6 dezibel 1/2017 focus Rifa’at Lenzin hat ihre Lektion gelernt: «Vogel friss oder stirb» Rifa’at Lenzin ist seit Kindesbeinen an wegen einer Schallleitungsschwerhörigkeit hochgradig hörbehindert. Um ihre Ausbildung gut abschliessen und sich in ihrem Beruf behaupten zu können, war und ist wegen ihres Hörproblems viel Effort notwendig. Die Frau, die sich immer zwischen den Welten bewegte, bewegt auch als Islamwissenschafterin. lesen konnte, verbesserte sich meine Sprache», sagt sie. Erste Hörgeräte erhielt sie im Alter von zehn Jahren. Das Hören wurde besser, «aber die Beste, vor allem bei den Diktaten, war ich nie», lächelt Rifa’at Lenzin. Sich wehren und sich durchbeissen hat sie früh gelernt. Sie fühlte sich damals als Kind Gravierende Hörprobleme Rifa’at Lenzin hatte als zweijähriges Kind eine Mittelohrentzündung; sie war Ursache einer Schallleitungsschwerhörigkeit. Sie wurde damals mehrmals operiert. Weil sie nicht gut hörte, sprach sie schlecht. «Erst als ich Rifa’at Lenzin hat ihren Weg trotz hochgradiger Schwerhörigkeit gemeistert, obwohl es für sie manchmal schwierig ist, alles richtig zu verstehen. Fotos: Patrick Lüthy. dezibel 1/2017 Rifa’at Lenzin hat pakistanische Wurzeln, ist aber in Bern geboren und aufgewachsen. Sie hat sich für das Studium als Islam- und Religionswissenschafterin entschieden, sah später aber dann keine Zukunft, um in diesem Beruf zu arbeiten und ging in die Privatwirtschaft. Sie arbeitete bei der Swissair Group bis zum Grounding der Airline im Human Resource Management, zuständig für den Bereich Transport Concessions. «Ich reiste damals auch viel und bewegte mich ständig zwischen den Kulturen und Welten.» Sie wechselte später zu einer Versicherungsgesellschaft als Leiterin Benefits and Compensation. Heute arbeitet Rifa’at Lenzin als freischaffende Islamwissenschaftlerin und Publizistin mit den Schwerpunkten Interkulturalität, Genderfrage im Islam und muslimische Identität in Europa. Sie wirkt ebenfalls als Dozentin und Lehrbeauftragte an den Universitäten Fribourg, Luzern und Bern sowie an verschiedenen Fachhochschulen und ist Fachreferentin Islam am ZIID Zürcher Institut für inter­ religiösen Dialog. 7 focus Rifa’at Lenzin hat … Schallleitungs­ schwerhörigkeit Die Hörbehinderung von Rifa’at Lenzin ist auf eine Mittelohrentzündung und eine sich daraus entwickelnde Schall­ leitungsschwerhörigkeit zurückzuführen. Ursachen einer Schallleitungsschwerhö­ rigkeit können beispielsweise Otoskle­ rose, Cholesteatom (Wucherung), Ent­ zündungen, geschädigtes Trommelfell, Veränderungen in der Gehörknöchel­ chenkette, Unfall … sein. Bei einer Schallleitungsschwerhörigkeit wird der Schall nicht mehr zum Innenohr geleitet. Behandlung: medikamentös oder ope­ rativ. Mit Schallleitungshörverlust hört man leiser und gedämpfter, aber meist richtig. Ein Hörgerät kann in diesen Fäl­ len grössten Nutzen bringen. Weiter verbreitet als die Schall­ leitungsschwerhörigkeit ist die Schall­ empfindungsschwerhörigkeit oder auch Innenohrschwerhörigkeit. Sie entsteht durch eine Funktionsstörung im Innenohr. Eine häufige Ursache hierfür ist Lärm. (www.pro-audito.ch) ich aber, dass ich mit dem, was ich sagte, daneben lag …» «Was ich höre, ist meine Welt» Rifa’at Lenzin hat sich auch schon gefragt, ob sie sich operieren lassen würde, wenn die Operation ihr das Gehör zurückbringen würde. «Es ist eine hypothetische, gleichwohl schwierige Frage. Ich weiss nicht, was ich tun würde, denn ich habe ja keinen Vergleich. Ich habe nie gut gehört. Vielleicht könnte ich mit dem Guthören gar nicht umgehen. Für mich ist die Hör­ einschränkung ein wahrgenommenes Defizit. Das, was ich höre, ist meine Welt.» Sie liebt die Musik, ist sogar mit einem Musiker verheiratet. Wenn das Paar etwa zusammen am TV ein Konzert schaut und die Kamera auf den Solisten gerichtet ist, dann sieht Rifa’at Lenzin zwar, dass dieser spielt, hört aber oft rein nichts. «Doch grundsätzlich ist die Technik heute sehr gut und ich profitiere davon, obwohl ich meine analogen Hörgeräte vermisse.» Der Wechsel von analog zu digital war für sie ein Horror, sagt sie. «Mit den analogen Hörgeräten hatte ich ein besseres Hörgefühl. Jetzt habe ich mich aber – ich probierte verschiedene Hörsysteme aus – an das digitale Hören gewöhnt, höre sogar, was die Leute 20 Meter entfernt von mir sagen …» Vorteile hat die digitale Variante auch beim Telefonieren mit dem Handy. Hilfsgeräte verwendet die Wissenschafterin keine. «Aber ich schaue immer, wo ich beispielsweise an Meetings sitze. Ich platziere mich zentral, denn wenn ich am Rand sitze, höre ich fast nichts. Wichtig für mich ist auch der ausgegrenzt. «Ich musste lernen, so etwas auszuhalten. Mein Motto war darum: Vogel friss oder stirb. Sonst wäre ich untergegangen.» Rifa’at Lenzin versuchte jedoch, sich auf anderen Wegen Respekt zu verschaffen. «Punkto Intellekt und Sport konnte ich sehr gut mithalten.» Sie erinnert sich noch gut an ihre Hörgeräte: «Meine Hörgeräte hatten Kabel und ein Mikrofon, das ich in einem Säckchen unter dem Kleid trug, weil ich mich schämte. Aber weil der Stoff auf dem Mikrofon scheuerte, war das Hören für mich fast unerträglich.» dezibel 1/2017 «Nie so zu sein wie andere» 8 Mit der Zeit lernte sie, dieses «nie so zu sein wie andere» zu akzeptieren. «Helfen», weiss sie, «kann dir niemand, auch wenn die Hilfsbereitschaft dazu vorhanden ist. Jetzt kann ich gut damit umgehen.» Was sie heute stresst, das sind die Small-Talk-Gespräche bei Apéros. «Das ist der reine Albtraum für mich. Wenn es sich vermeiden lässt, gehe ich nie an solche Anlässe, ansonsten habe ich mir angewöhnt, notfalls Gespräche zu führen, ohne etwas zu verstehen. Sind die Leute irritiert, merke Bücher sind für Rifa’at Lenzin wichtige Begleiter. Sie hat in ihrem Leben nie wirklich gut gehört, aber sie liebt die Musik sehr. focus Rifa’at Lenzin hat … Rifa’at Lenzin, Sie haben ein Studium absolviert. Wie war es denn mit dem Hören? Ausser beim Philosophiestudium ging es soweit gut. Beim Philosophiestudium war der Hörsaal immer sehr voll. So musste ich schauen, dass ich das, was ich nicht hörte, irgendwie selbst ergänzen konnte. «Lieber Hochdeutsch als Dialekt» Gut unterhalten kann sich Rifa’at Lenzin mit ihrem Mann, einem Aargauer. Ihn versteht sie gut und sogar ohne Hörgeräte, auch wenn er Dialekt spricht. «Wir sind ja ein altes Ehepaar», lacht sie. Er unterstützt sie in vielen Situationen, erklärt etwa ganze Passagen von Filmen, wenn sie diese nicht versteht. Grundsätzlich bevorzugt sie es, wenn die Menschen mit ihr hochdeutsch sprechen. Wohl weil sie in Bern aufgewachsen ist und weil die Berner langsam reden, versteht sie diesen Dialekt gut. «Die Liechtensteiner hingegen, die verstehe ich fast nicht.» « Ich profitiere von der heutigen Technik. Trotzdem vermisse ich meine analogen Hörgeräte ... » Die Hörgeräte von Rifa’at Lenzin sieht man kaum. Sie trägt sie bewusst nicht offen, da es immer noch viele Menschen gibt, die denken, sie sei auf eine Art auch geistig behindert. Das kränkt sie, sie versteht aber durchaus, dass nicht alle gut mit der Hörbehinderten-Situation umgehen können. «Also binde ich meine Hörbehinde- rung auch nicht jedem auf die Nase. Wichtig für mich ist, dass ich mit meinen Hörproblemen umgehen kann. Und ganz wichtig finde ich, dass hörbeeinträchtigte Kinder gefördert werden müssen.» Rifa’at Lenzin: Hat Ihr Studium etwas mit Ihrer Herkunft zu tun? Ja, denn ich wollte mehr über meine Kultur und meine Religion wissen. Ich wollte nicht von anderen abhängig sein, um den Koran lesen und interpretieren zu können. Dafür muss man Arabisch können und mit den historischen Entwicklungen im Islam vertraut sein. Allerdings sind Islamwissenschafter in der Regel keine Muslime. Früher hat der Islam in der Schweiz kaum jemanden interessiert. … zumal die Diskussionen um den Islam und die kopftuchtragenden Musliminnen nicht abreissen. Tragen Sie ein Kopftuch? Ja, aber nur in bestimmten Situationen, aus Respekt, in Moscheen beispielsweise. Wenn für eine Frau aus Gründen ihrer Identität ein Kopftuch wichtig ist, dann akzeptiere ich das auch. Wissen Sie, warum Musliminnen in der arabischen Welt vor allem ein Kopftuch tragen? Als Schutz vor der Sonne. Die kopftuchtragenden Frauen werden aus Sicht vieler unterdrückt. Soll man das unterstützen? Ganz so einfach ist diese Diskussion nicht. Vielfach projizieren wir ja unsere eigenen Vorstellungen auf andere. Ich selbst halte nichts von der Unterdrückungsfrage. Ich kenne viele auch jüngere kopftuchtragende Frauen. Sie tragen ihr Kopftuch bewusst aus religiösen Gründen und, weil sie stolz sind, Muslimin zu sein. Im Tessin wurde ein Burkaverbot erlassen, jetzt diskutiert man über ein schweizweites Verbot. Das Verbot finde ich falsch. Es resultiert aus Ängsten heraus. Die Abneigung gegen den Islam äussert sich in dieser Form. Aber es sind nicht die verhüllten Frauen, die Anschläge verüben. Man darf das Burkaverbot anderseits nicht als Bagatelle behandeln. Die Islamwissenschaftlerin findet das Kopftuch- und Burkaverbot keine Lösung. dezibel 1/2017 Lichteinfall. Ich muss den Leuten ins Gesicht und auf den Mund sehen können. Ist aber die Akustik in einem Raum schlecht, dann nützt alles nichts. Das ist sehr frustrierend.» 9 focus Rifa’at Lenzin hat … Für mich persönlich ist die Frage Kopftuch und Verhüllung nicht so wichtig. In gewissen Ländern wie Saudi-Arabien können Frauen aber nicht ohne Kopftuch auf die Strasse gehen. Doch die Frauen müssen selbst entscheiden können, was sie wollen. Ich denke allerdings, dass der Staat die Frauen, die sich aus religiösen Gründen verhüllen, schützen sollte. In der Schweiz finden Sie übrigens nur ganz wenige verhüllte Musliminnen. Wer hier eine Burka trägt, der will das, auch wenn es der Trägerin selbst schadet. Die Abneigung gegen den Islam ist insbesondere aufgrund des Terrorismus entstanden. Ja, aber die Muslime in der Schweiz sind mehrheitlich gut integriert. Trotzdem wird in der Bevölkerung nicht zwischen den Terroristen und den ganz normalen Muslimen unterschieden. Die Muslime hier in der Schweiz sind darum auch Opfer. Früher weckte der Islam überhaupt keine Emotionen. Sie pflegen den interreligiösen Dialog in der Schweiz. Ihre Erkenntnisse? Dieser Dialog ist durch die aktuelle Situation belastet. Wichtig wäre es, sich auf andere Menschen, Kulturen und Religionen einzulassen. Heute fragen sich junge Muslime bereits, ob sie sich gegen- Rifa’at Lenzin Rifa’at Lenzin ist Bernerin, doch ihre Wurzeln liegen in Pakistan. Sie absol­ vierte das Studium der Islamwissen­ schaft, Religionswissenschaft und Phi­ losophie in New Delhi, Zürich und Bern. 2010 wurde ihr die Ehrendoktor­ würde der Theologischen Fakultät der Universität Bern für ihren Einsatz im Dialog zwischen Menschen unter­ schiedlicher Religionen und Kulturen sowie in der Genderfrage im Islam ver­ liehen. Sie ist Präsidentin der Interreli­ giösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz IRAS COTIS und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR. über der Gesellschaft überhaupt outen sollen. Das Sich-Einlassen auf den Andern hätte einen friedensfördernden Aspekt. Den Frieden jedoch kann dies natürlich nicht garantieren. Allerdings erreicht man mittels Dialog gerade Leute, die ihre Vorurteile pflegen, nicht. Da kann man noch so gute Argumente bringen. dezibel 1/2017 Was also wäre zu tun? Da habe ich auch kein Rezept. Hilfreich ist, wenn jeder im Kleinen tut, was er kann. Man muss immer wieder erklären, reden, sich austauschen. Wenn ich zu Referaten eingeladen werde, versuche ich, Wissen zu vermitteln, ohne missionieren zu wollen. Ich zeige auf, was der Islam ist, erkläre die Geschichte und die religiöse und die kulturelle Seite. Als Dozentin von in Ausbildung stehenden Sozial­ arbeitenden gehe ich auf das Thema Islam vertieft ein. Denn gerade Sozialarbeitende müssen wissen, woher diese Leute kommen, welche Probleme und Schwierigkeiten sie haben, wie Integra­ tion gelingen kann und wie man Rassismus entgegentritt. 10 Es gibt keine einfachen Rezepte. Weder beim Hören noch in der Islamfrage. «Hilfreich ist, dass jeder im Kleinen tut, was er kann.» Was ist für Sie wichtig im Leben? Ganz wichtig für mich persönlich ist es, dass mein Gehör nicht noch schlechter wird, als es ohnehin schon ist. Mein Restgehör liegt bei zehn Prozent. Und ich merke, dass ich mit meinen Hör­ geräten an meine Hör-Grenzen komme. Ohne Hörgeräte wäre ich gesellschaftlich nicht mehr funktionsfähig. Meine grösste Sorge ist darum mein Gehör. Karin Huber