Begutachtung organisch bedingter Persönlichkeitsänderung Angelika Thöne-Otto Universitätsklinikum Leipzig Tagesklinik für kognitive Neurologie Gliederung Begriffsbestimmung und –abgrenzung Persönlichkeit –Persönlichkeitsstörung – organische Persönlichkeitsänderung Neuroanatomische Grundlagen / Ätiologie Epidemiologie Diagnostische Kriterien Diagnostik Gutachterliche Fragestellungen Verlauf und Prognose Persönlichkeit „das überdauernde, einzigartige Muster der inneren Erfahrung (Wahrnehmung und Denken) und des Verhaltens eines Menschen“ (Lawton, 2003) Verschiedene Persönlichkeitsausprägungen werden unterschieden z.B. Hippokrates; Charakter als Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten Galen vier Temperamentstypen: sanguinisch phlegmatisch cholerisch melancholisch Dimensionale Persönlichkeitsmodelle Big Five (Costa & McCrae, 1991) Neurotizismus (N) Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, soziale Befangenheit, Impulsivität, Verletzlichkeit Extraversion (E) Herzlichkeit, Geselligkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Aktivität, Erlebnishunger, Frohsinn Offenheit für Erfahrungen (O) Phantasie, Ästhetik, Gefühle, Handlungen, Ideen, Werte Verträglichkeit (A) Vertrauen, Freimütigkeit, Altruismus, Entgegenkommen, Bescheidenheit, Gutherzigkeit Gewissenhaftigkeit (C) Kompetenz, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Leistungsstreben, Selbstdisziplin, Besonnenheit Persönlichkeit Evolution „das überdauernde, Genetische Ausstattung einzigartige Muster der inneren Erfahrung (Wahrnehmung und Denken) und des Verhaltens eines Menschen“ (Lawton, 2003) Persönlichkeit ist zusammengesetzt aus Dem Temperament – geprägt durch genetische Veranlagung Dem Charakter – geformt durch die Umwelt und Erfahrungen, die wiederum auf das plastische Gehirn einwirken Organ. Einflussfaktoren Erfahrung Aktueller Organismus Aktuelle Situation Aktuelles Verhalten Pinel, 1992 Persönlichkeitsstörungen DSM-IV - diagnostische Leitkriterien: Nur dann, wenn Persönlichkeitszüge unflexibel und unangepasst sind und in bedeutsamer Weise zu Funktionsbeeinträchtigungen oder subjektivem Leiden führen, bilden sie eine Persönlichkeitsstörung. Das wesentliche Merkmal einer Persönlichkeitsstörung ist ein andauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht und sich in mindestens zwei der folgenden Bereiche bemerkbar macht: Persönlichkeitsstörungen (DSM IV) Denken, Affektivität, Beziehungsgestaltung oder Impulskontrolle (Kriterium A). in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen unflexibel und tiefgreifend (Kriterium B) führt zu Leiden oder zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (Kriterium C) ist stabil und langdauernd und sein Beginn bis zur Adoleszenz oder bis zum frühen Erwachsenenalter zurückverfolgt werden (Kriterium D). Cluster von Persönlichkeitsstörungen Cluster A beinhaltet die sonderbaren, bzw. exzentrischen P.: Die schizotypische Störung gilt als Prototyp des Clusters. paranoide Persönlichkeitsstörung (F60.0) schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1) schizotypische Persönlichkeitsstörung (nur in DSM IV) Cluster von Persönlichkeitsstörungen Cluster B beinhaltet die dramatischeren, emotional betonten und mit launischem Verhalten einhergehenden Störungen: Die Boderline-Störung gilt als Prototyp des Clusters. dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetyp oder vom impulsiven Typ (F60.3) histrionische Persönlichkeitsstörung (F60.4) narzißtische Persönlichkeitsstörung (nur DSM IV) Cluster von Persönlichkeitsstörungen Cluster C beinhaltet die ängstlicheren Typen von Persönlichkeitsstörungen: Die selbstunsichere P. gilt als Prototyp dieses Clusters. zwanghafte (anankastische) PS (F60.5) selbstunsichere (ängstliche) PS (F60.6) abhängige PS (F60.7) passiv-aggressive PS (F60.8) Organische Grundlagen der Primären Persönlichkeitsstörung Auch die sogenannten „primären“ Persönlichkeitsstörungen haben ein organisches Substrat. So finden sich z.B. bei Patienten mit Cluster B Persönlichkeitsstörungen (z.B. dissoziale PS oder emotional instabile PS vom Borderlinetyp) strukturelle und neurochemische zerebrale Auffälligkeiten wie z.B. Volumenminderungen limbischer Areale (v.a. der Amygdala) sowie im Bereich des Orbitofrontalen Cortex (Tebartz van Elst, 2005) Auf diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Persönlichkeitsänderungen die wir nach einer Hirnschädigung beobachten, am ehesten an Persönlichkeitsstörungen des Cluster B mit emotionaler Instabilität und eingeschränkter Impulskontrolle erinnern. Primäre vs. Organische Persönlichkeitsstörung Die Dichotomie organische vs. Nicht-organisch primäre Persönlichkeitsstörung muss angesichts der modernen Bildgebung als künstliche Trennung gesehen werden. Die Hirnschädigung trifft stets auf einen Organismus mit Vulnerabilitäten für bestimmte Persönlichkeitsakzentuierungen. ICD-10 Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns Störung, zielgerichtete Aktivitäten langfristig durchzuhalten Reduzierter Antrieb Motivation Mangelnde Planung und Zukunftsorientierung Fehlender Belohnungsaufschub Äußerungen von Bedürfnissen ohne Berücksichtigung von Konsequenzen und sozialen Konventionen Verändertes emotionales Verhalten Affektive Instabilität Euphorie / Witzelsucht Reizbarkeit, Aggressivität Apathie, Antriebsarmut Frontalhirn-Assoziierte Verhaltensänderungen! Eingeschränkte Selbstkritik Verminderte Impulskontrolle Mangelndes Taktgefühl Fähigkeit, die Perspektive anderer zu übernehmen, geht weitgehend verloren (Theory of Mind – A denkt, dass B denkt…) Misstrauen, paranoides Denken, überwertige Ideen Formale Denkstörungen (Begriffsunschärfe (Tangentialität), Umständlichkeit und Verlangsamung) Verändertes Sexualverhalten Relevante kognitive Veränderungen Formaler Gedankengang durch Begriffsunschärfe (Tangentialität), Umständlichkeit und Verlangsamung geprägt Fähigkeit, die Perspektive anderer zu übernehmen, geht weitgehend verloren (Theory of Mind – A denkt, dass B denkt…) Fähigkeit, die Konsequenzen des eigenen Verhaltens für sich und andere abzuschätzen geht weitgehend verloren Probleme mit Belohnungsaufschub, d.h. kurzfristig anstrengende oder mühsame Tätigkeiten können für einen langfristigen Erfolg nicht aufrechterhalten werden. Umgekehrt können kurzfristig positive Konsequenzen nicht aufgrund langfristig negativer Konsequenzen unterdrückt werden (wenn draußen die Sonne scheint gehe ich zum baden, auch wenn ich weiß, dass ich dann für meine Prüfung schlecht vorbereitet bin). F07.0 Organische Persönlichkeitsstörung Diese Störung ist charakterisiert durch eine auffällige Veränderung des gewohnten prämorbiden Verhaltensmusters und betrifft die Äußerung von Affekten, Bedürfnissen und Impulsen. Eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten, des Denkvermögens und ein verändertes Sexualverhalten können ebenfalls Teil des klinischen Bildes sein Frontalhirnsyndrom Lobotomiesyndrom … F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma Das Syndrom folgt einem Schädeltrauma, das meist schwer genug ist, um zur Bewußtlosigkeit zu führen. Es besteht aus einer Reihe verschiedenartiger Symptome, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung, Reizbarkeit, Schwierigkeiten bei Konzentration und geistigen Leistungen, Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen und verminderter Belastungsfähigkeit für Stress, emotionale Reize oder Alkohol Mögliche Ursachen erhöhter Reizbarkeit - Stand der Literatur Demark & Gemeinhardt (2002) diskutieren eine Reihe von kognitiven Einflussfaktoren als Folge präfrontaler und orbitofrontaler Hirnläsionen Seel et al. (2003) diskutieren v.a. emotionale Faktoren in Zusammenhang mit Depressivität Die Fähigkeit der adäquaten Selbstwahrnehmung Die Fähigkeit der Perspektivübernahme Verbale Fähigkeiten z.B. die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse adäquat auszudrücken und Anliegen anderer adäquat zu verstehen Leichte Ablenkbarkeit Das Gefühl wertlos zu sein Das Gefühl, nicht mehr leistungsfähig zu sein Quellet et al. (2004) sehen erhöhte Reizbarkeit als mögliche Folge von Schlafstörungen nach SHT Einflussfaktoren erhöhter Reizbarkeit eigenen Studie zu kognitiven Einflussfaktoren von Reizbarkeit: Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit Weitere Beschwerden die reizbare von nicht-reizbaren Pat. unterscheiden das Gefühl, dass andere die Pat. nicht verstehen das Gefühl, dass andere die Leistung der Patienten nicht anerkennen 30 25 20 PR 15 10 5 0 PR Alertness tonisch Gruppe A (-/-) PR Alertness phasisch Gruppe B (+/+) Gruppe C (+/-) a. keine Reizbarkeit b. Pat und Angeh. beklagen Reizbarkeit c. Angeh. beklagen Reizbarkeit an, Pat. Nicht oder geringer Apathie nach Hirnschädigung (Marin, 1991) Patienten mit reduziertem Antrieb erscheinen oft als entweder depressiv oder „faul“ Auch bei geringem kognitivem Defizit ist das Vorliegen einer Antriebsreduktion prognostisch ungünstig für den Outcome Die wichtigste Differenzialdiagnose zur Depression ist der eher geringe Leidensdruck und die emotionale Flachheit Apathie (Marin et al 1991) Neuroanatomische Grundlagen Handlungsplanung und –kontrolle dorsolateraler PFC Impulskontrolle; Emotionale Instabilität – orbitofrontaler Cortex Antrieb und Motivation – antiores Cingulum Emotionale Bewertungen – Limbisches System v.a. Amygdala Ätiologie Persönlichkeitsänderungen können nach allen Arten von Hirnschädigung auftreten. Besonders häufig sind sie nach Schädel-Hirntrauma Hirntumor ins besondere im Frontalcortex Im Zuge dementieller Entwicklungen (bei fronto-temporaler Demenz stehen sie zu Beginn der Erkrankung) Chronisch therapie-refraktärer Epilepsie Encephalitis Hypoxie chronischer Alkohol- und Drogenmissbrauch Epidemiologie Tebartz van Elst, 2005 20% bei Patienten mit chronisch-therapierefraktärer Epilepsie organische Persönlichkeitsstörungen Kim et al 2002 Van Zomeren and Van den Burg 1985 Reizbarkeit und Aggressivität: 31-71 % nach schwerem SHT Bis zu zwei Drittel der SHT-Patienten entwickeln schwere Charakteränderungen 23% 2 Jahre nach SHT „decreased initiative“ 28% 7 Jahre nach SHT gaben in Selbsteinschätzung `difficulty in becoming interested’ als Problem an, 43% der Angehörigen nannten dieses Problem Persönlichkeitsstörungen gehören zu den frühen Symptomen dementieller Entwicklungen Zusammenfassung Persönlichkeitsänderungen und Verhaltensstörungen nach Hirnschädigung sind häufig. Die qualitative Ausgestaltung kann vielfältig sein. Die Differenzierung zwischen prämorbid bestehender „organischer Vulnerabilität“, unmittelbarem Einfluss struktureller Veränderungen aufgrund der Hirnerkrankung und funktioneller Veränderungen der Hirnaktivität in Folge psychischer Reaktionen (z.B. im Rahmen einer Anpassungsstörung) kann im Einzelfall sehr schwierig sein. Die Persönlichkeitsänderung kann in der Gutachtenssituation ins Besondere bei eingeschränkter Awareness des Patienten und geringen kognitiven Leistungseinbußen leicht übersehen werden! Gliederung Begriffsbestimmung und –abgrenzung Diagnostische Kriterien Diagnostik Anamnese Psychometrische Diagnostik Fragebögen und Interview Verhaltensbeobachtung Neuroimaging Gutachterliche Fragestellungen Verlauf und Prognose / Therapiemöglichkeiten Diagnostik: Anamnese Neben der Befragung des Patienten sollten andere Informationsquellen herangezogen werden Prämorbide Risikofaktoren z.B. die Befragung der Angehörigen Rücksprache mit dem Hausarzt Zeugnisse früheres Aggressionspotential bzw. mangelnde Impulskontrolle Straffälligkeiten Substanzabusus Psychiatr. / neurolog. Vorerkrankungen (eigene und in der Familie) Verhaltensauffälligkeiten Psychometrische Diagnostik Kognitive Ressourcen Intelligenz Aufmerksamkeitsleistungen Gedächtnis Exekutivfunktionen Typische Kognitive Leistungen die mit Verhaltensstörungen einhergehen können Theory of Mind Erkennen emotionaler Gesichter (Florida Affect Battery) Iowa Gambling Task Game of Dice Task Häufig geringer Zusammenhang zw. Kognitiven Leistungen u. Verhaltensstörungen ABER: Persönlichkeitsstörung kann die fkt. Relevanz auch geringer kognitiver Störungen verstärken Beispiel WCST (Milner, 1964) Fragebögen / Interviews Selbst- und Fremdbeurteilungsfragebögen DEX Apathy Evaluation Scale AES (Selbst- und Fremdeinschätzung) MMPI; SCL-90-R;FPI-R Beck Depressionsinventar BDI State-Trait Angst / Ärger Inventar (STAI; STAXI) Systematische Interviews DIPS Selbst- und Fremdeinschätzungsfragebögen Einige Items aus Persönlichkeitstests führen bei hirngeschädigten Patienten zu Fehlinterpretationen Selbsteinschätzung abhängig von Awareness Zuverlässigkeit der Angaben sehr belasteter Angehöriger? DEX-Fragebogen Reduzierter Affekt Impulsivität Reizbarkeit Apathy Evaluation Scale (Marin,et al. 1991) 1. Sie/Er interessiert sich für bestimmte Dinge. 11. Sie/Er macht sich mehr Sorgen als nötig 2. Sie/Er erledigt seine Angelegenheiten im Verlauf des Tages 12. Sie/Er hat viele Freunde 3. Es ist ihr/ihm wichtig, aus eigener Kraft etwas anzufangen 13. Es ist ihr/ihm wichtig, mit Freunden zusammen zu sein. 4. Sie/Er ist daran interessiert, neue Erfahrungen zu machen 14. Wenn etwas angenehmes passiert, freit sie/er sich. 5. Sie/Er ist daran interessiert, Neues zu lernen. 15. Sie/Er hat ein genaues Verständnis ihrer/seiner Probleme 6. Sie/Er gibt sich viel Mühe 7. Sie/Er versucht intensiv zu leben 16. Es ist/ihm wichtig, ihre/seine Sachen an einem Tag zu erledigen 8. Es ist ihr/ihm wichtig, eine Aufgabe bis zum Ende zu überschauen 17. Sie/Er hat eigene Ideen, die sie/er in die Tat umsetzen möchte 9. Sie/Er verbringt viel Zeit mit Dingen, die sie/ihn interessieren 18. Sie/Er ist motiviert 10. Jeden Tag muss ihr/ihm jemand sagen, was zu tun ist Einschätzung erfolgt wie folgt: 1=gar nicht, 2= ein wenig, 3= ziemlich 4= sehr; 0 = kann ich nicht einschätzen Verhaltensbeobachtung Verhaltensbeobachtung sehr wichtig, v.a. in unstrukturierten oder unvorhersehbaren Situationen; machen jedoch Testung sehr aufwändig Systematische Verhaltensbeobachtung während der Testung bzw. im Tagesverlauf Reizbarkeit als Reaktion auf Frustration (z.B. im PASAT oder WCST) Bei V.a. auf Antriebsreduktion Verhaltensbeobachtung im Wartebereich (Blickkontakt, Kontaktaufnahme, motorische Aktivität) Aktimetrie Aktimetrie Ein tragbarer Aktigraph registriert Beschleunigungsänderungen am Handgelenk Aktimetrie spiegelt die geringere motorische Aktivität antriebsgeminderter Patienten im Vergleich zu Patienten ohne Antriebsminderung wider und korreliert mit AES. (Müller et al, 2006) Neuroimaging CT und MRT – wichtig zur Identifikation von Läsionsorten, diffuser Axonaler Schädigung oder allgemeiner Atrophie SPECT-Scans können zusätzlich die Funktionelle Aktivität relevanter Hirnareale darstellen Sowohl bei dementiellen Erkrankungen als auch nach Schädelhirntrauma findet sich häufig ein geringer Zusammenhang zwischen Ausmaß der Hirnläsionen und Ausmaß und Qualität der Persönlichkeitsänderung Schlussfolgerungen Diagnostik Die Diagnostik der Persönlichkeitsstörung basiert auf „weichen“ Daten. Daher besonders wichtig, unterschiedliche und soweit als möglich quantifizierbare Informationsquellen einzubeziehen. Die Gutachtenssituation bildet oft die Anforderungen des Alltags nicht ab und kann daher zu Fehldiagnosen führen. Typische Gutachterliche Fragestellungen Finale Gutachten (Auswirkung von Gesundheitsstörung unabhängig von deren Ursachen) Grad der Behinderung Erwerbsminderung (teilweise oder volle) Schwerbehindertengesetz Gesetzliche Rentenversicherung Geschäftsunfähigkeit, Testierfähigkeit, Betreuungsrecht, Schuldunfähigkeit Kausale Gutachten (Zusammenhang zwischen Schädigendem Ereignis und Gesundheitsstörung) Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit Gesetzliche Unfallversicherung Soziale Entschädigung Grad der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit Private Unfallversicherung Gutachterliche Fragestellungen • Einschätzung MdE / GdB Kriterium der Schwere ist die funktionelle Relevanz Häufig ist für die berufliche Integrationsfähigkeit eine Persönlichkeitsstörung schwerwiegender als kognitive Beeinträchtigungen. Sie ist oft nur im Rahmen einer Belastungserprobung sinnvoll beurteilbar. Quelle: Hartje, 2004 Geschäftsunfähigkeit / Betreuung Persönlichkeitsstörung kann Geschäftsunfähigkeit nach sich ziehen und eine Betreuung erforderlich machen (z.B. wenn das Risiko besteht, dass Patient erhebliche Schulden macht (Impulsivität) oder wichtige Angelegenheiten vernachlässigt (Apathie)). Ausmaß der Persönlichkeitsveränderung (z.B. Awareness, Antrieb, Impulskontrolle) kann Einfluss darauf haben, ob angesichts einer kognitiven Störung eine Betreuung erforderlich ist. Schuldunfähigkeit „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinn oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“ (§20 StGB). Ist diese Fähigkeit erheblich gemindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden (§21 StGB). Zu beurteilen ist der psychopathologische Status zum Tatzeitpunkt. Dieser muss- zusammen mit seinen Konsequenzen bzw. der Einsichtsund Steuerungsfähigkeit – im Gutachten differenziert dargelegt und erörtert werden. Ist Impulskontrolle soweit beeinträchtigt, dass Strafhandlungen nicht ausgeschlossen werden können, so muss der Patient ggf. zum Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung in Gewahrsam. Kausalitätsbezogene Gutachten Gesetzliche Unfallversicherung Kausalität ist in folgender Hinsicht zu beurteilen Kausaler Zusammenhang zwischen der gesundheitlichen Schädigung (z.B. Hirnverletzung) und dem schädigenden Ereignis (z.B. Unfall) Ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsschaden (z.B. Persönlichkeitsstörung) und der unfallbedingten gesundheitlichen Schädigung (z.B. der Hirnverletzung) haftungsausfüllende Kausalität Für den kausalen Zusammenhang ist es nicht von Bedeutung, ob die Persönlichkeitsänderung durch eine Hirnschädigung oder psychoreaktiv auf den Unfall hin erfolgte, solang der kausale Entstehungszusammenhang erkennbar nachweisbar ist. Eine psychopathologische „Anlage“ muss im rechtlichen Sinne als wesentliche Ursache einer psychischen Störung identifiziert werden, um die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen der Persönlichkeitsänderung oder einer psychoreaktiven Störung und dem Unfall verneinen zu können. In der Gutachtenpraxis ist ein solcher Nachweis kaum möglich (Hartje, 2004). Kausalität Von einer Verschlimmerung geht man aus, wenn eine Gesundheitsstörung, die auf einer (schädigungsfremden) Krankheitsanlage beruht, durch das aktuelle schädigende Ereignis entweder verstärkt oder aufgrund des schädigenden Ereignisses früher als sonst zu erwarten in Erscheinung tritt. Z.B. ein ADHD-Patienten, der trotz einer reduzierten Impulskontrolle eine Ausbildung abschließen und beruflich integriert war, erleidet ein SHT und ist danach hoch verhaltensauffällig Private Unfallversicherung Beurteilt wird der „Grad der Invalidität“. Maßgebend, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit unter ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten beeinträchtigt ist (AUB 99); berufliche Aspekte sind hierbei nicht zu berücksichtigen (Hartje, 2004) Krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen (also psychogene oder psychoreaktive Störungen), gleichgültig wodurch sie verursacht sind, werden in den Leistungen der privaten Unfallversicherung nicht berücksichtigt. Dieser Ausschluss gilt jedoch nicht für solche psychischen Störungen, die direkt auf einer organischen Hirnschädigung beruhen. Hier ist also der Nachweis der Hirnschädigung wichtig und der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsänderung und Hirnschädigung zu erbringen. Die Bedeutung der Diagnose für den Patienten Jenseits der Frage, ob für einen Gutachtensauftraggeber die Frage der organischen Ursache von affektiven Störungen oder Verhaltensänderungen wichtig ist, bedeutet die Diagnose etwas für den Patienten und die Angehörigen Emotionale Entlastung – Patient verhält sich so, weil er „krank“ ist Leichtere Vermittlung eines Erklärungsmodells, warum ein bestimmter Umgang erforderlich ist Reduzierung von Änderungsmotivation / -hoffnung – das Verhalten ist organisch bedingt, „da kann man nichts machen“ Festschreibung des Verhaltens im Sinne einer Selbst-erfüllenden Prophezeihung Auch für diese Auswirkungen seiner Einschätzung hat der Gutachter oder die Gutachterin Verantwortung Beeinflussbarkeit Die Umweltbezogenheit, Prägbarkeit und Plastizität des Gehirns ist nicht nur die Ursache dafür, dass sich biografische Traumatisierungen organisch einschreiben können. Sie ist auch die Grundlage für die therapeutische Beeinflussbarkeit entsprechender Symptome. Therapie der Persönlichkeitsstörung ist pragmatisch, d.h. sympotmatisch und damit ätiologieunabhängig Verhaltenstherapie auch sinnvoll bei überwiegend hirnphysiologisch bedingten Störungen Pharmakotherapie auch sinnvoll bei überwiegend erlebnisreaktiv hervorgerufenen Hirnfunktionsstörungen Prognose Die organischen Psychosyndrome sind unspezifisch in Bezug auf die Ätiologie bzw. Grundkrankheit und sie erlauben keine sichere prognostische Aussage hinsichtlich Reversibilität oder Irreversiblität (Rauschelbach, 2000) Verhaltenstherapeutisch und Pharmakologische Maßnahmen können indiziert sein und zeigen in Studien Erfolge. ABER: In der Praxis ist die erforderliche engmaschige und langfristige therapeutische Begleitung des Patienten und seiner Angehörigen oft nicht realisierbar. Literatur Foerster, V. (2000). Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. 3. Auflage.München: Urban & Fischer. Franulic, A., Horta, E., Maturana, R., Scherpenisse, J. & Carbonell, C. (2000). Organic personality disorder after traumatic brain injury: cognitive, anatomic and psychosocial factors. A 6 month follow-up. Brain Injury, 14, 431-439. Hartje, W. (2004). Neuropsychologische Begutachtung. In H. Flor, S. Gauggel, S. Lautenbacher, H. Niemann & A. Thöne-Otto (Hrsg). Fortschritte der Neuropsychologie. Band 3. Göttingen: Hogrefe. Kant, R. & Smith-Seemiller (2002) Assessment and treatment of apathy syndrome following head injury. NeuroRehabilitation, 17, 325-331. Kim, E. (2002). Agitation, aggression, and disinhibition syndromes after traumatic brain injury. NeuroRehabilitation, 17, 297-310. Lawton, G. (2004). Die Wurzeln der Persönlichkeit. Gehirn und Geist, 3, 34-38. Müller,U., Czymmek, J., Thöne-Otto, A. & Cramon, D.Y.von (2006). Reduced daytime activity in patients with acquired brain damage and apathy: A study with ambulatory actigraphy. Brain Injury, 20, 157-160. Rauschelbach, H.-H. & Jochheim, K.-A. (1984). Das neurologische Gutachten. Stuttgart: Thieme-Verlag. Tebartz van Elst, L. (2005). Organische Persönlichkeitsstörungen – Moderne Konzepte und bildgebende Befunde. Z. Epileptologie, 18, 222-228.