Die Genderfrage im Islam – eine west-östliche Perspektive Muslimische Reformer – islamischer Feminismus – "Gender Jihad" Dr. Rifa‘at Lenzin Universität Fribourg FS 2012 / 16. Mai 2012 Rifa‘at Lenzin 1 Warum “muslimische” Reformer? Die gesellschaftlichen Veränderungen wurden von Vielen nicht als eigentliche Reformen sondern als Verwestlichung der islamisch-arabischen oder indischmuslimischen Kultur empfunden. Sie strebten Veränderungen innerhalb eines eigenständigen, im Rahmen der islamischen Religion und Kultur stehenden Diskurses an. Rifa‘at Lenzin 2 Sayyid Ahmad Khan 1817 - 1898 Versuchte, die Begriffe „Vernunft“ und „Natur“ in einen islamischen Kontext zu stellen. Der Islam ist „natürlich“, weil die Natur selbst rational strukturiert ist. Vernunft ist die Erschließung der Naturgesetze in den Wissenschaften und der Gottesgesetze im Koran durch den Menschen; beide weisen mit der menschlichen Natur und seiner Erschließung der Welt durch den Verstand eine Strukturgleichheit auf. „[Der] Prüfstein religiöser Wahrheit... [ist] die Übereinstimmung mit den Prinzipien der Naturgesetze“. Rifa‘at Lenzin 3 Communication, Culture and Civilization 1 Sayyid Ahmad Khan (1817 – 1898) war ein indo-muslimischer Denker und Mitbegründer der Aligarh Muslim University (AMU) Rifa‘at Lenzin 4 Sayyid Ahmad Khan 1817 - 1898 Dies bedeutete für Ahmad Khan, dass die islamischen Völker sich in ihrer Geschichte von den Quellen ihrer Religion entfernt hatten. Deshalb seine Forderung nach Wiedereröffnen des ijtihād Rückgriff auf die Quellen. Entscheidender war, dass mit der Gleichsetzung von Naturordnung und Religion, von Rationalität und Gotteserkenntnis nicht zuvorderst eine Säkularisierung, sondern eine Sakralisierung entscheidender Bereiche von modernem Denken geleistet wurde. Rifa‘at Lenzin 5 Jamal ud-Din al-Afghani 1839 - 1897 Fordert Überwindung des geistigen Stillstands und des Zustands der „Ignoranz“ (jahiliyya), welche dazu geführt hatten, dass die islamischen Welt zur Beute der Kolonialmächte wurde. Übt Fundamentale Kritik an den ‘Ulamāʼ und ihrem Dogmatismus. Fordert selbständige Weiterentwicklung der modernen Wissenschaften und die Einheit der Muslime. Rifa‘at Lenzin 6 Communication, Culture and Civilization 2 Al-Afghani war ein aus dem Iran stammender Denker und politischer Aktivist. Jamal ud-Din al-Afghani (1839 - 1897) Rifa‘at Lenzin 7 Muhammad Abduh war Rechtsgelehrter und Theologe an der alAzhar Universität von Kairo. Muhammad Abduh (1849-1905) Rifa‘at Lenzin 8 Muhammad Abduh 1849 - 1905 Die Reinigung des Islam von korrumpierenden Einflüssen und Praktiken; Die Erneuerung der arabischen Sprache und muslimischen höheren Bildung; Die Neuformulierung islamischer Glaubenssätze im Lichte modernen Denkens; Verteidigung des Islams gegen europäischen Einfluss und gegen christliche Angriffe. Rifa‘at Lenzin 9 Communication, Culture and Civilization 3 Diskurs Leidenschaftliches Plädoyer für die Pflege der Wissenschaften und Aneignung des wissenschaftlichen Geistes des Westens. Wesentliche Bestandteile ihrer Argumentation waren: Die Blütezeit des wissenschaftlichen Denkens der Muslime vom 9.– 3. Jh. Resultierte aus der vom Qur'ān geforderten Auseinandersetzung zum Studium des Universums. Dieser Geist sei später verloren gegangen und die islamische Welt daher in Stagnation verfallen. Rifa‘at Lenzin 10 Diskurs Der Westen habe demgegenüber diesen wissenschaftlichen Geist, den sie grösstenteils von den Muslimen übernommen hätten weitergeführt und prosperierten, so dass sie die Muslime sogar kolonialisieren und beherrschen konnten. Muslime müssten sich deshalb das Wissen vom weiterentwickelten Westen wieder aneignen; damit würden sie einerseits den Anschluss wieder schaffen und andererseits dem qur'ānischen Gebot nach Studium der Schöpfung wieder gerecht werden. Rifa‘at Lenzin Muhammad Iqbal 11 1876 - 1938 Versuchte in seinen „Six lectures on the reconstruction of religious tought in Islam“ muslimische Theologie mit europäischer Philosophie und Wissenschaft zu versöhnen. Forderte die Muslime auf, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, sei es als Individuen oder als Staaten, um so ihre frühere Stärke zurück zu gewinnen. „Ich bin, so lange ich mich bewege“ war das Bekenntnis Iqbals. Rifa‘at Lenzin 12 Communication, Culture and Civilization 4 Indo-pakistanischer Dichter und Philosoph. Studierte in England und Deutschland Recht und Philosophie Muhammad Iqbal (1876 - 1938) Rifa‘at Lenzin Muhammad Iqbal 13 1876 - 1938 Rumuz-e-Bekhudi (Mysteries of Selflessness) Motherhood is mercy, being linked By close affinity to Prophethood And her compassion is the Prophet’s own For mothers shape the way that men shall go Maturer, by the grace of Motherhood The character of nations is; the lines That score that brow determine our estate. (Translation by A J Arberry) Rifa‘at Lenzin Muhammad Iqbal 14 1876 - 1938 “Nations which give women more freedom than is necessary regret their mistake at one time or another. Nature has imposed such important responsibilities on a woman that if she tries to discharge them fully, she cannot find the leisure to do any other work. Taking her away from her real duties and giving her work which can be performed by a man would certainly be wrong. For instance, making a woman into a typist or clerk is not only a violation of the laws of nature but a regrettable attempt to turn human society topsy-turvy.” Rifa‘at Lenzin 15 Communication, Culture and Civilization 5 Reinterpretation religiöser Grundlagen Anders als im Christentum stehen im Islam nicht Institutionen wie Kirche, Klerus oder Papsttum im Zentrum der Reformbemühungen, sondern Texte: Qur'ān und Hadīth. Während Frauenorganisationen und –bewegungen in vielen Ländern der islamischen Welt bereits Jahrzehnte zuvor aktiv wurden, dauerte es bis in letzte Viertel des 20. Jh. bis Frauen begannen, sich (wieder) systematisch mit den religiösen Quellen, insbesondere dem Qur'ān auseinander zu setzen. Fairerweise muss man erwähnen, dass auch einige Männer sich um eine gender-gerechte Lesart des Qur'an bemühten, z.B. Farid Esack, Asghar Ali Engineer oder auch Fazlur Rahman. Rifa‘at Lenzin 16 Reinterpretation religiöser Grundlagen Unter den Frauen sind dies u.a.: Azizah al-Hibri, Rif'at Hassan, Amina Wadud und Asma Barlas. Sie stellten die traditionelle Auffassung einer Privilegierung des Mannes im Qur'ān in Frage, welche Generationen von Gelehrten gepflegt hatten. Es geht dabei hauptsächlich um misogynistische Verse, welche Überlegenheit des Mannes festzuschreiben scheinen, um das "Schlagen" von Frauen, Polygamie, Zeugnis von Frauen in Gerichtsfällen und Kleidervorschriften. Sie tun dies mittels einer "Theologie-Kritik", resp. der Kritik an den Auslegungstraditionen, welche zu einer patriarchalen Lesart des Qur'āns geführt hatten. Rifa‘at Lenzin 17 Reinterpretation religiöser Grundlagen Rif'at Hassan – Theologiekritik Hassan kritisiert in erster Linie die theologischen Auffassungen, mit welcher Muslime die männliche Überlegenheit rechtfertigten. Muslime seien nämlich traditionell der Ansicht, dass 1. der Mann als erster von Gott erschaffen wurde, nicht die Frau; dass ihre Schöpfung auf den Mann bezogen sei und sie deshalb ontologisch zweitrangig sei. 2. die Frau, nicht der Mann, die primär Handelnde gewesen sei, in Bezug auf den Sündenfall im Paradies und sie deswegen verantwortlich sei für die Vertreibung aus dem Paradies; 3. Dass die Frau ihre Schöpfung nicht nur dem Mann verdankt, sondern für den Mann geschaffen sei, was ihre Existenz funktionell nicht fundamental mache. Rifa‘at Lenzin 18 Communication, Culture and Civilization 6 Reinterpretation religiöser Grundlagen Rif'at Hassan – Theologiekritik Dies werfe die Fragen auf: 1. Wie wurde die Frau erschaffen? 2. War die Frau verantwortlich für den Sündenfall resp. die Vertreibung aus dem Paradies? 3. Wozu wurde die Frau erschaffen? Rifa‘at Lenzin 19 Reinterpretation religiöser Grundlagen Rif'at Hassan – Theologiekritik Die traditionellen Überlieferungen seien schlicht falsch. 1. Frau und Mann seien aus einer einzigen nafs (Seele / Selbst) erschaffen? (Q. 4,1); Adam werde im Qur'ān vor allem als Kollektiv für "Mensch" gebraucht und nicht in erster Linie als Bezeichnung für ein männliches Wesen. 2. Es gäbe im Qur'ān keine Narrative über den "Sündenfall" und Evas Verantwortlichkeit die Vertreibung aus dem Paradies. (Interpretiert als Übergang vom Bewusstsein zum SelbstBewusstsein (Iqbal). Rifa‘at Lenzin 20 Erschaffung des Menschen َس َوا ِح َد ٍة َو َخلَق ٍ يَا أَ ُّيھَا ال َّناسُ ا َّتقُوا رَ َّب ُك ُم الَّذِي َخلَ َق ُكم مِّن َّن ْف َّ ِم ْنھَا َز ْوجَ ھَا َوب َث ِم ْن ُھمَا ِرجَ ًاال َكثِيرً ا َو ِنسَا ًء ۚ َوا َّتقُوا اللَّـ َه الَّذِي َتسَا َءلُونَ ِب ِه َو ْاألَرْ حَ ا َم ۚ إِنَّ اللَّـ َه َكانَ َعلَ ْي ُك ْم رَ قِيبًا "O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen und aus ihm erschuf Er seine Gatte [od. Gattin], und aus den beiden liess Er viele Männer und Frauen entstehen. Und fürchtet Allah, in Dessen Namen ihr einander bittet, sowie (im Namen eurer) Blutsverwandtschaft. Wahrlich, Allah wacht über euch. " (Sura al-nisa’ 4,1) Communication, Culture and Civilization 7 Vertreibung aus dem Paradies ُ ك ْالجَ َّن َة َو ُك َال ِم ْنھَا رَ َغ ًدا حَ ي ْث شِ ْئ ُتمَا َ قُ ْل َنا يَا آ َد ُم اسْ ُكنْ أَنتَ َو َز ْو ُج َ َّ َّ َّ َو َال َت ْقرَ بَا َھ ٰـ ِذ ِه ال َ َ ﴾ فأزل ُھمَا٣٥﴿ َشجَ رَ َة َف َت ُكو َنا مِنَ الظالِمِين ُ ْ ُضك ْم ُ َّ ال َ ۖ َ َ ْع ْاھ ُ ش ْي َطانُ َع ْنھَا َفأ َ ْخرَ جَ ُھمَا ِممَّا كانا فِي ِه ◌ َوقلنا ِبطوا َب َ ْ َ ُ َ َ َ َ ۖ ٰ ٌ ُْس ْر .ِين ح ى ل إ ع ا ت م و ق ت م ض األ ِي ف م ك ل و ◌ ُو د ع ض ٌّر ٌّ َ َ َ ٍ ِْل َبع ِ ْ َ ٍ ِ "Und Wir sprachen: "O Adam, verweile du und deine Gattin im Paradies und esset uneingeschränkt von seinen Früchten, wo immer ihr wollt! Kommt jedoch diesem Baum nicht nahe, sonst würdet ihr zu den Ungerechten gehören. Doch Satan ließ sie dort straucheln und brachte sie aus dem Zustand heraus, in dem sie waren. Da sprachen Wir: "Geht (vom Paradies) hinunter! Der eine von euch sei des anderen Feind. Und ihr sollt auf der Erde Wohnstätten und Versorgung auf beschränkte Dauer haben." " (Sura 2,35f.) Vertreibung aus dem Paradies ٍ َف َتلَ َّق ٰى آ َد ُم مِن رَّ ِّب ِه َكلِمَا ت َف َتابَ َعلَ ْي ِه ۚ◌ إِ َّن ُه ھ َُو ال َّتوَّ ابُ الرَّ حِي ُم ﴾٣٧﴿ "Da empfing Adam von seinem Herrn Worte, worauf Er ihm verzieh; wahrlich, Er ist der Allverzeihende, der Barmherzige." (Sura 2,35f.) Reinterpretation religiöser Grundlagen Rif'at Hassan – Theologiekritik 3. Die Frau sei nicht für den Mann geschaffen. Wozu wurde die Frau erschaffen? Hassan macht das traditionell übliche Heranziehen von Hadīth (Prophetenüberlieferung) für die Qur'ān-Interpretation für diese frauenfeindlichen Interpretationen verantwortlich. Rifa‘at Lenzin 24 Communication, Culture and Civilization 8 Erschaffung der Geschlechter َومِنْ آيَا ِت ِه أَنْ َخلَقَ لَ ُكم مِّنْ أَنفُسِ ُك ْم أَ ْز َواجً ا لِّ َتسْ ُك ُنوا إِلَ ْيھَا ٍ ك َآليَا ت لِّ َق ْو ٍم َ َِوجَ َع َل َب ْي َن ُكم م ََّو َّد ًة َورَ حْ م ًَة ۚ◌ إِنَّ فِي ٰ َذل ﴾٢١﴿ ََي َت َف َّك ُرون "Und unter Seinen Zeichen ist dies, daß Er GattInnen für euch aus euch selber schuf, auf daß ihr Frieden bei ihnen fändet; und Er hat Zuneigung und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin liegen wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt. " (Sura ar-Rum 30,21) Reinterpretation religiöser Grundlagen Fatimah Mernissi – Hadīthkritik Ein ähnliches Vorgehen wie Rif'at Hassan in Bezug auf ihre Kritik an theologischen Auffassungen wählt Fatimah Mernissi in Bezug auf die Hadīth: 1. Frauenfeindliche Hadīth zu zitieren, um die Frauen herabzusetzen sei gleichbedeutend, Muhammad selbst als Frauenfeind zu betrachten, was er erwiesenermassen nicht gewesen sei. 2. Diese Hadīth könnten also nicht von ihm stammen und seien ihm zugeschrieben worden, resp. Die entsprechenden Überlieferer hätten eine misogynistische Einstellung gehabt. Rifa‘at Lenzin 26 Reinterpretation religiöser Grundlagen Fatimah Mernissi – Hadīthkritik Es geht dabei um Hadīth, wie z.B.: „Diejenigen, welche die Macht einer Frau übertragen, werden nie erfolgreich sein.“ Es ist dies ein Hadith, welches bis heute zitiert wird, um Frauen von politischer Macht fernzuhalten. Oder: „Ich warf einen Blick ins Paradies und sah, dass die meisten dort Arme waren; und ich warf einen Blick in die Hölle und sah, dass die meisten dort Frauen waren.“ Rifa‘at Lenzin 27 Communication, Culture and Civilization 9 Reinterpretation religiöser Grundlagen Fatimah Mernissi – Hadīthkritik Laut Mernissi bilden solche Ahadīth ein zu krasser Gegensatz zur nachweislich frauenfreundlichen Haltung des Propheten, um glaubwürdig zu sein. Beide Hadīth sind von Abu Huraira überliefert. Ihm unterstellte Mernissi in ihren Untersuchungen eine frauenfeindliche Haltung. Abu Huraira gilt als einer der prominentesten und profiliertesten Hadīth-Tradenten. Ihr Buch Le Harem politique, englisch unter dem aussagekräftigeren Titel The Veil and the Male Elite – A Feminist Interpretation of Women’s Right in Islam erschienen, löste in einem Teil der Gelehrtenwelt einen Sturm der Entrüstung aus und wurde in Marokko verboten. Rifa‘at Lenzin 28 Linguistische Hermeneutik Kritische Ayāt Q. 4, 34: qawwamūna ʽala: "darüber stehen" Q. 4, 34: adrubūhunnā; schlagen Rifa‘at Lenzin 29 Sura 4, 34 Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind Gott demütig ergeben und geben acht auf das, was (den Außenstehenden) verborgen ist, weil Gott (darauf) acht gibt (d.h. weil Gott darum besorgt ist, daß es nicht an die Öffentlichkeit kommt). (Übersetz. Paret) Rifa‘at Lenzin لرِّ جَ ا ُل َق َّوامُونَ عَ لَى ال ِّنسَ ا ِء بِمَا ض َّ َف ٍ ْض َل اللَّـ ُه َبعْ ضَ ُھ ْم عَ لَ ٰى َبع ۚ َو ِبمَا أَن َفقُوا مِنْ أَمْ َوال ِِھ ْم ٌ ات حَ اف َِظ ٌ ات َقانِ َت ُ ََفالصَّالِح ات َّ ب بِمَا حَ ف َِظ اللَّـ ُه ۚ َو الالتِي ِ لِّ ْلغَ ْي ُ ُ ُ َ َ ََّت َخافُونَ نشوزھُنَّ فعِظوھُن ج ِع ِ َواھْ ُجرُوھُنَّ فِي ْالمَضَ ا َواضْ ِربُوھُنَّ ۖ َفإِنْ أَ َطعْ َن ُك ْم َف َال ً َِت ْب ُغوا عَ لَي ِْھنَّ سَ ب َيال ۗ إِنَّ اللَّـ َه َكان .عَ لِ ًّيا َكبِيرً ا 30 Communication, Culture and Civilization 10 Sura 4, 34 „Die Männer sollen vor den Weibern den Vorzug haben, weil Gott ein Geschlecht vor dem anderen durch Vorzüge unterschieden hat.“ Friedrich Eberhard Bonsen (1773) „Die Männer sind den Frauen überlegen, wegen dessen, was Allah den einen vor den anderen gegeben hat...“ Ph. Reclam jun. (1989) „Die Männer haben die Vollmacht und die Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den andern bevorzugt hat ...“ Adel Theodor Khoury (1992) „Die Männer stehen ein für die Frauen wegen dem, womit Allah die einen von ihnen gegenüber den anderen begünstigt hat...“ Ahmad von Denffer (1992) „Die Ehemänner tragen Verantwortung den Ehefrauen gegenüber wegen dem, womit ALLAH die einen vor den andern ausgezeichnet hat ...“ Amir Zaidan (2000) Rifa‘at Lenzin 31 Sura 4, 34 Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht gegen sie keine Ausrede. Wahrlich, Allah ist Erhaben und Groß. Rifa‘at Lenzin َّ َو ُ الالتِي َت َخافُونَ ُن َ ش َّوزھُن ُ َفع ِظوھُنَّ َواھْ ُج ُروھُنَّ فِي ْاض ِر ُبوھُنّ ◌َ ۖ◌ َفإِن ْ ج ِع َو ِ ْالمَضَ ا َّأَ َطعْ َن ُك ْم َف َال َت ْب ُغوا عَ لَي ِْھن ً ِسَ ب يال ۗ◌ إِنَّ اللَّـ َه َكانَ عَ لِ ًّيا َكبِيرً ا 32 Sura 4, 34 – Laleh Bakhtiar "The Sublime Quran" Men are supporters of wives because God has given some of them an advantage over others and because they spend of their wealth.° So the ones (f) who are in accord with morality are the ones (f) who are morally obligated, the ones (f) who guard the unseen of what God has kept safe.° But those (f) whose resistance you fear, then admonish them (f) and abandon them (f) in their sleeping place then go away from them (f);° and if they (f) obey you, surely look not for any way against them (f);° truly God is Loft Great. Rifa‘at Lenzin 33 Communication, Culture and Civilization 11 Erkenntnistheoretischer Ansatz Amina Wadud Sie unterscheidet zwischen zwei textlichen Ebenen des Qur'āns: 1. einer historisch-kulturellen Kontext-abhängigen Ebene mit dem „Primär-Text“ und 2. einem weitergehenden „Megatext“ von essentieller und universeller Relevanz. Bezogen auf die Geschlechterfrage sei die anfängliche Unterscheidung der Geschlechter (basierend auf den sozioökonomischen Verhältnissen in der Frühzeit des Islams) durch die spätere Betonung der Gleichheit der Geschlechter „ersetzt“ worden. Rifa‘at Lenzin 34 Afro-amerikanische muslimische Feministin. Leitete im März 2005 in New York eine gemischt-geschlechtliche Gemeinschaft beim Freitagsgebet. Amina Wadud (1952) Rifa‘at Lenzin 35 Erkenntnistheoretischer Ansatz Amina Wadud Die oben erwähnte Qur’anstelle sieht sie als Ausdruck einer funktionalen Beziehung zwischen dem Mann als Beschützer und Ernährer und der Frau als Mutter seiner Kinder. Sie überträgt sodann dieses Prinzip der „Gleichberechtigung der Geschlechter aufgrund wechselseitiger Abhängigkeit innerhalb der Familie“ auf die Gesellschaft als Ganzes. In der heutigen Zeit offenbare sich die wahre Bedeutung dieses Verses als ideale (d.h. weder biologische noch inhärente, sondern wertvolle) Verpflichtung der Männer, zum Fortschritt der Gesellschaft beizutragen, indem sie die Beziehungen zu den Frauen verbesserten. Rifa‘at Lenzin 36 Communication, Culture and Civilization 12 Traditionalistische Auslegung in weiblicher Perspektive Raga’ El-Nimr Lehrt an der King Fahd Academy in London: Für sie spielt die Interpretation keine Rolle, solange man sich dem Wort Gottes entsprechend verhält. So wie der Islam im siebten Jahrhundert in Sachen Frauenrechte seiner Zeit weit voraus gewesen sei, könnten Musliminnen auch heute nicht schlechter dastehen als der Rest der Welt. Für sie ist der Islam sowohl „göttlich“ als auch „evolutionär“. Das heisst, die göttliche Natur des Qur’ans beinhaltet eine evolutionäre Qualität, welche ihn für jeden Zeitpunkt der Geschichte adäquat macht. Rifa‘at Lenzin 37 Traditionalistische Auslegung in weiblicher Perspektive Raga’ El-Nimr Frauen sollten nicht mehr Rechte oder Gleichbehandlung fordern (ausser in spirituellen Belangen), weil sich die Naturen von Frau und Mann grundlegend unterschieden, sie seien "gleichwertig", aber nicht "gleichberechtigt". Dieser Unterschied sei Ausdruck göttlichen Willens, deshalb könnten Frauen für sich nicht etwas Besseres fordern, als Gott für sie vorgesehen habe. Die ständige Beschäftigung mit Rolle und Status der Frauen im Islam sei eine westliche Obsession; die Muslime sollten sich dadurch nicht von ihrer Verpflichtung gegenüber Gott ablenken lassen. Rifa‘at Lenzin 38 Rechte versus Respekt Nadia H. Youssef Nach ihr hat der Status der Frauen zwei verschiedene Komponenten: 1. Die Rechte, die ihnen zugestanden werden und 2. der Respekt, den sie geniessen. So würde Frauen grosser Respekt entgegengebracht in Gesellschaften, welche ihnen nur wenige Rechte zugestünden, während sie in Gesellschaften, wo sie mit den Männern wetteiferten weitgehende Gleichberechtigung, aber wenig Respekt genössen. Vor allem die arabische Frau sei heute in der wenig beneidenswerten Lage, zwischen Recht und Respekt wählen zu müssen. Rifa‘at Lenzin 39 Communication, Culture and Civilization 13 Feminismus-Kritik Auch iranische Feministinnen werfen westlichen Feministinnen vor, versagt zu haben, weil sie sich einseitig auf die Gleichberechtigung am Arbeitsmarkt und die sexuelle Befreiung konzentriert und keine befriedigenden Antworten auf die Fragen von Ehe und Mutterschaft gegeben hätten. Ihre Bestrebungen, den Arbeitsmarkt entsprechend den Bedürfnissen der Frauen zu ändern, seien ebenfalls gescheitert und gleichzeitig hätten sie die Anerkennung, den Respekt und die Ehre verspielt, welche die Frau vorher durch den Ehestand erlangt habe. Rifa‘at Lenzin 40 Islamischer Feminismus Frage: Gibt es das? Die Frage, ob es so etwas wie einen "islamischen" Feminismus überhaupt geben kann, wurde insbesondere im Iran nach der Islamischen Revolution 1979 gestellt. Sind Islam und Feminismus kompatibel. Können Reformbemühungen von Frauen und Männern, welche sich innerhalb eines islamischen Rahmen bewegen, resp. die Zielsetzungen der Islamischen Republik im weitesten Sinn teilen, als Feminismus bezeichnet werden. Rifa‘at Lenzin 41 Islamischer Feminismus Implizit steht Dahinter die Frage nach der Definition und dem Sinn von Feminismus. Die Frage nach der Anwendbarkeit des Begriffs auch auf muslimische Gesellschaften. Allenfalls das Bedürfnis nach einem inklusivistischeren und interkulturellen Verständnis von Feminismus innerhalb der weltweiten Frauenbewegung. Rifa‘at Lenzin 42 Communication, Culture and Civilization 14 Diskurs Zwei Gruppen / Auffassungen 1. Die Einen bejahen grundsätzlich die Möglichkeit eines Feminismus innerhalb des islamischen Paradigmas. (Afsaneh Najmabadi, Nayereh Tohidi, Ziba Mir-Hosseini) 2. Die zweite Gruppe verneint dies und sieht eine grundsätzliche Unverträglichkeit von Feminismus und Islam. (Haideh Moghissi, Shahrzad Mojab, Hamid Shahidian) Rifa‘at Lenzin 43 Diskurs Unterschiedliche Denkansätze Für eine Minderheit gehört der Feminismus Diskus in den Bereich des westlichen, säkularen Denkens und ist deshalb losgelöst von jeglicher religiösen Relevanz: - einen Teil der westlichen Feministinnen einerseits - islamistische MuslimInnen andererseits Rifa‘at Lenzin 44 Literatur Barlas, Asma: "Believing Women" in Islam – Unreading Patriarchal Interpretations of the Qur'an, University of Texas Press, Austin 2002 Hassan, Riffat: 'An Islamic Perspective' in: K. Lebacqz (ed.), Sexuality: A reader, The Pilgrim Press, Cleveland 1999 Mernissi, Fatimah: The Veil and the Male Elite – A Feminist Interpretation of Women’s Right in Islam, Perseus Books, Cambridge Massachusetts 1991 al-Hibri, Azizah (Hrsg.): Women and Islam, Pergamon Press, Oxford and New York 1982 Bakhtiar, Laleh: The Sublime Quran, Kazi Publikcations islamicworld.com, Chicago 2007 Yamani, Mai: Feminism and Islam, Legal and Literary Perspectives, Ithaca Press, Reading 1996 Wadud Amina: Quran and Woman: Rereading Sacred Texts From a Woman's Perspective, Oxford University Press, Oxford 1999 Lenzin Rifa'at: Feminismus und Islam, http://www.nzz.ch/2005/02/19/fe/articleCIZXG.html Rifa‘at Lenzin 45 Communication, Culture and Civilization 15