Editorial D ie modernen psychiatrischen Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) versuchen, die Krankheiten nicht nach ihren Ursachen einzuteilen, sondern beschränken sich weitgehend auf Symptom- und Verlaufskriterien. Im Gegensatz dazu legen ältere Manuale das Gewicht auf ätiologische Überlegungen wie zum Beispiel gemäss dem biomedizinischen Modell. Als Alternative dazu hat Engel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das bio-psycho-soziale Konzept entwickelt. In diesem Konzept weist der Begriff «Psycho» auf die psychogenetische Komponente einer Störung hin. Das ursprünglich engere biomedizinische Modell wurde in den letzten Jahrzehnten erweitert, weil neue Befunde deutlich machten, dass Umgebungs- und Entwicklungsfaktoren die Hirnstruktur und -funktionen während des ganzen Lebens beeinflussen und dass Psycho- und Soziotherapien die Hirnfunktionen ähnlich wie biologische Behandlungen verändern können. Damit gewinnt das «psychische» beziehungsweise das «psychosoziale», «the human element in disease and health», erneut an Bedeutung. Andreas Andreae beleuchtet psychogenetische und psychodynamische Aspekte in der Entwicklung Jugendlicher. Er zeigt auf, welche Umstände zu psychischen Störungen beitragen. Welche Rolle spielen nun psychosoziale Faktoren in der klinischen Psychiatrie? Inwieweit ist die Psychogenese der verschiedenen psychischen Störungen zu beachten? Auf solche und ähnliche Fragen versucht diese Ausgabe des Schweizer Archivs für Neurologie und Psychiatrie Antwort zu geben. Die zu Wort kommenden Autoren haben (neben anderen) ihre Befunde und Überlegungen am Zürcher Symposium «Psychogenese – wieder aktuell?» vorgestellt und für das Schweizer Archiv vertieft. Stavros Mentzos geht auf den Begriff und den Begriffsinhalt der Hysterie ein. Er schlägt vor, den nosologischen Begriff der Hysterie aufzugeben, die charakteristische hysterische Art – den hysterischen Modus der Trauma- und der Konfliktverarbeitung – jedoch beizubehalten. Einleitend skizziert Heinz Böker die historische Entwicklung der psychogenetischen Konzepte. Er weist auf die zentrale Rolle hin, die zunächst im psychoanalytischen Denken dem intrapsychischen Konflikt zukam, später ergänzt durch die interpersonelle Dynamik. Aber auch Bindungs- und Affekttheorie sowie die modernen Neurowissenschaften sind nicht ohne Einfluss geblieben. 201 Jiri Modestin geht auf die wichtige Rolle der psychogenen beziehungsweise reaktiven Faktoren in der Genese von Persönlichkeitsstörungen ein. Er macht darauf aufmerksam, dass je nach Geschlecht unterschiedliche psychosoziale Faktoren verschiedene Auswirkungen haben. Daniel Hell befasst sich mit psychogenen Aspekten in der Depressionsentwicklung. Er geht von einem biologisch verankerten Reaktionsmuster auf überfordernde Belastungssituationen aus und dokumentiert psychogenetische Einflüsse einerseits bei der Auslösung des depressiven Geschehens, andererseits beim Umgang mit der depressiven Aktionshemmung. In Analogie zur «Angst vor der Angst» beschreibt er eine «Depression über die Depression», wobei bei diesem Circulus vitiosus psychogenetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Hans Zöllner referiert über die Bedeutung der Psychogenese in der Schizophrenieauffassung von Manfred Bleuler. Der Zürcher Psychiatrieschule war es schon immer klar, dass psychogene Faktoren bei psychotischen Störungen zwar eine wichtige, nie aber eine ausreichende ätiologische Rolle spielen. Hartmut Hinterhuber betrachtet die posttraumatische Belastungsstörung als Paradigma einer psychogenen Störung und zeigt, dass auch psychogene Störungen medikamentös erfolgreich behandelt werden können. SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. a s n p . c h 157 n 5/2006 Berthold Rothschild setzt sich abschliessend mit dem Missbrauch des Psychogenese-Begriffs auseinander, macht aber auch deutlich, dass das Konzept der Psychogenese eine basale, unverzichtbare Voraussetzung der dynamischen Psychotherapie ist. ahistorisches «neurochemisches Selbst» (Rose) zu machen, zeigt sich gerade im Leiden an psychiatrischen Störungen die Widerständigkeit des Subjekts, mithin das menschliche Element oder mit einem altertümlichen Begriff: das Seelische. Daniel Hell und Jiri Modestin Bei allen modernen Versuchen, aus einem kulturell und biographisch eingebetteten Menschen ein 202 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE w w w. s a n p . c h 157 n 5/2006