16 - Praktische Verhaltensmedizin

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16
1
Ängste
2
V. Köllner
3
4
5
6
7
8
9
10
16.1
Gesunde und pathologische
Unterschieden wird zwischen Phobien, bei denen
11
Angst
Angst durch bestimmte Situationen oder Objekte
12
ausgelöst wird und Störungen, bei denen die Angst
13
plötzlich und unvorhersehbar auftritt (Panikstö14
Angst ist ebenso wie Schmerz jedem Menschen
rung) oder ein nahezu ständiger Begleiter ist (gene15
vertraut und gehört zu den biologischen Warnsysralisierte Angststörung).
16
temen, ohne die wir nicht überlebensfähig wären.
17
Bei der Verarbeitung körperlicher Krankheiten
18
Aufgrund der mit dem Angstgefühl einhergehenkonnte der positive Effekt mittelgradig ausgepräg19
den Aktivierung des vegetativen Nervensystems
ter Angst nachgewiesen werden. So korreliert z.B.
20
sind körperliche Symptome der Angst wie Herzbei der koronaren Herzkrankheit Angst positiv mit
21
klopfen, Herzrasen, Schwindel, kalte Extremitäten,
der Überlebenszeit, wahrscheinlich, weil sie die
22
Schwitzen oder Hyperventilationssymptome für
Betroffenen dazu motiviert, sinnvolle Verhaltens23
einen Teil der Betroffenen deutlicher spürbar als
änderungen vorzunehmen. Eine Ausnahme sind
24
das Angstgefühl selbst. Aus diesem Grunde führen
lediglich die ersten Tage direkt nach einem Herz25
Angstsymptome dazu, dass Ärzte aufgesucht werinfarkt, an denen Angst Herzrhythmusstörungen
26
den, in der Annahme, es läge eine körperliche Erbegünstigen kann.
27
krankung vor. Angststörungen als komplizieren28
der Faktor einer körperlichen Erkrankung oder als
Angststörungen. Zum Problem wird Angst erst,
29
eigenständiges Krankheitsbild sind in der ärztliwenn sie in unangemessenen Situationen und in
30
chen Praxis ein alltägliches Problem und sollen
zu starker Ausprägung auftritt. Erst dann ist es ge31
deshalb hier ausführlich behandelt werden. Es
rechtfertigt, eine Angststörung zu diagnostizieren.
32
werden aus der Lerntheorie abgeleitete BehandAngststörungen sind die häufigste psychische Er33
lungsstrategien aufgezeigt, die ebenso wie eine
krankung bei Frauen und die zweithäufigste bei
34
medikamentöse Therapie im Rahmen der psychoMännern (Tab. 16.1).
35
somatischen Grundversorgung durchgeführt wer36
den können. Den Abschluss bilden ein Überblick
37
38
39
Tabelle 16.1 Angststörungen, ICD-10-Schlüssel und Lebenszeitprävalenz (nach Schneider u. Margraf 1998)
40
41
Diagnose
ICD-10
Lebenszeitprävalenz
42
Agoraphobie
F40.0
2,1–10,9%, Median 5,4%; m/w = 1/2
43
soziale Phobie
F40.1
11,1% für Männer, 15,5% für Frauen
44
45
spezifische Phobie
F40.2
5,9–15,1%, m/w = 1/2
46
Panikstörung
F41.0
3,2–3,6%, Median 3,6%, m/w = 1/2
47
generalisierte
Angststörung
F41.1
4,0–5,1%, m/w = 2/3
48
49
Anpassungsstörung mit ängstlich-depressiF43.22
noch keine gesicherten Daten
ver Symptomatik
50
51
Zwangsstörung
F42.0
1,8%, m/w ∼ 1/1
52
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
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16 Ängste
über empirisch abgesicherte Verfahren der kogni1
tiven Verhaltenstherapie und Hinweise für die
2
Überweisung zum Fachpsychotherapeuten.
3
4
5
16.2 Krankheitsbilder
6
7
8
16.2.1 Agoraphobie
9
10
Definition. Der Begriff leitet sich von dem grie11
chischen Wort „agora“ (Marktplatz) ab und be12
zeichnete früher ausschließlich Angst vor weiten
13
Plätzen. Angst vor engen Räumen wurde dement14
sprechend mit Klaustrophobie bezeichnet. Diese
15
Unterscheidung erwies sich in der Praxis als wenig
16
sinnvoll, da bei der großen Mehrzahl der Patienten
17
beide Bedingungen geeignet sind, Angst auszulö18
sen. Deshalb bezeichnet heute Agoraphobie allge19
mein Angst, die abhängig von bestimmten Orten
20
auftritt. Diesen ist gemeinsam, dass sie weit ent21
fernt von „sicheren Orten“, wie z.B. der eigenen
22
Wohnung oder einer Klinik liegen und dass eine
23
schnelle Flucht schwierig ist. Typische Angst aus24
lösende Situationen sind Menschenansammlun25
gen, Kinos, Kaufhäuser, öffentliche Verkehrsmittel
26
und Autofahrten (hier besonders Autobahnen und
27
Staus). Häufig steht am Anfang der Erkrankung ein
28
als bedrohlich erlebtes Ereignis, wie z.B. eine
29
Kreislaufschwäche oder ein Panikanfall.
30
31
Verlauf. In der Folge löst die Vorstellung, sich wie32
der an den Ort dieses Erlebnisses zu begeben,
33
Angst aus, die wiederum zu der Tendenz führt, die34
se Orte zu meiden. Da sich der Patient durch die
35
Vermeidung selbst um die Erfahrung bringt, dass
36
von der Situation keine reale Gefahr ausgeht und
37
dass es möglich ist, das Angstgefühl zu überwin38
den, führt das Vermeidungsverhalten zur Chronifi39
zierung der Störung. Es werden immer mehr Situa40
tionen als potentiell Angst auslösend erlebt und
41
der Handlungsspielraum der Betroffenen schränkt
42
sich immer weiter ein. Berufliche und familiäre
43
Probleme sowie depressive Verstimmungen sind
44
eine häufige Folge. Selbstbehandlung mit Alkohol
45
oder Beruhigungsmitteln (v.a. Benzodiazepine)
46
können zu einer Abhängigkeit als Folgeerkrankung
47
führen. Im medizinischen Kontext werden Agora48
phobiker gelegentlich in Untersuchungssituatio49
nen wie CT oder MRT symptomatisch. Ansonsten
50
berichten sie in der Allgemeinmedizin eher selten
51
über ihre Symptome, es sei denn, diese werden auf
52
eine organische Ursache zurückgeführt („Wenn irgendwo schlechte Luft ist, wie in vollen Supermärkten, kriege ich zu wenig Sauerstoff und muss
schnell ins Freie.“)
16.2.2 Soziale Phobie
Definition. Starke, unangemessene Angst in Situationen, die mit anderen Menschen zu tun haben bzw. das Angst bedingte Vermeiden solcher
Situationen wird als soziale Phobie bezeichnet. Im
Vordergrund steht die Angst, sich zu blamieren, zu
versagen oder unangenehm aufzufallen. Vegetative Reaktionen, wie Erröten oder heftiges Schwitzen, können sowohl Inhalt als auch Begleitsymptom der Ängste sein und sich mit diesen im Sinne
eines Teufelskreises verstärken. Unterschieden
werden zwei Subtypen:
ausgeprägte Ängste bei normaler sozialer Kompetenz
ausgeprägte Defizite in sozialen Fertigkeiten,
die dann entsprechende Unsicherheit und
Angst nach sich ziehen.
In der zweiten Gruppe sind Männer überrepräsentiert, zur Behandlung ist hier neben einem Angsttraining eine Schulung der sozialen Kompetenz indiziert.
Verlauf. Soziale Phobien sind in ihrer Häufigkeit
und ihrer Bedeutung lange unterschätzt worden,
möglicherweise, weil sich die Betroffenen ihrer
Symptome schämen und auch ein offenes Gespräch mit dem Arzt scheuen. Eine zusätzliche Belastungssituation ist ein volles Wartezimmer. Das
Vermeiden sozialer Situationen hat negative Konsequenzen auf das berufliche Weiterkommen und
die Freizeitgestaltung. Wenn Begegnungen mit
dem anderen Geschlecht Angst auslösend sind,
wiegt die Beeinträchtigung noch schwerer. Zur
Selbstbehandlung wird häufig Alkohol eingesetzt,
womit der Weg in die Abhängigkeit gebahnt wird.
Auch Verläufe mit zunehmender Depression bis
hin zum Suizid sind beschrieben.
Ärztlich Hilfe wird allenfalls wegen der Körpersymptome (Schwitzen, Tremor, Erröten) gesucht.
Wenn solche Symptome geschildert werden, sollte
gezielt nach dem Vorliegen sozialer Ängste gefragt
werden.
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16.2 Krankheitsbilder
16.2.3 Spezifische Phobien
1
2
Definition. Angstauslösende Objekte/Situationen
3
sind Tiere (Hunde, Katzen, Spinnen, Mäuse etc),
4
spezifische Situationen wie Höhe oder Fliegen,
5
aber auch der Anblick von Blut, Blutabnehmen
6
oder Spritzen.
7
8
Sonderfall Blut-/Spritzenphobie. Die letztge9
nannten Phänomene sind in der ärztlichen Praxis
10
nicht unbekannt. Wahrscheinlich besteht eine er11
hebliche Dunkelziffer, da ein Teil der Phobiker die
12
Arztpraxis als potenziell bedrohlichen Ort meidet.
13
14
Die Blut- oder Spritzenphobie ist die einzige
15
Angsterkrankung, bei der es relativ häufig zur Ohn16
macht kommt!
17
18
19
Zur Behandlung der Spritzen-/ Blutphobie liegen
20
erfolgreich überprüfte Kurztherapien vor, die teil21
weise mit nur ein bis fünf Sitzungen auskommen.
22
Hierbei wird zur Behandlung der vagotonen Dys23
regulation mit Erfolg die Technik der angewandten
24
Anspannung (Applied Tension; Öst et al. 1987) ein25
gesetzt:
26
Der Patient wird zunächst in einer Vorberei27
tungssitzung instruiert, die großen Skelettmus28
keln (Arme, Brust und Beine) anzuspannen und
29
diese Spannung 15–20 Sekunden zu halten. Da30
nach soll die Spannung langsam wieder bis auf das
31
Anfangsniveau, aber nicht bis zur völligen Ent32
spannung gelöst werden. Nach 30 Sekunden wird
33
die Anspannung wiederholt, insgesamt fünfmal.
34
Diese kurze Übung soll der Patient etwa 5x täglich
35
durchführen. Wenn er sie sicher beherrscht, kann
36
er in einer Angst auslösenden Situation wie einer
37
Blutabnahme die Anspannungsübung zur Gegen38
regulation durchführen, sobald er erste Anzeichen
39
einer Ohnmacht spürt. Bei Neigung zur Hyperven40
tilation können zusätzlich Atemübungen sinnvoll
41
sein.
42
43
Bei Patienten mit einem schlechten Zahnstatus
44
sollte man an das Vorliegen einer Zahnarztphobie
45
denken und den Patienten auf akzeptierende Wei46
se hierauf ansprechen. Auch hier kann eine Kurz47
zeit-Verhaltenstherapie einem Großteil der Betrof48
fenen helfen.
49
50
51
52
127
16.2.4 Panikstörung
Definition und Symptomatik. Leitsymptom sind
Anfälle intensiver, plötzlich und unvorhersehbar
auftretender Angst. Hierbei kommt es zu einem
Teufelskreis aus psychischen (Angst) und physiologischen (Aktivierung des vegetativen Nervensystems) Komponenten, die sich gegenseitig aufschaukeln. Auslöser können sowohl minimale, für
die Betroffenen häufig nicht erinnerbare körperliche Veränderungen oder auch Gefühle und Gedanken sein. Panikanfälle können nachts aus dem
Schlaf heraus auftreten. Als Folge der Sympathikus-Aktivierung kommt es zu Symptomen wie
Herzklopfen, Herzrasen, Schwitzen, kalten Extremitäten und Muskelanspannung. Bei einigen Patienten kann es auch zu einer parasympathischen
Begleitreaktion mit Durchfall kommen. Bei Hyperventilation treten zusätzlich Schwindel, Flimmern
vor den Augen, Parästhesien und Ohnmachtgefühl
auf. Häufig ist das Gefühl von Kontrollverlust. Die
Wahrnehmung dieser Vorgänge bestätigt den Patienten in seiner Befürchtung, dass sich in seinem
Körper etwas Bedrohliches abspielt.
Häufige körperliche Symptome bei Panikanfällen sind:
Herzklopfen,
Herzrasen,
Atemnot,
Schwindel,
Benommenheit,
Schwitzen,
Missempfindungen, Parästhesien,
Schwitzen,
Kältegefühl,
Brustschmerzen oder thorakales Druck-/Engegefühl.
Differenzialdiagnose. Die hierbei auftretenden
physiologischen Veränderungen lassen sich beim
Monitoring von Herzfrequenz und Blutdruck zwar
nachweisen, jedoch sind sie weitaus geringer ausgeprägt, als die Patienten vermuten. Häufig steigt
die Herzfrequenz nur um etwa 10 Schläge pro Minute über den Ausgangswert. Wenn Frequenzen
über 130/min erreicht werden, ist eine reine Panikstörung unwahrscheinlich und es sollte nach
somatischen Begleiterkrankungen gesucht werden. Ebenso kommt es bei Angststörungen nur selten zur Ohnmacht, obwohl dies von den Patienten
oft befürchtet wird. Bei einigen Patienten mit Panikstörungen finden sich gehäuft ventrikuläre und
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128
16 Ängste
supraventikuläre Extrasystolen oder ein Mitral1
prolaps als organischer Mitauslöser. Die hierbei
2
auftretenden Missempfindungen am Herzen wer3
den dann Angst besetzt verarbeitet. Auch behand4
lungspflichtige Herzrhythmusstörungen, wie z.B.
5
paroxysmale Tachykardien, können sekundär Pa6
nikanfälle auslösen. Dies erschwert die Diagnose,
7
da sich die Tachykardien hinter den Panikanfällen
8
verbergen können und umgekehrt. Die Komorbidi9
tät von organischer Erkrankung und Panikstörung
10
bereitet sowohl in der Diagnostik als auch in der
11
Therapie besondere Schwierigkeiten.
12
13
Verlauf. Ein Teil der Patienten neigt dazu, Situa14
tionen zu vermeiden, in denen Panikanfälle aufge15
treten sind oder befürchtet werden. So kann es se16
kundär zu einer agoraphobischen Symptomatik
17
kommen. Im weiteren Krankheitsverlauf ist auch
18
Erwartungsangst geeignet, Panikanfälle auszulö19
sen. Während Patienten mit Phobien häufig einen
20
Bezug der Angstsymptome zu den Auslösesituati21
onen erkennen und deshalb einer Psychogenese
22
der Beschwerden offener gegenüberstehen, erle23
ben Panik-Patienten die somatischen Symptome
24
als unvorhersehbar und haben deshalb eher ein or25
ganmedizinisches Krankheitsmodell. Je nach Leit26
symptom (Herzklopfen, Atemnot, Flimmern vor
27
den Augen, Schwindel) steuern die Patienten ent28
sprechende Fachrichtungen, wie Kardiologie, Pul29
mologie, Neurologie oder HNO-Heilkunde an. Pati30
enten mit Panikanfällen sind also häufig, leider
31
wird die Diagnose aber oft übersehen:
32
34–56% aller Patienten mit unauffälligem Herz33
katheterbefund erfüllten die diagnostischen
34
Kriterien einer Panikstörung (Fleet et al. 2000)
35
16–25% aller Patienten in einer Notfallambu36
lanz und 25–57% der Patienten mit atypischem
37
Brustschmerz hatten als Diagnose einen Panik38
anfall (Jeejeebhoy et al. 2000)
39
bei 50–98% aller Patienten, die wegen eines Pa40
nikanfalls eine kardiologische Sprechstunde
41
aufsuchen, wurde die Diagnose nicht gestellt.
42
43
44
16.2.5 Generalisierte Angststörung
45
46
Definition. Lange Zeit war die Generalisierte
47
Angststörung (GAS) nur eine diagnostische Rest48
kategorie, die nach Ausschluss der übrigen Angst49
störungen vergeben wurde. Sie galt außerdem als
50
51
52
schwer behandelbar. Inzwischen konnten jedoch
validere diagnostische Kriterien und erfolgreiche
Therapiemanuale erarbeitet werden.
Leitsymptom der GAS sind länger als 6 Monate anhaltende Sorgen, die sich auf verschiedene Lebensbereiche beziehen und von den Betroffenen nur
schwer kontrolliert werden können. Die Sorgen
nehmen deshalb häufig einen großen Teil des Tages in Anspruch und führen zu Anspannung, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und anderen
Symptomen der chronischen Anspannung.
Häufig kommt Rückversicherungsverhalten hinzu.
So führen z.B. einige Betroffene häufig Kontrollanrufe durch, um festzustellen, dass ihren Angehörigen nichts zugestoßen ist oder sie fragen häufig
nach, ob ihr Verhalten bei anderen keinen Anstoß
erregt.
In der Allgemeinarztpraxis dürfte die GAS häufig anzutreffen sein, wie die Prävalenzzahlen von
4–5% nahe legen. Da die Patienten aber vor allem
über ihre Körpersymptome und nicht über ihre
Sorgen und Ängste berichten, wird die Diagnose
nur selten gestellt und es dauert oft Jahre, bis eine
wirkungsvolle Therapie eingeleitet wird. Inzwischen liegen klinisch erprobte kognitiv-verhaltenstherapeutische Manuale vor, deren Wirkprinzip in der Konfrontation mit den Inhalten der
Befürchtungen und Sorgen liegt.
Mögliche Fehler
Für unspezifische Psychotherapie konnte keine
Wirksamkeit nachgewiesen werden. Benzodiazepine helfen diesen Patienten nur kurzfristig und sind
mit einem hohen Abhängigkeitsrisiko belastet.
Bei Patienten, die über nicht erklärbare Müdigkeit,
Erschöpfung oder Anspannung klagen, sollte deshalb gezielt nachgefragt werden, ob sie unter Sorgen leiden, die sich auf verschiedene Lebensbereiche (Familie, Arbeit, Gesundheit) beziehen und
einen großen Teil des Tages anhalten. Da die Behandlung nicht unkompliziert ist und spezifische
Erfahrung voraussetzt, ist ein Therapieversuch im
Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung
eher nicht sinnvoll.
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
16.3 Symptombeschreibung und Verhaltensanalyse anhand eines Fallbeispiels
16.2.6 Anpassungsstörungen
1
2
Angstsymptome jeder Art, besonders aber Panik3
anfälle und agoraphobische Symptome können
4
auch als Reaktion auf Belastungssituationen, wie
5
Verlust des Partners, Arbeitslosigkeit oder eine
6
schwere Erkrankung auftreten. Einen Sonderfall
7
stellen Symptome als Folge eines traumatischen
8
Ereignisses dar. Die posttraumatische Belastungs9
störung wird in Kap. 23 dargestellt. Bei einer An10
passungsstörung müssen nicht alle diagnostischen
11
Kriterien einer der o.g. Angststörungen vorliegen.
12
Trotzdem kann das Krankheitsbild die Lebensqua13
lität der Betroffenen deutlich beeinträchtigen und
14
sollte deshalb konsequent behandelt werden. Die
15
Therapie entspricht derjenigen bei Angststörun16
gen mit vergleichbarer Symptomatik. In der Regel
17
ist die Prognose günstig.
18
19
20
16.2.7 Zwangsstörungen
21
22
Zwischen Angst- und Zwangsstörungen bestehen
23
einige Parallelen. So lassen sich Zwangshandlun24
gen gut als Angst reduzierende Rituale erklären.
25
Dementsprechend ist in der Behandlung die Kon26
frontation mit einer Angst auslösenden Situation
27
(z.B. Verlassen der Wohnung) und das anschlie28
ßende Verhindern der Zwangshandlung (Kontrolle
29
von Herd, Kaffeemaschine …) bis zum Rückgang
30
der Angst oder des Spannungsgefühls Erfolg ver31
sprechend. Obwohl sowohl in der psychothera32
peutischen Behandlung (Verhaltenstherapie) als
33
auch in der medikamentösen Therapie (Antide34
pressiva) Fortschritte erzielt werden konnten, ist
35
die Prognose jedoch immer noch schlechter als bei
36
den übrigen Angststörungen. Zwangsstörungen
37
verursachen nicht nur bei den Betroffenen selbst,
38
sondern auch bei Angehörigen großes Leid, da sich
39
Familien häufig aus falsch verstandener Rücksicht
40
Zwangsritualen mit unterwerfen.
41
42
Wenn man als Hausarzt den Verdacht auf das Vor43
liegen einer Zwangsstörung hat, sollte man unbe44
dingt eine Vorstellung bei einem Fachpsychothe45
rapeuten zur weiteren diagnostischen Abklärung
46
vorschlagen. Unbehandelt ist die Prognose
47
schlecht. Ein Behandlungsversuch im Rahmen der
48
psychosomatischen Grundversorgung ist wenig Er49
folg versprechend.
50
51
52
16.3
129
Symptombeschreibung und
Verhaltensanalyse anhand
eines Fallbeispiels
Herr Dr. M., 63 Jahre alt, war niedergelassener Augenarzt. Seine Praxis lief erfolgreich, vor zwei Jahren hatte er einen Assistenzarzt eingestellt, der die
Praxis später übernehmen sollte. Seinen Entschluss, kürzer zu treten, fasste Herr M., als er vor
drei Jahren einen Herzinfarkt erlitt. Damals hörte
er auch mit dem Rauchen auf, begann ein sportliches Trainingsprogramm und normalisierte seine
Cholesterinwerte durch konsequente Ernährungsumstellung. Der Infarkt war komplikationslos verlaufen und hatte weder zu einer Beeinträchtigung
der Pumpfunktion noch zu Herzrhythmusstörungen geführt. In einer Rehabilitationsklinik hatte
sich Herr M. gut erholt und war wieder lebensfroh
und leistungsfähig. Er war stolz, dass es ihm gelungen war, seine Risikofaktoren so konsequent abzubauen und schaute optimistisch in die Zukunft.
Zweiter Herzinfarkt. Dies änderte sich, als es
nach einem Jahr zu einem zweiten Herzinfarkt
kam. Herr M. rief den Notarzt und wurde mit starken pectanginösen Beschwerden in das nahe gelegene Krankenhaus gebracht. Dort besserte sich die
Symptomatik nicht und Herr M erlitt intensive Todesangst. Er wurde in das nächste Herzzentrum
verlegt, wo eine Herzkatheteruntersuchung mit
anschließender Dilatation durchgeführt wurde.
Der klinische Zustand von Herrn M. stabilisierte
sich. Der Herzkatheterbefund hatte jedoch ergeben, dass eine Bypassoperation notwendig war.
Hiervon erholte sich Herr M. schnell und komplikationslos. Es war zwar eine Vorderwandnarbe geblieben und die Auswurffraktion war auf 45% reduziert, im Alltag bedeutete dies für ihn jedoch
keine Einschränkung. Auch sein Sportprogramm
konnte er wieder aufnehmen. Seine Fitness lag immer noch deutlich über dem Durchschnitt seiner
Altersgruppe. Eine Kontrollkoronarographie ergab
ein günstiges Ergebnis. Trotzdem konnte Herr M.
nach dem zweiten Infarkt seine ursprüngliche Lebensfreude nicht mehr wieder finden.
Angst vor einem erneuten Infarkt. Er hatte nach
der Operation mit Narbenschmerzen und Wetterfühligkeit zu tun. Im Bereich des Schnittes an der lateralen Brustkorbwand war es zu einer kleinen Narbenhernie gekommen. Immer, wenn er Schmerzen
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
130
16 Ängste
er noch viele Ziele hatte und ihn sein Kardiologe
oder Stiche in diesem Bereich verspürte, trat Angst
1
geradezu zum Reisen drängte, war seine einzige
vor einem neuen Infarkt auf. Zusätzlich verspürte er
2
Reise nach der Operation in einen Kurort mit kardann Herzklopfen und Kältegefühl, was seinen Be3
diologischer Rehabilitation gegangen. Vor weitefürchtungen zusätzliche Nahrung gab. Anfangs rief
4
ren Reisen scheute er bei dem Gedanken, dort köner den Notarzt, suchte das örtliche Krankenhaus auf
5
ne ihm bei einem erneuten Infarkt nicht effektiv
oder ließ sich in der Ambulanz des Herzzentrums
6
geholfen werden, zurück. Er erwischte sich immer
untersuchen. Nach umfangreicher Diagnostik war
7
häufiger dabei, wie er auch längere Wanderungen
er jedes Mal mit der Versicherung, es sei „alles in
8
vermied, aus Sorge, nicht schnell genug das HerzOrdnung“, entlassen worden. Inzwischen war es
9
zentrum erreichen zu können. Ebenso vermied er
ihm peinlich, die Kollegen immer wieder umsonst
10
den Besuch von Theatern oder größeren Kinos, da
zu bemühen und er blieb mit seiner Angst alleine.
11
er befürchtete, im Falle eines Infarktes nicht
Oft dauerte es die halbe Nacht, bis diese nachließ.
12
schnell genug aus dem Gedränge zu kommen. Er
Deshalb griff er immer häufiger zu einem Schlafmit13
hatte sogar schon in Erwägung gezogen, in die
tel (Benzodiazepin), um Ruhe zu finden.
14
Nähe der Herzklinik umzuziehen. Sein SportproDa die Narbenhernie als mögliche Ursache der
15
gramm war inzwischen auf 1,5 Stunden HeimtraiBeschwerden angesehen wurde, ließ Herr M. drei
16
ner an 7 Tagen in der Woche angewachsen. Er
Korrektureingriffe vornehmen, ohne dass er be17
empfand dabei mehr Qual als Freude. Wenn er es
schwerdefrei wurde. Bei genauer Exploration be18
jedoch einen Tag ausließ, quälte ihn die Angst vor
richtete er später, dass die Schmerzen nicht das
19
dem Herztod noch stärker…
Problem gewesen seien. Wegen der gleichen Be20
schwerden am Bein hätte er sich nie operieren las21
sen. Eigentlich hätte ihn von Anfang an das AngstVerhaltensanalyse. Trotz günstiger körperlicher
22
gefühl deutlich mehr belastet.
Voraussetzungen erreichte Herr M. nach dem
23
zweiten Herzinfarkt nur noch eine schlechte Le24
bensqualität. Er fühlte sich niedergeschlagen und
Angstbedingte Verhaltensänderungen. Er be25
suchte psychotherapeutische Hilfe auf. Eine gemerkte selbst, wie er langsam, aber stetig sein Ver26
naue Verhaltensanalyse zeigte vor allem zwei häuhalten änderte. Vor der OP hatte er gemeinsam mit
27
fig wiederkehrende Muster (Tab. 16.2 und 16.3).
seiner Frau größere Reisen unternommen. Obwohl
28
29
30
31
32
Tabelle 16.2 Verhaltensanalyse anhand des Fallbeispiels, Situation 1: Herr M. spürt Schmerzen im Bereich seiner Operations33
narbe
34
Gedanken/Bewertung
„Das sind wieder Herzbeschwerden! Bald kommt der 3. Herzinfarkt, an dem ich ster35
ben werde!“
36
Reaktion
emotional: Angst und Verzweiflung
37
Verhalten: Grübeln darüber, warum er trotz seiner gesunden Lebensweise den
38
zweiten Infarkt erlitten hat und darüber, dass seine Frau nach seinem Tod mögli39
cherweise finanziell nicht abgesichert sein könnte; körperliche Schonung; Selbstmedikation mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln.
40
41
Konsequenzen
kurzfristig positiv: Verringerung der Beschwerden und nachfolgend der Angst
42
durch die körperliche Schonung.
kurzfristig negativ: depressive Stimmung
43
langfristig positiv: keine
44
langfristig negativ: Gefühl, krank und nicht mehr leistungsfähig zu sein, Verzicht
45
auf angenehme Aktivitäten.
46
47
48
49
50
51
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Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
16.3 Symptombeschreibung und Verhaltensanalyse anhand eines Fallbeispiels
131
Tabelle 16.3 Verhaltensanalyse anhand des Fallbeispiels, Situation 2: Herr M. spürt eine Unregelmäßigkeit an seinem Herzen
1 Herzklopfen oder -stolpern)
(z.B.
2Gedanken/Bewertung
„Das ist der 3. Herzinfarkt! Ich müsste eigentlich den Notarzt rufen, habe aber Angst,
3
mich wieder zu blamieren!“
4
Reaktion
emotional: Panik, zunehmende innere Anspannung, Verzweiflung
5
körperlich: als Folge der starken Angst und inneren Erregung Sympathiskusreak6
tion mit milder Sinustachykardie, Kältegefühl, Schwitzen, evtl. leichte Hyperventi7
lation
Verhalten: Früher Notarzt rufen oder Ambulanz aufsuchen, jetzt Selbstmedika8
tion mit Nitrospray und Benzodiazepin, Verzicht auf geplante Aktivitäten.
9
10
Konsequenzen
kurzfristig positiv: Entspannung und Angstlösung durch Benzodiazepinwirkung
und Placeboeffekt des Nitrosprays.
11
kurzfristig negativ: depressive Stimmung
12
langfristig positiv: keine
13
langfristig negativ: Zunehmendes Gefühl, dass der 3. Infarkt unmittelbar bevor14
steht. Zunehmender sozialer Rückzug und Verlust von Lebensqualität. Gefahr der
15
Benzodiazepinabhängigkeit. Außerdem wäre das Verhaltensmuster möglicher16
weise fatal, wenn tatsächlich ein neuer Infarkt käme.
17
18
Im zweiten Muster führt ein typischer Panik-Teu19
felskreis zu schnell ansteigender Angst, die mit in(äußere Reize)
20
tensiven körperlichen Symptomen und dem Ge21
fühl von Kontrollverlust verbunden ist. Für den
22
Patienten kommen die körperlichen Symptome so
23
schnell und intensiv, dass die auslösenden Gedan24
ken oder Situationen nicht wahrgenommen wer25
den und der Eindruck eines anfallsartig ablaufenkörperliche
26
Wahrnehmung
Empfindungen
den, körperlich ausgelösten Ereignisses entsteht.
27
Ein zweiter, längerfristig wirkender Teufelskreis
28
besteht aus der Neigung, Aktivitäten aufzugeben,
29
der depressiven Stimmung und dem Gefühl, chro30
nisch krank zu sein (Abb. 16.1).
31
Von besonderer Bedeutung für die Stabilisie32
Gedanken
physiologische
rung der Verhaltensketten sind die kurzfristigen
33
(„Gefahr“)
Veränderungen
positiven Konsequenzen für den Patienten, im
34
Fallbeispiel der Rückgang von Angst und Körper35
symptomen. Wie im Kap. 2 (Verhaltensanalyse)
36
„Angst“
beschrieben, sind kurzfristige Konsequenzen stär37
ker verhaltenssteuernd als langfristige, besonders
38
wenn es um die schnelle Beendigung eines unan(sichtbares Verhalten)
39
genehmen Zustandes geht (negative Verstärkung).
40
In der Therapie muss der Patient also zunächst lerAbb. 16.1 Der Teufelskreis bei Angstanfällen. Dargestellt ist
41
nen, gegen sein eigentliches Gefühl zu handeln
der typische Aufschaukelungsprozess, der während Panik42
und dem Wunsch nach Beendigung des unangeanfällen auftritt und für den raschen Angstanstieg verant43
wortlich ist (Fehm et al. 2000).
nehmen Zustandes nicht nachzugeben (Abb. 16.2).
44
45
46
47
48
49
50
51
52
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
132
16 Ängste
Abb. 16.2 Fallbeispiel: Teufelskreis bei
1
Herrn Dr. M.
„Ich muss alle Aktivitäten
zunehmender Verlust
2 so planen, dass sie nicht dem
gewohnter und
3 Herz schaden und ich jederzeit
angenehmer Aktivitäten
die
Herzklinik
erreichen
kann!“
4
5
6
„Das Leben ist nicht mehr so,
7 Gefühl, schwer herzkrank und
wie es vor dem 2. Infarkt war,
akut bedroht zu sein
8
es macht keinen Spaß mehr!“
9
10
11
matischen Diagnostik aufzuzeigen, sobald dies
Seine Angst, im Falle eines Herzinfarktes nicht
12
möglich ist. Da das Abwarten immer neuer Unterschnell genug kompetente Hilfe erreichen zu kön13
suchungsbefunde Patienten davon abhält, sich mit
nen, führt bei Herrn M. zu Denk- und Verhaltens14
der möglichen Psychogenese der Symptome ausmustern, wie sie für eine Agoraphobie typisch
15
einander zu setzen, sollte die diagnostische Phase
sind. Er beginnt, Orte und Situationen zu vermei16
nicht unnötig in die Länge gezogen werden.
den, die er für nicht sicher hält. So schränkt sich
17
sein Lebenskreis immer mehr ein. Sein Leben wird
18
Apparative Diagnostik. Zunächst gilt es, mögliche
langweiliger und ärmer, was zu einer depressiven
19
körperliche Erkrankungen auszuschließen. Hierzu
Stimmungslage führt. Diese Entwicklung ist bei
20
sind in der Regel die in Tab 16.4 angegeben UnterPatienten mit Agoraphobie häufig.
21
suchungen ausreichend. Bei vielen der in Tab. 16.5
Zusätzlich zeigt das Fallbeispiel die enge Ver22
aufgeführten Krankheitsbilder ist schon die Anambindung zwischen Ängsten und Zwangssympto23
nese richtungweisend. Einige Patienten mit einer
men. Herr M. weiß, dass er nicht jeden Tag trainie24
chronifizierten Angsterkrankung neigen dazu, Vorren müsste. Das quälende Trainingsritual ist
25
untersuchungen zu verschweigen. Sie befürchten,
inzwischen zur Zwangshandlung geworden, mit
26
dass etwas übersehen worden sein könnte und verder er versucht, seine Angst vor dem Infarkt in
27
suchen so, eine erneute Untersuchung zu bekomSchach zu halten. Auf ähnliche Weise bemühen
28
men. Um dies zu vermeiden, sollten Vorbefunde
sich z.B. Patienten mit Waschzwang, Angst vor ei29
gezielt erfragt und angefordert werden. Wenn der
ner Infektion zu besänftigen. In beiden Fällen führt
30
Patient auf diese Frage zögerlich reagiert, können
der Verzicht auf das Zwangsritual zunächst zu ei31
entsprechende Befürchtungen thematisiert wernem als sehr quälend erlebten Anstieg von Angst
32
den. Nach Sichtung der Befunde kann dann entund innerer Spannung.
33
schieden werden, ob weitere Untersuchungen not34
wendig sind oder nicht. Erfahrungsgemäß ist es
35
16.4
Diagnostik
eine harte Probe für das Vertrauen des Patienten,
36
wenn ein neu konsultierter Arzt gar keine Untersu37
chung vornimmt. Hier beginnt die oben erwähnte
Anamnese. Das diagnostische Gespräch dient
38
Gratwanderung. Schon eine gründliche körperliche
nicht nur zur Gewinnung von Informationen, son39
Untersuchung mit Auskultation und Tasten des
dern in dieser Zeit wird auch die Arzt- Patient40
Pulses kann jedoch sehr vertrauensbildend wirken.
Beziehung geprägt. Bei Patienten mit Angstsymp41
Wie bereits dargestellt sind Herzfrequenzen über
tomen ist es von besonderer Bedeutung, den rich42
130/Minute und das Auftreten von Bewusstseinstigen Mittelweg zwischen Ernstnehmen der Be43
verlust für eine Angststörung ungewöhnlich und
schwerden und Abklären der Symptome einerseits
44
bedürfen einer genaueren Abklärung. Bei ausgeund einer Förderung der Chronifizierung durch
45
prägtem kardiovaskulären Risikoprofil sollte die
immer neue Untersuchungen andererseits zu fin46
kardiologische Abklärung ausführlicher durchgeden. Wenn der Patient im Anamnesegespräch Ge47
führt werden.
legenheit erhält, seine Symptome angemessen zu
48
schildern, wird dies den Aufbau von Vertrauen
49
erleichtern. Anschließend ist es günstig, den wei50
teren Untersuchungsgang mit dem Patienten zu
51
besprechen und auch einen Schlusspunkt der so52
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16.5 Interventionen
Tabelle 16.4 Somatische Diagnostik bei Verdacht auf Angst1
störung
2 ausführliche Anamnese, körperliche Untersuchung
3 Blutbild, BZ, Elektrolyte, Schilddrüsenstatus
4 EKG, Langzeit-EKG, Belastungs-EKG, Herz-Ultra5 schall
6 bei respiratorischen Symptomen Lungenfunktions7 prüfung
bei Schwindelsymptomatik HNO-ärztliche Abklä8
rung
9 bei Verdacht auf Anfallsleiden neurologische
10 Abklärung
11
12
Tabelle
16.5 Wichtige somatische Ausschlussdiagnosen
13
Hyperthyreose
14 koronare Herzkrankheit
15 paroxysmale Tachykardien (z.B. WPW-Syndrom)
16 Phäochromozytom
17 Hypoglykämien
18 zerebrale Anfallsleiden
19 Medikamentennebenwirkung
Drogenabusus
20
21
22
Differenzialdiagnostik. Sollte wie bei Herrn Dr.
23
M. gleichzeitig eine körperliche Erkrankung vor24
liegen, ist die Differenzialdiagnose besonders
25
schwierig. Ziel der Diagnostik sollte es hier sein,
26
für den Patienten nachvollziehbar zu machen,
27
wann er seine Grunderkrankung spürt und wann
28
er unter Angstsymptomen leidet. Belastungs- und
29
Langzeit-EKG konnten bei ihm mit hinreichender
30
Sicherheit zeigen, dass es sich bei den Beschwer31
den nicht um Angina-Pectoris-Anfälle handelte.
32
Eine erneute Herzkatheteruntersuchung bestätig33
te, dass die angelegten Bypässe offen waren und
34
sich keine neuen Stenosen in den Herzkranzgefä35
ßen gebildet hatten.
36
37
Standardisierte Tests. Das Fallbeispiel zeigt, wel38
cher Leidensdruck durch psychosoziale Komorbi39
dität entstehen kann. Um diese trotz Zeitdruck
40
nicht zu übersehen, ist der Einsatz standardisierter
41
psychologischer Tests bei bestimmten Patienten42
gruppen auch in der allgemeinmedizinischen43
oder Facharztpraxis sinnvoll. Ein Beispiel hierfür
44
ist die Hospital Anxiety and Depression Scale
45
(HADS), die speziell zur Erfassung von Angst und
46
Depression bei körperlich Kranken entwickelt
47
wurde. Je sieben Fragen liefern einen Angst- und
48
einen Depressionswert. Es liegen ebenso wie für
49
Laborwerte Referenzgrößen für Gesunde und für
50
unterschiedliche Krankheitsbilder vor. Dies macht
51
den Test zu einem in der ärztlichen Praxis ebenso
52
133
wie in der Klinik einfach anzuwendenden Screening-Instrument. Der Test kann vom Patienten in
fünf Minuten ausgefüllt und von der Arzthelferin
in einer Minute ausgewertet werden.
Angststörungen und körperliche Erkrankungen
schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern treten häufig als komorbide Störungen oder als Angstreaktion auf eine körperliche Erkrankung gemeinsam auf.
Bei Herrn Dr. M. kam es zu einzelnen Panikanfällen
und zu agoraphobischem Vermeidungsverhalten.
Auch depressive Symptome bestanden. Häufigkeit
und Schwere der Symptomatik reichten jedoch
nicht aus, um die ICD-Kriterien einer dieser Erkrankungen zu erfüllen. Als Diagnose wird daher
eine Anpassungsstörung mit Angst und Depression (ICD 10, F 43.22) gestellt.
16.5
Interventionen
16.5.1 Information und Erarbeiten
eines neuen
Krankheitsmodells
Die Mitteilung der Untersuchungsergebnisse und
der Diagnose ist bei Angstpatienten von entscheidender Bedeutung und bereits ein wesentlicher
Teil der Therapie. Wenn dem Patienten versichert
wird „Sie können ganz beruhigt sein, die Befunde
sind völlig in Ordnung, sie sind kerngesund“, so
steht diese gut gemeinte Mitteilung im Widerspruch zu den Symptomen, die der Patient spürt
und für die er nach diesen Worten immer noch
keine Erklärung hat. Spätestens nach dem nächsten Angstanfall beginnen Zweifel wie:
„Hat der Arzt wirklich alle notwendigen Untersuchungen durchgeführt?“
„Am Tag der Untersuchung ging es mir ausnahmsweise ganz gut. Vielleicht sind die wirklich gefährlichen Symptome an diesem Tag
nicht aufgetreten und konnten daher nicht erkannt werden“
„Vielleicht war eines der Geräte defekt?“
„Habe ich etwa eine so schlimme Erkrankung,
dass mir der Arzt den wahren Grund der Beschwerden nicht nennen wollte?“
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134
16 Ängste
Solche oft automatisch auftretenden Gedanken
1
führen dazu, dass die Beruhigung durch unauffälli2
ge Untersuchungsbefunde nur vorübergehend
3
wirkt. Wenn die Symptome wieder auftreten,
4
werden neue Untersuchungen gefordert oder ein
5
zusätzlicher Spezialist aufgesucht. So kann es in
6
Einzelfällen zu mehreren unauffälligen Herzkathe7
teruntersuchungen innerhalb eines Jahres kom8
men. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist
9
es notwendig, dem Patienten nicht nur die Nor10
malbefunde mitzuteilen, sondern mit ihm ein
11
Krankheitsmodell zu erarbeiten, das eine akzep12
table Erklärung seiner Beschwerden bietet und die
13
weitere Behandlungsstrategie verständlich macht.
14
Wie man dem Patienten seine Beschwerden erklä15
ren kann, soll anhand des Fallbeispiels von Herrn
16
M. gezeigt werden.
17
18
19Praktisches Vorgehen
20
Wie Sie das Krankheitsmodell erläutern können:
21
„Die Untersuchungen sind gut ausgefallen. Es gibt
22
im Belastungs- und im Langzeit-EKG keinen Hin23
weis darauf, dass Teile des Herzmuskels zu wenig
24
Sauerstoff erhalten. Der Herzkatheter hat gezeigt,
25
dass die Bypässe offen sind und dass sich keine neu26
en Verengungen der Herzkranzgefäße gebildet ha27
ben. Ihre gesunde Lebensweise hat sich also ge28
lohnt und Sie brauchen keine Angst vor einem
29
drohenden Herzinfarkt zu haben.
30
Nun werden Sie sich fragen, woher die Beschwer31
den kommen, die Sie immer stärker spüren. Zum
32
Glück haben Sie während des Langzeit-EKGs sehr
33
sorgfältig Protokoll geführt. Um 18 Uhr haben Sie
34
Schmerzen im Brustkorb, Herzklopfen und Angst35
gefühl angegeben. Außerdem haben Sie Blutdruck
36
gemessen und einen Wert von 170/90 mmHg no37
tiert. Das Langzeit-EKG zeigt zu dieser Zeit nichts
38
Bedrohliches, lediglich einen Anstieg der Herzfre39
quenz von 72 auf 88/min. Puls- und Blutdruckan40
stieg lassen sich gut durch eine Reaktion des vege41
tativen Nervensystems auf die Angst, die in einer
42
solchen Situation oft auftritt, erklären. Das vegeta43
tive Nervensystem gibt in Situationen, die wir als
44
Bedrohung erleben, „Vollgas“. Diese Reaktion hat45
te bei unseren Vorfahren, die vor wilden Tieren flie46
hen, kämpfen oder schnell auf Bäume klettern
47
mussten, eine lebenswichtige Funktion. Heute
48
läuft sie dagegen mangels wilder Tiere und ähnli49
cher Feinde meist ins Leere. Die Folgen der ausge50
schütteten Stresshormone spüren Sie als körperli51
52
che Symptome wie Herzklopfen, Schwitzen oder
kalte Hände. Wenn sich zusätzlich noch die Atmung beschleunigt, kommen Schwindel, Flimmern
vor den Augen und Gefühlsstörungen hinzu.
Diese Symptome werden dann wiederum als Zeichen einer gefährlichen Situation am Herzen bewertet und steigern die Angst. So kommt es zu einem Teufelskreis, der schließlich die Symptome so
stark werden ließ, dass Sie den Notarzt gerufen haben. Solche Panikanfälle sind gut bekannt und treten auch bei Menschen auf, die keine Herzkrankheit
haben. Umso verständlicher ist diese Reaktion bei
Ihnen, nach allem, was Sie in den letzten Jahren erlebt haben. Glücklicherweise lassen sich Panikanfälle gut behandeln.
Ein wichtiger Punkt noch: Sicher fragen Sie sich
jetzt, ob diese Anfälle auf die Dauer dem Herzen
nicht schaden können. Sie haben bei sich selbst gesehen, dass Puls und Blutdruck nur im normalen
Rahmen ansteigen auch wenn es sich für Sie anders
angefühlt hat. Die Panikreaktion ist ja wie gesagt
eine normale menschliche Reaktion, nur dass sie
bei Ihnen zur falschen Zeit und zu oft abläuft. Bei
vielen Panikpatienten wurden die entsprechenden
Veränderungen schon im Panikanfall gemessen,
und es blieb immer im ‚grünen Bereich’.
Können Sie diese Erklärung Ihrer Beschwerden
nachvollziehen? Sicher werden Sie hierzu einige
Fragen haben …“
Bei Patienten mit einer Angstproblematik ohne
körperliche Erkrankung ist dieses Erklärungsschema ebenso anwendbar. Wenn sich im LangzeitEKG keinerlei Auffälligkeiten während der Panikanfälle finden, lässt sich dies damit erklären, dass
der Pulsanstieg im Anfall so gering ist, dass er sich
von den normalen Schwankungen nicht abhebt.
Viele Menschen halten Puls und Blutdruck für sehr
konstante Größen und müssen zunächst darüber
informiert werden, dass Schwankungen Zeichen einer gesunden Anpassungsfähigkeit des Organismus sind.
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16.5 Interventionen
1 Zusammenfassung
2
Strategie bei der Vermittlung der Diagnose „Pa3
nikanfall“
4
Zunächst sachliche Information über die unauf5
fälligen Untersuchungsbefunde. Diese als un6
tereinander konsistent und als Sicherheitssignal
7
beschreiben.
8
Dann ausdrücklich die Existenz der Beschwer9
den bestätigen und selbst die Frage nach deren
10
Ursache aufwerfen. Nie sagen: „Sie haben
11
nichts!“
12
Modell des Panikanfalls einführen und aus13
drücklich auf die Wechselwirkung von körperli14
chen und seelischen Faktoren hinweisen. Zen15
trale Botschaft: Die Beschwerden sind weder
16
eingebildet noch unerklärbar, sondern Teil ei17
nes gut bekannten, häufigen und erfolgreich
18
behandelbaren Krankheitsbildes!
19
Körperliche Beschwerden und gegebenenfalls
20
auch Messwerte mit diesem Modell erklären.
21
Teufelskreismodell einführen und möglichst
22
mit dem Patienten seinen eigenen Teufelskreis
23
mit spezifischen Beschwerden und Angst ver24
stärkenden Gedanken nachzeichnen.
25
Patient fragen, ob dieses Modell für ihn nach26
vollziehbar ist, oder ob starke Zweifel bleiben.
27
Wenn ja, auf diese eingehen.
28
Behandlungsstrategie erläutern.
29
Literatur zum Nachlesen empfehlen/ mitgeben.
30
31
32
Die oben dargestellten epidemiologischen Daten
33
zeigen, dass Angststörungen so häufig sind, dass
34
ihre Behandlung zunächst im Rahmen der psycho35
somatischen Grundversorgung durchgeführt wer36
den sollte. Im Folgenden werden deshalb verbale
37
Interventionstechniken, medikamentöse Behand38
lungsstrategien sowie Kriterien für eine Überwei39
sung zum Fachpsychotherapeuten dargestellt.
40
41
42
16.5.2
Verbale
43
Interventionstechniken
44
45
46
Bewältigungsressourcen aktivieren
47
48
Wenn erst einige wenige Angstanfälle aufgetreten
49
sind, kann die beschriebene Art der Diagnosemit50
teilung alleine schon therapeutisch wirksam sein.
51
Wenn der Patient das Erklärungsmodell „Angstan52
135
fall“ akzeptiert und mit Hilfe dieser Information
den Mut findet, die Symptome alleine zu bewältigen, sollte er hierin bestärkt werden. Wichtig ist
das Vereinbaren eines Kontrolltermins wenige
Wochen später und das Angebot, sich bei Problemen auch in der Zwischenzeit melden zu können.
Häufig reichen diese Hinweise, um der Entstehung
einer Panikstörung oder Agoraphobie vorzubeugen.
Hilfreich ist auch die Aufforderung an den Patienten, darüber nachzudenken, warum sein Körper die
„Alarmanlage gerade jetzt hat läuten lassen“, also
ob besondere Belastungssituationen, Konflikte
oder ungesunde Verhaltensweisen das Auftreten
des Angstanfalls begünstigt haben und entsprechende Verhaltensänderungen sinnvoll sein könnten.
Sokratischer Dialog. Sollten die Symptome weiter bestehen, so ist der sokratische Dialog, also die
Veränderung der Angst machenden Überzeugungen durch Hinterfragen, wirkungsvoller, als ständiges Beruhigen durch den Arzt. Fragen an den Patienten könnten sein:
Arzt: „Was befürchten Sie genau?“
Patient: „Ich könnte einen Herzinfarkt erleiden!“
Arzt: „Welche Argumente/Beobachtungen sprechen für Ihre Befürchtung?“
Patient: „So starke Beschwerden können nicht
psychisch sein! Mein Onkel hatte auch immer
Beschwerden in der Brust, bevor er am Herzinfarkt verstorben ist!“
Arzt: „Welche Argumente/Beobachtungen sprechen dagegen?
Patient: „Mein Onkel hatte die Beschwerden
immer bei körperlicher Belastung, ich dagegen
eher in Ruhe. Ich hatte es schon 50-mal und es
ist nie etwas geschehen! Die Untersuchungsergebnisse waren alle normal“
Arzt: „Welche andere Erklärung könnte es für
Ihre Beschwerden geben, als einen drohenden
Herzinfarkt?
Patient: „Vielleicht könnte es doch mit der
Angst zusammenhängen und den Gedanken,
die ich mir ständig mache!“
Arzt: „Für wie wahrscheinlich (in %) halten Sie
a) Ihre ursprüngliche Befürchtung, und b) die
alternative Erklärung?“
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136
16 Ängste
1 Es ist zwar zunächst zeitaufwendiger, langfristig
2 aber wesentlich effektiver, den Patienten durch ge3 zieltes Nachfragen auf die richtigen Gedanken zu
4 bringen, als ihm die beruhigenden Argumente im5 mer wieder vorzubeten.
6
7
Geleitetes Entdecken. Eine weitere wirkungsvol8
le Technik ist das geleitete Entdecken. Um dem Pa9
tienten, z.B. die Bedeutung der Hyperventilation
10
bei der Entstehung seiner Beschwerden, zu ver11
deutlichen, kann man ihn in der Praxis hyperven12
tilieren lassen und dann fragen, ob die Symptome
13
denen ähneln, die er aus den Angstsituationen
14
kennt. Anschließend können Möglichkeiten der
15
Gegensteuerung (Atemtechniken wie Bauchat16
mung oder Kontaktatmung oder CO-Rückatmung)
17
erprobt werden.
18
Eine andere Übung dient dazu, die Rolle der
19
ängstlichen Selbstbeobachtung bei der Entstehung
20
von Beschwerden zu erarbeiten. Der Patient wird
21
hierbei zunächst gebeten, sich zu entspannen und
22
dann die Stärke seiner Angstsymptome einzu23
schätzen. Diese werden in Anwesenheit des Arztes
24
zunächst niedrig sein. Dann wird er aufgefordert,
25
die Augen zu schließen, sich ganz genau auf die
26
Angst besetzte Körperregion zu konzentrieren und
27
jede Unregelmäßigkeit genau wahrzunehmen.
28
(„Achten Sie genau auf Ihr Herz, verfolgen Sie ge29
nau, wie es schlägt, achten Sie auf jede Unregelmä30
ßigkeit!“) Dies führt bei der Mehrzahl der Patien31
ten zu einem starken Anstieg von Angst und
32
Beschwerden. Anschließend wird im Gespräch ge33
klärt, wie die Beschwerden entstanden sind. Die
34
hierdurch entstehende Ablenkung durch das Ge35
spräch mit dem Arzt führt wieder zu einer Symp36
tomreduktion, welche die Bedeutung der Auf37
merksamkeit/Ablenkung zusätzlich unterstreicht.
38
(Wie sind Ihre Beschwerden jetzt, nachdem wir
39
drei Minuten miteinander gesprochen haben? Wie
40
erklären Sie sich diesen Rückgang?“)
41
42
In beiden Übungen lernt der Patient, seine Sympto43
me selbst herbeizuführen oder zu verstärken. Dies
44
ist therapeutisch sinnvoll, da es dem Gefühl des Pa45
tienten, die Beschwerden nicht kontrollieren zu
46
können, entgegenwirkt.
47
48
49
50
51
52
Entkatastrophisieren
Eine ähnliche Wirkungsweise hat das Entkatastrophisieren. Bei der Vorstellung des Angst auslösenden Ereignisses setzt häufig kognitive Vermeidung
ein. So hört ein Patient mit Agoraphobie z.B. bei
der Vorstellung, in einem vollen Kino zu sitzen, an
der Stelle mit dem Weiterdenken auf, an der die
Angst beginnt. Es bleibt eine dunkle, böse Ahnung,
die den Blick darauf verstellt, dass das Leben auch
nach dieser Situation weitergeht. Um den Patienten zu den hier verborgenen Lösungsmöglichkeiten zu führen, fragt man zunächst, was er genau
befürchtet. Dann bittet man ihn, sich vorzustellen,
die Befürchtung sei eingetreten.
Mögliche Fehler
Entkatastrophisieren sollte nicht eingesetzt werden, wenn die Befürchtung lautet: „Ich werde sterben!“ In diesem eher seltenen Fall sollte man nachfragen, für wie wahrscheinlich der Patient dies hält.
Dann sollte die Befürchtung zu sterben, mit sokratischem Dialog modifiziert werden.
Viele Patienten haben sich bis hierhin nie vorgewagt. Sie stellen dann erstaunt fest, dass das Leben
nach dem Eintreten der Befürchtung („Ich könnte
Umkippen“; „Ich könnte in Panik den Saal verlassen“; „Ich könnte mich lächerlich machen“ …)
weitergeht. Es zeigt sich dann, dass die Konsequenzen dieses Ereignisses eigentlich weniger belastend sind als die des Vermeidungsverhaltens.
Das Entkatastrophisieren eignet sich deshalb gut
zur Vorbereitung eines Expositionstrainings.
Wunsch nach absoluter Sicherheit
Gelegentlich erwarten Patienten von ihrem Arzt,
dass er ihre Befürchtungen mit absoluter Sicherheit ausschließt. Dies zeigt sich in Fragen wie: „Ist
es nach diesen Untersuchungen völlig ausgeschlossen, dass ich einen Herzinfarkt kriege?“ Aus
Angst vor möglichen juristischen Konsequenzen
wird hier oft eine ausweichende Antwort gegeben.
Sinnvoller ist es, dem Patienten klar zu machen,
dass er hier etwas fordert, was außerhalb des Möglichen liegt. Hilfreich ist daher die Gegenfrage:
„Was verstehen Sie unter absoluter Sicherheit?
Halten Sie diese für möglich?“
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16.5 Interventionen
Zu einem Umdenken kann auch die Frage füh1
ren, wie lange der Patient glaubt, dass die durch
2
eine erneute Untersuchung erreichte Beruhigung
3
denn anhalten würde. Er soll sich vorstellen, die
4
gewünschte Untersuchung wäre bereits gelaufen
5
und unauffällig ausgefallen. Dann konfrontiert
6
man ihn mit allen Zweifeln und Bedenken, die er
7
bisher selbst geäußert hat.
8
9
10Praktisches Vorgehen
11
Die Frage nach der Erdbebenversicherung
12
Wenn Patienten immer wieder aufs neue Befürch13
tungen äußern und auf Untersuchungen drängen,
14
kann man fragen: „Haben Sie eigentlich eine Versi15
cherung gegen Erdbeben abgeschlossen?“. Auf die
16
Entgegnung, Erdbeben seien in unserer Gegend
17
doch ganz unwahrscheinlich, kommt die Frage:
18
„Können Sie da wirklich absolut sicher sein?“. Die19
ses Beispiel zeigt, dass wir unser Leben in der Regel
20
so einrichten, dass wir Katastrophen mit sehr gerin21
ger anzunehmender Wahrscheinlichkeit bei unse22
rer Planung vernachlässigen.
23
24
25
26
Biographischer Bezug der Symptome
27
28
Nur bei einem Teil der Patienten besteht ein Zusam29
menhang zwischen den Symptomen und der aktu30
ellen Lebenssituation oder der Lebensgeschichte.
31
Wenn dieser vorliegt, sollte er angesprochen wer32
den. („Was glauben Sie, warum diese Symptome ge33
rade jetzt aufgetreten sind?“) Die Erklärung, dass in
34
Lebensphasen voller Anspannung ein höherer
35
Stresshormonspiegel im Körper ist und es somit
36
schneller zu Angstsymptomen kommt, macht es
37
auch somatisch orientierten Patienten leichter, die38
sen Zusammenhang für sich in Betracht zu ziehen.
39
Typisch sind z.B. Partnerschaftskonflikte oder chro40
nische berufliche Überforderungssituationen. In der
41
Lebenssituation des Patienten können auch auf42
rechterhaltende Faktoren der Krankheit liegen, wie
43
ein ausgeprägter sekundärer Krankheitsgewinn.
44
45
46Praktisches Vorgehen
47
48Zu überraschenden Antworten kann die Frage füh49ren: „Was würde sich in Ihrem Leben ändern, wenn
50das Symptom plötzlich wieder verschwunden wä51re?“ Wenn der Patient die Frage mit einem „Dann
52
137
wäre wieder alles in Ordnung!“ abtut, wird er aufgefordert, einzelne Lebensbereiche durchzugehen
und mögliche Veränderungen zu benennen. Eine
Patientin reagierte auf diese Nachfrage mit Tränen
und der Antwort: „Wenn die Angst mich nicht
schwach und abhängig hielte, würde ich mich
wahrscheinlich von meinem Mann trennen, unsere
Ehe ist schon lange nicht mehr glücklich!“.
Bei Dr. M. zeigte sich, dass das Grübeln über die
Herzkrankheit ihn einen großen Teil des Tages beschäftigt hielt. Er spürte so die Leere nicht mehr,
die das Aufgeben der Praxis in seinem Alltag hinterlassen hatte.
16.5.3 Expositionsübungen
Von den drei verhaltenstherapeutischen Strategien
der Angstbehandlung (systematische Desensibilisierung, abgestufte Exposition, Flooding) ist die abgestufte Exposition zum Einsatz in der ärztlichen
Praxis geeignet. Bei der abgestuften Exposition
kann der Patient nach einer kurzen Anleitung (sinnvoll sind hier zusätzlich die unten genannten Patientenratgeber) alleine üben. Zunächst soll der
Patient auf einer visuellen Analogskala seine Angststärke einschätzen. Ähnlich wie in der Schmerztherapie hat sich eine Einteilung von 0–10 oder 0–100
bewährt. Anschließend werden Übungen erarbeitet, die sich in einem mittleren bis hohen Angstbereich bewegen. Der Patient soll beim Üben deutliche Angst verspüren und so lange in der Situation
bleiben, bis die Angst von selbst nachlässt. Die
Übung soll so lange wiederholt werden, bis sie nur
noch geringe Angst auslöst. Erst dann sollte zur
nächst schwierigeren Übung übergegangen werden. Agoraphobiker sollten an den gefürchteten Orten, Sozialphobiker in den entsprechenden sozialen
Situationen üben. Für Panikpatienten kann zeitlich
befristetes Hyperventilieren, schnelles sich im
Kreis Drehen oder auch sportliche Aktivität eine
sinnvolle Expositionsübung darstellen. Angst wird
durch die negative Verstärkung des Vermeidungsverhaltens aufrechterhalten und verschlimmert.
Ziel der Expositionsübung ist es, dieses Vermeidungsverhalten zu durchbrechen und dem Patienten die Erfahrung zu ermöglichen, dass die Angst
von selbst nachlässt, wenn er lange genug in der
Angst auslösenden Situation bleibt (Abb. 16.3a u. b).
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16 Ängste
subjektive Angst
subjektive Angst
1 120
D: Erwartung
2
3 100
C: Erwartung
4
80
5
B: Habituation
6
60
7
A: Vermeidung
40
8
Ritual
9
20
10
0
11
Zeitverlauf
a
12
13
100
1
14
15 80
2
16
3
17 60
18
19 40
4
20
21 20
22
23
0
Zeitverlauf
24b
25
Abb. 16.3a, b Graphische Darstellung des Verlaufs von Angst bzw. Erregung bei der Konfrontation mit Angstreizen (Margraf
26
u. Schneider 1996).
27
a zeigt Verlaufskurven ohne therapeutische Intervention. Typisch ist der rasche Anstieg mit einem langsamen Abfall der
28Angst. Ohne Behandlung zeigen die Patienten in der Regel Vermeidungsverhalten (Kurve A: Vermeidung) und erreichen so
29nicht den Punkt, an dem die Kurve von allein abfällt (Kurve B: Habituation). Die Kurven C und D zeigen vom Patienten
30befürchtete Verläufe mit einer scheinbar „unendlich“ anhaltenden (C) oder immer weiter ansteigenden (D) Angst, die erst
durch eine als imminent wahrgenommene Katastrophe (z.B. Tod durch Herzstillstand) beendet werden könnte.
31
b zeigt die Verlaufskurven bei therapeutischer Konfrontation: Dabei machen die Patienten die Erfahrung, dass die Angst von
32allein abnimmt („habituiert“), wobei die Kurve bei wiederholter Konfrontation (1.–4. Durchgang) immer weiter abflacht.
33
34
35
36Zusammenfassung
lich, vor den Übungen Beruhigungsmittel oder Al37
kohol einzusetzen, um sie „besser durchzustehen“.
Bei der Angstexposition sollten folgende Punkte
38
Die Übungen sollten so geplant werden, dass der
beachtet werden:
39
Erfolg vom Patienten als Belohnung empfunden
Vereinbaren Sie mit dem Patienten konkrete Übun40
wird. Günstig ist es, wenn er schnell wieder Dinge
gen mit festgesetztem Ablauf. Bitten Sie ihn, Ablauf
41
tun kann, die ihm wichtig sind, wie z.B. einkaufen.
und Angstverlauf zu protokollieren und zum nächs42
Der Patient soll die Übung auch dann wie geplant
ten Termin mitzubringen. Besprechen Sie kurz das
43
beenden, wenn er sich in der Lage fühlt, noch weiProtokoll und loben Sie den Patienten für die
44
ter zu üben. Einige Patienten exponieren sich imDurchführung der Übungen (Er hat es verdient, Ex45
mer, bis die Angst so stark wird, dass es nicht mehr
position ist wirklich keine angenehme Sache!)
46
geht. Dies ist falsches Heldentum und führt dazu,
Erfolgskriterium ist es, die Übung wie besprochen
47
dass die Übung immer mit einem Misserfolg endet.
durchzuführen und nicht, dies ohne Angst zu tun.
48
Wenn die geplante Übung wirklich zu einfach geKlären Sie die Patienten immer wieder darüber auf,
49
wesen sein sollte, ist es aber erlaubt, für den nächsdass erfolgreiches Üben nicht möglich ist, ohne
50
ten Tag den Schwierigkeitsgrad zu steigern.
Angst zu spüren. Aus diesem Grunde ist es schäd51
52
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
16.5 Interventionen
1 Der größte Fehler bei der Exposition ist es, die
2 Übung auf einem hohen Angstniveau zu been3 den, ohne den Angstabfall zu erleben. Dies führt
4 zu einer Verstärkung der Angst. Wenn ein Patient
5 die Übungen trotz Information über diesen Punkt
6 zu früh abbricht, sollte davon abgeraten werden,
7 alleine weiter zu üben und die Überweisung zu ei8 nem Psychotherapeuten erfolgen.
9 Die Übungen sollten mehrmals pro Woche durchge10führt werden. Längere Pausen führen dazu, dass
11man auf einem höheren Angstniveau wieder ein12steigen muss.
13Halten Sie den Patienten dazu an, vor den Übungen
14eines der genannten Bücher zu lesen. So können Sie
15seine Motivation testen und Ihre kostbare Zeit spa16ren.
17Wenn sich nach etwa 6–8 Wochen kein Erfolg ein18stellt, ist davon auszugehen, dass der Patient bei
19den Übungen mehr professionelle Hilfe benötigt.
20Dies ist der richtige Zeitpunkt, um einen Fach21psychotherapeuten hinzuzuziehen.
22
23
Entspannungsverfahren. Entspannungsverfah24
ren sind zur primären Therapie einer Angststörung
25
nicht geeignet. Das autogene Training, in der Lite26
ratur gelegentlich als „psychotherapeutisches Ba27
sistherapeutikum“ bezeichnet, kann bei Panikpati28
enten durch die verstärkte Konzentration auf den
29
Körper zu einer Verstärkung der Angst führen. Ein
30
solches Misserfolgserlebnis kann zu einer skepti31
schen Haltung gegenüber Psychotherapie allge32
mein führen. Geeigneter ist die progressive Mus33
kelentspannung nach Jacobson, da hier die
34
Aufmerksamkeit durch die klarere Struktur der
35
Übungen besser gelenkt werden kann. Doch auch
36
sie sollte nicht als alleinige Therapie bei Angster37
krankungen empfohlen werden. Da ein erhöhtes
38
Anspannungsniveau jedoch das Auftreten von
39
Angstsymptomen begünstigt, haben Entspan40
nungsverfahren als Bestandteil eines multimoda41
len Therapieprogramms in Kombination mit kog42
nitiven Techniken und Expositionsübungen in der
43
Angsttherapie ihren Stellenwert.
44
45
Physiotherapie. Patienten mit körperbezogenen
46
Ängsten neigen dazu, sich zu schonen und an47
strengende körperliche Tätigkeiten zu vermeiden.
48
Auch bei zuvor sportlich aktiven Menschen lösen
49
nun Herzklopfen und Schwitzen Panik aus, so dass
50
auf körperliches Training verzichtet wird. Die
51
Symptome des Trainingsmangels werden dann
52
139
wiederum als Zeichen einer bedrohlichen Erkrankung fehlgedeutet. Trotz der ärztlichen Versicherung, dass sportliches Training nicht nur unschädlich, sondern sogar der Heilung förderlich ist,
gelingt es zahlreichen Betroffenen nicht, die
Angstschwelle aus eigener Kraft zu überwinden.
Hier hilft ein physiotherapeutisch begleitetes Konditionstraining. Wenn der Patient zur Puls- Selbstmessung angeleitet wird, kann er feststellen, dass
sein Puls deutlich niedriger liegt, als er geschätzt
und befürchtet hätte. Jüngere Patienten neigen dazu, die Folge eines mehrwöchigen Trainingsmangels zu unterschätzen. Hier hilft die physiotherapeutische Begleitung, sich am Anfang nicht zu
überfordern.
Häufig ist Hyperventilation ein starker Beschleuniger des Panikteufelskreises. Die Mehrzahl
der Betroffenen hyperventiliert zunächst nur milde, so dass dies für sie und die Umgebung nicht zu
erkennen ist. Hier hilft Atemtherapie, die Sensibilität für den eigenen Atemrhythmus zu schulen.
Praktisches Vorgehen
Kontaktatmung: Der Patient wird aufgefordert,
beide Hände in der Höhe des Nabels flach auf den
Bauch zu legen, die Fingerspitzen sollen sich hierbei
berühren. Nun soll er mäßig tief in den Bauch atmen, so dass die Hände beim Einatmen nach außen
angehoben werden und beim Ausatmen wieder
zurücksinken.
Wenn diese Übung in Angst besetzten Situationen
durchgeführt wird, kann sie der Hyperventilation
vorbeugen, bei milder Hyperventilation die Symptome wieder zum Verschwinden bringen. Im Vollbild der Hyperventilation reicht ihre Wirkung jedoch nicht mehr aus und der Patient muss auf die
CO -Rückatmung mittels einer Tüte zurückgreifen.
16.5.4 Medikamentöse Therapie
Die Behandlung von Angsterkrankungen sollte primär psychotherapeutisch erfolgen, da hier besonders im Langzeitverlauf die besten Ergebnisse zu
erwarten sind. Während bei Psychotherapiestudien auch nach Therapieende in der Katamnese
gleich bleibende oder sogar noch ansteigende Effekte zu beobachten sind, entwickelt ein größerer
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
140
16 Ängste
Teil der ausschließlich medikamentös behandel1
ten Patienten nach dem Absetzen wieder Angst2
symptome. Hinzu kommt, dass Patienten mit kör3
perbezogenen Ängsten Nebenwirkungen von
4
Psychopharmaka Angst besetzt umdeuten, was die
5
Compliance verschlechtert. Darüber, ob sich durch
6
eine Kombination von Psychotherapie und Medi7
kamenten die Ergebnisse verbessern lassen, liegen
8
unterschiedliche Ergebnisse vor. Entgegen frühe9
rer Annahmen kann jedoch nicht mehr grundsätz10
lich davon ausgegangen werden, dass die Einnah11
me von Psychopharmaka für den Erfolg einer
12
Psychotherapie hinderlich ist. Voraussetzung ei13
ner erfolgreichen Behandlung ist jedoch, dass bei14
de Methoden aufeinander abgestimmt sind. So
15
wäre es z.B. kontraproduktiv, wenn ein Patient vor
16
einem Expositionstraining durch die Einnahme ei17
nes Tranquilizers das Auftreten der Angst verhin18
dert. Auch muss darauf geachtet werden, dass der
19
Patient Fortschritte in der Therapie seinen eige20
nen, verbesserten Bewältigungsstrategien und
21
nicht alleine dem Medikament zuschreibt.
22
23
24Praktisches Vorgehen
25
In der ärztlichen Praxis ergeben sich vor allem fol26
gende Indikationen zur medikamentösen Thera27
pie:
28
Akutsituationen (z.B. Notarzteinsatz bei einem
29
Panikpatienten, indiziert sind schnell wirkende
30
Benzodiazepine),
31
Beginn mit medikamentöser Therapie bei aus32
geprägter Symptomatik oder längerer Warte33
zeit auf einen Psychotherapieplatz, Ausschlei34
chen des Medikamentes nach Wirkungseintritt
35
der Psychotherapie (indiziert sind Antidepressi36
va),
37
alleinige medikamentöse Therapie, wenn der
38
Patient nicht zur Psychotherapie motiviert oder
39
durch schlechte lokale Infrastruktur Psychothe40
rapie nicht mit vertretbarem Aufwand erreich41
bar ist (indiziert sind Antidepressiva).
42
43
44
45
Differenzialindikation einzelner Stoffgruppen
46
47
Benzodiazepine. Sie sollten in der Angstbehand48
lung nur kurzzeitig und mit großer Zurückhaltung
49
eingesetzt werden. Bei den Patienten ist diese
50
Stoffgruppe zunächst sehr beliebt – bringt sie doch
51
die quälenden Symptome schnell und ohne Ne52
benwirkungen zum Verschwinden. Dem steht jedoch ein erhebliches Abhängigkeitsrisiko gegenüber. Da der Reboundeffekt nach dem Absetzen zu
einem massiven Rückfall der Angstsymptome führen kann, sind Angstpatienten häufig schon nach
wenigen Wochen in einer Abhängigkeitsfalle gefangen. Oft wird eine Dosissteigerung notwendig
und Patienten besorgen sich die nötigen Benzodiazepinmengen durch Parallelverschreibung bei
mehreren Ärzten (Vorsicht bei Patienten, die um
ein „Vertretungsrezept“ bitten!) oder auf illegalem
Wege.
Wenn in einer Krisensituation Benzodiazepine
eingesetzt wurden, sollten die Patienten darüber
aufgeklärt werden, dass ein Beruhigungsmittel
verabreicht wurde. Ansonsten besteht die Gefahr,
dass die Abfolge: „Körpersymptome  Arzt gibt
ein Medikament  Symptome verschwinden“ als
Hinweis darauf interpretiert, dass eine organische
Erkrankung vorliegt („Erst als der Doktor mir die
Kreislaufspritze gegeben hat, wurde es besser …“).
Antidepressiva. Wenn eine medikamentöse Therapie primär oder in Kombination mit Psychotherapie indiziert ist, so sind Antidepressiva Mittel
der Wahl. Sowohl bei der Panikstörung als auch
bei Phobien und der Generalisierten Angststörung
ist die Wirkung der trizyklischen Antidepressiva
Imipramin und Clomipramin gut dokumentiert. Da
insbesondere Panikpatienten auf die vegetativen
Nebenwirkungen mit einem Absetzen des Medikamentes reagieren, sollte einschleichend (z.B. Beginn mit 10 mg/Tag, dann 25, 50, 75 mg/Tag etc.,
Steigerung alle drei Tage) begonnen werden. Die
Maximaldosis beträgt 300 mg/Tag, ein Wirkungseintritt ist jedoch schon bei niedrigen Dosierungen
(50–100 mg) möglich. Die Patienten müssen darüber aufgeklärt werden, dass die Wirkung erst nach
drei bis vier Wochen erwartet werden darf, Nebenwirkungen aber sofort einsetzen können. Eine
Behandlung muss also mindestens 6–8 Wochen
(bei ausreichender Dosierung) fortgesetzt werden,
um ihren Erfolg beurteilen zu können. Der Patient
sollte bereit sein, diese „Durststrecke“ zu überwinden. Wenn eine Schlafstörung vorliegt oder ein etwas sedierender Effekt gewünscht ist, kann alternativ Doxepin, evtl. mit der Hauptdosis am Abend
eingesetzt werden. Neuere Studien konnten auch
die Wirksamkeit von Antidepressiva mit Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmung (SSRI) bei Angststörungen nachweisen (z.B. Paroxetin 20 mg/Tag).
Bei starken Nebenwirkungen der Trizyklika steht
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
16.6 Empirische Absicherung
also eine weitere therapeutische Option zur Verfü1
gung, außerdem ist hier mit einem schnelleren
2
Wirkungseintritt zu rechnen. Da Antidepressiva
3
die Angst nicht völlig ausschalten, sind unter der
4
Medikation auch Expositionsübungen möglich.
5
Bei Zwangsstörungen zeigen Antidepressiva,
6
wie das Trizyklikum Clomipramin oder SSRI wie
7
Fluvoxamin und Fluoxetin gute Wirkung. Bei
8
schweren oder chronischen Krankheitsbildern ist
9
die Kombination von Medikament und Psychothe10
rapie der Monotherapie überlegen.
11
12
Neuroleptika. Niedrigpotente Neuroleptika ha13
ben eine Tranquilizerwirkung und werden deshalb
14
vereinzelt in der Angsttherapie eingesetzt. Da je15
doch bei Langzeitanwendung auch in niedriger
16
Dosierung die Gefahr ernster Nebenwirkungen,
17
wie Blutbildveränderungen, extrapyramidalen
18
Symptomen und irreversiblen Spätdyskinesien be19
steht, kann von diesem Vorgehen nur abgeraten
20
werden. Mit den Antidepressiva steht eine wir21
kungsvollere und sicherere Alternative zur Verfü22
gung.
23
24
Pflanzliche Präparate. Nicht nur von Angstpati25
enten wird häufig der Wunsch nach einem pflanz26
lichen Medikament geäußert, so dass sich z.B. die
27
Verordnung pflanzlicher Sedativa von 1987 bis
28
1996 annähernd verdreifacht hat. Eine anxiolyti29
sche Wirkung konnte allerdings nicht befriedigend
30
nachgewiesen werden. Ein populäres pflanzliches
31
Pharmakon, die Cava-Cava-Wurzel, musste inzwi32
schen wegen schwerwiegenden Zwischenfällen
33
vom Markt genommen werden. Dies zeigt, dass
34
pflanzliche Präparate keineswegs frei von Arznei35
mittelrisiken sind.
36
Phytopharmaka können ebenso wie reine Place37
bos ein Expositionstraining erheblich behindern.
38
Wenn ein Patient z.B. immer vor einer Exposi39
tionsübung „Bachblütentropfen“ einnimmt, kann
40
damit ein für den Lerneffekt hinreichender Angs41
tanstieg verhindert werden. Zusätzlich besteht die
42
Gefahr, dass der Patient die Bewältigung der Situa43
tion auf die Tropfen und nicht auf die neu gelernte
44
Fähigkeit zur Angstbewältigung zurückführt. Eine
45
Placebotherapie mag zwar zu kurzfristigen Erfol46
gen führen, verhindert aber, dass eine kausale Be47
handlung stattfindet und ist daher mit einer hohen
48
Rückfallquote belastet.
49
50
51
52
16.6
141
Empirische Absicherung
Kaum ein Psychotherapieverfahren ist in seiner
Wirksamkeit so gut belegt, wie der Effekt von Konfrontationsverfahren bei der Behandlung von Phobien. Die Literaturübersicht von Grawe (1994)
fand 62 Studien, 80% davon erhoben Katamnesedaten bis zu maximal neun Jahre nach Therapieende. So gaben z.B. 78% der von Fiegenbaum (1988)
untersuchten 104 Patienten auch fünf Jahre nach
Therapieende noch an, völlig beschwerdefrei zu
sein. Gleich hoch lag das Ergebnis in einem Verhaltenstest, bei dem die Patienten gebeten wurden, in
der vor der Therapie schwierigsten Situation zu
verbleiben. Positiv war auch die Wirkung auf andere individuell definierte Zielsymptome wie Arbeit, Freizeitgestaltung und allgemeines Wohlbefinden. In keiner Studie wurden in der Katamnese
mehr neu aufgetretene Symptome gefunden als in
der Allgemeinbevölkerung. Die früher postulierte
„Symptomverschiebung“ ließ sich also nicht nachweisen.
Für die Praxis relevant ist der Befund, dass massierte Konfrontation in vivo (Flooding) eine deutlich bessere Wirkung zeigte als In-Sensu-Konfrontation (als Vorstellungsübung) oder systematische
Desensibilisierung. Allerdings hat die massierte
Konfrontation bei den Patienten eine etwas geringere Akzeptanz. Leider wird derzeit diese erwiesenermaßen wirksamste Therapieform nur einem
Bruchteil der Betroffenen angeboten. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Durchführung von
teilweise mehrstündigen Konfrontationsübungen
auch für die Therapeuten mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Bei der Überweisung zur Psychotherapie sollte daher darauf geachtet werden,
dass Konfrontationsübungen lege artis durchgeführt werden.
Panikstörungen. Auch die Wirkung von etwa 15
Sitzungen dauernden kognitiv-behavioralen Therapieprogrammen auf die Panikstörung ist inzwischen durch kontrollierte Studien belegt. So verglich z.B. Barlow (1988) diese Therapieform mit
einem Entspannungstraining und einer Wartelisten-Kontrollgruppe. Nach Therapieende waren
80% der Patienten mit kognitiver Verhaltenstherapie vollständig anfallsfrei, die Entspannungsgruppe unterschied sich mit 40% Anfallsfreiheit nicht
signifikant von der Wartelisten-Kontrollgruppe.
Diese Zahlen blieben auch in der Katamnese nach
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
142
16 Ängste
24 Monaten konstant. Die Kombination mit einem
1
Entspannungstraining konnte keine zusätzliche
2
Verbesserung erzielen.
3
4
Blut-, Spritzen- und Zahnarztphobien. Für die
5
ärztliche Praxis relevant sind die Blut- und die
6
Spritzenphobie. Hier konnten Konfrontationsü7
bungen von 2–4 Stunden Dauer bei 80% der Teil8
nehmer einen Erfolg erzielen. Bei der Zahnarzt9
phobie waren etwas längere Programme (7–8
10
Stunden), die kognitive Techniken, Desensibilisie11
rung und Entspannung kombinierten, bei über
12
90% der Patienten wirkungsvoll, d.h. es konnte ein
13
Zahnarzt eigenständig aufgesucht und die not14
wendige Behandlung vollständig und ohne Voll15
narkose durchgeführt werden.
16
17
Soziale Phobien. Programme für die Behandlung
18
der sozialen Phobie wurden bisher nur in wenigen
19
kontrollierten Studien untersucht. Dabei zeigte
20
sich eine Kombination aus kognitiven Techniken,
21
Expositionstraining und Entspannung als effek22
tivste Methode. Bei der Therapieevaluation zeigte
23
sich, dass Patienten mit einer reinen Phobie bei gu24
ten sozialen Fähigkeiten von dieser Behandlungs25
form besonders profitieren, während diejenigen
26
mit sozialen Defiziten ein zusätzliches Kompe27
tenztraining benötigten. Soziale Kompetenz lässt
28
sich wirkungsvoll und ökonomisch in Gruppen
29
trainieren. Leider werden ambulante Thera30
piegruppen derzeit so schlecht honoriert, dass sie
31
kaum angeboten werden. Deshalb lässt sich eine
32
angemessene Behandlung häufig nur in einem sta33
tionären Setting, z.B. einer psychosomatischen Re34
habilitationsklinik, realisieren.
35
36
37Zusammenfassung
38
Ängste als Begleitsymptom körperlicher Erkran39
kungen und primäre Angststörungen gehören
40
zu den häufigsten Krankheitsbildern. Wegen
41
der angstinduzierten Körpersymptome suchen
42
viele Angstpatienten primär den Hausarzt oder
43
einen zum Körpersymptom passenden Spezia44
listen auf.
45
Bei Verdacht auf Angsterkrankung soll die medi46
zinische Diagnostik (unter Berücksichtigung
47
von Vorbefunden) zügig durchgeführt werden.
48
Das Ende der diagnostischen Phase sollte dem
49
Patienten klar mitgeteilt werden.
50
51
52
Wenn eine Angststörung vorliegt, sollte diese
Diagnose dem Patienten klar mitgeteilt werden.
Dabei ist wichtig, dass er die Angst als Erklärung
für seine Beschwerden verstehen und akzeptieren kann. Die Mitteilung einer Ausschlussdiagnose („Sie haben nichts!“) lässt den Patienten
ohne Erklärung für seine Beschwerden und führt
zu „Doctor-Shopping“ und Chronifizierung.
Zur Behandlung können aus der Lerntheorie abgeleitete Therapieansätze im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung eingesetzt
werden.
Zusätzlich ist es zur Mobilisierung von Ressourcen sinnvoll, den Patienten einzuladen, darüber
nachzudenken, warum die Symptome gerade
zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben aufgetreten sind und was er selbst tun kann, damit es
ihm wieder besser geht.
Wenn sich nach 3–6 Monaten kein Erfolg einstellt (bei längeren AU-Zeiten und starkem Leidensdruck auch schneller), sollte die Überweisung zum Fachpsychotherapeuten erfolgen.
Aufgrund der besseren Langzeitprognose und
der geringeren Nebenwirkungen sollte die Behandlung von Angststörungen primär psychotherapeutisch erfolgen. Antidepressiva sind
eine weitere Behandlungsoption und lassen sich
bei entsprechender Indikation mit Psychotherapie kombinieren.
16.7
Literaturempfehlungen und
Internetadressen
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eine Anleitung für Angehörige.)
Öst LG. Spezifische Phobien. In Margraf J (Hrsg.): Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer, Berlin, 1996,
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Schneider S, Margraf J Agoraphobie und Panikstörung.
6 Hogrefe, Göttingen, 1998, (Praxisnahe Darstellung
7 mit Materialien und Abbildungen für das Patienten8 gespräch)
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Literatur für Patienten
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Leidig, S.: Nur keine Panik. Heyne, München, 1994
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H. u. Baer, J: Sag nicht ja, wenn Du nein sa15
gen willst. Goldmann, München, 1991
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Internetadressen
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Literatur
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u. Broda M (Hrsg.): Praxis der Psychotherapie. Thieme, Stuttgart, 2. Aufl. 2000, S. 344–355.
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versus graded massed exposure in agoraphobics. In
Hand, I., U. Wittchen (Hrsg): Panic an phobias 2.
Springer, Berlin
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When is it panic disorder? Clin Cardiol 20:187–194.
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disorder and the heart: a cardiology perspective.
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Margraf J, Schneider S (1996) Paniksyndrom und Agoraphobie. In Margraf, J (Hrsg): Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer, Berlin. S. 1–27.
Köllner/Broda,Praktische Verhaltsmedizin (ISBN3131321512)©2005 Georg Thieme Verlag KG
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