Titelgeschichte mit Rifa`at Lenzin

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focus
Rifa’at Lenzin hat ihre Lektion
gelernt: «Vogel friss oder stirb»
Rifa’at Lenzin ist seit Kindesbeinen an wegen einer Schallleitungsschwerhörigkeit hochgradig hörbehindert. Um ihre Ausbildung gut abschliessen
und sich in ihrem Beruf behaupten zu können, war und ist wegen ihres
Hörproblems viel Effort notwendig. Die Frau, die sich immer zwischen
den Welten bewegte, bewegt auch als Islamwissenschafterin.
lesen konnte, verbesserte sich meine
Sprache», sagt sie. Erste Hörgeräte erhielt sie im Alter von zehn Jahren. Das
Hören wurde besser, «aber die Beste,
vor allem bei den Diktaten, war ich
nie», lächelt Rifa’at Lenzin. Sich wehren und sich durchbeissen hat sie früh
gelernt. Sie fühlte sich damals als Kind
Gravierende Hörprobleme
Rifa’at Lenzin hatte als zweijähriges
Kind eine Mittelohrentzündung; sie
war Ursache einer Schallleitungsschwerhörigkeit. Sie wurde damals
mehrmals operiert. Weil sie nicht gut
hörte, sprach sie schlecht. «Erst als ich
Rifa’at Lenzin hat ihren Weg trotz hochgradiger Schwerhörigkeit gemeistert, obwohl
es für sie manchmal schwierig ist, alles richtig zu verstehen. Fotos: Patrick Lüthy.
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Rifa’at Lenzin hat pakistanische Wurzeln, ist aber in Bern geboren und
aufgewachsen. Sie hat sich für das Studium als Islam- und Religionswissenschafterin entschieden, sah später aber
dann keine Zukunft, um in diesem
Beruf zu arbeiten und ging in die Privatwirtschaft. Sie arbeitete bei der
Swissair Group bis zum Grounding der
Airline im Human Resource Management, zuständig für den Bereich Transport Concessions. «Ich reiste damals
auch viel und bewegte mich ständig
zwischen den Kulturen und Welten.»
Sie wechselte später zu einer Versicherungsgesellschaft als Leiterin Benefits
and Compensation.
Heute arbeitet Rifa’at Lenzin als
freischaffende Islamwissenschaftlerin
und Publizistin mit den Schwerpunkten Interkulturalität, Genderfrage im
Islam und muslimische Identität in
Europa. Sie wirkt ebenfalls als Dozentin und Lehrbeauftragte an den Universitäten Fribourg, Luzern und Bern
sowie an verschiedenen Fachhochschulen und ist Fachreferentin Islam
am ZIID Zürcher Institut für inter­
religiösen Dialog.
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focus
Rifa’at Lenzin hat …
Schallleitungs­
schwerhörigkeit
Die Hörbehinderung von Rifa’at Lenzin
ist auf eine Mittelohrentzündung und
eine sich daraus entwickelnde Schall­
leitungsschwerhörigkeit zurückzuführen.
Ursachen einer Schallleitungsschwerhö­
rigkeit können beispielsweise Otoskle­
rose, Cholesteatom (Wucherung), Ent­
zündungen, geschädigtes Trommelfell,
Veränderungen in der Gehörknöchel­
chenkette, Unfall … sein. Bei einer
Schallleitungsschwerhörigkeit wird der
Schall nicht mehr zum Innenohr geleitet.
Behandlung: medikamentös oder ope­
rativ. Mit Schallleitungshörverlust hört
man leiser und gedämpfter, aber meist
richtig. Ein Hörgerät kann in diesen Fäl­
len grössten Nutzen bringen.
Weiter verbreitet als die Schall­
leitungsschwerhörigkeit ist die Schall­
empfindungsschwerhörigkeit oder
auch Innenohrschwerhörigkeit. Sie
entsteht durch eine Funktionsstörung
im Innenohr. Eine häufige Ursache
hierfür ist Lärm. (www.pro-audito.ch)
ich aber, dass ich mit dem, was ich
sagte, daneben lag …»
«Was ich höre, ist meine Welt»
Rifa’at Lenzin hat sich auch schon gefragt, ob sie sich operieren lassen würde, wenn die Operation ihr das Gehör
zurückbringen würde. «Es ist eine hypothetische, gleichwohl schwierige
Frage. Ich weiss nicht, was ich tun würde, denn ich habe ja keinen Vergleich.
Ich habe nie gut gehört. Vielleicht
könnte ich mit dem Guthören gar
nicht umgehen. Für mich ist die Hör­
einschränkung ein wahrgenommenes
Defizit. Das, was ich höre, ist meine
Welt.»
Sie liebt die Musik, ist sogar mit einem Musiker verheiratet. Wenn das
Paar etwa zusammen am TV ein Konzert schaut und die Kamera auf den
Solisten gerichtet ist, dann sieht Rifa’at
Lenzin zwar, dass dieser spielt, hört
aber oft rein nichts. «Doch grundsätzlich ist die Technik heute sehr gut und
ich profitiere davon, obwohl ich meine
analogen Hörgeräte vermisse.» Der
Wechsel von analog zu digital war für
sie ein Horror, sagt sie. «Mit den analogen Hörgeräten hatte ich ein besseres
Hörgefühl. Jetzt habe ich mich aber –
ich probierte verschiedene Hörsysteme
aus – an das digitale Hören gewöhnt,
höre sogar, was die Leute 20 Meter entfernt von mir sagen …» Vorteile hat
die digitale Variante auch beim Telefonieren mit dem Handy.
Hilfsgeräte verwendet die Wissenschafterin keine. «Aber ich schaue immer, wo ich beispielsweise an Meetings
sitze. Ich platziere mich zentral, denn
wenn ich am Rand sitze, höre ich fast
nichts. Wichtig für mich ist auch der
ausgegrenzt. «Ich musste lernen, so etwas auszuhalten. Mein Motto war darum: Vogel friss oder stirb. Sonst wäre
ich untergegangen.» Rifa’at Lenzin versuchte jedoch, sich auf anderen Wegen
Respekt zu verschaffen. «Punkto Intellekt und Sport konnte ich sehr gut mithalten.»
Sie erinnert sich noch gut an ihre
Hörgeräte: «Meine Hörgeräte hatten
Kabel und ein Mikrofon, das ich in
einem Säckchen unter dem Kleid
trug, weil ich mich schämte. Aber weil
der Stoff auf dem Mikrofon scheuerte,
war das Hören für mich fast unerträglich.»
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«Nie so zu sein wie andere»
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Mit der Zeit lernte sie, dieses «nie so zu
sein wie andere» zu akzeptieren. «Helfen», weiss sie, «kann dir niemand,
auch wenn die Hilfsbereitschaft dazu
vorhanden ist. Jetzt kann ich gut damit
umgehen.»
Was sie heute stresst, das sind die
Small-Talk-Gespräche bei Apéros.
«Das ist der reine Albtraum für mich.
Wenn es sich vermeiden lässt, gehe
ich nie an solche Anlässe, ansonsten
habe ich mir angewöhnt, notfalls Gespräche zu führen, ohne etwas zu verstehen. Sind die Leute irritiert, merke
Bücher sind für Rifa’at Lenzin wichtige Begleiter. Sie hat in ihrem Leben nie wirklich
gut gehört, aber sie liebt die Musik sehr.
focus
Rifa’at Lenzin hat …
Rifa’at Lenzin, Sie haben ein
Studium absolviert. Wie war es
denn mit dem Hören?
Ausser beim Philosophiestudium ging es
soweit gut. Beim Philosophiestudium
war der Hörsaal immer sehr voll. So
musste ich schauen, dass ich das, was ich
nicht hörte, irgendwie selbst ergänzen
konnte.
«Lieber Hochdeutsch als
Dialekt»
Gut unterhalten kann sich Rifa’at Lenzin mit ihrem Mann, einem Aargauer.
Ihn versteht sie gut und sogar ohne
Hörgeräte, auch wenn er Dialekt
spricht. «Wir sind ja ein altes Ehepaar»,
lacht sie. Er unterstützt sie in vielen Situationen, erklärt etwa ganze Passagen
von Filmen, wenn sie diese nicht versteht. Grundsätzlich bevorzugt sie es,
wenn die Menschen mit ihr hochdeutsch sprechen. Wohl weil sie in
Bern aufgewachsen ist und weil die
Berner langsam reden, versteht sie diesen Dialekt gut. «Die Liechtensteiner
hingegen, die verstehe ich fast nicht.»
«
Ich profitiere
von der heutigen
Technik. Trotzdem
vermisse ich meine
analogen Hörgeräte ...
»
Die Hörgeräte von Rifa’at Lenzin
sieht man kaum. Sie trägt sie bewusst
nicht offen, da es immer noch viele
Menschen gibt, die denken, sie sei auf
eine Art auch geistig behindert. Das
kränkt sie, sie versteht aber durchaus,
dass nicht alle gut mit der Hörbehinderten-Situation umgehen können.
«Also binde ich meine Hörbehinde-
rung auch nicht jedem auf die Nase.
Wichtig für mich ist, dass ich mit
meinen Hörproblemen umgehen
kann. Und ganz wichtig finde ich,
dass hörbeeinträchtigte Kinder gefördert werden müssen.»
Rifa’at Lenzin: Hat Ihr Studium
etwas mit Ihrer Herkunft zu tun?
Ja, denn ich wollte mehr über meine
Kultur und meine Religion wissen. Ich
wollte nicht von anderen abhängig sein,
um den Koran lesen und interpretieren
zu können. Dafür muss man Arabisch
können und mit den historischen Entwicklungen im Islam vertraut sein. Allerdings sind Islamwissenschafter in der
Regel keine Muslime. Früher hat der
Islam in der Schweiz kaum jemanden
interessiert.
… zumal die Diskussionen um den
Islam und die kopftuchtragenden
Musliminnen nicht abreissen.
Tragen Sie ein Kopftuch?
Ja, aber nur in bestimmten Situationen,
aus Respekt, in Moscheen beispielsweise.
Wenn für eine Frau aus Gründen ihrer
Identität ein Kopftuch wichtig ist, dann
akzeptiere ich das auch. Wissen Sie, warum Musliminnen in der arabischen Welt
vor allem ein Kopftuch tragen? Als Schutz
vor der Sonne.
Die kopftuchtragenden Frauen
werden aus Sicht vieler unterdrückt.
Soll man das unterstützen?
Ganz so einfach ist diese Diskussion
nicht. Vielfach projizieren wir ja unsere
eigenen Vorstellungen auf andere. Ich
selbst halte nichts von der Unterdrückungsfrage. Ich kenne viele auch jüngere kopftuchtragende Frauen. Sie tragen
ihr Kopftuch bewusst aus religiösen
Gründen und, weil sie stolz sind, Muslimin zu sein.
Im Tessin wurde ein Burkaverbot
erlassen, jetzt diskutiert man über
ein schweizweites Verbot.
Das Verbot finde ich falsch. Es resultiert
aus Ängsten heraus. Die Abneigung gegen
den Islam äussert sich in dieser Form.
Aber es sind nicht die verhüllten Frauen,
die Anschläge verüben. Man darf das
Burkaverbot anderseits nicht als Bagatelle behandeln.
Die Islamwissenschaftlerin findet das
Kopftuch- und Burkaverbot keine
Lösung.
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Lichteinfall. Ich muss den Leuten ins
Gesicht und auf den Mund sehen können. Ist aber die Akustik in einem
Raum schlecht, dann nützt alles nichts.
Das ist sehr frustrierend.»
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Rifa’at Lenzin hat …
Für mich persönlich ist die Frage Kopftuch und Verhüllung nicht so wichtig. In
gewissen Ländern wie Saudi-Arabien
können Frauen aber nicht ohne Kopftuch
auf die Strasse gehen. Doch die Frauen
müssen selbst entscheiden können, was sie
wollen. Ich denke allerdings, dass der
Staat die Frauen, die sich aus religiösen
Gründen verhüllen, schützen sollte. In
der Schweiz finden Sie übrigens nur ganz
wenige verhüllte Musliminnen. Wer hier
eine Burka trägt, der will das, auch wenn
es der Trägerin selbst schadet.
Die Abneigung gegen den Islam ist
insbesondere aufgrund des Terrorismus entstanden.
Ja, aber die Muslime in der Schweiz sind
mehrheitlich gut integriert. Trotzdem
wird in der Bevölkerung nicht zwischen
den Terroristen und den ganz normalen
Muslimen unterschieden. Die Muslime
hier in der Schweiz sind darum auch
Opfer. Früher weckte der Islam überhaupt keine Emotionen.
Sie pflegen den interreligiösen
Dialog in der Schweiz. Ihre Erkenntnisse?
Dieser Dialog ist durch die aktuelle Situation belastet. Wichtig wäre es, sich
auf andere Menschen, Kulturen und Religionen einzulassen. Heute fragen sich
junge Muslime bereits, ob sie sich gegen-
Rifa’at Lenzin
Rifa’at Lenzin ist Bernerin, doch ihre
Wurzeln liegen in Pakistan. Sie absol­
vierte das Studium der Islamwissen­
schaft, Religionswissenschaft und Phi­
losophie in New Delhi, Zürich und
Bern. 2010 wurde ihr die Ehrendoktor­
würde der Theologischen Fakultät der
Universität Bern für ihren Einsatz im
Dialog zwischen Menschen unter­
schiedlicher Religionen und Kulturen
sowie in der Genderfrage im Islam ver­
liehen. Sie ist Präsidentin der Interreli­
giösen Arbeitsgemeinschaft in der
Schweiz IRAS COTIS und Mitglied der
Eidgenössischen Kommission gegen
Rassismus EKR.
über der Gesellschaft überhaupt outen
sollen. Das Sich-Einlassen auf den Andern hätte einen friedensfördernden Aspekt. Den Frieden jedoch kann dies natürlich nicht garantieren. Allerdings
erreicht man mittels Dialog gerade Leute, die ihre Vorurteile pflegen, nicht. Da
kann man noch so gute Argumente
bringen.
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Was also wäre zu tun?
Da habe ich auch kein Rezept. Hilfreich
ist, wenn jeder im Kleinen tut, was er
kann. Man muss immer wieder erklären,
reden, sich austauschen. Wenn ich zu Referaten eingeladen werde, versuche ich,
Wissen zu vermitteln, ohne missionieren
zu wollen. Ich zeige auf, was der Islam
ist, erkläre die Geschichte und die religiöse und die kulturelle Seite. Als Dozentin
von in Ausbildung stehenden Sozial­
arbeitenden gehe ich auf das Thema Islam vertieft ein. Denn gerade Sozialarbeitende müssen wissen, woher diese
Leute kommen, welche Probleme und
Schwierigkeiten sie haben, wie Integra­
tion gelingen kann und wie man Rassismus entgegentritt.
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Es gibt keine einfachen Rezepte. Weder beim Hören noch in der Islamfrage.
«Hilfreich ist, dass jeder im Kleinen tut, was er kann.»
Was ist für Sie wichtig im Leben?
Ganz wichtig für mich persönlich ist es,
dass mein Gehör nicht noch schlechter
wird, als es ohnehin schon ist. Mein
Restgehör liegt bei zehn Prozent. Und
ich merke, dass ich mit meinen Hör­
geräten an meine Hör-Grenzen komme.
Ohne Hörgeräte wäre ich gesellschaftlich nicht mehr funktionsfähig. Meine
grösste Sorge ist darum mein Gehör.
Karin Huber
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