SEuL 21 (48549) / p. 1 /20.12.12 Stephan Grätzel / Frédéric Seyler (Hg.) Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger VERLAG KARL ALBER A SEuL 21 (48549) / p. 2 /20.12.12 Nach etlichen Publikationen zu Husserl und Henry geht es in diesem Band darum, eine systematische Erforschung der Bezüge zwischen Henrys radikaler Phänomenologie des Lebens und dem Denken Martin Heideggers auf den Weg zu bringen. Untersuchungen zu den zentralen Begriffen »Sein«, »Existenz«, »Leben« sowie zur Sprache und zur Kunst nehmen das Gesamtwerk beider Autoren in den Blick. Nicht zuletzt geht es in diesem Rahmen auch um die Aktualität der Phänomenologie bzw. Ontologie als philosophische Orientierung im Leben und in der Existenz. Die Herausgeber: Stephan Grätzel, Professor für Praktische Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Frédéric Seyler, Professor für Philosophie an der DePaul University Chicago SEuL 21 (48549) / p. 3 /20.12.12 Seele, Existenz und Leben Band 21: Stephan Grätzel / Frédéric Seyler (Hg.) Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger Verlag Karl Alber Freiburg / München SEuL 21 (48549) / p. 4 /20.12.12 Seele, Existenz und Leben Herausgegeben von Günter Funke und Rolf Kühn in Zusammenarbeit mit dem Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin (www.guenterfunkeberlin.de) sowie dem Forschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br. (www.lebensphaenomenologie.de) Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48549-1 SEuL 21 (48549) / p. 5 /20.12.12 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. 7 Grundfragen der Phänomenologie und der Ontologie: Die lebensphänomenologische Kritik an Heidegger Michel Henry (†) Die Krise der Phänomenalität bei Heidegger. Die ontologische Dürftigkeit des Erscheinens der Welt . . . . . . 17 Francesco Paolo DeSanctis Die Problematik des Grundes: Der nichtige Abstand zwischen Henry und Heidegger . . . . . . 27 Roberto Formisano Die Frage der Transzendenz bei Michel Henry und die Voraussetzungen der Kritik an der Philosophie Heideggers in »L’Essence de la manifestation« . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Philosophiegeschichtliche Perspektiven Julia Scheidegger Kant–Heidegger–Henry: Geschichte einer Ontologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Claudia Serban Michel Henry und der frühe Heidegger als Lebensphänomenologen 107 5 SEuL 21 (48549) / p. 6 /20.12.12 Inhalt III. Die Sprachproblematik im Vergleich Rolf Kühn Sprache des »Seyns« bei Heidegger – und ihre lebensphänomenologische Revision . . . . . . . . . . . 131 Niall Keane Appearing and Speaking in Heidegger and Henry . . . . . . . . . 167 Masaya Kawase Sein und Sprache bei Heidegger und Michel Henry . . . . . . . . 191 IV. Ausblick Frédéric Seyler Sorge und immanente Affektivität: Eine praktische Synthesis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoren 6 221 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 SEuL 21 (48549) / p. 7 /20.12.12 Einleitung SEuL 21 (48549) / p. 8 /20.12.12 SEuL 21 (48549) / p. 9 /20.12.12 Einleitung Als Husserl vor hundert Jahren, 1913, seine »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« publizierte, wurde nicht nur ein neuer Höhepunkt in der kritischen Philosophie erreicht, es wurde auch ein Werk geschaffen, das zur Grundlage der weiteren phänomenologischen Forschungen werden sollte. Die revolutionäre Neuerung dieses Werkes lag und liegt in der Kritik des naturalistischen Weltbildes und seiner Differenz zur »natürlichen Einstellung«. Während die natürliche Einstellung nur den Seinsglauben des nicht phänomenologisch hinterfragenden Verstandes ausmacht, ist das naturalistische Weltbild und der Naturalismus überhaupt die dogmatische Verkehrung dieser nichtwissenschaftlichen Einstellung in eine wissenschaftliche. In Husserls letzter Schrift »Die Krisis der Europäischen Wissenschaften« wurde diese Kritik durch die Herausstellung der Lebenswelt und ihrer schon bestehenden und wachsenden Bedrohung durch das naturalistische Weltbild noch wesentlich erweitert und verschärft. In einer der Keimzellen der Krisis-Schrift, dem Vortrag in Prag von 1935, spricht Husserl von der Barbarei und versteht darunter die mögliche und auch schon wirkliche Geistfeindschaft des Naturalismus und seine Folgen. Sie liegen demnach im »Untergang Europas« in »Geistfeindschaft und Barbarei« oder in der »Wiedergeburt Europas« aus dem Geist einer Philosophie heraus, die den Naturalismus zu überwinden in der Lage ist (Hua VI/347 f.). Husserls Text lässt auch die Auslegung zu, dass der Naturalismus auch das vorherrschende Anzeichen einer Ermüdungserscheinung ist, die Europa in dieser Zeit im weiten Maße ergriffen hatte. Diese Worte sind 1935 gesprochen, in einer Zeit also, in der der Rassismus als eine der primitiven Ausformungen des Naturalismus schon weite Teile Europas ergriffen hatte. Insbesondere war der Antisemitismus in den europäischen Ländern zu einer Macht herangewachsen, welche dem Heroismus der Vernunft, den Husserl hier noch beschwört, schon nicht mehr gewachsen war. Nur wenige Jahre später, 1938, wird Heidegger mit seinem Vortrag »Die Zeit des Weltbildes« die von Husserl begonnene Analyse der Krise und Bedrohung weiterführen. Dabei sind es vor allem seine Ausführungen zur »Frage der Technik«, in denen Heidegger hier und in seinen Vorträgen von 1950 und 1953 den Zusammenhang zwischen einem positivistischen Wissenschaftsverständnis und der technischen Umsetzung herausstellt. Zwar ist dieser Bezug zur Technik schon von Husserl gesehen worden (Hua VI/48), Heidegger hat ihm aber mit dem Begriff der »Machenschaften« eine geradezu ideologische Qualität gegeben. 9 SEuL 21 (48549) / p. 10 /20.12.12 Einleitung Vor allem wird erst mit Heidegger deutlich, dass mit der technischen Umsetzung die »galileische« Naturkonzeption als bloße »Bewährung von wissenschaftlichen Hypothesen« (Husserl) abgelöst wurde durch die Phase des »Ge-stells« (Heidegger), durch das die Lebenswelt ihre eigene Realität verloren hat und in die berechnete, hypothetische Welt hinein gestellt ist. Damit haben sich die Realitäten vertauscht: die lebensweltliche Realität ist zu einem Epiphänomen der mathematischen und hypothetischen Welt geworden, die Berechnung ist dem Erleben übergeordnet und vorangestellt. Die wissenschaftliche Realität ist also zur vorherrschenden Realität geworden. Damit verbunden war eine Abwertung aller lebensweltlichen Erfahrung, aber auch aller lebensweltlichen Wissenschaften. Auch Michel Henry widmet sich dem Kampf gegen die Abwertung des Lebens sowie seiner Ausdrucksform und Phänomenalität und gibt damit das gemeinsame Anliegen einer kritischen Phänomenologie zu erkennen. In seiner populär gewordenen Schrift »La barbarie« greift er auf Husserls Verständnis der »Barbarei« zurück und macht ihn zum Fanal des wissenschaftlichen Rückfalls in ein vorkritisches und vorphänomenologisches Denken, in dem die Fraglosigkeit eines positivistischen Wissens weiter an Herrschaft gewonnen hat. Über Husserl und Heidegger hinausgehend ist es ihm dabei ein besonderes Anliegen, auf die Sprache des Lebens selbst einzugehen und ihre Eigenständigkeit herauszustellen. Die Antwort auf die Frage, warum diese frühen Analysen und Warnungen eines bedeutenden Philosophen wie Husserl zu den Folgen des naturalistischen Weltbildes keinen unmittelbaren Effekt hatten und auch heute gewissermaßen ungehört verhallen, liegt nicht nur in dem ungebremsten Erfolg des wissenschaftlichen Denkens und seiner technischen Aufrüstung, es liegt auch in der Reife der Argumente für eine Erfassung und philosophischen Durchdringung der Lebenswelt: Für Husserl hatte sich das Phänomen erst einmal gezeigt, es war durch die wissenschaftliche Praxis und politische Umsetzung überhaupt erst Thema geworden. Heidegger erkennt diese Leistung an, sieht aber die konzeptionellen Schwächen von Husserls Ansatz. In den einleitenden Paragraphen von »Sein und Zeit« zum ontischen und ontologischen »Vorgang der Seinfrage« schreibt Heidegger gewissermaßen kritisch auf Husserl hin: »Ontologisches Fragen ist zwar gegenüber dem ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ursprünglicher. Es bleibt aber selbst naiv und undurchsichtig, wenn seine Nachforschungen nach dem Sein des Seienden den Sinn von Sein überhaupt unerörtert lassen.« 10 SEuL 21 (48549) / p. 11 /20.12.12 Einleitung (GA 2, 15) Solange der Sinn von Sein – dass es dem Dasein »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (GA 2, 16) – nicht erörtert wird, verbleibt auch die kritisch eingestellte Phänomenologie noch im Banne des naiven Seinsverständnisses. Um diesen Bann zu lösen, muss sich das denkende Ich seines sprachlich verorteten Verstehens bewusst werden und erkennen, dass auch die Intuition des cogito von der Sprache gewährt wird. Sein als Sein des Daseins ist ein Verstehen von Sein, das aus der Sprache und ihrem »besorgenden« Umgang hervorgeht. Heidegger erkennt in den Denkakten die Intentionalität der Sorge, man könnte sogar sagen, die Intentionalität als Sorge. Sorge ist aber keine eidetisch gegebene Sinneinheit, sie gestaltet sich erst im Umgang des sich verstehenden Menschen mit der Welt, den Anderen und nicht zuletzt mit sich selbst. Die Sprache hat für Heidegger die grundlegende Funktion der Sinnbildung. Dies hat er nicht erst in seinen späteren einschlägigen Arbeiten zur Sprache herausgestellt, sondern bereits in seiner Existential-Analyse von »Sein und Zeit«. Im § 34 von »Sein und Zeit« wird die Sprache als Rede erkannt und damit aus dem zwischenmenschlichen und weltlichen Umgang heraus bestimmt. Heidegger nähert sich hier dem Sprachverständnis von Wilhelm von Humboldt, aber auch dem seiner Zeitgenossen Buber und Rosenzweig an, allerdings ohne deren Weg eines dialogischen Denkens einzuschlagen. Rede wird dort aber immerhin als »Existential« verstanden und die gesprochene Sprache über Schrift und Zeichen gestellt. Dies ist insofern bemerkenswert und vielleicht auch etwas inkonsequent, als Heidegger zuvor dem Zeichen und seinem Bewandtniszusammenhang eine vorrangige Position bei der Entschlüsselung der Alltäglichkeit und ihrer Dinge gegeben hatte. So kommt es, dass diese Paragraphen in »Sein und Zeit« zur Sprache (auch §§ 33 und 35 gehören hierzu) wie Fremdkörper wirken. Auch die geforderte »Aufgabe einer Befreiung der Grammatik von der Logik« und die »Umlegung der Sprachwissenschaft auf ontologisch ursprünglichere Fundamente« (GA 2/220) wird weder in »Sein und Zeit« noch in den späteren Schriften Heideggers zur Sprache weiter ausgeführt. Die Vorlesungen und Vorträge zu Hölderlin befassen sich mit der Mythologie und sind damit weit von der alltäglichen, zwischenmenschlichen Rede entfernt. Werfen wir nun einen Blick auf die letzten Schriften von Michel Henry, so erkennen wir hier die bei Heidegger nur Projekt gebliebene Weiterführung und Vertiefung einer Philosophie der Sprache. Dies zeigt sich schon in dem Verständnis von Sprache als Rede. In »Paroles 11 SEuL 21 (48549) / p. 12 /20.12.12 Einleitung du Christ« versteht Henry das radikalphänomenologisch verstandene Leben als »Wort« (P 102). Dabei wird gegenüber den früheren Ausführungen eine weitere Einsicht in die Ipseität des Lebens gegeben: Das Leben ist in sich selbst verschlungen, weil das Wort sich selbst in diesem Sich erprobt und weil es dieses Sich unaufhörlich selbst zeugt. Henrys lebenslange phänomenologische Analyse ist hier beim Wort und der Sprache angekommen. Die biologische Betrachtung erkennt zwar den schöpferischen Zusammenhang des Lebens, die »Ipseität des Lebens« aber bleibt ihr fremd. Sie kann deshalb nur eine äußerliche Betrachtung bleiben. Den Grund dafür zeigt Henry erst in seinen letzten Schriften, weil das Leben Wort ist und das Wort Leben zeugt. Mit Henry wird deutlich, dass Husserls ursprüngliche Kritik am naturalistischen Denken erst auf einer festen Grundlage steht, wenn die Sprache in die Phänomenologie Einzug gehalten hat. Die Erweiterung der Phänomenologie um die Hermeneutik und Sprachphilosophie, wie Heidegger sie eingeleitet hat, ist damit das Mittel der schon von Husserl erkannten Barbarei und Geistfeindschaft Einhalt zu gebieten. Henry wird auf diesem Weg den entscheidenden Schritt in seiner Spätphilosophie gehen. Die Verbindung von Heidegger zu Henry gehört also zu den interessantesten und wichtigsten Kapiteln der Philosophie des 20. Jahrhunderts, weil in ihnen der »Heroismus der Vernunft« gegen Naturalismus, Geistfeindschaft und Inhumanität und gegen alles, was politisch im Schlepptau dieses Denkens hängt, eine philosophische Grundlage bekommen hat. Diese Gemeinsamkeit soll aber keineswegs über die zum Teil scharfen Gegensätze zwischen Michel Henry und Martin Heidegger hinwegtäuschen. Ja, es spricht einiges für die These, der zufolge Henry seine Lebensphänomenologie nicht zuletzt auch in Abhebung von Heideggers leitenden Thesen in »Sein und Zeit« entwickelt hat, wie der diesen Band eröffnende Quellentext »Die Krise der Phänomenalität bei Heidegger« belegt. Hier wird deutlich, dass die Lebensphänomenologie einen Begriff der Affektivität entfaltet, der nicht mehr im transzendenten Erscheinen der Welt auflösbar ist, sondern es um eine rein immanente Erscheinungsweise erweitert. Diesen radikalen Unterschied zwischen Heidegger und Henry untersuchen die Beiträge von F. P. DeSanctis und R. Formisano, insbesondere mit Blick auf Henrys wichtige Frühschrift »L’Essence de la manifestation«. Eine wesentliche Quelle für die lebensphänomenologische Rezeption Heideggers ist dabei dessen »Kantbuch«, wie J. Scheidegger zeigt. Gleichzeitig muss allerdings 12 SEuL 21 (48549) / p. 13 /20.12.12 Einleitung auch der Frage nachgegangen werden, ob nicht schon beim frühen Heidegger der Freiburger Vorlesungen 1919–1923 von einer »Lebensphänomenologie« gesprochen werden kann, auch wenn dies in Anlehnung an einen gänzlich verschiedenen Lebensbegriff geschieht (C. Serban). Neben Grundfragen der Onto-Phänomenologie und philosophiegeschichtlichen Perspektiven ist es die Sprachproblematik, an der sich die ganze Bandbreite des Dialogs zwischen Michel Henry und Martin Heidegger entfaltet. R. Kühn zeigt ausführlich, inwiefern die Lebensphänomenologie zugleich als Erweiterung und Revision der heideggerschen Sprache des »Seyns« Geltung beanspruchen kann, während der Beitrag von N. Keane die Heidegger-Rezeption Henrys kritisch beleuchtet und die Einheit von Erscheinen und Sprache im Sinne Heideggers unterstreicht. In diesem Kontext sind nicht zuletzt auch die Kunsttheorien Heideggers und Henrys für ihr jeweiliges Verständnis der Sprache ausschlaggebend (M. Kawase). Ob es zumindest im praktischen Existenzvollzug zu einer Synthesis von immanenter Affektivität und Sorge kommt, wird abschließend untersucht. Dabei geht es letztendlich auch um die Frage, ob der heideggersche Sorgebegriff von der Lebensphänomenologie übernommen werden kann bzw. muss. Stephan Grätzel, Frédéric Seyler Literatur: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Husserliana Band III, hg. von Karl Schumann, Den Haag 1976. ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Band VI, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1976 (zitiert als Hua VI). Martin Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2. Frankfurt 1977 (zitiert als GA 2). ders.: Die Zeit des Weltbildes. Holzwege. Frankfurt 1994 Michel Henry, La barbarie. Paris 1987. Dt. Übers.: Die Barbarei. Freiburg i. Br. 1994. ders.: Paroles du Christ. Paris 2002 (zitiert als P). Dt. Übers.: Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung. Freiburg i. Br. 2010. 13