in der Absicht des Dienstes sucht, kann nicht darauf
verzichten, den Partner zu verstehen. Das Interesse am anderen, der Wille, ihn
ernstzunehmen, begründet die Anfrage: Was kann die Kirche von der Soziologie
lernen?
Die Soziologie als Wissenschaft ist anders orientiert. Sie hat eine rein kognitive
Intention, auch wenn die Auswahl der Themen das persönliche Engagement des
einzelnen Forschers erraten läßt. Doch um ihres besonderen Interesses willen
kann die Kirche nicht davon absehen, der Soziologie Aufgaben zu stellen, Aufgaben, die weit über den Bereich der eigentlichen Kirchensoziologie hinausreichen.
Sie kann es deshalb nicht unterlassen, weil Gegenstand der Soziologie der Mensch
in seinen mitmenschlichen Bezügen ist. Die Soziologie ist nur einem begrenzten
Aspekt des Menschlichen, dem Sozialen, zugeordnet. Wo immer aber der Mensch
zum Thema genommen wird, ist die Kirche und damit auch die Theologie von ihrer
Sache her zum Partner gemacht. Wo ein Beitrag dazu geleistet wird, den Menschen
zu verstehen, wird die Kirche um ihres Dienstes willen solche Möglichkeiten nützen.
Die Soziologie sieht den Menschen bestimmt von einer Vielfalt sozialer Beziehungen. Diese können je einmaliger Natur sein, in der Regel wiederholen sie sich
gleichsinnig. Sie ergeben sich aus sozialen Ordnungen, aus Strukturen, die das Miteinander der Individuen in gefügten Formen regeln. Der Industriebetrieb weist
jedem, der in ihm arbeitet, eine bestimmte Aufgabe zu, eine Funktion. Es gibt Funktionen, die einander gleichrangig sind. Es gibt darüber hinaus solche, die anderen
übergeordnet sind, die eine andere Position bedingen und darum auch ein verändertes Ansehen, einen entsprechenden Status. In allen Bereichen des menschlichen Lebens bestehen derartige Strukturen, die dem Individuum jeweils Platz
und Aufgabe zuweisen. Im Zuge der Erforschung dieser Problematik hat die Soziologie ihre Rollentheorie entwickelt5. Jeder Ort in einer sozialen Struktur legt
dem Einzelnen eine Rolle auf, die er gleichsam zu spielen hat. Seine Rolle ergibt
sich aus den Erwartungen, die andere an sie knüpfen. Die Erfüllung dieser Erwartungen wird von der Gesellschaft erzwungen; sie legt Sanktionen auf, wenn sich
der Einzelne nicht den Erwartungen entsprechend verhält. Jede Rolle setzt Beziehungen zu unterschiedlichen Partnern, etwa zu Vorgesetzten, Untergebenen, Kollegen oder Freunden. Die verschiedenen Beziehungen wollen gegeneinander ausbalanciert sein. Wenn dies nicht gelingt, droht der soziale Konflikt. Dieser entsteht
auch dort, wo verschiedene Rollen eines Individuums nicht gleich aktiv, den Erwartungen entsprechend, wahrgenommen werden können. Bezeichnend hierfür ist
der Konflikt zwischen einer Rolle innerhalb der Familie, etwa der des Vaters, und
der Berufsrolle.
Das Rollenverhalten muß gelernt werden. Erziehung ist darum, soziologisch gesehen, Sozialisation, das Erlernen der Spielregeln einer Gesellschaft, ihrer Normen
und Werte, der auf die einzelnen Rollen sich richtenden Erwartungen. Obwohl das
konforme Rollenverhalten vielfältig erzwungen wird, bleibt für den Einzelnen als
Rollenträger ein Bereich der Freiheit in der Wahrnehmung seiner Rollen. Auch im
konformen Rollenverhalten kann das Individuum sich selbst als Person verwirklichen, es kann Verantwortung, wenn auch in abgestuften Graden, wahrnehmen.
Gerhard Wurzbacher weist darauf hin, daß gerade die personspezifische Wahr5
Vgl. R .
DAHRENDORF,
Homo sociologicus,
19644.
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nehmung von Rollen einen wichtigen Faktor für den sozialen Wandel darstellt6.
Außerordentliche Bedeutung für die Art, in der Rollenverhalten wahrgenommen
wird, haben die Primärgruppen, also jene Gruppen, in denen der Einzelne als
Einzelner kraft seiner Person zählt. Dort gewinnt er sein Selbstbild, das sich dann
auch in den anderen Bezügen mehr oder weniger durchsetzt. Durch die Primärgruppen, also etwa durch die Familie, gewinnt das Individuum den Rückhalt, ohne
den es sich der Großorganisation gegenüber nur unzureichend behaupten kann. In
den Rollen der Individuen spiegelt sich ein weitreichendes System von Gruppen
und sozialen Gebilden. Den Rollen entsprechen Positionen in solchen Gebilden.
Rollenkonflikte bedeuten immer auch ein antagonistisches Verhältnis sozialer
Gruppierungen, unter Umständen ein konkurrierendes Verhältnis von in einzelnen
Gruppen unterschiedlich gültigen Werten. So können die in der Familie als normierend geltenden Werte den vom Staat vertretenen Werten widersprechen. Anerkennt der Staat die Pluralität möglicher Werthaltungen als einen selbst schon zu
schützenden Wert, wird der Konflikt auf ein wesentlich geringeres Maß reduziert,
als es dort der Fall ist, wo er mit verstärkten, und sei es nur gesellschaftlichen,
Sanktionen seine Wertordnung durchsetzen möchte.
Weil die in einer Gesellschaft angebotenen Rollen das System vorhandener
Gruppen widerspiegeln, zeigt sich in den möglichen Rollen nicht zuletzt das soziale
Bild der Gesamtkultur. Die geistige und materielle Form des Lebens drückt sich
bis in die einzelne Rolle hinein aus. Für begrenzte Stammeskulturen hat die Kulturanthropologie diesen Tatbestand empirisch genau beschrieben7. Für unsere moderne Kultur läßt sich dies nur in skizzierender Andeutung bruchstückhaft und
hypothetisch tun.
Versucht man die abendländische, in zunehmendem Tempo sich global ausweitende Kultur abgekürzt zu beschreiben, so könnte man sie am ehesten die technische Kultur nennen. Oberster Wert ist jene Erkenntnis, die sich in Technik umsetzen läßt, wobei Technik eine Form von Rationalität mitmeint, die ein Höchstmaß der Kräfteausnützung in sich schließt. Leistung wird zur entscheidenden
Norm, die einen wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Gesamtkultur ausübt. Die technische Kultur ist industrielle Kultur und städtische Kultur. Die Rollen
werden immer differenzierter und auf hochspezialisierte Funktionen bezogen. Auch
die Formen der Autorität wandeln sich. Autorität entsteht durch sachbezogene
Leistung. An diesem Maßstab wird gemessen, wer Autorität beansprucht. Autorität muß sich am Maßstab der Leistung verantworten, in der Diskussion durchsetzen
und durch die Wahl legitimieren.
Die Frage nach der Bedeutung der Soziologie für die Theologie führte in diesem
ersten Gedankengang über die formalen Sätze der Rollentheorie zu der sich daraus
notwendig ergebenden Charakteristik des gegenwärtigen kulturellen Systems. Der
Mensch, auf den die Verkündigung der Kirche bezogen ist, existiert nicht nur in
einem privaten Raum jenseits des Sozialen, er verwirklicht sich selbst vielmehr in
seinen sozialen Rollen und unter den Bedingungen einer Kultur, die uns einem gemeinsamen Geschick unterwirft. Die Soziologie kann darum der Theologie ein
Stück weit deutlich machen, in welchen Formen und unter welchen Bedingungen
6
7
G. WURZBACHER U. a., Der Pfarrer in der modernen Gesellschaft, 1 9 6 0 , 1 2 ff.
Vgl. R . BENEDICT, Patterns of Culture, 1 9 3 4 — Deutsch: Urformen der Kultur, rde
1955.
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7,
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sich mitmenschliches Leben heute vollzieht. In ihren Aussagen tritt der Theologie
unausgesprochen die Forderung entgegen, Gesetz und Evangelium zu konkretisieren, d. h. der sozialen Lage entsprechend anzusagen. Dies wird um so eher möglich sein, je mehr die soziologische Analyse auch im Einzelfall in Anspruch genommen wird. Allgemeine Hypothesen können zwar orientieren, jedoch einen anderen zu verstehen, wie es der Dienst der Kirche voraussetzt, ist nur dort möglich,
wo die besonderen Verhältnisse so wichtig genommen werden, wie sie für den
Einzelnen sind.
II.
Neben den Beitrag der Soziologie zur Analyse mitmenschlicher Beziehungen im
allgemeinen treten ihre Anfragen im Blick auf die besondere Stellung von Theologie und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft. Die hier aufgeworfene Problematik hat für die Selbstreflexion des christlichen Glaubens ihre eigentliche Bedeutung, so zunächst etwa für die speziell ekklesiologische Fragestellung: Welchen
Platz nimmt die Kirche als Institution im sozialen Kontext ein?
In seiner Schrift »Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft« wirft Joachim
Matthes die Frage auf, ob die Voraussetzung wirklich zutrifft, daß nämlich die
heutige Gesellschaft eine säkulare und damit entkirchlichte ist. Matthes verneint
diese Frage. Er lehnt es ab, von einem Gegenüber von Kirche und Gesellschaft zu
reden. Die Gesellschaft ist weder Bedrohung noch Aufgabe der Kirche. »Vielmehr
haben wir an ihr teil, ganz und gar und ohne Abstriche — an der inneren Möglichkeit, sie als System zu denken und zu behandeln, wie an ihrer Geschichtlichkeit und
der äußeren Möglichkeit, in ihr zu handeln.«8 Matthes verkennt nicht, daß sich die
Stellung der Kirche in der Gesellschaft gewandelt hat. Aber er geht davon aus, daß,
solange die Kirche eine soziale Größe ist, sie in der Gesellschaft als bestimmender
Faktor wirkt. Matthes übersieht zwar, daß theologisch legitimerweise von einem
Gegenüber von Kirche und Gesellschaft gesprochen werden kann, aber er weist mit
Recht darauf hin, daß das theologische Gegenüber jedenfalls nicht einem entsprechenden soziologischen korrespondiert. Er befürchtet, daß aufgrund der soziologisch falsch gesehenen Relation zwischen Kirche und Gesellschaft von der Kirche
eine Politik der Entsäkularisierung betrieben werden könnte 9 .
Matthes' Fragestellung hängt eng zusammen mit einer in breiterem Ausmaß vollzogenen Neubesinnung der Kirchen- bzw. Religionssoziologie. Anlaß dieser Neubesinnung ist der Tatbestand, daß die von der Kirchensoziologie angewandte Fragestellung nicht ausreicht, um das Phänomen des Religiösen in der modernen Gesellschaft hinreichend zu erfassen. Man empfand zunehmend die Beschränkung der
Problematik auf die Institution der Kirche als unhaltbar. Gemessen an kirchlichen
Normen, wie Gottesdienstbesuch, religiöser Praxis im ganzen, Kontakten zur
Kirche, ergibt sich in der Regel bei kirchensoziologischen Erhebungen das Bild fortschreitender Entkirchlichung10.
J. MATTHES, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, 1 9 6 4 , 1 8 .
aaO 74.
10
Kennzeichnend für eine derartige Fragestellung ist etwa G. KEHRER, Das religiöse
Bewußtsein des Industriearbeiters, 1967.
8
9
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Im Gegensatz dazu steht die damit nicht übereinstimmende geringe Zahl der
Kirchenaustritte, bzw. der nicht der Kirche Zugehörigen. Will man diesen Gegensatz nicht einfach unreflektiert hinnehmen, fordert er eine Interpretation und darin
eine Deutung der Stellung der Kirche in der Gesellschaft geradezu heraus. Matthes
hat dies versucht.
Auch Thomas Luckmann geht einen entsprechenden Weg11. Er ist der Auffassung, daß die innere Form der modernen Weltanschauung so lose ist, daß selbst
widersprechende Anschauungen nebeneinander bestehen können. Die religiösen
Normen haben keine absolute Gültigkeit mehr12. Dies besagt nicht, daß das Religiöse keine Bedeutung hat. Es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, daß neben der
Kirche als Institution der Religion im traditionellen Sinne sich neue Sozialformen
der Religion bilden. Die gegenwärtige Gesellschaft ist nicht gekennzeichnet durch
den Verlust des Religiösen, sondern durch seine Veränderung. Der Kirche wie dem
Christentum überhaupt stehen religiöse Denkformen entgegen, die »ich vielfach
noch christlicher Symbolik bedienen, aber doch eine neue Denkweise zum Inhalt
haben13. Kirchlichkeit ist, von daher gesehen, nur ein kleiner Ausschnitt religiöser
Daseinsgestaltung14.
Wie Luckmann geht es auch Trutz Rendtorff in seinem Aufsatz »Zur Säkularisierungsproblematik« primär um einen Beitrag zur Neuorientierung der Religionssoziologie15. Es zeigt sich aber bei ihm in gleicher Weise wie bei Luckmann, daß die
jeweilige Auffassung der Religionssoziologie eine bestimmte Sicht der Kirche impliziert. Ähnlich wie Matthes setzt er sich kritisch mit der These von der Entchristlichung der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Rezeption im Begriff der Säkularisierung auseinander. Für ihn hat sich seit Max Weber die Religionssoziologie
lediglich mit jener Restform von Religion befaßt, die der angenommene Prozeß der
Säkularisierung in den heute faßbaren Formen von Kirchlichkeit zurückgelassen
hat. Diese Restform ist gekennzeichnet durch einen starken Abbau der öffentlichen
Funktion institutionalisierter Religion. Rendtorff sieht in der Säkularisierungsthese
eine Selbstauslegung der Gesellschaft wie der Kirche, die material nicht abgedeckt
werden kann. Anstelle der Säkularisierung16 als eines Prozesses der Ablösung bzw.
der Neuinterpretation christlicher Inhalte postuliert er einen in der späten Aufklärungstheologie anhebenden Prozeß der Entkirchlichung, der aber nicht mit
einer Entchristlichung identisch ist. Er urteilt: »Die christliche Emanzipation von
der Kirche legte faktisch die Grundlage für die Ausbildung eines nichtkirchlichen
Christentums, dem vom kirchlichen Standpunkt aus dann die Prädikate der Unkirchlichkeit und der Entkirchlichung beigelegt wurden.«17 Die angemessene Form
der Religionssoziologie ist für Rendtorff nicht die Kirchensoziologie, sondern die
Soziologie des Christentums.
Faßt man die verschiedenen Argumente zusammen, so ergibt sich für die Stellung
der Kirche in der Gesellschaft unter soziologischem Aspekt folgendes: Die Kirche
11
T. LUCKMANN, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, 1963.
aaO 57 ff.
aaO 67.
14
aaO 68.
15
T. RENDTORFF, Zur Säkularisierungsproblematik, über die Weiterentwicklung der
Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: J. MATTHES, Religion und Gesellschaft, rde 279/280,1967, 208 ff.
16
Zur Definition von Säkularisierung vgl. aaO 212.
17
aaO 225.
12
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ist nicht Gegenüber der Gesellschaft, sondern sie ist Teil der Gesellschaft. Darum
kann von einer entchristlichten Gesellschaft — mit graduellen Unterschieden — nur
bedingt gesprochen werden. Als Institution kann die Kirche freilich weder das Gesamtphänomen des Religiösen (Luckmann) noch das Gesamtphänomen des
Christlichen (Rendtorff) fassen. Hinzuzufügen bleibt, daß Luckmanns Auffassung
vom Aufkommen neuer Sozialformen von Religion eher zuzustimmen ist als den
Thesen von Matthes und Rendtorff. Die Kultur technischer Rationalität bringt eine
solche Veränderung des Wertesystems, daß der Religion im traditionell christlichen
Sinne innerhalb des Komplexes der Weltanschauungsformen nur eine höchst begrenzte Bedeutung zukommt.
Die Überlegungen zur Grundlegung der Religionssoziologie können von der
Theologie nicht einfach nur zur Kenntnis genommen werden. Hier ist auch nach
der theologischen Standortbestimmung der Kirche in einer Gesellschaft gefragt, die
von einer Vielzahl differenzierter Gruppen und ihrem Interessenausgleich geprägt
ist. Die Theologie wird nicht umhin können, sich darüber Rechenschaft zu geben,
in welcher Weise sich das Christliche artikuliert, in welchen Formen subjektiven
Glaubens, in welchen Gestalten der Teilnahme an der christlichen Gemeinde18.
Daß Kirche nicht einfach identisch ist mit der Institution Kirche, ist ein Traditionsstück der lutherischen Theologie. Die Soziologie nötigt dazu, es neu zu durchdenken. Luckmann weist darauf hin, daß die Institution nur eine unter den Sozialformen der Religion ist19. Das Christentum hat gerade diese Form von den Anfängen an übernommen. Man wird dies nicht außer acht lassen können, genau so
wenig freilich den anderen Tatbestand, daß die christliche Gemeinde immer teilgehabt hat an den jeweiligen allgemeinen Sozialformen der Geschichte. Dies gilt
über die Sozialformen hinaus auch für die Sprach- und Denkformen. Damit stehen
wir an dem spezielleren Problem der Bedeutung der Soziologie für die kritische
Selbstprüfung der Theologie.
Die Soziologie hat in der Wissenssoziologie ein Spezialgebiet entwickelt, das sich
der Frage nach der Interdependenz der Wissensformen und der sozialen Gegebenheiten angenommen hat. Dieser Teilbereich der Soziologie reicht in seinen Anfängen bis auf die Idolenlehre von Francis Bacon zurück, hat aber bis heute eine nur
unbefriedigende empirische Durchdringung erfahren. BegrifFsanalytisch hat sich
das Interesse auf den Sachverhalt des Ideologischen konzentriert. Mit dem Begriff
der Ideologie verfügt die Wissenssoziologie über ein Instrument, dessen Anwendung auf die Theologie unter bestimmten Voraussetzungen möglich und notwendig
ist.
Sehen wir zunächst von der Frage des Wahrheitsgehaltes im wissenschaftlichen
Sinne ab, so ist die Ideologie eine Aussageform, in der sich die Situation einer
sozialen Gruppe spiegelt. Ideologien entsprechend diesem Bedeutungsgehalt sind
handlungsrelevant, sie zielen auf soziale und politische Aktion, sie sind bewußt
oder unbewußt angewandte Machtmittel in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Karl Marx hat dieses Phänomen als erster eingehender analysiert. Paretos
Soziologie brachte eine weitere Vertiefung, und Karl Mannheim hat in seiner Abhandlung »Ideologie und Utopie« die Analyse des Ideologiebegriffs in umfassender
Weise dargestellt. Bei Mannheim tritt neben den Begriff der vorwiegend politisch
18
TILLICHS
Begriff der »latenten Kirche« bietet einen Ansatz der hier notwendigen
Besinnung.
19
LUCKMANN, a a O 4 3 .
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relevanten Ideologie ein theoretischer Ideologiebegrifï. Die Auseinandersetzung
der Ideologien im politischen Raum dient ihm dazu, das Phänomen der Ideologie
im allgemeinen zu erfassen. Es geht ihm um die Entdeckung der Seinsgebundenheit
des Denkens 20 : Auch dort, wo es nicht unmittelbar um die soziale Auseinandersetzung geht, ist das Denken mit gesellschaftsbestimmt.
Von positivistischer Sicht aus hat Theodor Geiger in seiner Studie »Ideologie
und Wahrheit« die Problematik weitergeführt. Er versucht, einen Maßstab für die
Wahrheit des Denkens und damit für die Kennzeichnung der Ideologie zu gewinnen. Er findet ihn in der theoretischen oder Erkenntniswirklichkeit. Die Existentialwirklichkeit, d. h. die jeweils subjektive Erfahrung von Wirklichkeit lehnt er als
Maßstab ab 21 . Er bestimmt zusätzlich die Erkenntniswirklichkeit als das in Raum
und Zeit den Sinnen Gegebene. Wirklichkeit ist für ihn, operational definiert, alles,
worüber Aussagen gemacht werden können, die falsifiziert werden können 22 .
Geiger sieht eine Ideologie dann vorliegen, wenn es zur Objektivierung des NichtObjektiven, d. h. des im Sinne seiner Definition Nicht-Wirklichen kommt. Er sagt:
»Als ideologische sollen jene Aussagen bezeichnet werden, die ihrer sprachlichen
Form und dem in ihnen ausgedrückten Sinne nach sich als theoretische Sachaussagen geben, die aber a-theoretische, nicht der objektiven Erkenntniswirklichkeit
zugehörende Bestandteile enthalten.« 23 Ideologien sind ihrer Formalstruktur nach
theoretische Aussagen, beziehen sich aber materialiter auf Α-theoretisches und können damit nicht falsifiziert werden. Was nicht Wahrheit im positivistischen Sinne
ist, wird zur Ideologie. Die Folgerung im Blick auf die Theologie ergibt sich von
selbst. Das religiöse Gefühl ist nicht ideologisch, weil es sich nicht theoretisch aussagt, wohl aber die Theologie. Geiger formuliert: ». . . die dogmatische Theologie
allerdings ist Ideologie, und sonst nichts. Sie hat nicht den geringsten Wirklichkeitsgehalt. Ihre Aussagegegenstände selbst, und natürlich auch das, was über diese
Gegenstände ausgesagt wird, sind reine Hirngespinste.« 24
Die Auseinandersetzung mit Theodor Geiger ist natürlich auch eine Auseinandersetzung mit dem philosophischen Positivismus. Doch nicht nur dies. Gerade
die Anwendung seines Ideologiebegriffs auf die Theologie zeigt, daß schon von der
soziologischen Methodik her seine Thesen einer Überprüfung bedürfen, weil es
ihm mittels seiner Begriffe nicht gelingt, den diffizileren Tatbestand ideologischer
Inhalte innerhalb der Theologie zu fassen. Geiger verläßt weitgehend den Boden
der Soziologie und argumentiert nurmehr erkenntnistheoretisch. Wird der Ideologiebegriff auf die Theologie angewandt, muß es aber so geschehen, daß dabei die
soziologischen Wirkfaktoren des theologischen Denkens analysiert werden können.
Gehen wir zunächst von den Phänomenen aus: Eine Reihe von theologischen
Aussagen und Problemen zeigt, daß bestimmte theologische Sätze sich nur dann ergeben oder diskutiert werden, wenn entsprechende gesellschaftliche Konstellationen
sie ermöglichen oder nötig machen. Die Beibehaltung der Kindertaufe in der Re-
20
21
K. MANNHEIM, Ideologie und Utopie, 19523, 36.
TH. GEIGER, Ideologie und Wahrheit — Eine soziologische Kritik des Denkens, 1953,
46.
22
23
24
aaO 47.
aaO 66 — im Original kursiv.
aaO 75.
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formation erklärt sich kaum allein aus der Tauflehre Luthers25, sondern nicht zuletzt daraus, daß in der damaligen Sozialverfassung das Individuum den Gruppen
gegenüber eindeutig nachgeordnet war. Daß die Frage nach der Berechtigung der
Kindertaufe in den letzten Jahrzehnten sich neu gestellt hat, ist nicht zuletzt auf
den Umstand zurückzuführen, daß sich das Individuum aus den Gruppen emanzipiert hat und zudem religiöse Verhaltensweisen weitgehend privatisiert sind.
Ein zweiter Typ der Abhängigkeit theologischer Aussagen von den Gesellschaftsformen zeigt sich dort, wo soziologische Tatbestände als theologisch gültige Erkenntnisinhalte fixiert werden. Als Beispiel diene die Auseinandersetzung um die
Frau im geistlichen Amt. Die Bejahung der Pastorin orientiert sich an der neuen
Stellung der Frau in der Gesellschaftsordnung überhaupt und findet sich dann bestätigt durch den Bericht von den Jüngerinnen Jesu. Die Verneinung der Pastorin
orientiert sich am Patriarchalismus der vergangenen Sozialstruktur, der ungebrochen bis ins Altertum zurückreicht und sich darum selbstverständlich neutestamentlich belegen läßt. Auch das Leitbild des Pfarrers im ganzen ist für diese Problematik bezeichnend. Sah sich der Pfarrer bisher überwiegend als Hirte der Gemeinde, so sieht er sich heute nicht selten als theologischer Fachberater, der nicht
einmal mehr die Leitung der Gemeinde beansprucht26. Die Entwicklung des Sozialen von der hierarchisch geordneten Gemeinschaft zur hochdifferenzierten Leistungsgesellschaft fixiert sich als neues theologisches Amtsverständnis.
Der dritte Typ, der hier zur Sprache kommen soll, wird von solchen theologischen Aussagen gebildet, die bestehende gesellschaftliche Institutionen entweder
theologisch rechtfertigen oder aber sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen, indem theologisch bereits sanktionierte Institutionen als Maßstab dienen. Dabei
handelt es sich speziell um Inhalte der theologischen Sozialethik. Es ist in diesem
Zusammenhang nur an das im Luthertum sich außerordentlich zögernd entwikkelnde Verhältnis zur Demokratie zu erinnern oder an die verbreitete Skepsis gegenüber der Sozialform der anonymen städtischen Gesellschaft. Indem man theologisch den Vorrang der Primärgruppe zu begründen versucht, kommt es etwa zu
einem zähen Festhalten an der theologischen Bedeutung des Volksbegriffs. Aber
auch die andere Tendenz ist festzustellen, daß nämlich neu auftretende Strukturen
oder Entwicklungen unkritisch theologisch legitimiert werden.
Ein vierter Typ soziologisch bedingter theologischer Aussagen begegnet im besonderen in der kirchlichen Verkündigung, wenn Ereignisse der jeweiligen Gegenwart so gedeutet werden, daß ihr Geschichtssinn ermittelt wird, um dadurch die
Formulierung der ethischen Aufgabe möglich zu machen. Selbstverständlich spie-
25
Vgl. hierzu K. BARTH, KD IV/4, 1967, 194 fi. Auch wenn gegen Barths These, die
reformatorische Kindertauflehre sei »theologia ex eventu« (197), Bedenken zu Recht erhoben werden (vgl. J. BECKMANN, Ist die Taufe ein Sakrament?, in Ev Kom 1/1968,
330 ff.), sind hier wesentliche Momente gesehen.
28
Vgl. hierzu K. MEYER z u UPTRUP, Zur Transformation des Gottesdienstes. Im Blick
auf die Funktion des Pfarrers bei Tagungs- und Veranstaltungsgottesdiensten sagt Meyer
zu Uptrup: »Die Vorbereitung leistet hier nicht der Pfarrer allein, sondern eine Gruppe,
die aus ihrer Alltagserfahrung die Fragen stellt, Informationen beschafft und im Gespräch
verarbeitet, Der >Theologe< — eigentlich ist er ja nur bibelwissenschaftlicher Fachmann —
ist Helfer der >Laien<, die auf anderen Gebieten Fachleute sind. Er bringt biblische Erkenntnisse in das Gespräch der Gruppe, aus dem erst eine gegenwartsbezogene Theologie
erwachsen kann als Vorbereitung des Gottesdienstes.« in: G. SCHNATH (Hg.), Werkbuch
Gottesdienst, 1967, 45.
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gelt sich in der Predigt in noch weiterem Umfang als im theologischen Denken im
engeren Sinne die Partizipation des christlichen Glaubens am Sozialsystem und an
seinen Werten wider27. Je stärker die Kirche in das Sozialsystem integriert ist, desto
naheliegender ist die Annäherung von Aussagen der kirchlichen Verkündigung und
allgemeinen kulturellen Normen und Deutungen. Je geringer umgekehrt das Maß
der Integration der Kirche in das soziale System ist, desto stärker hebt sich die Verkündigung von der allgemeinen Daseinsdeutung ab, ohne dadurch dem zu entgehen, selbst von dieser negativen sozialen Ausgangslage abhängig zu sein. Die
apokalyptische Geschichtsmetaphysik ist oft nur die Umkehrung der unkritischen
theologischen Bejahung des Gegenwärtigen.
Diese geschilderten typischen Aussageformen zeigen, in welcher Richtung ein
auf die Theologie anwendbarer Ideologiebegriff formuliert werden muß. Greift
man dabei die vier wichtigsten Momente heraus, so läßt sich festhalten:
1. Theologische Ideologien liegen im weitesten Sinne dort vor, wo Offenbarungsinhalte, die wie alle geistigen Objektivationen ihre Ausgestaltung im Wirkbereich
bestimmter sozialer Systeme finden, uninterpretiert, unter Absehung ihres ursprünglichen Interdependenzraums, als gültig ausgesagt werden.
2. Theologische Ideologien liegen dort vor, wo nur in bestimmten sozialen Systemen gültige gesellschaftliche Institutionen als Fakten ausgesagt werden, die
jenseits des sozialen Wandels stehen und den Rang von Offenbarungsinhalten besitzen.
3. Theologische Ideologien liegen dort vor, wo Aussagen theologischer Systeme
der Sicherung oder Rückgewinnung gesellschaftlicher Interessen und Positionen
dienen, die sich im sozialen Wandel auflösen oder bereits überholt haben.
4. Theologische Ideologien liegen dort vor, wo die Predigt der Kirche historische
Situationen einer positiven oder negativen theologischen Sinndeutung unterzieht
und damit soziale Interessenlagen oder politische Werthaltungen im Geschichtshandeln Gottes begründet sieht.
Die Anwendung des Ideologiebegriffs auf die Theologie scheint die Gültigkeit
der theologischen Aussagen von vornherein zu relativieren und damit überhaupt
aufzulösen. Dies ist freilich dort nicht der Fall, wo Ideologie lediglich auf den sozialen Aspekt der Geschichtlichkeit der Theologie abhebt. Karl Mannheim weist
mit Recht darauf hin, daß es in einem solchen Zusammenhang nicht um Relativismus, sondern um Relationismus geht28. Die Aussage hat absolute Gültigkeit im Gesamtbereich jener Sinnelemente, die ihre Entstehung verursacht haben und auf die
sie ursprünglich bezogen ist.
Insofern der Ideologiebegriff darauf hinweist, daß das theologische Denken vom
sozialen Standort des Theologen oder der Kirche wesentlich mitbestimmt ist, weist
er zugleich auf die Notwendigkeit des Dialogs hin. Auch das theologisch Richtige
27
Vgl. W. PRESSEL, Die Kriegspredigt 1914—1918 in der Evangelischen Kirche Deutschlands, 1967, 75 ff. und bes. 159 S. — Auch bei E. SCHUBERT, Die evangelische Predigt im
Revolutionsjahr 1848, 1913, finden sich für diesen Sachverhalt Beispiele. Schubert stellt
fest: »Eine zusammenfassende Beurteilung der Predigten wird zuerst die Tatsache konstatieren müssen, daß sie die ganze Mannigfaltigkeit der Ideale und Irrtümer, der Wünsche und Befürchtungen dieses tollen und großen Jahres getreulich widerspiegeln.« (162)
Freilich wird das Problem der »Zeitpredigt« so einfach nicht zu lösen sein, wie Schubert
es tut, wenn er sagt: »Sowohl vom religiösen Standpunkt wie nach dem Urteil der Geschichte haben diejenigen Predigten von 1848 die ihnen gestellte Aufgabe am besten gelöst, die bedingungsweise für den Fortschritt eintreten.« (170)
28
MANNHEIM, a a O 7 7 .
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Karl-Fritz Daiber
ergibt sich nur im Dialog, weil nur in ihm die Aufhebung des Teilaspektes des Einzelnen oder der einzelnen Gruppe möglich ist. Die These Theodor Geigers, Ideologien würden Α-theoretisches theoretisieren, verdient im Blick auf die Struktur der
theologischen Aussage aufgenommen zu werden. Dies gilt im besonderen f ü r die
theologische Sozialethik. Obwohl etwa der neutestamentliche Brief als literarische
Form dem christlichen Denken angemessener zu sein scheint als die theologische
Abhandlung, können wir nicht einfach repristinieren. Aber wir könnten versuchen,
eine Form theologischer Aussage zu entwickeln, die ihre Geschichtlichkeit und damit auch ihre Gesellschaftsbedingtheit deutlich eingesteht und erkennen läßt.
Die Bedeutung des Ideologiebegriffs f ü r die Theologie liegt nicht zuletzt darin,
daß er die Bindung von Aussagen und Entscheidungen an überholte Sozialstrukturen erkennbar werden läßt, dadurch der Theologie ihr Verflochtensein mit der
eigenen Vergangenheit bewußt macht und sie befähigt, Aufgaben, die die Zukunft
stellt, gesellschaftsgestaltend und dynamisch anzugehen.
III.
Kirche und Theologie haben ihren festumrissenen Ort in der Gesellschaft. Sie sind
Faktoren des sozialen Lebens und gestalten dieses mit. Ob und wie die Kirche die
sich damit stellende Verantwortung wahrnimmt, ist eine Sache theologisch begründeter Entscheidung. Die Soziologie kann nur Möglichkeiten aufzeigen, wie
sich die Verantwortung der Kirche in der Gesellschaft realisieren kann.
Gehen wir wieder davon aus, daß kirchliches Handeln sich selbst als Dienst versteht, so ist bereits in diesem allgemeinen Selbstverständis die theologische Funktion der Kirche in der Gesellschaft angedeutet: Die Kirche will dienen. Soziologisch
gesehen, bedeutet dies eine Wertsetzung, eine Aussage auch über eine bestimmte
Werthierarchie. Wenn die christliche Gemeinde sich zu Jesus als dem Christus bekennt, hat sie wieder eine Wertsetzung vollzogen: sie hat ein bestimmtes Menschenbild als das f ü r sie allein gültige proklamiert. Der soziologische Begriff des
Wertes stellt lediglich ein bestimmtes gesellschaftliches Faktum fest, das Faktum
nämlich, daß soziale Gruppen Sachverhalte anerkennen, in denen sich Erfahrung
f ü r sie sinnvoll ordnet. Werte sind sozial anerkannte Versuche von partieller oder
totaler Sinndeutung. Sie sind nicht nur noetisch von Bedeutung, sondern auch
ethisch. Werten sind Normen zugeordnet, die das Handeln bestimmen. Indem die
Kirche durch ihre Verkündigung Werte setzt, legt sie zugleich Normen des Handelns fest. Diese Normen sind in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht allgemein
anerkannt, ihre Verbindlichkeit wird unterschiedlich ausgelegt, aber doch ist der
Beitrag der Kirche in der Fixierung des Normativen nicht zu übersehen. Dem Bereich der Werte und den sich daraus ergebenden Normen kommt in der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur deshalb gesteigerte Bedeutung zu, weil sich die Möglichkeiten des Handelns erweitert haben. Dies gilt insbesondere auch für den Raum
des Sozialen. Gesellschaftsordnungen waren über Jahrhunderte hinweg festgelegt.
Sie mußten sich allenfalls entwickeln. Heute müssen Gesellschaftsordnungen gestaltet werden, ü b e r das Gesellschaftliche hinaus hat dies f ü r alle Bereiche des
Lebens Gültigkeit. Georg Picht sagt: »Der Mensch ist . . . im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zum Produzenten seiner eigenen Zukunft geworden.« 29 Die sozialen Systeme haben freilich trotz dieser Möglichkeit die Ten29
G.
PICHT,
Prognose, Utopie, Planung, 1967, 7.
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Die Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche
357
denz, lediglich sich selbst zu reproduzieren30. Haben sie einmal zu einer relativen
Integration und Stabilität gefunden, so versuchen sie, diese aufrechtzuerhalten. Ungewollt leistet dazu auch die Soziologie ihren Beitrag. Die Analyse dessen, was
sozial geschieht, festigt die Aufrechterhaltung des Geschehenden. Die soziologische
Prognose darüber, was aller Wahrscheinlichkeit nach eintreten wird, führt geradezu die Verwirklichung der Prognose vollends herbei. Die Prophetie bewirkt ihre
eigene Erfüllung. Merton hat diesen Tatbestand etwa im Blick auf Wahlprognosen
festgestellt. Wesentlicher Faktor des sozialen Wandels ist fraglos heute der Fortschritt in Wissenschaft und Technik, doch auch dieser wirkt sich immer nur in begrenztem Umfang strukturverändernd aus, besonders infolge der Stabilität der
industriellen Produktions- und Wirtschaftsform.
Das in diesem Zusammenhang eigentlich relevante Problem stellt sich erst in der
Frage nach den soziologischen Bedingungen, die das wertsetzende Denken und
damit die Theologie erfüllen, um auf die Gestaltung der künftigen Gesellschaft
Einfluß nehmen zu können.
Beschränken wir uns auf die formale Seite des Problems, so läßt sich sagen:
Denkinhalte können dann gesellschaftsverändernd wirken und den Prozeß des
sozialen Wandels beeinflussen, wenn sie, auf das vorhandene soziale System bezogen, gesellschaftstranszendent sind, indem sie neue sozial zu verwirklichende
Werte setzen. Karl Mannheim nennt derartige Denkformen Utopien31. Er meint
mit diesem Begriff nicht absolute Utopien, die in einem so starken Spannungsverhältnis zur Gegenwart stehen, daß an eine Verwirklichung nicht gedacht werden
kann. Er gebraucht den Begriff der Utopie vielmehr für seinstranszendente Denkformen, die das gesellschaftsverändernde Handlungsziel von Gruppen so aussagen,
daß die Veränderung im Bereich des Erreichbaren liegt. In Übereinstimmung mit
Mannheim formuliert Georg Picht: »Ich bezeichne . . . als Utopie nicht das Traumbild einer unwirklichen Welt; Utopie soll vielmehr als der Entwurf von Bildern
jener Zustände verstanden werden, die durch zielbewußtes Handeln herbeigeführt
werden können. Ich nenne also Utopien jene Antizipationen der Zukunft, die jedem auf ein Ziel gerichteten Handeln vorausgehen.«32 Utopie in diesem Sinne
meint ein reales Handlungsziel für eine gesellschaftliche Aktion. Utopien dienen
der Verwirklichung von Werten, die Neuinterpretationen bestehender Wertordnungen oder auch neue Wertsysteme darstellen.
In einer Gesellschaft, in der die Verantwortung für die Zukunft so groß geworden ist wie in der heutigen, liegt in der Formulierung von realisierbaren Zielen
eine Aufgabe aller, die sich der Sozialkritik verpflichtet wissen. Die Soziologie als
wertfreie Wissenschaft kann hierzu keinen direkten Beitrag leisten, wohl aber die
Theologie. In der Entwicklung von Utopien mittlerer Reichweite — so sei einmal
der skizzierte Utopiebegriff umschrieben — liegt eine mögliche Aufgabe der christlichen Sozialethik. Ansätze in dieser Richtung liegen vor: Man hat beispielsweise
erkannt, daß die Verwirklichung des politischen Weltfriedens keineswegs eine
Utopie im absoluten Sinne ist, sondern ein wenn auch nur mühsam realisierbares
Handlungsziel33.
30
Vgl. zu dieser Thematik H. MARCUSE, über das Ideologienproblem in der hochentwickelten Industriegesellschaft, in: K . LENK (Hg.), Ideologie — Ideologiekritik und
Wissenssoziologie, Soziologische Texte 4, 1961, 382 ff.
31
32
33
MANNHEIM, a a O 3 6 .
PICHT, a a O 14.
Vgl. aaO 41 ff.
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Karl-Fritz Daiber
358
Die Probleme, die sich bei der Formulierung von Utopien stellen, kann allerdings
die Theologie immer nur in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften lösen;
denn es geht ja nicht um die Darstellung von irrealen Wunschbildern, sondern um
die Formulierung von Zielen, die selbst den Pragmatiker gewinnen, weil sie einen
hinreichenden Realitätsgehalt haben. Auch christliche Utopie ist um so aussagekräftiger, je sachbezogener sie ist. Ihr Argument ist nicht in erster Linie das der
theologischen Wahrheit, sondern es entwickelt sich aus dem jeweiligen Sachzusammenhang. Die Theologie gibt den Impuls und setzt einen Zielbereich. Die Konkretisierung muß sich ausschließlich aus der Sache ergeben. Eine derartige Argumentationsweise ist gerade vom gängigen Wert- und Denksystem der technischen
Kultur gefordert. Wo gesellschaftliche Verwirklichung intendiert und damit Autorität beansprucht wird, ist dies nicht von theologischen Setzungen aus möglich,
sondern nur durch die Überzeugungskraft rationaler Sachlichkeit.
Diese Sachlichkeit verwirklicht sich am besten innerhalb eines begrenzten Bezugsrahmens, der die Untersuchung des Details gestattet und den Übergang in die
Planung erschließt.
Der Zusammenhang von Utopie und Planung ist in der Planungstheorie als
grundlegend anerkannt. Joseph H. Kaiser kann formulieren: »Jede Utopie ist die
Enthüllung eines Plankonzepts.« »Der Plan ist die Verortung der Utopie.«34 Kaiser
geht von einem Begriff der Utopie aus, der in dieser wesentlich nur den Willen zur
Änderung der Wirklichkeit wahrnimmt, ohne daß dabei schon näher auf die Umsetzung des Ziels in die Realität reflektiert wird. Eine präzisere Verhältnisbestimmung von Utopie und Planung findet sich bei Georg Picht. Er verschärft den streng
realitätsbezogenen Utopiebegriff, indem er die Bildung der Utopie von dem erst in
der Prognose ermittelten Spielraum der Möglichkeiten abhängig macht, und ordnet
ihm dann die Planung so zu, daß diese die Schritte des Realisierungsweges bestimmt. Picht sagt: »Die Intention der Planung ist. . . die Ausarbeitung der Direktiven für die Realisierung der Utopie. Ihre Methode ist deshalb analytisch. Sie zerlegt die Gesamtheit des zur Realisierung der Utopie zu durchmessenden Weges in
seine Etappen und gewinnt aus der Analyse jeder Etappe die vollständige und
diskrete Übersicht über die Vielzahl der zu ihrer Erreichung erforderlichen
Schritte.«35
Die Theologie hat einen unmittelbaren Zugang zur Utopie, weil zumindest dort,
wo die Tradition der Apokalyptik lebendig ist, sich die eschatologische Aussage des
Bildes einer sozialen Utopie im absoluten Sinne bedient. Planung dagegen ist für
die Theologie ein fremdes Phänomen, weil die rationale Gestaltung der Zukunft
der christlichen Hoffnung zu widersprechen scheint. Die Hoffnung wartet auf den
Anbruch des Reiches Gottes. Planung erscheint von daher als illegitime, dem Glauben entgegenlaufende Bemächtigung der Zukunft. Wer diesen Standpunkt einnimmt, übersieht, daß dort, wo die Zukunft der Gestaltung offensteht, ein Verzicht
auf Planung lediglich eine andere Form der Zukunftsgestaltung ist, Planung gewissermaßen in Ad-hoc-Entscheidungen3e. Verzichtet man auf Planung, wo die
Möglichkeit dazu besteht, so begnügt man sich mit dem Gegebenen und bremst
34
J. H . KAISER, Exposé einer pragmatischen Theorie der Planung, in: J. H . Kaiser
(Hg.), Planung I —Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, 1965,15.
35
38
PICHT, a a O 1 6 .
Vgl. hierzu auch W. Z A P F S Besprechung von R. Boguslaw, The New »Utopians«, in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialtheologie, 19/1967, 743 ff. bes. 745.
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Die Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche
359
auch den sozialen Wandel, die Anpassung der gesellschaftlichen Institutionen an
die Veränderung von Bewußtseinslage und Technik. Eine theologische Reflexion
der Planung wird diesen Gesichtspunkt mitzubedenken haben.
Noch ein weiteres Phänomen erschwert der Theologie und ebenso der Kirche als
sozialer Handlungseinheit ein angemessenes Verständnis der Planung. Planung ist
durch und durch rational orientiert. Sie analysiert die Faktoren, welche die Verwirklichung einer Konzeption bestimmen, sie behindern oder fördern. Planung
setzt für den sozialen Sektor voraus, daß die gesellschaftlichen Gruppierungen
rational steuerbar, d. h. organisierbar sind. Die Theologie verwendet häufig andere
Leitbilder des Sozialen, die dem Prinzip der Organisation als entgegengesetzt empfunden werden. Der Planung wird das Wachstum gegenübergestellt, Soziales soll
wie Lebendiges wachsen. Nicht die gut organisierte Gemeinde ist Zielvorstellung,
sondern die lebendige Gemeinde. Es ist nicht zu übersehen, daß hier auf auch soziologisch faßbare Unterschiede hingewiesen wird. Zu fragen ist nur, ob die damit
häufig verbundene Abwertung des Rational-Organisierbaren und damit des Planbaren theologisch legitim ist. Daß die Planung auch ihre Gefahren und ihre Grenzen hat, darin werden Soziologie und Theologie übereinstimmen. Wo etwa das
planerische Konzept dazu führt, die Personalität des Einzelnen zu ignorieren und
ihm eine festgelegte soziale Rolle so aufzuzwingen, daß seine Freiheit aufgehoben
ist, entbehrt der Plan nicht nur seiner ethischen Berechtigung, sondern auch seiner
soziologischen. Die dem Plan zugrundeliegende Utopie ist zur Ideologie geworden,
die sozialen Gegebenheiten werden gewaltsam bestimmten Denkinhalten angepaßt. Die Grenzen der Planung liegen in der Freiheit des Individuums. Eine soziologisch fundierte Planung muß diese Freiheit einkalkulieren; denn wissenschaftliches Denken ist auch dort, wo es um zukünftige Möglichkeiten geht, primär am
empirischen Tatbestand und der Ausnützung der in ihm tatsächlich angelegten
Tendenzen orientiert. Die Freiheit, d. h. soziologisch die personspezifische Wahrnehmung von Rollen, ist ein empirischer Tatbestand. Mit ihm haben wir um so
mehr zu rechnen, je stärker zum Rollenbild selbst die Wahrnehmung von Initiative
und Verantwortung gehört. Statistische Wahrscheinlichkeit ist nur eine Seite soziologischer Empirie.
Grenzen und Gefahren der Planung heben ihre Notwendigkeit nicht auf. Dies gilt
auch für den Bereich der Kirche37. Sie kann ohne sachgerechte Planung nicht auskommen. Zu solcher Planung gehört die Durchführung von Modellvorhaben, in
denen die Bildung neuer Strukturen kontrolliert vorweggenommen wird. Soziale
Modelle erlauben die Verbindung des Appells an die personale Initiative mit der
Möglichkeit wissenschaftlicher Überprüfung und Auswertung. Durch Modelle neuer
Gemeindeorganisation, neuer Organisation pfarramtlichen Dienstes und neuer
kirchlicher Berufsbilder gelangt das Problem der Kirchenreform über den Bereich
programmatischer Thetik hinaus und wird zu einer Aufgabe pragmatischer Planung. Modelle haben ihre Bedeutung nicht darin, daß sie einmalige Phänomene
sind, sondern darin, daß sie unter veränderten Bedingungen in sinnparalleler Weise
sich durchführen lassen. Das Modell ist vorgeprägte Form. Kirchliche Modelle
können sich durchaus über den Raum der Kirche hinaus auf die Entwicklung ge-
37
Vgl. hierzu den auch in anderer Hinsicht bemerkenswerten Aufsatz von H. D. DE
Soziologie und Theologie, in ZEE 11/1967,159 ff., etwa 165.
LOOR,
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360
Karl-Fritz Daiber
sellschaftlicher Strukturen auswirken. Die Kirchenreform ist so ein Stück Gesellschaftsreform. Planung für die Kirche ist Planung für die Gesellschaft 38 .
Das in diesem Zusammenhang Gemeinte läßt sich an der Problematik der
parochialen Struktur der Kirche besonders deutlich konkretisieren. Seit Jahren
werden die Schwierigkeiten erkannt, die die nahezu autonome Parochie für den
Dienst der Kirche bedeutet. Siegfried Vierzig urteilt: »Wohl niemand kann heute
mehr behaupten, daß eine strenge Durchführung des parochialen Systems für die
Verkündigung zweckmäßig ist.« Er fügt hinzu: »Die Parochie kann nicht mehr der
autonome Bezirk sein, der allen vielfältigen Ansprüchen gerecht zu werden vermag.
Größere Einheiten sind hier erforderlich — nicht unbedingt im Sinne einer Aufteilung in gemeindliche und übergemeindliche Arbeit, sondern vielmehr ein Zusammenschluß von mehreren Parochien, in denen die Aufgaben arbeitsteilig geplant werden.« 39
Im Blick darauf, daß die starke Berufsmobilität die Bedeutung der Ortsgemeinden gemindert hat und die »Raumschaft« als soziale Lebenseinheit zur Ausbildung
kam, stellt Hans Stroh die These auf, »daß grundsätzlich in der Raumschaft neben
dem Dienst in der Einzelgemeinde ein Hirtendienst an den Zentren des werktätigen
und kreispolitischen Lebens eingerichtet werden sollte, der in eben dieser Raumschaft nicht nur entfaltet werden, sondern auch mit der Verkündigung in der
Parochie verknüpft werden müßte.« Stroh folgert: »Für diese Gliederung und Verflechtung, für die Planung, Kontrolle und Verantwortung kommt als Träger nur
der Kirchenbezirk (anderwärts Kirchenkreis genannt) in Betracht.« 40 Stroh fußt
mit diesen Thesen auf Äußerungen von Eberhard Müller, die dieser schon 1957
bzw. 1959 niedergelegt hat.
Völlig entsprechend stellt auch Johannes Doehring die Ergänzungsbedürftigkeit
der Parochialstruktur in den Mittelpunkt der anstehenden Strukturwandlung der
Kirche und sagt: »Unter diesem Aspekt werden die ersten Überlegungen zu einem
Strukturwandel der evangelischen Kirche sich auf eine Neugestaltung der Kirchenkreise konzentrieren müssen.«41
In all diesen Beobachtungen und Forderungen deutet sich das Bild einer neuen
kirchlichen Organisation an, eine Utopie gewissermaßen, die ein mögliches Planungsziel markiert. Die Verwirklichung dieses Planungsziels müßte nun in folgenden Schritten vollzogen werden:
1. Die Utopie »Funktionseinheit Kirchenbezirk« wird zu einem konkreten kybernetischen Modell der Arbeit im Kirchenbezirk weiterentwickelt, innerhalb dessen
nicht nur die optimale Größe von Kirchenbezirken festgestellt werden muß, sondern auch die Neustrukturierung des Pfarramtes in funktionaler Differenzierung,
der Einsatz der »Laien« in der kirchlichen Arbeit, sei es als hauptamtlich eingesetzte Nichttheologen oder als ehrenamtlich bzw. nebenamtlich mitarbeitende
Gemeindeglieder, und schließlich die Prüfung der sich hieraus ergebenden Folgerungen für die Ausbildung der Pfarrer im Entwurf zu erarbeiten ist.
38 Zum Gesamtphänomen der Planung vgl. H . LÜBBE U. a., Modelle der Gesellschaft von
morgen, 1966.
39 S. VIERZIG, Verkündigung und Gemeindeaufbau, in: J . MOLTMANN, W. JETTER, S.
VIERZIG, Gemeinde aus dem Wort? 1955,461.
4 0 H . STROH, Gemeinde in der Raumschaft, in: E . MÜLLER und H . STROH (Hg.), Seelsorge in der modernen Gesellschaft, 19642,241.
4 1 J . DOEHRING, Anfänge kirchlicher Neuordnung, in: Kirche und Raumordnung, 1 9 6 6 ,
110.
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Die Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche
361
2. Für die Erprobung der entworfenen Modelle werden unter verschiedenen Gesichtspunkten typische Gebiete ausgewählt.
3. In den ausgewählten Gebieten werden die entwickelten Vorstellungen im soziologischen Experiment erprobt. Dies bedeutet, daß die Ausgangslage der Modellgebiete und der nach Ablauf des Experiments erreichte Zustand einer soziologischen
Analyse unterzogen werden. Ebenso wird der Ablauf des Experiments einer fortwährenden Kontrolle unterworfen. Organisationssoziologische, kirchensoziologische und die soziologische Gesamtentwicklung des Modellgebiets beachtende Gesichtspunkte müssen hier zur Geltung kommen.
4. Die gewonnenen Erfahrungen werden in neuen kirchlichen Ordnungen institutionalisiert.
Wir haben an einer Reihe von Teilproblemen die Bedeutung der Soziologie für
Theologie und Kirche aufzuzeigen versucht. Es sollte deutlich geworden sein, daß
die Soziologie für die Theologie nicht einfach Hilfswissenschaft ist, deren Ergebnisse man eklektisch je nach Bedarf übernehmen und deuten kann. Es sollte ebenso
deutlich geworden sein, daß Theologie und Kirche nicht lediglich Erkenntnisobjekte der Soziologie sind. Läßt sich die Theologie auf die Soziologie ein, so bedingt dies eine Modifikation auch der theologischen Fragestellung. Der soziologische Begriff der Rolle oder der Sozialisation zwingt die Theologie zum überdenken ihrer Anthropologie. Die soziologische Analyse des Ortes der Kirche in der
Gesellschaft fordert theologische Neuinterpretation des Verhältnisses von Kirche
und Gesellschaft. Läßt sich umgekehrt die Soziologie auf die Theologie ein, dann
bedingt dies eine Modifikation ihrer eigenen Fragestellung: Im Gegenüber zum
theologischen Personbegriff erkennt die Soziologie die Grenze ihres Aspektes.
Wendet sie den Begriff der Ideologie auf die Theologie an, sieht sie sich zur Ergänzung ihrer Begriffsdefinition gezwungen. Soziologie und Theologie treffen als
Partner aufeinander.
Innerhalb der Theologie stellt sich die Frage, von welcher Basis aus der Soziologie begegnet werden soll. Auf der einen Seite fordert man den Entwurf einer
Theologie der Gesellschaft (H. D. Wendland) 42 . Auf der anderen Seite will man
sich mit einer theologischen Sozialethik (H. E. Tödt) 43 begnügen. Droht eine
Theologie der Gesellschaft einfach zu einer theologischen Überhöhung soziologischer Hypothesen über die gegenwärtige Kultur als soziales Gesamtsystem zu
werden, so ist die theologische Sozialethik in der Gefahr, unter Ausklammerung
der strukturellen Probleme lediglich partielle Situationen des Sozialverhaltens zu
reflektieren.
Die Aufgabenstellung einer möglichen Sozialtheologie sollte keinesfalls in erster
Linie von Erwägungen der Prinzipienlehre ausgehen, sondern von dem vorfindlichen Problemfeld. Die Sozialtheologie muß von ihrer Funktion her definiert
werden, d. h. von ihrer Aufgabe her, theologische Probleme zu soziologischen und
soziologische Fragen zu theologischen zu machen. Der Sozialtheologie stellen sich
42
43
Vgl. H. D. WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 1956,27 ff.
H. E. TÖDT, Theologie der Gesellschaft oder theologische Sozialethik? in ZEE 5/1961,
211 ff.
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362
Karl-Fritz Daiber
exegetische und kirchengeschichtliche Probleme, systematische und praktisch-theologische Fragenkomplexe44.
Daß die Ethik der Sozialtheologie besonders zugeordnet ist, versteht sich von
selbst. Gerade im Bereich der Ethik kann deutlich werden, daß der Verzicht auf
eine Theologie der Gesellschaft keineswegs auf einen Minimalismus im Sinne
Tödts festgelegt ist, der es der Gemeinde versagt, »eigene Werte zu produzieren
und sie der Gesellschaft anzubieten«. Die christliche Theologie verfügt gewiß nicht
über eine sozialethische »Sondererkenntnis«45, wohl aber über eine Position innerhalb der Gesellschaft, die einen Standpunkt zu den Problemen der Gesellschaft
einschließt. In der Fixierung geschichtlich bedingter, aber theologisch reflektierter
Standpunkte vollzieht sich Wertsetzung, durch welche die christliche Gemeinde
gesellschaftsgestaltend wirkt. Von daher ist auch die Entwicklung realitätsbezogener Utopien bei der Dynamik des Gesellschaftlichen heute eine zwangsläufige
Forderung an die Sozialtheologie.
Erhebliche Bedeutung gewinnt natürlich die Sozialtheologie auch für die Praktische Theologie, insoweit diese ihre Aufgabe in der kritischen Überprüfung des
gesamten Redens und Handelns in der Kirche sieht. Die angeschnittenen Probleme
der Kirchenreform, nämlich die Organisation der Kirche, die Ämter der Kirche, die
Berufsrolle und das Berufsbild des Pfarrers, das Verhältnis von Theologen und
Nichttheologen, die Ausbildung zu kirchlichen Diensten, das Verhältnis zwischen
der Kirche und den übrigen Sozialgebilden und der Ort der Kirche im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang sind Fragen, denen sich die Praktische Theologie
gegenübersieht. Es sind zugleich Probleme, die eine wesentliche soziologische Dimension aufweisen. Die sozialtheologische Fragestellung erweist sich von daher
nicht zuletzt für die kirchliche Planung und damit für das voraus entwerfende
praktisch-theologische Denken als geboten.
Die Notwendigkeit einer umfassenden Sozialtheologie ergibt sich aus der Vielfalt der sich ihr stellenden Probleme46. Grundlegende Aufgabe der Sozialtheologie
ist der kritische Dialog mit der Soziologie. Dabei wird im theoretischen Bereich die
Auseinandersetzung ausschließlich mit den Mitteln der Soziologie erfolgen müssen.
Wo dagegen die Begründung theologischer Urteile zur Frage steht, kann die soziologische Analyse nur der als solcher allerdings notwendige Ausgangspunkt einer
Entscheidung sein, die das vernünftig Richtige in der alleinigen Verantwortung des
Glaubens vertritt.
44
Von dieser Aufgabenstellung her ist durchaus zu prüfen, ob nicht sachgemäß hier an
Stelle von Sozialtheologie von »soziologischer Theologie« zu sprechen ist, wobei das Adjektiv den Nachdruck auf die Beschreibung der primär angewandten Methode legt. HansDieter BASTIANS in der Antwort an Erich Gräßer vorgebrachten Erwägungen (EvKom 2/
1969, 79 f.) sollten weitergeführt werden, insbesondere auch im Blick darauf, daß die
Praktische Theologie als integrationswissenschaftliche Disziplin der Theologie verstanden
werden kann.
45
TÖDT, a a O 2 4 1 .
46
Vgl. hierzu insgesamt das Studienmaterial der Weltkonferenz »Kirche und Gesellschaft« in dem vom ökumenischen Rat der Kirchen herausgegebenen Band, Die Kirche als
Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, 1966.
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