6 Anwendung auf spezielle Systeme 6.1 6.1.1 Die Gasverflüssigung nach van der Waals Die van-der-Waalssche Zustandsgleichung Bei einem realen Gas sollte der in die ”ideale“ Zustandsgleichung pV = nRT eingehende ”effektive“ Druck infolge der attraktiven Wechselwirkung der Gasmoleküle höher sein als der gemessene Druck p. Infolge des endlichen Eigenvolumens Ve ∝ n der Moleküle sollte dagegen das ”effektive“ Volumen kleiner sein als V . Daraus folgerte Johannes van der Waals in seiner Dissertation (Leiden 1873) als Zustandsgleichung realer Gase, n2 p + a 2 (V − nb) = nRT V ⇔ Die v-Abhängigkeit des ”Kohäsionsdrucks“ pa = a und b sind materialspezifische Konstanten. a v2 a p + 2 (v − b) = RT. v (166) erfordert eine sorgfältige Erklärung. Auflösen nach p ergibt die Isothermen pT (v) := p(T, V ), pT (v) = nRT n2 RT a −a 2 ≡ − 2. V − nb V v−b v (167) Als Kurven im pv-Diagramm (v-Achse nach rechts) sind diese allerdings nur dann streng 8 a monoton fallend, wenn T oberhalb der sog. kritischen Temperatur Tc = 27 liegt (s. u.). Rb Für T < Tc dagegen hat pT (v) zwei lokale Extrema und, dazwischen, einen Abschnitt, in dem die Stabilitätsbedingung p′T (v) ≡ ∂p ∂V T <0 (168) verletzt ist. Auf dieses Problem werden wir in Abschnitt 6.1.3 zurückkommen. 6.1.2 Der kritische Punkt Für einen vorgegebenen Wert p0 des Drucks ist also pT (v) = p0 eine Gleichung dritten Grades in v. Diese hat für T < Tc drei einfache, für T = Tc eine dreifache, für T > Tc eine einfache Lösung. Um die dreifache Lösung vc , das sog. kritische Molvolumen zu bestimmen, setzen wir p′T (v) = p′′T (v) = 0, RT 2a = , 3 v (v − b)2 3a RT = . 4 v (v − b)3 41 (169) Division der ersten Gleichung durch die zweite ergibt 23 vc = vc − b, also a 8a , pc = . (170) 27b 27b2 Wählt man diese kritischen Größen als Einheiten, v = φvc , T = τ Tc und p = πpc , so erfüllen die dimensionslosen Größen φ, τ und π die vdW-Gleichung in reduzierter Form, 3 π + 2 (3φ − 1) = 8τ. (171) φ vc = 3b, 6.1.3 RTc = Phasentrennung Im pv-Diagramm des vdW-Gases müssen also in einem gewissen Bereich unterhalb des kritischen Punkts (vc , pc ) die unphysikalischen Abschnitte der Isothermen pT (v) modifiziert werden. Die Abgrenzung dieses Bereiches wollen wir jetzt ermitteln. Die (molare) Freie Energie f (T, v) ist das Integral der thermischen Zustandsgleichung, Z v−b a − + f0 (T ), (172) f (T, v) = − dv p(T, v) = −RT ln v0 − b v ∂F denn wegen ( ∂V )T,n = −p(T, V, n) ≡ −p(T, v) und F (T, V, n) = nf (T, v) gilt ja ∂f = −p(T, v). (173) ∂v T [f0 (T ) ist eine von v unabhänge Integrations-”Konstante“.] Wir zeigen jetzt, daß im vdWGas durch Minimierung der Freien Energie F bei konstantem Volumen V (und konstanter Temperatur T ) ein thd. Gleichgewicht mit getrennten Phasen erreicht werden kann. Für T < Tc ist der Graph von fT (v) := f (T, v) mit wachsendem v zunächst links-, dann rechts- und schließlich wieder linksgekrümmt (logarithmische Divergenz gegen −∞ für v → ∞). Es gibt also für T < Tc je genau eine Tangente, welche den Graphen an zwei verschiedenen Stellen v = v1 (T ) und v = v2 (T ) > v1 (T ) berührt. Da der Graph zwischen diesen Stellen oberhalb der Tangente verläuft, wird die Freie Energie des Systems im Fall v1 (T ) < v < v2 (T ) abgesenkt, wenn eine Stoffmenge n1 ≤ n in eine (flüssige) Phase mit Molvolumen v1 (T ) und der Rest n − n1 in eine (Gas-) Phase mit Molvolumen v2 (T ) übergeht. Da bei dieser Phasentrennung das Volumen V = nv erhalten bleiben soll, gilt n1 = n v2 (T ) − v v2 (T ) − v1 (T ) ⇔ V ≡ nv = n1 v1 (T ) + (n − n1 )v2 (T ). Der resultierende Wert der Freien Energie des phasengetrennten Systems, Fsep (T, V, n) = n1 fT v1 (T ) + (n − n1 )fT v2 (T ) < nfT (v) ≡ F (T, V, n), liegt also tatsächlich auf der besagten Tangente unterhalb der Kurve fT (v) bei v = 42 (174) (175) V . n Wegen der gemeinsamen Tangente des Graphen von fT (v) an den Stellen v = v1 (T ) und v = v2 (T ) herrscht in beiden Phasen der gleiche Druck p = −fT′ (vi ), ′ ′ −fT (v) = −fT (v) =: pvap (T ). (176) v=v1 (T ) v=v2 (T ) Im pv-Diagramm ist also die vdW-Isotherme pT (v) zwischen den Stellen v = v1 (T ) und v = v2 (T ) durch einen horizontalen Abschnitt p = pvap (T ) zu ersetzen. Dabei gilt offenbar Z v2 (T ) h i h i pvap (T ) · v2 (T ) − v1 (T ) = − fT v2 (T ) − fT v1 (T ) = dv pT (v). (177) v1 (T ) Hier haben wir im ersten Schritt benutzt, daß −pvap (T ) die Steigung besagter Tangente an den Graphen von fT (v) ist, und im zweiten Schritt, daß −fT (v) Stammfunktion von pT (v) ist. Nach Gl. (177) ist also der horizontale Abschnitt p = pvap (T ) im pv-Diagramm so zu zeichnen, dass die beiden Flächenstücke, die er aus der usprünglichen vdW-Isotherme pT (v) ausschneidet, gleichen Inhalt haben (Maxwell-Konstruktion). Liegt also das ”effektive“ Molvolumen v := Vn der Stoffmenge n eines vdW-Gases mit Volumen V und Temperatur T zwischen den zu T gehörenden Werten v1 (T ) und v2 (T ), v1 (T ) < v < v2 (T ), (178) so ist das ”Gas“ im thd. Gleichgewicht in Wirklichkeit getrennt in zwei Phasen mit verschiedenen Molvolumina v1 (T ) bzw. v2 (T ) und einheitlichem Druck pvap (T ). Dieser sog. Dampfdruck ist eine reine Funktion der Temperatur T und ergibt sich aus der entsprechenden (unphysikalischen) vdW-Isotherme pT (v) durch die Maxwell-Konstruktion. 6.1.4 Die Clausius-Clapeyron-Gleichung Um eine Differentialgleichung für die Funktion pvap (T ) zu gewinnen, betrachten wir die Gasverflüssigung bei konstant gehaltenem Druck p (statt konstantem Volumen V ). Für T < Tc seien im pv-Diagramm ṽ1 (T, p) und ṽ2 (T, p) die beiden ”äußeren“ Schnittpunkte der vdW-Isotherme pT (v) mit der zu p gehörenden Isobaren (horizontale Gerade). [Die Funktionen v1,2 (T ) bzw. pvap (T ) aus Abschnitt 6.1.3 seien noch unbekannt.] Ist das System bei gegebenen Werten p und T von Druck bzw. Temperatur in zwei Phasen der Molvolumina ṽ1 (T, p) bzw. ṽ2 (T, p) getrennt, so hat es die Freie Enthalpie G(T, p, n; n1 ) = n1 g1 (T, p) + (n − n1 )g2 (T, p), (179) mit den molaren Freien Enthalpien gi = ui − T si + pvi ≡ fi + pvi der beiden Phasen, gi (T, p) = f T, ṽi (T, p) + pṽi (T, p) (i = 1, 2). (180) Hier ist f (T, v) die molare Freie Energie aus Abschnitt 6.1.3. 43 Liegt der Punkt (T, p) im pT -Diagramm auf der Dampfdruckkurve p = pvap (T ), sind also beide Phasen im thd. Gleichgewicht miteinander in Koexistenz, so darf G durch Variation des freien Parameters n1 nicht abnehmen können, p = pvap (T ) ⇒ ∂G ∂n1 T,p,n ≡ g1 (T, p) − g2 (T, p) =: ∆g(T, p) = 0. (181) [VORSICHT! Das Symbol ∆ bezeichnet hier nicht die (kleine) Änderung einer Größe g, sondern die (endliche!) Differenz zweier verschiedener Größen g1 und g2 !] Sind nun (T, p) und (T + dT, p + dp) zwei eng benachbarte Punkte auf dieser Kurve, so folgt ∆g(T, p) = ∆g(T + dT, p + dp) = 0 ⇒ ∆g(T + dT, p + dp) − ∆g(T, p) = 0. (182) Wegen ( ∂∆g ) = −∆s(T, p) und ( ∂∆g ) = ∆v(T, p) ergibt Taylor-Entwicklung ∂T p ∂p T −∆s(T, p) dT + ∆v(T, p) dp = 0. (183) Die Ableitung der Dampfdruckkurve pvap (T ) genügt also der Bedingung p′vap (T ) = ∆s(T ) dp = , dT ∆v(T ) (184) mit den Differenzen der molaren Entropien bzw. der Molvolumina beider Phasen, ∆s(T ) := s1 (T, p) − s2 (T, p) , ∆v(T ) := v1 (T, p) − v2 (T, p) . (185) p=pvap (T ) p=pvap (T ) Die der Flüssigkeit zuzuführende Wärme, um ein Mol von ihr bei der Temperatur T zu verdampfen, die sog. molare Verdampfungswärme, ist offenbar gegeben durch ℓ(T ) = T · ∆s(T ). (186) Damit erhalten wir die Clausius-Clapeyron-Gleichung, p′vap (T ) ≡ dpvap (T ) ℓ(T ) = . dT T · ∆v(T ) (187) Die Steigung p′vap (T ) der Dampfdruckkurve im pT -Diagramm hängt also mit den meßbaren Temperaturfunktionen ℓ(T ) und ∆v(T ) zusammen. Im Fall des vdW-Systems können umgekehrt p′vap (T ) und ∆v(T ), zumindest numerisch (und mit beliebiger Genauigkeit), aus der Maxwell-Konstruktion bestimmt werden. Daher kann man gemäß ℓ(T ) = T · ∆v(T ) · p′vap (T ) die molare Verdampfungswärme der vdW-Flüssigkeit ”auf dem Papier” berechnen. Wir kommen jetzt zu einer weiteren Anwendung der CC-Gleichung. 44 (188) 6.1.5 Ausblick: Schmelzkurve, Tripelpunkt und Gibbssche Phasenregel Wählt man statt der vdW-Gleichung eine noch realistischere Zustanfsgleichung, die auch die Erstarrung der Flüssigkeit zu einer dritten (festen) Phase beschreiben kann, so läßt sich mit einer analogen Argumentation zeigen, daß auch für die Schmelzkurve pmelt (T ) im pT -Diagramm eine Clausius-Clapeyron-Gleichung gilt, p′melt (T ) = ℓ01 (T ) . T · ∆v01 (T ) (189) Dabei bezeichnet ℓ01 (T ) die molare Schmelzwärme und ∆v01 (T ) = v1 (T ) − v0 (T ) die Volumenzunahme eines Mols beim Schmelzen. Die Indizes 0, 1, 2 für die feste, flüssige bzw. gasförmige Phase sind so gewählt, daß eine ”niedrigere“ Phase durch Wärmezufuhr in eine ”höhere“ übergeht. Die Schmelzkurve trennt im pT -Diagramm das Gebiet der festen von dem der flüssigen Phase (Schmelze). Wir betrachten 1 mol Wasser bei festgehaltenem Druck p = 1.0 bar. (Es sei etwa durch einen beweglichen Kolben in ein Zylindergefäß eingeschlossen.) Bei Temperaturen T < 273.15 K ist es im thd. Gleichgewicht gefroren (feste Phase). In diesem Fall führt Wärmezufuhr zu einem Temperaturanstieg im Eis. Der Zustandspunkt (T, p) im pT -Diagramm wandert dabei horizontal (p = const.) mit wachsendem T nach rechts. Nach Erreichen des Wertes T = 273.15 K 5 steigt die Temperatur nicht weiter an, auch wenn weiter Wärme zugeführt wird. Diese Wärme wird nun zur Umwandlung des Eises in flüssiges Wasser (Schmelzen) aufgebraucht. Der Zustandspunkt (T, p) des Systems im pT Diagramm verharrt dabei an einer festen Stelle auf der Schmelzkurve. Zum Schmelzen kJ von 1 mol Eis bei p = 1 bar ist insgesamt die molare Schmelzwärme ℓ01 = 6.03 mol nötig. Wird darüberhinaus weiter Wärme zugeführt, steigt die Temperatur des (jetzt vollkommen verflüssigten) Wassers wieder an und der Punkt (T, p) im pT -Diagramm wandert wieder horizontal nach rechts. Er hat die Schmelzkurve überquert. Bei T = 373.15 K setzt, mit völlig analogen Begleiterscheinungen, die Verdampfung des flüssigen Wassers ein. Der Punkt (T, p) überquert dabei die Dampfdruckkurve, kJ aufgebraucht wird. Wegen des während die molare Verdampfungswärme ℓ12 = 40.48 mol ”fehlenden“ Temperaturanstiegs werden ℓ01 und ℓ12 auch als latente Wärmen bezeichnet. Während beim Verdampfen das Molvolumen praktisch immer zunimmt, v2 (T ) − v1 (T ) ≡ v12 (T ) > 0, (190) ist dies beim Schmelzen nicht immer der Fall. Z.B. gilt für Wasser bei T = 273.15 K ccm ccm H2 O: v0 (T ) = 19.6 , v0 (T ) = 18.0 (T = 273.15 K). (191) mol mol 5 Dieser Wert gilt nur für luftgesättigtes Wasser. Bei reinem H2 O ist er durch 273.1525 K zu ersetzen. Vgl. Sommerfeld, S. 88 unten. 45 Nach Clausius-Clapeyron gilt also beim Wasser p′melt (T ) < 0, p′vap (T ) > 0. (192) Speziell bei p = 1 bar (also T = 273.15 K bzw. T = 373.15 K) findet man p′melt = −138 bar , K p′vap = +0.0355 bar . K (193) Die Schmelzkurve von Wasser im pT -Diagramm ist also nahezu eine gerade Linie, die mit wachsendem T extrem steil abfällt, während die Dampfdruckkurve mäßig ansteigt. H2 O (p = 1 bar) Schmelzen Verdampfen i 0 1 T 273.15 K 373.15 K ℓi,i+1 kJ 6.03 mol kJ 40.48 mol vi 19.6 ccm mol 18.0 ccm mol vi+1 18.0 ccm mol 30600 ccm mol ℓi,i+1 T ·(vi+1 −vi ) −138 bar K +0.0355 bar K Tripelpunkt von H2 O: Tt = 0.01◦ C = 273.16 K, pt = 0.0061 bar. Kritischer Punkt von H2 O: Tc = 374.3◦ C = 647.4 K, pc = 217.5 bar. Dampfdruck- und Schmelzkurve treffen sich in einem Punkt (Tt , pt ) im pT -Diagramm, dem sog. Tripelpunkt, der einen Zustand beschreibt, in dem drei Phasen koexistieren. Für p < pt ist keine flüssige Phase möglich. Dann können feste und gasförmige Phase koexistieren. Die Sublimationskurve ist im pT -Diagramm immer ansteigend, denn es gilt v2 (T ) − v0 (T ) ≡ v02 (T ) > 0, (194) Tripelpunkt, Dampfdruck- und Schmelzkurve sind Spezialfälle einer allgemeinen Regel: Gibbssche Phasenregel: In einem Gemisch aus K verschiedenen chemischen Stoffen (”Komponenten“) gilt für die Zahl Φ der im thd. Gleichgewicht koexistenzfähigen Phasen Φ ≤ K + 2, genauer: Φ + F = K + 2. (195) Dabei ist F die Zahl der Freiheitsgrade. Im Fall des Tripelpunkts (Φ = 3) einer chemisch reinen Substanz (K = 1) gilt also F = 0, während auf der Dampfdruck- bzw. der Schmelzkurve (Φ = 2) gilt F = 1. 46