In: Widerspruch Nr. 29 Geist und Gehirn (1996), S. 104

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In: Widerspruch Nr. 29 Geist und Gehirn (1996), S. 104-109
Autor: Wolfgang Thowart
Rezension
William H. Calvin/George A. Ojemann
Einsicht ins Gehirn. Wie Denken und Sprache entstehen
Aus dem Englischen von Hartmut Schickert, München/Wien 1995 (Hanser), 392 S., geb., 58.- DM.
In ihrem gemeinsam verfaßten Buch geben der Neurobiologe W.H. Calvin
und der Neurochirurg G.A. Ojemann anhand des Leitfadens einer Gehirnoperation einen aktuellen Überblick über den Stand der praktischen Neurochirurgie und der Erforschung der neuronalen Grundlage von Denken und
Sprache. Ungewöhnlich ist dabei die Art und Weise der Darstellung: In einer
locker gereihten, episodischen Erzählfolge wechseln kurze Dialogpartien mit
längeren fachlichen Ausführungen eines Erzählers, sodaß der Leser Schritt
für Schritt tiefer in den Aufbau und die Funktion des Gehirns eingeführt
wird. Der Patient, an dem die Gehirnoperation durchgeführt wird - von den
Autoren Neil genannt - repräsentiert dabei laut Nachwort keinen realen Patienten, sondern ist eine künstliche Figur. Auch in früheren Veröffentlichungen der Autoren war der dargestellte Patient ebenfalls Neil genannt
worden. Dort wie hier vereinigt die Figur die typischen Elemente mehrerer
Fallgeschichten. Weggelassen wurden zufällige Komplikationen, hinzugefügt
hingegen typische Merkmale, so daß der Patient Neil "alle dem klassischen
Lehrbuch-Fall entsprechenden Merkmale komplex-partieller epileptischer
Anfälle personifizieren konnte" (344). Durch diesen Kunstgriff einer Zusammenziehung aller typischen Merkmale in eine exemplarische Figur bei
gleichzeitiger Verwendung eines dialogischen Erzählstils erreichen die Autoren angesichts der hochkomplexen Materie ein hohes Maß an Allgemeinverständlichkeit ohne auf den wissenschaftlichen Standard eines Fachbuchs
verzichten zu müssen. Der didaktisch geschickte Aufbau des Buchs zeigt
sich auch darin, daß die Figur des Patienten Neil einen zwar betroffenen,
aber in die fachliche Materie nicht eingearbeiteten Laien repräsentiert. Der
Thorwart: Calvin et al.
Patient Neil steht damit stellvertretend auch für den Leser, der keine oder
nur wenig fachliche Vorkenntnisse besitzt. Neil stellt in den arrangierten Dialogen des Buchs die 'naiven' Fragen, die dem Leser den Einstieg in die
hochkomplexe Materie erleichtern. Der ganze Aufbau des Buches ist darauf
angelegt, hochspezialisiertes Fachwissen in alltägliche Dimensionen zurückzuführen und einem allgemein interessierten Nicht-Fachmann einen anschaulichen und unterhaltsamen Zugang zur praktischen Gehirnforschung,
ihren Ergebnissen und systematischen Fragestellungen zu ermöglichen. Die
Autoren bedienen sich dabei vieler veranschaulichender Beispiele und Analogien (meistens aus der Geschäftswelt und der Computerbranche) und geben trotz unsicherer Wissenslage des öfteren 'vorläufige Gesamteinschätzungen' (die als Orientierungspunkte für interessierte Laien sehr hilfreich
sind, weil in der streng wissenschaftlichen Fachliteratur eher selten anzutreffen).
Genauer handelt es sich bei der geschilderten Gehirnoperation um die teilweise Entfernung des rechten Temporallappens, eines Teils der Großhirnrinde.
Durchgeführt werden soll sie, da man in diesem Bereich den Auslöser für
die epileptischen Anfälle des Patienten vermutet. Im Falle Neils führte eine
Gehirnquetschung infolge eines Autounfalls zur Bildung von vernarbtem
Gehirngewebe, das man für die Auslösung epileptischer Anfälle verantwortlich macht. Allgemein werden solche Operationen nur durchgeführt, wenn
Häufigkeit und Intensität epileptischer Anfälle zunehmen, ohne daß die zur
Verfügung stehenden Medikamente anschlagen (was aufgrund der Übererregung der Nervenzellen bei einem Anfall zu bleibenden Schädigungen
führt). Um Persönlichkeitsveränderungen und bleibende Einbußen der Gehirnfunktion des Patienten auszuschließen, ist es für den Neurochirurgen
dabei nötig, die an die vernarbten Bereiche des Temporallappens angrenzenden Hirnareale exakt zu lokalisieren und ihre oft hochspezialisierte Funktion festzustellen. Dies geschieht nach der Öffnung des Schädels bei vollem
Bewußtsein des Patienten. Meist werden dem Patienten auf einem Bildschirm verschiedene Bilder gezeigt, die er mit einem kurzen Satz benennen
soll, während der Neurochirurg gleichzeitig kleine Bereiche des Gehirns mit
einem schwachen elektrischen Strom reizt. Der elektrische Strom stört dabei
die normale neuronale Funktion. Ist der Patient zur Bildung eines korrekten
Satzes nicht in der Lage, kann man je nach Versuchsanordnung die gereizten
Bereiche der Benennung, Artikulation oder semantischen Verknüpfung der
visuell aufgenommenen Information zuordnen. So gelangt man nach und
nach zu einer exakten Kartierung der Gehirnfunktionen. Erst wenn die Kartierung der angrenzenden Hirnareale vollständig erfolgt ist, entfernt der Chi-
Bücher zum Thema
rurg die Teile des Temporallappens, in denen er vernarbtes Gewebe festgestellt hat.
Daß sich Calvin und Ojemann gerade der Erforschung der neuronalen
Denk- und Sprachfunktion und dabei besonders des semantischen Aspekts
von Sprache verschrieben haben, liegt vor allem darin begründet, daß die
Vernarbungen, wie sie aufgrund von Gehirnquetschungen entstehen, aus
anatomischen Gründen oft in der Nähe der Sprachzentren liegen, sodaß
diese bei einer Öffnung des Schädels zum Zweck der Entfernung eines epileptischen Herdes frei zugänglich sind. In diesen Fällen bietet eine Operation die seltene Möglichkeit, direkte Untersuchungen am offenen Hirn durchführen zu können und zudem den speziellen Zweck einer Entfernung von
vernarbtem Hirngewebe mit dem allgemeinen Zweck der Erforschung der
Organisation des Sprachkortex zu verbinden. Die verschiedenen Gehirnareale, die mit der Spracherzeugung in Verbindung gebracht werden, können wenn sich der Patient zuvor schriftlich einverstanden erklärt hat - gezielt untersucht und einzelne Neuronenverbände oder Areale verschiedenen Funktionen des menschlichen Sprachvermögens zugeordnet werden. Dabei
schließen sich die Autoren der Theorie Noam Chomskys an, daß es "eine biologische Grundlage für Syntax und Grammatik geben müsse" (226), und
zwar im Sinne einer "biologisch festgelegte Tendenz" (230) oder 'Prädisposition' des kindlichen Gehirns zur Entwicklung von Syntax und Sprache, wobei die genauen Regeln der Satzkonstruktion jedoch von den Kindern "allein
durch Beobachtung" (229) erlernt würden.
Implizit gehen Calvin und Ojemann in ihren Ausführungen von der Auffassung aus, daß das Denken und die Sprache der Vermittlung des menschlichen Organismus mit seiner Umwelt dient, und daß in den dabei erzeugten
semantischen Verknüpfungen Informationen über die Umwelt repräsentiert
sind (die gespeichert werden und selbst wiederum das Handeln des Organismus in seiner Umwelt beeinflussen). Im Gehirn ereigne sich ein ständiger
Kampf "zwischen Stabilität und Flexibilität" und die Außenwelt sei dabei
"der oberste Schiedsrichter" (315). Explizit und wiederholt dagegen sprechen die Autoren vom "Darwinschen Prozeß", den sie als "Standardprozeß
der Natur" (342) bezeichnen. Dessen sechs Hauptmerkmale "Muster, Kopien, Variationen, Wettbewerb", "eine vielgestaltige Umwelt" und die "vielen
Wiederholungen der Variations- und Ausleseschritte" (334) sehen Calvin
und Ojemann nicht nur auf der Ebene der evolutionären Entstehung der
Arten oder innerhalb des Immunsystems bezüglich der Bildung "immer besserer Antikörper" (164) am Werk, sondern sehen in ihnen auch die Haupt-
Thorwart: Calvin et al.
merkmale für Prozesse im Gehirn. Entscheidend ist für die Autoren - die in
diesem Zusammenhang vom "neuronalen Darwinismus" (334) sprechen -,
daß die Bildung von Sätzen sich nicht einzelnen "Stellen" zuordnen, sondern
sich nur als ein parallel prozessierendes, evolutionäres Zusammenspiel verschiedener
Hirnareale fassen läßt. "In deinem Geist", schreiben die Autoren, "läuft
vermutlich derselbe Darwinsche Prozeß ab, wenn du einen neuen Satz aussprichst oder dich entscheidest, was du heute zum Abendessen kaufen sollst.
Anders gesagt, in einem Wettstreit zwischen mehreren möglichen Kandidaten wird in einem Zeitraum von Millisekunden bis zu Minuten ein immer
besserer Satz geformt. In der Regel sind binnen ein bis zwei Sekunden genügend viele Generationen durchgespielt worden, so daß dir der Satz hinreichend gut erscheint, um ihn über die Zunge kommen zu lassen. ... Es muß
ein Prozeß sein, wenn innerhalb von ein oder zwei Sekunden etwas Sinnvolles dabei herauskommen soll." (165).
Die Grundelemente jedes Sprachprozesses und damit auch der Gehirntheorie sind nach Calvin und Ojemann die räumliche Codierung von Gegenständen der Umwelt in neuronalen Zellverbänden (den sog. "Hebbschen Zellverbänden"), ihre Wiedererschaffung als "vollausgebildete raumzeitliche
Muster" (341) während des Erinnerns und die Verknüpfung dieser neuronalen Muster zu Kategorien und Metaphern. Als Hauptorganisationsprinzip
des Sprachkortex bestimmen die Autoren jedoch "nicht das Erkennen oder
Erinnern von Einzelheiten" (339), sondern die mittels eines neuronalen
Darwinismus erzeugte, sequenzierende, syntaktische und logische Verknüpfung von (erkannten und in raumzeitlichen Mustern gespeicherten) Gegenständen.
Daß das Buch aufgrund seiner Darstellungsweise kein Fachbuch sein will,
das nur vom kleinen Kreis der Fachleute zur Kenntnis genommen wird,
mag auch einer pragmatischen Absicht der Autoren geschuldet sein. Den
Hintergrund dazu bildet die angespannte Finanzlage im Bereich der Grundlagenforschung. Da die Forschung am menschlichen Gehirn aufgrund der
hochtechnischen Einrichtungen eine äußerst kostspielige Angelegenheit ist
und private Firmen nur Interesse zeigen, wenn sich mittel- oder langfristig
pekuniäre Gewinnchancen abzeichnen, ist sie eine Sache des Staates. Dessen
Zuwendungen aber sind knapp, und so werden zwischen den 'unproduktiven' Sparten der Grundlagenforschung harte Konkurrenzkämpfe um die Finanzierung ausgetragen. Mit ihrer breitenwirksamen Aufbereitung des fachlichen Wissens und seiner möglichen Bedeutung - vor allem für eine Kostensenkung im Gesundheitsbereich infolge genauerer Kenntnisse und
Bücher zum Thema
Prophylaxemöglichkeiten bei Gehirnerkrankungen - betreiben die Autoren
in diesem Verteilungskampf mit ihrem Buch auch Werbung in eigener Sache. Den Autoren, die ihrem Anspruch zufolge "eine für allgemein interessierte Leser verständliche Geschichte erzählen wollten" (343), ist dies ohne
Einschränkung gelungen.
Wolfgang Thorwart
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