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Zusammenfassung für den Lizpool
Perrez & Baumann (1998)
von Sam Leuzinger
Sam Leuzinger
Route de Marly 31
1700 Fribourg
Tel: 026 / 422 24 13
e - mail: [email protected]
Kapitel 32 Schlafstörungen
Klassifikation und Diagnostik (S. 730 - 733).
Schlafbeschwerden werden beschreibend in Einschlafstörungen,
Schlafunterbrechungen und frühes Aufwachen am Morgen. Aber auch der
exzessive Schlaf wird als Symptom gewertet. Die Taxonomie geht von
pathophysiologischen Kriterien aus und ist in vier Hauptgruppen eingeteilt:
Dyssomnien, Parasomnien, Schlafstörungen in Verbindung mit medizinisch /
psychiatrischen Erkrankungen und "vorgeschlagene", d. h. noch nicht eindeutig
bestimmte Schlafstörungen.
Hauptgruppen im DSM - IV und ICD - 10 (S. 731):
Dyssomnien:
- Primäre Dyssomnie
- Primäre Hypersomnie
- Narkolepsie
- Atmungsgebundene Schlafstörung
- Schlafstörung mit Störung des zirkadianen Rhythmus
- nicht näher bezeichnete Dyssomnie
Parasomnien (abnorme Ereignisse während des Schlafs):
- Schlafstörungen mit Angstträumen
- Pavor nocturnus
- Schlafstörung mit Schlafwandeln
- nicht näher bezeichnete Parasomnien
Schlafstörungen in Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung
- Insomnie in Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung
- Hypersomnie in Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung
andere Schlafstörungen
- Schlafstörung aufgrund eines medizinischen Kranikheitfaktors
- Substanzinduzierte Schlafstörung
Die DSM - IV - Kriterien für eine primäre Insomnie (DSM - IV, S. 634) sind:
A: Die im Vordergrund stehende Beschwerde besteht in Einschlaf- und
Durchschlafschwierigkeiten oder in nicht erholsamem Schlaf seit mindestens
einem Monat.
B: Die Schlafstörung (oder die damit verbundene Tagesmüdigkeit) verursacht in
klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
C: Das Störungsbild tritt nicht ausschliesslich im Verlauf einer anderen
psychischen Störung auf (z. B. Major Depression, Generalisierte Angststörung,
Delir).
D: Das Störungsbild geht nicht auf die körperliche Wirkung einer Substanz (z.
B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück.
Die umfassende multivariate Diagnostik von Schlafproblemen stellt
schwerpunktsmässig folgende Fragen:
1) Ist eine Schlafstörung als vorübergehend oder als chronisch zu definieren?
2) Tritt die Schlafstörung im Kontext von somatischen Symptomen und
psychiatrischen Erkrankungen auf oder ist sie als primäre Störung anzusehen?
3) Stellt sich eine Schlafstörung nur im Erleben des Betroffenen dar oder wird
sie durch physiologische Messungen bestätigt?
Die Klienten werden dabei aufgefordert, am Morgen ein Schlaftagebuch über
die vergangene Nacht zu schreiben. Parallel dazu können Ruhe- und
Aktivitätsphasen mittels eines Monitors am Handgelenk gemessen werden. Sie
kann mit Einschätzungen über Ruhezeiten, Schlafqualität und
Schlafgewohnheiten verglichen werden. Die Labormessung des Schlafs stellt
den letzten Schritt der Abklärung mit Tests dar.
Diagnostische Abklärungsschritte von Insomnien sind:
- Halbstrukturiertes Interview - Informationen über Emotion, Kognition und
Verhalten in bezug auf die Störung und ihre Folgen, Schlafanamnese,
Einstellung zum Schlaf und Lebenssituation. Die auslösenden und
aufrechterhaltenden Bedingungen werden analysiert.
- Schlaftagebuch: Die im Bett verbrachte Zeit, Einschlaf- und Aufwachzeiten,
Schlafunterbrechungen, Schlafqualität und Erholungsgefühl, Medikamente
werden erfasst, um generalisierte Aussagen über den Schlaf zu differenzieren.
- Messung der Motorik: Kontinuierliche Aufzeichnung der Armbewegung
(summierte Werte jeweils über 7.5 min), um die Ruhe- und Aktivitätsphasen mit
den subjektiven Angaben zu vergleichen.
- Polygraphische Messungen: EEG, EOG, EMG, Atmung, Puls, 2 - 3
Labornächte, um die Schlafstruktur und den Schlafverlauf zu diagnostizieren.
32.2 Schlafstörungen: Ätiologie / Bedingungsanalyse (S. 734 - 743)
Verlängerte Einschlafzeiten, häufiges Erwachen mit verzögertem
Wiedereinschlafen und eine daraus resultierende herabgesetzte Schlafeffizienz
(= prozentualer Anteil des Schlafs von der im Bett verbrachten Zeit) gelten als
Hauptmerkmale eines gestörten Schlafs. Schlafinterne Indikatoren, wie
vermehrter Wechsel der Schlafstadien, geringe Schlafvertiefung oder
motorische Unruhe müssen auch berücksichtigt werden, auch durch
Selbsteinschätzungen des Schläfers (Schlafqualität, Erholungsgefühl, etc.).
Engel und Knab (1985) haben ein deskriptives Modell (Zwei - Komponenten Modell) zur Einordnung von Schlafstörungen vorgeschlagen, das die
subjektiven und objektiven Merkmale von Schlafstörungen berücksichtigt. Das
klinische Bild des chronischen schlechten Schlafes kommt zustande, wenn eine
somatische Dysregulation des Schlaf - Wach - Rhythmus mit einer erhöhten
neurotischen Klagsamkeit zusammenfällt. Die klinische Bedeutsamkeit einer
Schlafstörung kann am grösseren Abstand vom Achsenschnittpunkt abgelesen
werden. Das Modell nimmt auch eine dynamische Wechselwirkung der beiden
Komponenten an. Eine organisch bedingte Schlaf - Wach - Dysregulation kann
eine verstärkte Selbstbeobachtung mit erhöhter Klagsamkeit hervorrufen, die
bestehen bleibt, auch wenn sich der Schlafrhythmus wieder normalisiert hat.
Ein externer oder psychischer Konflikt kann aber auch Anspannung und
Erregung hervorrufen, die sich auf den Schlaf negativ auswirkt (negative
Rückwirkung des Schlafs auf das psychische Wohlbefinden).
Die Struktur des Schlafs entwickelt sich in der frühen Kindheit von polyphasisch
zu zweiphasicher Schlafstruktur mit geringerer Schlafdauer, der in einen
monophasischen Schlaf übergeht. In der Adoleszenz findet eine
Schlafreduktion statt. Im Alter vermindern sich Schlaftiefe und Stabilität des
Schlafverlaufs, tagsüber treten vermehrt Schlafperioden auf. Veränderungen im
Schlaf - Wachrhythmus können mit Anpassungsproblemen verbunden sein,
welche Schlafstörungen hervorrufen. Die meisten frühkindlichen
Schlafstörungen werden nicht chronisch. Auch in der Adoleszenz verfestigen
sich die Schlafprobleme nur in sehr wenigen Fällen.
Doch neben biologischen Ursachen können auch psychodynamische
Bedingungen den Schlaf behindern. Belastende Lebensereignisse können
Schlafstörungen hervorrufen - i Zusammenhang mit Identitätsproblemen, bei
Alten mit Lebensunzufriedenheit, Todesangst und einer negativen Einstellung
zum Alter. Schafgestörte Menschen zeigen sich v. a. durch ängstliches Grübeln
und Anspannung aus.
Kognitive und verhaltensorientierte Erklärungen von Schlafstörungen gehen
davon aus, dass grüblerische Gedanken im Umfeld des Schlafes schlaflindernd
wirkt. Die Fixierung der Gedanken auf den ausbleibenden Schlaf wirkt
problemverstärkend (mit überbesorgter Einstellung zum Schlaf). Wenn sich in
der Schlafsituation schlafinkompatible Gewohnheiten (fern sehen, etc.)
einschleifen, verliert die Umwelt ihre schlaffördernde Funktion. Die Ergebnisse
weisen darauf hin, dass die subjektive Bewertung von Stress und ein Defizit an
Bewältigungsstrategien für die Aufrechterhaltung von Schlafstörungen wichtig
sein können. Schlechte Schläfer sind in ihren Gedanken mehr mit sich selbst
oder der unpersönlichen Umwelt beschäftigt und schätzen sich häufig als ruhig,
entspannt und unbeteiligt ein.
Die Wechselwirkung zwischen auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren
wurde am besten für die psychophysiologische Schlafstörung beschrieben. Eine
chronisch ängstliche Anspannung, die als Unruhe und Verkrampfung
somatisiert wird interagiert mit der Schlaflosigkeit, welche durch interne und
externe Faktoren verstärkt wird - Wunsch, den Schlaf willkürlich herbeizuführen.
Oft gehen die Patienten von falschen Annahmen aus, z. B. dass Schlaf mit
zunehmendem Alter störungsanfälliger wird. Durch den chronischen
Schlafmittelgebrauch verändern sich Schlafstruktur und Schlafqualität. Ein
Absetzen des Medikaments gelingt deshalb nicht, weil danach vorerst heftiger
Schlafstörungen auftreten. Dadurch wird das Bedürfnis verstärkt, die
Schlafmittel weiterhin zu nehmen.
In den neueren Klassifikationssystemen werden Schlafstörungen v. a. in den
Gruppen der affektiven Störungen und der Angstsyndrome als wichtiges
Symptom hervorgehoben. Bei depressiv Erkrankten zeigen Befunde, dass ihr
Schlaf massiv gestört sein kann, anderseits kann ein totaler oder partieller
Schlafentzug zu einer markanten Besserung der depressiven Symptomatik
führen.
Der gestörte Schlaf äussert sich bei einer Mehrzahl Depressiver
folgendermassen (Reynolds & Kupfer, 1987):
- Einschlaf- und Durchschlafstörungen mit zu frühem Erwachen
- Veränderung des Tiefschlafs (langsame Wellen, Stadien 3 / 4), v. a. im ersten
Schlafzyklus.
- Verkürzung der ersten Nicht - REM Schlafperiode (Stadien 2 bis 4), die zu
einem vorzeitigen Einsetzen der ersten REM - Phase (verkürzte REM - Latenz)
führt.
- Gleichmässigere Verteilung des REM - Schlafs innerhalb des gesamten
Schlafs.
Diese Merkmale treten aber auch bei anderen psychischen Störungen (z. B.
Angstneurosen, Schizophrenien), bei gesunden alten Menschen und tagsüber
aktive Junge auf. Eine antidepressive Wirkung ist auch nach Schlafentzug in
der zweiten Nachthälfte und nach selektivem REM - Schlafentzug beobachtet
worden.
Das Zwei - Prozess Modell der Schlafregulation von Borbély und Wirz - Justice
(1987). Das Modell postuliert Prozess S, der die Schlafbereitschaft und die
Schlafintensität in Abhängigkeit vom Schlaf- Wach- Rhythmus, v. a. im
Wachzustand aktiv ist (gemessen durch EEG). Prozess C wird unabhängig vom
Schlaf- Wachverhalten durch die übergreifende zirkadiane Tagesperiodik
bestimmt und die Schlafbereitschaft bestimmt. Bei depressiver Erkrankung ist
der Prozess C (Schlaffähigkeit) defizient, diese Beeinträchtigung bewirkt
depressives Befinden. Das verlängerte Wachsein in der Deprivationsphase
bewirkt eine Stärkung des Prozess S, die Wirkung kann nur kurzfristig sein.
Biologische Faktoren werden in diesem Modell nicht berücksichtigt.
Die chronologische "Phase - advance" Hypothese geht von zirkadianen
Rhythmen aus, welche durch Umweltfaktoren (Licht, etc. beeinflusst werden
Störungen des gewohnten Schlaf - Wachrhythmus (z. B. Jet lag) führen zu einer
Desynchronisation der biologischen Rhythmen, welche bis zu einer Anpassung
zu psychophysischen Beschwerden führen kann. Bei depressiven Störungen
werden Tagesschwankungen im Befinden festgestellt. Die Hypothese geht
davon aus, dass der Schlaf von 2 zirkadianen Oszillatoren reguliert wird: der
stärkere Oszillator reguliert den REM - Schlaf, die Körpertemperatur und die
Cortisolausschüttung, der andere den Schlaf - Wach - Rhythmus. Der REM Schlaf ist bei depressiven Erkrankungen vorverschoben (deshalb Morgen
kritisch für Depressive). Die Forschung zeigt, dass Depression nicht aus einem
biologischen Faktor resultiert, sondern komplex ist.
Fazit: Eine Wechselwirkung zwischen internalisierten Konflikten,
psychosomatisierter Anspannung, unangemessenen Kognitionen und
abträglichen Schlafgewohnheiten bestimmen Schlafstörungen. In der
Diagnostik sind daher folgende Leitlinien zu betrachten:
-Schlafstörung individuell im physiologischen und psychologischen
Bezugssystem analysieren
- das Schlafproblem sollte nicht unabhängig vom Tagesgeschehen und der
Lebenssituation betrachtet werden
Der Schlaf ist nur ein Aspekt im übergreifenden Schlaf - Wach - Rhythmus (vgl.
psychische Störungen).
32.3 Schlafstörungen: Intervention (S. 745 752)
Schlafstörungen sind in der Bevölkerung weit verbreitet und werden v. a. von
Hausärzten behandelt. Dabei besteht aber ein breites psychologisches Angebot
verschiedener Therapien.
Medikamente (Schlafmittel) zeigen immer Nebenwirkungen und bergen die
Gefahr einer Überdosierung und einer psychischen Abhängigkeit.
Nebenwirkungen sind: Veränderungen der Schlafstruktur, Verwirrtheitszustände
bei nächtlichem Aufstehen und Benommenheit am Nächsten Tag. Bei
chronischer Einnahme ist eine verstärkte Insomnie nach Absetzen des
Medikaments zu beobachten, die eine Entwöhnung erschwert. Kurzfristig haben
gelegentlich eingenommene Schlafmittel den Vorteil, den ungestörten Schlaf
einzuleiten und damit die Frustration der Schlaflosigkeit zu hemmen.
Unter Entspannungsverfahren werden Progressive Entspannung, Autogenes
Training, Hypnose und Meditation verstanden. Die Verfahren gehen davon aus,
dass eine Schlafstörung durch erhöhte psychophysiologische Aktivierung
hervorgerufen wird und durch positive Beeinflussung zum
Entspannungszustand gebracht werden kann (je nach Therapie mehr
physiologisch oder kognitiv orientiert). Die Klienten werden therapeutisch
instruiert, machen danach die Übungen zu Hause. Auch Biofeedback Methoden wurden eingesetzt.
- Entspannungsmethoden können subjektive Einschlafstörungen erheblich
verbessern.
- Die progressive Relaxation ist gegenüber einfacher Entspannung besser, u. a.
Verkürzung der Einschlaflatenz bei psychophysiologischen Insomnien.
- Es ist nicht nachgewiesen, dass eine Verbesserung der Beschwerden mit
einer messbaren Reduktion körperlicher Anspannung verbunden ist.
Stimulus - und Bettzeitkontrolle (Bootzin, 1980) sind Verhaltensregeln, die
schlafinkompatible Gewohnheiten und Gedanken , die sich im Umfeld der
Schlafumgebung verfestigt haben, zu unterbinden, eine zeitliche Abfolge des
Schlaf - Wach - Rhythmus zu stabilisieren (nur zu Bett gehen bei Müdigkeit,
Bett nur zum Schlafen benützen, nach 10 Minuten Schlaflosigkeit aufstehen
und in ein anderes Zimmer gehen, diesen Vorgang wiederholen, jeden Morgen
zur gleichen Zeit aufstehen, tagsüber nicht schlafen).
Die paradoxe Intervention, eine kognitive Intervention, die von Frankl 1960
entwickelt wurde, ist eine Selbstkontrolltechnik. Dabei wird der Patient instruiert,
das Einschlafen zu unterlassen und mit offenen Augen die Körperreaktionen zu
beobachten. Dieser Intervention liegt der Gedanke zugrunde, dass der
Leistungsdruck einschlafen zu wollen Angst auslöst, das Grübeln wird damit
unterbrochen. Dabei kann auch ein Imaginationstraining durchgeführt werden.
Die bisher genannten Interventionen sind symptomorientiert, demgegenüber
sind psychodynamische und kognitiv - verhaltensorientierte Interventionen
persönlichkeitsorientiert. Psychodynamisch orientierte Interventionen sehen
Schlafstörungen im Kontext neurotischer Erkrankungen an und behandeln sie in
der Therapie, wobei es kein funktionsspezifisches therapeutisches Vorgehen
gibt. Es wird davon ausgegangen, dass die Verarbeitung psychischer Konflikte
das sekundäre Problem der Schlafstörung löst. Systematische
Wirksamkeitsstudien liegen allerdings in diesen Interventionen nicht vor.
Problematisch kann die Intervention sein, wenn die Patienten nicht motiviert
sind, obwohl der Störung ein Konflikt zugrundeliegt, sind sie oft
symptomorientiert (sie wollen ihre Schlafstörung weg). Das Erwachen aus
angstbesetzten Träumen (physiologische Aktivität) ist durch konflikt - orientierte
Therapien behandelbar, kann aber auch durch systematische
Desensibilisierung behandelt werden.
Kognitiv - verhaltensorientierte Interventionen sind strukturiert Ein Beispiel dafür
ist das Breitbandverfahren von Hohenberger & Schindler (1984). In 11
halbstandardisierten Sitzungen wird die Problemanalyse (Erstgespräch,
Schlafverhalten, Lebenssituation), die Therapiephase A (Entspannungstraining,
Tagesstrukturierung, kognitive Kontrolle, Imaginationstraining) und der
Therapiephase B (Training in sozialer Kompetenz, Ausbau von
Freizeitaktivitäten, Umgang mit Belastung, Fading - weitere SK - Programme)
durchgeführt. Dabei wird der Schlaf und das Wachen in einer wechselseitigen
Beziehung gesehen, wobei der Schlaf und der Lebensstil (→ Umgang mit
Belastungssituationen) verändert werden. In der Verhaltensanalyse wird
individuell auf den Klienten eingegangen, um funktionale Zusammenhänge
zwischen Tages- und Abendsituationen detailliert zu erarbeiten. Neben
therapeutischen Interventionen ist das Geben von Interventionen über den
Schlaf und eine schlafhygienische Beratung wichtig, da sich schlafgestörte
Menschen oft an falschen Normen orientieren. Ihnen ist meist nicht bewusst,
dass regelmässige Schlafgewohnheiten die Schlafqualität fördern können. Mit
dieser Methode wird auch die Depressivität behandelt.
Fazit: Die Wirksamkeit der symptomorientierten psychologischen Verfahren
kann als bescheiden bezeichnet werden. Misserfolge von Behandlungen
werden v. a. auf unzureichende Differntialdiagnostik (auslösende und
aufrechterhaltende Bedingungen nicht spezifisch berücksichtigt) werden.
Schlafstörungen können auf vielfältige Ursachen zurückgehen, deshalb gibt es
kein Patentrezept. Individuell muss eine adaptive Indikation gefunden werden,
der psychophysiologischen Ausprägung des Beschwerdegrads als auch der
psychischen Situation in der Wachsituation Rechnung trägt. Informationen über
Schlaf und Schlafhygieneregeln können zur Prophylaxe von Schlafstörungen
beitragen. Doch Skepsis ist angezeigt, ob diese Informationen effiziente
Selbsthilfe aktivieren. Für viele chronisch schwer schlafgestörte Menschen ist
deshalb eine fachspezifische Abklärung und Behandlung erforderlich und
wünschenswert.
Kapitel 33: Essstörungen
33.1 Klassifikation und Diagnostik (S. 754 - 758)
DSM - IV (APA, 1994) enthält für die Klassifikation von Essstörungen im
Erwachsenenalter die Kategorien Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa und als
Restgruppe die nicht näher bezeichneten Essstörungen (Eating disorders not
otherwise specified). Übergewicht stellt danach kein Krankheitswert dar. Unter
der Restkategorie wird die Binge - Eating - Störung angesehen.
Die Annorexia Nervosa äussert sich im Streben danach, extrem dünn zu sein,
und einer krankhaften Angst vor Gewichtszunahme, obwohl sie untergewichtig
sind. Der Richtwert zur Bestimmung von Normal- bzw. Untergewicht ist der
Body Mass Index (BMI), bei dem das Körpergewicht (in kg) durch das Quadrat
der Körpergrösse (in m) dividiert wird. AB BMI = 17.5 wird von Untergewicht
gesprochen. Trotz ihres kritischen Gesundheitszustandes leugnen viele
Anorektikerinnen (meist Frauen) über lange Zeit die Schwere ihrer Störung und
stehen einer Therapie ablehnend gegenüber. Nach DSM - IV - Richtlinien
müssen zur Diagnose von Anorexia Nervosa folgende Kriterien erfüllt sein:
-A: Weigerung, das Minimum des für das Alter und Körpergrösse normalen
Körpergewichts zu halten.
- B: Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu
werden, trotz bestehenden Untergewichts.
- C: Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts,
übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die
Selbstbewertung oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen
geringen Körpergewichts.
- D: Bei postmenarchalen Frauen das Vorliegen einer Amenorrhoe, d. h.
Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen.
- Restriktiver Typus (F50.00): Während der aktuellen Episode der Anorexie
Nervosa hat die Person keine regelmässigen Fressanfälle gehabt oder hat kein
Purging - Verhalten (z. B. selbstinduziertes Erbrechen).
- Binge - Eating / Purging - Typus (F50.01):Während der aktuellen Episode der
Anorexia Nervosa hat die Person regelmässig Fressanfälle gehabt und hat
Purging - Verhalten gezeigt.
Das ICD - 10 unterscheidet die beiden letztgenannten Untergruppen nicht,
berücksichtigt aber als weiteres Diagnostikkriterium, dass es zu
Entwicklungsverzögerungen (Wachstumsstopp, fehlende Brustentwicklung)
kommt, wenn die Erkrankung vor der Pubertät beginnt. Differentialdiagnostisch
sind körperliche Erkrankungen (z. B. Hirntumore) und Gewichtsverlust in
Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen (z. B. psychische
Störungen) von der Anorexia Nervosa, bei welcher Körperschemastörungen
und Ängste vor einer Gewichtszunahme bestehen, abzugrenzen. Untergewicht
und Mangelernährung können viele medizinische Folgen haben (hormonelle
Veränderungen und Veränderungen des Blutbildes). Beim Binge - Eating /
Purge - Typus kann es zu Störungen des Elektrolythaushalts kommen, welche
mit negativen Folgen der Herz- und Nierenfunktion kommen.
Die Bulimia Nervosa wird in DSM - IV nach folgenden Kriterien diagnostiziert:
- A: Wiederholte Episoden von Fressattacken (Verzehr einer Nahrungsmenge in
einem bestimmten Zeitraum, Gefühl, während der Episode die Kontrolle über
das Essverhalten zu verlieren).
- B: Wiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme
gegensteuernden Massnahmen (selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von
Arzneimitteln, Fasten oder übermässige körperliche Betätigung).
- C: Die Fressattacken und das unangemessene Kompensationsverhalten
kommen drei Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor.
- D: Figur und Körpergewicht haben einen übermässigen Einfluss auf die
Selbstbewertung.
- W: Die Störung tritt nicht ausschliesslich im Verlauf von Episoden einer
Anorexia Nervosa auf.
- Purging - Typus: Selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von
Klisterinen, etc. während Episode der Bulimia Nervosa.
- Nicht - Purging - Typus: Während Episode unangemessene, einer
Gewichtszunahme gegensteuernde Massnahmen (Fasten, übermässige
körperliche Betätigung, ohne regelmässig zu erbrechen oder Einnahme von
Klisterinen, etc.
Das ICD - 10 kennt keine operationalen Kriterien (Häufigkeit, Zeitdauer) bei
Essanfällen, auch das Kriterium des Kontrollverlusts fehlt zur Diagnose der
Bulimia Nervosa, auch die beiden oben genannten Untergruppen fehlen.
Personen, die an einer Binge - Eating - Störung leiden, haben immer
wiederkehrende Essanfälle, ohne dass sie die übrigen Kriterien der Bulimia
Nervosa erfüllen wurde auch als non - purging bulimia oder compulsing
overeating beschrieben. Bis zu einem Drittel der Personen, die an
Gewichtsreduktionsprogrammen teilnehmen, finden Essanfälle dieser Kategorie
statt. Die Binge - Eating - Störung kommt um so häufiger vor, je stärker das
Übergewicht bei der betreffenden Person ausgeprägt ist. Die DSM - IV Kriterien
(1996) für diese Störung sind folgende:
- Wiederholt auftretende Essanfälle mit dem Erleben von Kontrollverlust.
- Essanfälle erfüllen mindestens 3 der folgenden Kriterien: wesentlich
schnelleres Essen als normalerweise, bis zu unangenehmen Sättigungsgefühl
essen, essen grosser Nahrungsmengen ohne Hungergefühl, allein essen
wegen Verlegenheit / Scham, Ekelgefühle, Depressionen oder schlechtes
Gewissen wegen Essanfällen.
- Ausgeprägter Leidensdruck wegen der Essanfälle.
- Die Essanfälle treten durchschnittlich seit 6 Monaten mindestens 2 Tage pro
Woche auf.
- Auf Essanfälle folgen nicht regelmässig kompensatorische Massnahmen (→
erbrechen) und die Essanfälle treten nicht ausschliesslich während einer
Episode Anorexie oder einer Bulimia Nervosa auf.
Es gibt verschiedene Verfahren zur Erfassung von Essstörungen:
- EDI (Eating Disorder Inventory (Garner, Olimstedt & Polivy, 1873), erfasst z.
B. Schlankheitsideal, Körperzufriedenheit, Perfektionismus.
- FFI (Fragebogen zum Figurbewusstsein) ((Cooper, Taylor, Cooper & Fairburn,
1987), erfasst negative Kognitionen und Gefühle im Umgang mit der eigenen
Figur.
- DBQ (Dutch Eating Behavior Questionnaire) (van Strien, Frijters, Bergers &
Defares, 1989), erfasst extern bestimmtes, gezügeltes Essverhalten und
gefühlsinduziertes Essverhalten.
- FEV (Fragebogen zum Essverhalten (Pudel & Westenhöfer, 1989), erfasst
gezügeltes Essverhalten, Störbarkeit des Essverhaltens erlebte Hungergefühle,
flexible und rigide Kontrolle des Essverhaltens.
- EDE (Eating Disorder Examination (Fairburn & Cooper, 1993),
Interviewleitfaden zur Diagnosestellung der Anorexia und der Bulimia Nervosa.
- Essanfallstagebuch Hamburger Essanfallstagebuch (Tuschen & Florin),
Tagebuch zu Erfassung von Ereignissen, Stimmungen und Gedanken, die dem
Essanfall vorausgehen / folgen.
- Ernährungstagebuch (Marburger Ernährungstagebuch (Tuschen & Florin),
Tagebuch zur Erfassung der täglich gegessenen Nahrungsmittel, der erlebten
Ängste wegen Gewichtszunahme, eingesetzte kompensatorische
Massnahmen.
33.2 Essstörungen: Ätiologie / Bedingungsanalyse (S. 760 - 765)
Essstörungen (Anorexia und Bulimia Nervosa treten v. a. in industrialisierten
Ländern in höheren sozioökonomischen Schichten auf, v. a. bei Frauen. Die
Schätzungen dieser beider Störungen liegen bei jungen Frauen zwischen 0.4
und 4%, wobei die Bulimia Nervosa häufiger auftritt. Soziokulturelle und / oder
behaviorale Faktoren spielen bei der Ausbildung von Essstörungen eine Rolle
(Essstörungen treten selten vor der Pubertät auf. Bei der Anorexie liegt der
Beginn durchschnittlich bei 17 Jahren, bei der Bulimia Nervosa bei 22 Jahren.
Eine genetische Prädisposition der Anfälligkeit für Anorexia und Bulimia
Nervosa ist möglich (Zwillingsstudien), wobei die Ergebnisse bei Bulimikerinnen
weniger einheitlich sind. Vermutlich prädisponieren genetische Faktoren nicht
direkt für eine bestimmte Essstörung, sind aber für eine bestimmte körperliche
Bedingung (z. B. Bildung bei Körperfett bei Mädchen in der Pubertät)
verantwortlich. Frauen mit Essstörungen waren häufig pummelige Kinder.
Physiologische und behaviorale Faktoren: Essstörungen treten bei jungen
Frauen nach längerer Fastenzeit oder Diät auf. Das Diäthalten steht in
korrelativem Zusammenhang mit Essanfällen und bedingt Essanfälle auch mit.
Der Körper verlangt nach Kohlenhydraten und Fetten, die Gedanken kreisen
sich um's Essen. Die kognitive Kontrolle geht bei gezügeltem Essen, welches
durch Stressbelastungen und pos. / neg. Stimmungen verursacht wird, leicht
verloren. Frauen, die an Anorexie leiden (restriktiver Typus, nahrungsdepriviert
sind) reagieren auf Essens - Stimuli mit einer deutlich geringeren
Speichelsekretion als Frauen mit Bulimia Nervosa, deren Diätverhalten starken
Schwankungen unterworfen ist. Das klassische Konditionierungsmodell von
Jansen (1995) kann diese Befunde erklären: Die aufgenommene Nahrung (US)
löst unkonditioniert Stoffwechselprozesse aus. Wenn auf den Anblick oder
Geruch von Speisen oft reichliche Nahrungsaufnahme folgt, können sie zu
unkonditionierten Stimuli werden und ihrerseits die geschilderten
physiologischen Reaktionen auslösen, ohne dass zuvor eine
Nahrungsaufnahme erfolgt. Anorektikerinnen etablieren ein
Extinktionsprogramm für ihre antizipatorischen, physiologischen Reaktionen,
schaffen damit günstige Voraussetzungen, um die Diät weiterhin durchzuhalten.
Dagegen Menschen mit Bulimia Nervosa oder Binge - Eating - Störung
zwischen Diät- oder Fastenphasen und Phasen, in denen sie reichlich essen.
Das Überessen geschieht oft am Abend allein zu Hause unter Stress. Die
externen und internen Bedingungen können leicht die Funktion konditionierter
Stimuli für die antizipatorischen, physiologischen Reaktionen erlangen. Sie
unterscheiden sich zur Anorexie auch, indem ihre Gedanken in der Fastenzeit
sich um die Konfrontation mit Nahrung kreisen.
Sozialisation: Interaktionsmuster in Familien anorektischer Patientinnen zeigen
sich durch Rigidität, geringe Konfliktbewältigung, Übervorsorglichkeit, etc.
Mütter von Töchtern mit einer Essstörung klagen oft über eine geringe
Familienkohäsion. Ungünstige innerfamiliäre Beziehungen können zu einer
starken Belastung werden und zu einer Aufrechterhaltung der Störung
beitragen. Möglicherweise spielt aber auch das essensbezogene Verhalten der
Mütter und ihre Einstellung gegenüber Figur und Gewicht eine wichtige Rolle.
Sie ihrerseits zeigen oft gestörtes Essverhalten und haben eine problematische
Einstellung gegenüber der Figur und dem Gewicht ihrer Töchter. Die Töchter
gezügelt essender Mütter zeigen grössere Angst dick zu werden.
Soziokulturelle Aspekte: In der westlichen Welt steht eine grosse
Nahrungsauswahl einem extremen Schlankheitsideal gegenüber. Auf Frauen
lastet ein normativer Druck des Schlankheitideals, den sie bereits als junge
Mädchen als positiv zu bewerten lernen. Das Selbstgefühl ist abhängig von
ihrer Figur. Das Problem verschärft sich in der Pubertät, wenn der Fettanteil
genetisch bedingt vervielfacht wird, Diäten sind dann häufig. Die übermässige
Beschäftigung mit der Figur, Sorge um Gewicht und Aussehen und das
Bemühen um Nahrungsrestriktion sind auch kennzeichnend für die genannten
Essstörungen.
Belastungsfaktoren: Entgegen der These unterscheiden sich Frauen mit
Essstörungen bezüglich der Häufigkeit sexueller Traumata (ablehnende
Einstellung zum eigenen Körper, ablehnende Haltung gegenüber der Sexualität,
etc.) vor Krankheitsbeginn nicht von Frauen ohne Essstörungen. Sexuelle
Traumata erhöhen das Risiko der Entwicklung psychischer Störungen
generell(auch Essstörung, aber nicht spezifisch)! Essstörungen zeigen sich
auch häufiger im Zusammenhang mit komorbiden psychischen Störungen.
Fazit: Genetische Faktoren können beteiligt sein, gesellschaftlicher
Normendruck in Richtung Schlankheit und biobehavioralen Faktoren (wie
Fasten) haben eine wichtige Bedeutung.
33.3 Essstörungen: Intervention (S. 767 - 775)
Die Psychotherapie setzt bei Ernährungsumstellung, Veränderung von
Körperschemastörungen, negative Gefühle gegenüber der Figur und
Veränderung des funktionalen Zusammenhangs zwischen Belastungen und
Essverhalten an Es werden meist kognitive Strategien eingesetzt, um
Sichtweisen zu überprüfen und evtl. Denkweisen und Gefühlsmuster zu ändern.
Neben den symptomorientierten kognitiven Therapieansätze wird bei der
Bulimia Nervosa und bei der Binge - Eating - Störung auch die interpersonelle
Therapie erfolgreich eingesetzt. Dieser Ansatz konzentriert sich auf die
Veränderung aktueller interpersoneller Probleme und Konflikte, Verbesserung
der Beziehungsfähigkeit. Essstörungen werden auch pharmakologisch
behandelt, v. a. durch Antidepressiva.
Kognitiv - behaviorale Behandlungskonzepte: Ernährungsumstellung - Um der
Mangelernährung und den damit verbundenen psychologischen
Folgeerscheinungen (z. depressive Verstimmungen) entgegenzuwirken, werden
essgestörte Patientinnen angeleitet, täglich drei Hauptmahlzeiten, zu 50% aus
Kohlenhydraten, 30% aus Fett, 12% Eiweiss. Bei der Anorexia Nervosa ist zu
Beginn die Gewichtssteigerung ein Hauptziel, dies können sie nur durch ein
gutes Aktivitätsniveau erreichen. Um die Compliance (Bettruhe, etc.)
einzuhalten, sind spezielle Strategien der Gesprächsführung empfehlenswert.
Im Gegensatz zu Bulimikerinnen werden Anorektikerinnen oft zunächst
stationär behandelt, bis ein BMI von > 13 erreicht ist, wenn schwere körperliche
Komplikationen auftreten und bei akuter Suizidgefahr. Bei der Binge - Eating Störung wird v. a. der chaotische Essstil ambulant behandelt.
Therapie von Körperschemastörungen: Zur Veränderung der negativen
emotionalen Reaktionen gegenüber dem Körper und zur Erweiterung der
Beurteilungskriterien gegenüber der äusseren Erscheinung und Attraktivität
werden Expositionsübungen anhand von Videoaufnahmen oder Spiegeln sowie
Bewegungsübungen eingesetzt, dass sich die Patientinnen mit ihrem
Körpererleben auseinandersetzen. Am Ende der Therapie haben die
Patientinnen gelernt, ihren Körper zu akzeptieren und haben ihre
Bewertungskriterien erweitert.
Therapie von Belastungsreaktionen: Patientinnen mit Essstörungen sind oft
Belastungen ausgesetzt. Die Art der Intervention hängt davon ab, ob die
Patientinnen Fertigkeitsdefizite haben oder ob sie übermässig starke
emotionale Reaktionen auf Belastungen zeigen. Bei Fertigkeitsdefiziten sind
Trainings zur Verbesserung der Kompetenzen im Umgang mit Problemen /
Bewältigung von Stresssituationen angezeigt. Beim Problemlösetraining wird
das Problem von Patientinnen definiert und Lösungen gesucht, evaluiert und
eingesetzt. Im Stressbewältigungstraining wird den Patientinnen das SORK Modell angewandt auf ihre Situation vermittelt und
Stressbewältigungsstrategien werden erarbeitet und erprobt. Die
Expositionstherapie ist angezeigt, wenn die Patientinnen übermässig starke
emotionale Reaktionen auf Belastungen zeigen oder eine zu geringe
Toleranzschwelle gegenüber aversiven Situationen und Gefühlslagen haben.
Sie werden dabei diesen Situationen und Gefühlslagen ausgesetzt, ohne dass
sie ihr problematisches Essverhalten zeigen können. Die meisten
verhaltensorientierten Programme werden durch spezielle kognitive Strategien
ergänzt, in denen neue Denk- und Interpretationsmuster angeregt werden. Im
Behandlungskonzept (kognitive Intervention) von Tausche und Florin versetzt
sich der Therapeut in die Situation der Patientinnen und nimmt zentrale
Befürchtungen, etc. der Patientinnen vorweg (systemimmananente Strategien
der Gesprächsführung). Ziel dieser Intervention ist es, den Patientinnen zu
helfen, um ihnen Vor- und Nachteile ihrer Zielvorstellungen bzw.
Verhaltensweisen bewusst zu werden und sich unter Abwägung aller Aspekte
selbstbewusst für eine Alternative zu entscheiden.
Interpersonelle Therapie: Bei der Bulimia Nervosa konzentriert sich diese
Therapie auf die interpersonellen Belastungen, welche diese Störung
aufrechterhalten. Das Konzept der Therapie wurde von dem zur Behandlung
von Depressionen adaptiert: Anfangs werden die interpersonellen Probleme
genau diagnostiziert. Während der Therapie werden Sichtweisen, Erwartungen
und Gefühle der Patientinnen bzgl. betreffender Problembereiche detailliert
herausgearbeitet und Ansätze zur Veränderung der Probleme erarbeitet,
welche von den Patientinnen in ihrem sozialen Umfeld umgesetzt werden
sollen.
Wirksamkeit der Psychotherapie: Als Behandlungsmethoden werden meist
psychotherapeutische Methoden, selten medizinisch - internistische oder
pharmakotherapeutische Massnahmen eingesetzt. Die psychotherapeutischen
Methoden setzen sich oft aus mehreren theoretischen Richtungen
(psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Interventionen) zusammen.
Die Interventionen führen bei der Bulimia Nervosa zur Normalisierung des
Essstils, zur Veränderung dysfunktionaler Einstellungen gegenüber der Figur
und dem Gewicht und zum Aufbau von Coping - Skills, um Essanfällen zu
widerstehen. Eine Expositionstherapie kann den funktionalen Zusammenhang
zwischen Belastungsreaktionen und Essanfällen reduzieren. Eine kognitiv behaviorale Therapie scheint der interpersonellen Therapie und einem
Ernährungstraining überlegen zu sein. Bei den meisten Bulimikerinnen können
durch kognitiv - behaviorale Interventionsmehoden (Ernährungstraining,
kognitive Therapie zur Veränderung dysfunktionaler Einstellungen,
Expositionstherapie, Stressreduktionstraining, etc.( deutliche Verbesserungen
in der Symptomatik erreicht werden. Bei der Hälfte wird eine völlige
Symptomfreiheit erzielt. Auch die interpersonelle Therapie hat langfristig
betrachtet gute Effekte, sie setzen zeitlich aber später ein als bei der kognitiv behavioralen Therapie.
Wirksamkeit der Pharmakotherapie: Heute werden bei Essstörungen v. a.
Antidepressiva eingesetzt, um die häufig bestehende komorbide Depression zu
behandeln und damit dieses Begleitsymptom auszuschalten (ohne
Ätiologieverständnis von Essstörungen). Bei der Anorexia Nervosa konnten
weder kurz- noch langfristige Effekte gefunden werden. Bei der Bulimia
Nervosa werden v. a. trizyklische Antidepressiva, MAO - Hemmer und selektive
Serotonin - Wiederaufnahmehemmer eingesetzt. Im Vergleich zur Effizienz von
psychologischen Therapien schneiden medikamentöse Behandlungen deutlich
schlechter ab. In Kombinationsstudien erzielte die medikamentöse Therapie
keine zusätzlichen Steigerung der Besserungsrate.
Fazit: Es wurden plausible Konzepte zur Behandlung von Essstörungen
entwickelt und evaluiert, die zu einer Heilung / Besserung der Essstörung und
den Begleit- und Folgeproblemen führen. Ein gewisser Anteil essgestörter
Patientinnen hat aber bis jetzt von keinem der Behandlungsansätze profitiert.
Störungen von Funktionsmustern
34. Störungen durch psychotrope Substanzen
34.1 Klassifikation und Diagnostik
Missbrauch und Abhängigkeit Substanzen, die eine direkte Wirkung auf die
Funktion des ZNS sind die entscheidenden Definitionskriterien.
Substanzmissbrauch liegt nach DSM - IV vor, sofern Abhängigkeit
ausgeschlossen ist, wenn eines oder mehrere der vorliegenden Merkmale
innerhalb der letzten 12 Monate vorliegt:
(1) Der wiederholte Substanzgebrauch führt zur Beeinträchtigung der
Verpflichtungen am Arbeitsplatz, in der Schule oder zu Hause.
(2) Wiederholter Gebrauch der Substanzen in Situationen, in denen der
Gebrauch eine körperliche Gefährdung darstellt.
(3) Wiederholte substanzbedingte Rechtsverstösse.
(4) Obwohl durchgehende oder wiederholt auftretende soziale oder
interpersonelle Probleme durch die verursacht oder verstärkt werden, wird
diese fortdauernd eingenommen.
Substanzabhängigkeit wird nach den DSM gestellt, wenn mindestens 3 der
folgenden Kriterien in demselben 12 - Monate - Zeitraum auftreten.
(1) Toleranzentwicklung durch: Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung
(um Intoxikationszustand oder erwünschten Effekt herbeizuführen) oder deutlich
verminderte Wirkung bei fortgesetzter Einnahme derselben Dosis.
(2) Entzugssymptome
(3) Die Substanz wird in grösseren Mengen oder länger als beabsichtigt
eingenommen.
(4) Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu
verringern oder zu kontrollieren.
(5) Viel Zeit für Aktivitäten, um die Substanz zu beschaffen, sie zu sich zu
nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
(6) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des
Substanzmissbrauchs aufgegeben oder eingeschränkt.
(7) Fortgesetzter Substanzmissbrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder
wiederkehrenden sozialen, psychischen oder körperlichen Problems, das
wahrscheinlich durch den Substanzmissbrauch verursacht oder verstärkt
wurde.
Ausgenommen wird von dieser Einteilung die Coffeinabhängigkeit, da der
Kaffeekonsum im allgemeinen keine psychischen Beschwerden hervorruft.
Polytoxikomane Patienten (Abhängigkeit mehrerer Substanzen: Alkohol,
Amphetamine, Cannabis, Halluzinogene, Inhalantien, Kokain, Opiate,
Phencyclidin, Sedativa Hypnotika anxolytikaähnl. Substanz, Polytoxikomanie,
Nikotin) werden mit entsprechenden Achse 1 - Diagnosen beschrieben.
Hirnorganische Begleiterscheinungen der Intoxikation oder des Entzugs von
einer der Substanzen werden im DSM - IV als organisch bedingte Störungen
beschrieben und auf Achse 1 als zusätzliche Diagnose gestellt. Im DSM - IV
werden für die einzelnen Substanzklassen keine spezifizierten
Diagnosekriterien für den Fall der Abhängigkeit oder des Missbrauchs
angegeben.
Diagnostik: Die wichtigsten Daten betreffen die Dauer des
Substanzmissbrauchs, das Alter zu Beginn des Missbrauchs, bisherige
Behandlung(en), Suizidversuche, sowie eine möglichst genaue Erhebung der
menge und der örtlichen und zeitlichen Konsumgewohnheiten einschliesslich
der kognitiven Bedingungen wie Einstellungen bzgl. des Substanzkonsums.
Durch Fremdbeurteilungen sollten Informationen eingeholt und validiert werden,
ob die Anforderungen am Arbeitsplatz gewachsen sind oder nicht, auch die
soziale Anamnese (Familie, Sozialkontakte, Kommunikationsschwierigkeiten)
sollten einbezogen werden.
Der Münchner Alkoholismustest MALT (Feuerstein et al., 1979) dient der
Statusdiagnostik und besteht aus getrennten Selbst- und Fremdbeurteilung.
Dabei werden Items zum Alkoholkonsum erfasst. Bei den Beschwerden und
Problemen werden folgende Bereiche erfasst:
(1) Trinkverhalten und Einstellung zum Trinken
(2) Alkoholbedingte psychische und soziale Beeinträchtigung
(3) Somatische Störungen
Der Test enthält keine differentielle Indikationsstellung bzgl. Therapie, dafür
sind Anamnesegespräche notwendig.
34.2 Störungen durch psychotrope Substanzen: Ätiologie /
Bedingungsanalyse
Die WHO definiert Abhängigkeit als ein Cluster von physiologischen,
Verhaltens-. und kognitiven Phänomenen, in dem die Einnahme einer oder
mehrerer Substanzen gegenüber anderen Verhaltensweisen, die früher hohen
Wert für die Person besassen, eine höhere Priorität einnimmt, ein
unüberwindbares Verlangen nach Drogen, Alkohol oder Nikotin (psychische
Abhängigkeit). Die physische Abhängigkeit ist durch körperliche
Entzugssymptome gekennzeichnet. Meistens führt den Weg in die Abhängigkeit
von einer Substanz über den Missbrauch derselben. Das DSM - IV gibt 10
Substanzklassen, die sich in ihrer Wirkung auf das ZNS in 3 Kategorien
einteilen lassen:
- Substanzen, die eine sedierende Wirkung auf die ZNS - Aktivität ausüben
(Alkohol, Opiate und Sedativa).
- Drogen, die die ZNS - Aktivität stimulieren (Koffein, Kokain, Amphetamine,
Inhalantien und Nikotin).
- Halluzinogene wie LSD, Meskalin, Psilocybrin, MMDA = Ecstasy), DOM, DMT
und PCP = angel dust).
Die Cannabis - Drogen nehmen eine Zwischenstellung ein, da sie
halluzinogene wie sedierende und stimulierende Wirkungen haben. Die drei
Wirkungsweisen sind nicht in einfache Genesemodelle (sedierende Substanzen
für Gestresste, stimulierende Substanzen als Aufputschmittel, Halluzinogene für
sensation seeking Menschen)darzustellen. Man geht heute von einem
multifaktoriellen Geschehen oder ein polykausales Bedingungsgefüge aus.
Genetische Bedingungen der Entstehung von Süchten: Das Diathese - Stress Modell (Comer, 1995) wurde auch auf Süchte angewandt: Dabei wird als
Diathese der durch eine genetisch bedingte Veranlagung begründete
Vulnerabilitätsfaktor definiert (Mutation eines oder mehrere Genorte als kausale
bzw. risikomodifizierende Grösse).
Biologisch - psychologische Konzepte: Bei Süchten handelt es sich um Stoffe,
die das Gehirn- und Körperfunktionen, das Befinden und das Verhalten
verändern. Die Wirksamkeit und die Dosis von Drogen hängen ab:
(1) von der Art der Einnahme
(2) von der Leichtigkeit, mit der sie das Gehirn erreichen
(3) wie gut sie mit Rezeptoren des ZNS interagieren
(4) wie schnell sie im Körper wieder abgegeben werdenDie Wirkungsgeschwindigkeit ist vom Delay abhängig, in der die Substanzen
über den Blutkreislauf dorthin gelangen. Intravenös geht schneller als
schnupfen oder oral. Die Substanz muss aber auch die Blut - Hirnschranke
passieren.
Neurophysiologische Wirkungen von Drogen: Vom ZNS können die
verschiedenen Drogen auf verschiedene Weise in die synaptischen
Nervensysteme eingreifen:
- Drogen können zur Entleerung von Vesikeln innerhalb der präsynaptischen
Endigung führen.
- Die Transmitterkonzentration kann vor der präsynaptischen Membran erhöht
werden.
- Drogen können den Transmitterausstoss in den synaptischen Spalt
blockieren.
- Drogen können Enzyme inhibieren, die Transmitter synthetisieren.
- Sie können den Reuptake von Neurotransmittern hemmen.
- Sie können Enzyme blockieren, die Neurotransmitter im synaptischen Spalt
abbauen.
- Drogen können aufgrund ihrer chemischen Ähnlichkeit an postsynaptische
Rezeptoren binden und dadurch die natürlichen Transmitter ersetzen oder
deren Wirkung blockieren.
Beim wiederholten Gebrauch von Substanzen kommt es zur Neuroadaptation
(Toleranzentwicklung, wobei die Reaktion auf die Droge bei wiederholtem
Gebrauch reduziert wird. Es treten Entzugssymptome auf, die durch die erneute
Zufuhr der Substanz beendet werden.
Neurophysiologische Verstärkungswirkungen von Drogen: Nahezu alle
psychoaktiven Substanzen haben positive Verstärkungseigenschaften. IN
molekularen und zellulären Mechanismen bestehen Abhängigkeiten - mehrere
Hirnareale weisen eine Funktion von operanten Verstärkungsmechanismen auf,
die auch an der Vermittlung von Verstärkungseffekten von Drogen beteiligt sind
(Opoide, Alkohol, Psychostimulatien). Zentral für die den Dopamin
produzierenden nucleus accumbens im Hirnstamm mit seinen dopaminergen
Verbindungen zum Limbischen System und das mittlere Vorderhirn mit
dopaminergen, noradrenergen und serotonergen neuronalen Projektionen.
Belohnende Drogenwirkungen werden mit externen und internen Hinweisreizen
gekoppelt und lösen beim Drogengebrauch Lernprozesse aus Einnahme,
Entzugsphase)- Die Drogenwirkung und die Löschungsresistenz sind
individuell unterschiedlich.
Da Opponenten - Prozess - Modell (Solomon & Orbit, 1974) Es basiert auf
folgenden Suchtphänomenen:
- auf dem hedonistischen Zustand, der durch die ersten Substanzeinnahmen
erzeugt wird und als positiver Primäraffekt beschrieben werden kann,
- auf der mit dem wiederholten Gebrauch der Substanz eintretenden affektiven
Toleranz (Wirkung flacht bei gleicher Dosis ab)
- Das affektive Entzugssymptom tritt als negative hedonistische Folge eines
einzelnen Drogengebrauchs auf. In der 2. Phase, parallel zum metabolischen
Abbau der Substanz, tritt sie während des Entzugs statt. Die Autoren
unterscheiden 2 Phasen: Als Prozess A wird die im Substanzgebrauch anfangs
auftretende positive emotionale Drogenwirkung bezeichnet (hängt von der
Dosis, der Dauer einer Gebrauchsperiode und der Art der Einnahme ab. Der
Prozess A hat als Nacheffekt den Prozess B zur Folge. Eine solche
kompensatorische Reaktion kann in mehrmaligem Drogenbrauch bestehen,
dass postsynaptische Rezeptoren in ihrer Anzahl vermehrt oder sensitiviert
werden. Beim Absetzen der Droge oder bei der durch die metabolische Aktivität
eintretende Konzentrationsabnahme hält die hohe Feuerungsrate der
Nervenzellen an und erzeugt Nachwirkungen der Substanzeinnahme. Da der
Prozess B bei wiederholter Drogeneinnahme früher einsetzt, stärker ist und
länger anhält, kann er bereits bei der Abfolge A-B auftreten, oder an
konditionierte Hinweisreize gekoppelt werden. Diese konditionierten
diskriminativen Reize können dann den Primär- und / oder den Nacheffekt
auslösen.
Lerntheoretische Konzepte der Entwicklung und Aufrechterhaltung
substanzinduzierter Abhängigkeiten: Neben theoretischen Erklärungen bzgl,
sozialen Gruppen, gehen diese Konzepte v. a. auf Mechanismen ein, welche
die Substanzabhängigkeit aufrechterhalten. Neugierde, sozialer Druck etc.
werden als Bedingungen gesehen, die zum ersten Konsum verleiten. Im ZweiFaktoren - Lerngeschehen wirken die euphorisierende Drogenwirkung, das
verbesserte soziale und emotionale Reaktionsvermögen, etc. als positive
Verstärker. Als negative Verstärker wirken Entzugserscheinungen, Reduktion
von Hemmungen, Angst, etc. gesehen, welche diesen Prozess
aufrechterhalten. Die Spannungsreduktionshypothese sieht mangelnde Angstund Stressbewältigung indirekt für viele Abhängigkeiten verantwortlich, die eine
spannungsreduzierende Wirkung haben. Doch kann diese
Stressreduktionshypothese nur bedingt in Zusammenhang mit dem Risikofaktor
mangelnde Stressbewältigung als vermittelnde Grösse bei der Entstehung von
Abhängigkeiten gesehen werden.
Sozialisationseinflüsse: Unabhängig von ihrem theoretischen Hintergrund
gehen diese Modelle davon aus, dass Einflüsse der sozialen Umwelt (durch
Familienmitglieder oder das weitere soziale Umfeld) die Risikofaktoren zur
Entwicklung einer Abhängigkeit fördern. Im Vordergrund stehen
Untersuchungen zu prä- und komorbiden psychischen Störungen und
entwicklungspsychologische Analysen des Familieneinflusses.
Milieu- vs. familienbedingter Alkoholismus: Cloninger (1987) unterscheidet 2
Typen von Alkohoolikern - Typ I (milieubeeinflusster Typ) und den auf Männer
eingeschränkten Typ II - Alkoholissmus. Unter Milieu wird das weitere soziale
Umfeld gesehen. Kinder von Typ - I - Alkoholikern ein doppelt so grosses Risiko
selbst Alkoholismus zu entwickeln (vgl. mit Kontrollgruppe). Adoptierte Söhne
von Typ - II - Alkoholikern haben ein neunfaches Risiko, adoptierte Töchter
kaum ein Risiko selbst Alkoholismus zu entwickeln. Die Abhängigkeit bei Typ - I
- Alkoholikern entwickelt sich nach dem 25. Lebensjahr, zeigen kaum ein
spontan auftretendes Bedürfnis nach Alkohol , sind selten delinquent, zeigen
häufig psychische Abhängigkeit von Alkohol und zeigen Kontrollverlust, ziehen
sich zurück. Typ - II - Alkoholiker zeigen selten körperliche Symptome, doch
sind häufig delinquent. Die Abhängigkeit entwickelt sich vor dem 25.
Lebensjahr, haben häufig kein Verlangen nach Alkohol, haben kein
Schuldbewusstsein und sind aktiv. Cloninger schreibt den beiden Typen
verschiedene Verhaltensregulationssysteme im Gehirn zu. Die
Persönlichkeitseigenschaften des Typ - I werden durch serotonerg noradronerg
und arbeitende Hirnregionen des Verhaltensinhibitionssystems und des
verhaltensaufrechterhaltenden Belohnungssystems bestimmt. Die
Verhaltenseigenschaften des Typ - II - Alkoholikers werden v. a. durch das
dopaminerg arbeitende Verhaltensaktivierungssystem gesteuert- Die jüngste
(familiäre) Forschung geht von Diathese - Stress - Modellen aus.
Vermittelnde Persönlichkeitsfaktoren zum Alkohol-/ Drogenmissbrauch kommen
vermehrt bei Diagnosen von Angst und Depression vor. Risikofaktoren sind
auch Abhängigkeit oder psychopathologische Auffälligkeiten der Eltern. Die
antisoziale Persönlichkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität sind
vulnerabilisierende Persönlichkeitseigenschaften. Wärme und Zuwendung in
der Familie kann Jugendliche von der Sucht bewahren.
Soziologische Bedingungsfaktoren liegen darin, dass es ohne die jeweilige
Substanz auch keine Abhängigkeit gibt. Der Rest sind historische Erklärungen.
Sozial protektive Bedingungsfaktoren: Der am besten dokumentierte
psychologisch protektiv wirksame Faktor liegt in der Vermittlung und Förderung
sozialer Kompetenzen, der schwache Widerstand gegen negative peerGruppeneinflüsse besteht v. a. aus mangelnden sozialen Fertigkeiten und
Problemlösefähigkeiten, Gut entwickelte soziale Fertigkeiten sind der beste
Schutz gegen den Alkohol- und den Tabakkonsum, aber auch gegen das
Probieren von Cannabis oder anderen Drogen.
Es gibt also biologische und psychologische Aspekte der
Substanzabhängigkeit, welche zusammen eine Theorie ergeben. Unklar ist, wie
Störungsmodelle der Alkoholforschung sich auf andere Abhängigkeiten
übertragen lassen. Kognitions-, entwicklungs. und sozialpsychologische
Ansätze, sowie Persönlichkeits-, lern- und motivationspsychologische
Überlegungen dürfen in einer gesamten Theorie nicht fehlen.
34.3 Störungen durch psychotrope Substanzen: Intervention (S. 799 816).
Gemeinsame Merkmale der Symptomatik und Behandlung aller Klassen der
Substanzabhängigkeit: DSM-IV und ICD-10 berücksichtigen neben körperlichen
und psychischen Folgen von Intoxikationen v. a. Abhängigkeit nur das Auftreten
weniger Kriterien von 7 bis 8 Symptomen. Die Symptome sind für
Klassifikationszwecke ausreichend, müssen aber für die Behandlungsplanung
auf 3 Ebenen differenziert werden:
(1) Behandlung der körperlichen Auswirkungen: Körperliche Abhängigkeit einer
Hauptsubstanz, zusätzlicher Missbrauch anderer psychoaktiver Substanzen,
körperliche Begleit- und Folgeerkrankungen.
(2) Behandlung der psychischen Funktionsstörungen Wahrnehmungsstörungen
Gedächtnisstörungen, Denk-/ Problemlösungsstörungen Sprachstörungen,
emotionale Störungen, Motivationsstörungen.
(3) Behandlung der Entwicklungsstörungen im Bereich der Lebensführung
(Zeitpunkt des Beginns des Drogenkonsums, etc.).
Abhängige zeigen oft wenig Motivation zur Behandlung. Motivation ist dabei der
Grad der Veränderungsbereitschaft, bzgl.:
- den Beginn einer Behandlung
- die kognitive Mitwirkung an der Erreichung der Therapieziele während der
Behandlung bis zum planmässigen Abschluss
- die Vermeidung von Rückfällen nach Ende der Behandlung.
Die körperliche Abhängigkeit und das Verlangen, die benötigte Dosis
einzunehmen, führen dazu, dass die Motivation zur Veränderung gering ist. Erst
nach Jahren, wenn die negativen Konsequenzen des Konsums stärker als die
positiver werden, sind Abhängige zur Behandlung bereit. Die Motivation zur
Fortführung und planmässiger Behandlung ist instabil.
Der Abhängige wird normalerweise immer wieder rückfällig, die Rückfallzeiten
werden kürzer und die erfolgreichen Phasen länger. Doch der Zyklus von
Contemplation - Action - Addiction - Free Life of Terminators - Maintenance Relapse - Addicted Life of Precontemplation bleibt bestehen. Die jeweilige
Phase muss im Einzelfall erfasst werden.
1.Precontemplation:
fehlendes Problembewusstsein, keine
Änderungsbereitschaft, geringe therapeutische Einflussmöglichkeiten
(Umweltveränderungen)
2. Contemplation: Aufbau eines Problembewusstseins, Selbstbeobachtung,
Abwagen von Vor- und Nachteilen. Therapie: Förderung der Selbstbeobachtung
und der Entscheidungsbildung.
3. Action: Beginn einer Behandlung, Bereitschaft zu Veränderung. Therapie:
Kompetenzförderung und Zukunftsplanung.
4. Maintenance: Aufrechterhaltung der Behandlungsziele - Bereitschaft zu
diesen. Therapie: Kompetenzen zur Verminderung des Rückfallrisikos,
Bewältigung von Rückfällen.
Die Rückfallsquote ist wegen kognitiven, emotionalen und motivationalen
Vorläufern hoch. Ein Modell zur Rückfallprävention findet sich auf S. 803. Es
geht von einer geringen Selbst - Effektivität und sich selbsterfüllenden
Prophezeiungen aus, v. a. verhaltenstherapeutisches Methodeninventar.
Therapeutische Versorgungsstruktur: Notschlafstellen (u. a. Gespräche),
qualifizierter Entzug (Entgiftungseinrichungen), Methadon - Substitution.
Therapeutische Konzepte und Massnahmen liegen in professionellen
Therapien, Selbsthilfegruppen ehemaliger Abhängiger, etc.
Medikamentöse Behandlung: Man unterscheidet nach der Entgiftung zur
Reduzierung des Rückfallrisikos alkoholsensibilisierende Medikamente, die den
Klienten mit Abstinenz motivieren, da es in Kombination mit Übelkeit assoziiert
wird, und Opiatantagonisten, die Opiatrezeptoren im Körper blockieren. Die
euphorische Wirkung fällt dann aus und wird negativ, was zu einer Löschung
führt. Diese Behandlung ist für motivierte und sozial integrierte Abhängige
sinnvoll. Die Methadon - Substitution hat Vorteil, dass Methadon oral
eingenommen werden kann (keine Infiszierung), hat keine euphorisierende
Wirkung, macht kontakt- und arbeitsfähig. Nachteil ist, dass es nach in 24h wirkt
vs. Heroin nach 8h. Probleme liegen darin, dass Kriminalität nach der
Substitution häufig ist, wenn neben Methadon andere Drogen konsumiert
werden, kann dies gesundheitliche Risiken haben.
Im Vordergrund der therapeutischen Versorgungen stehen eklektische Ansätze,
ohne dass es eine theoretische oder empirische Grundlage gibt gruppenanalytische Verfahren (PA ist kontrainduziert, GT bei Urteilsbildung
nützlich Am differenziertesten sind verhaltenstherapeutische Verfahren (siehe
S. 807).
Soziotherapeutische Behandlungen gehen v. a. von Selbsthilfe aus (fehlen
professioneller Mitarbeiter), als Unterstützung des Alltags.
Behandlung von Alkoholabhängigen: Therapieziele in Programmen sind:
- Einsicht in die Notwendigkeit einer langfristigen Abstinenz.
- Vermeidung von Rückfällen in kritischen Situationen
- Adäquates Verhalten nach Rückfällen.
- Verbesserungen in belastenden Lebensbereichen.
- Beseitigung / Reduzierung individueller Störungen.
Aus Kostengründen werden in Kliniken auch gruppentherapeutische
Massnahmen, welche durch Einzeltherapie unterstützt werden können.
Standardmassnahmen bestehen in funktionaler Verhaltensanalyse Entspannungstraining - Selbstkontrolltechniken - Einübung von Selbstsicherheit
- Kognitive Umstrukturierung - Anleitung zur sinnvollen Freizeitgestaltung Selbstorganisation - Individuelle Massnahmen.
Es wurden Verschiedene Modelle für Alkoholprobleme entworfen (Moral,
Abstinenz, Erziehung, systemischer Ansatz, kognitive Abläufe, biologische
Prozesse, etc.), die von zentralen persönlichen Faktoren (persönliche
Verantwortung, Alkohol, Mangel an Wissen und Motivation, familiäre
Dysfunktion, Erwartungen / Überzeugungen, Vererbung, etc.) und
Interventionen (moralisierendes Gespräch, Ermahnung, Erziehung,
Familientherapie, kognitive Therapie, medizinische Behandlung) postulieren.
Behandlung von Drogenabhängigen: Die (ambulante) Methadon - (bzw.
Codeinprodukte)Substitution und die stationäre therapeutische
Wohngemeinschaft stehen im Vordergrund. Ergebnisse zeigen, dass bei
Drogenabhängigen auch bei Langzeitkatamnesen 20 - 30% gute therapeutische
Ergebnisse erreicht werden.
35. Schizophrenie
35.1 Klassifikation und Diagnostik (S. 819 - 825)
Unter Schizophrenie wird eine psychopathologisch und vermutlich auch
ätiologisch heterogene Gruppe von Störungen zusammengefasst. Die
Gemeinsamkeiten dieser Patienten mit dieser Diagnose liegt in einem
drastischen Abfall des psychosozialen Funktionsniveaus im früheren oder
mittleren Erwachsenenalter ohne dass gravierende Ursachen (vgl. PTSD)
erkennbar wären. Die häufigste Positiv - Symptomatik (Wahngedanken) tritt bei
75% auf, auch die Negativ - Symptome treten nicht bei allen dieser Patienten
auf. DSM - IV verlangt ein 6 - monatige Bestehen dieser Störung, währenddem
ICD - 10 eine einmonatige akut - psychotische Phase zur Diagnose vorschreibt
(vgl. S. 820 / 821). Auch Entscheidungsregeln zu Mischbildern mit
psychotischer und affektiver Symptomatik unterscheiden sich. Probleme zur
Differentialdiagnose der Reliabilität und Stabilität ergeben sich bzgl. Störungen
mit ähnlichen Symptomen (z. B. paranoide, schizotypische Störung), v. a.
inkonsistenten Klasifikationsregeln, z. B. Doppeldiagnosen von Achse I und
Achse II - Störungen. Hirnorganische Störungen und Substanzmissbrauch sind
Ausschlusskriterien für die Schizophrenie. Die verschiedenen Störungen
unterscheiden sich bzgl. Symptomatik und Krankheitsverlauf. Die Untergruppen
von DSM - IV und ICD - 10 beziehen sich weitgehend auf Kraepelin:
(1) Hepephrene Schizophrenie bzw. Desorganisierter Typus mit ausgeprägter
Denkzerfahrenheit, flachem oder nicht adäquatem Affekt und desorganisiertem
Verhalten, schwere psychosoziale Beeinträchtigungen, ungünstiger Verlauf
(2) Katatone Schizophrenie mit eindrucksvollen Störungen der Psychomotorik
(in Industriestaaten selten)
(*) Paranoide Schizophrenie mit dominierenden Wahngedanken oder
akkustischen Halluzinationen.
Symptome werden in Positiv-, Negativ Symptomatik und nicht adäquatem Affekt
eingeteilt Antriebsmangel, Anhedonie, Affektverflachung, nicht adäquater Affekt,
Denkstörungen, bizarres Verhalten, Wahn, Halluzinationen.
Diagnostik: Selbstbeurteilungsfragebögen sind in akut - psychotischen Phasen
ungeeignet, da keine verlässliche Antworten erwartet werden können. Die
Veränderungen sind sprachlich schwer beschreibbar, es mangelt den Patienten
an Einsicht in ihre Erkrankung und ihre Beeinträchtigungen. Fragebogendaten
erfordern eine Berücksichtigung der jeweiligen Krankheitsphase, eine
Einschätzung der Krankheitsverleugnung (z. B. PDS von Zerssen). Daher sind
Fremdbeurteilungsverfahren wichtiger. Es sind oft zusätzliche
Beurteilungsverfahren wie die DAS der WHO oder die GAF der DSM
erforderlich. Die Erhebungen sollten standardisiert durchgeführt werden.
36.2 Schizophrenie: Ätiologie / Bedingungsanalyse (S. 826 - 836)
Epidemiologische Befunde: Die Inzidenzrate liegt etwa bei 10 / 100'000. Das
Geschlecht hat keinen Einfluss auf die Inzidenz. Männer und Frauen haben das
gleiche Lebenszeitrisiko, wobei die Krankheit bei Frauen später einsetzt. Weder
ökonomische, kulturelle noch ethnische Faktoren scheinen Einfluss auf das
Krankheitsrisiko zu haben. Dies weist auf biologische, v. a. genetische Faktoren
in der Entstehung der Schizophrenie hin.
Genetik: Die Beteiligung genetischer Faktoren an der Entstehung schizophrener
Erkrankungen gehört zu den am besten abgesicherten Aussagen der
Ätiologieforschung (v. a. Studien nach Verwandtschaftsgrad,
Adoptivuntersuchungen und Zwillingsstudien. Bei biologischen Verwandten von
Schizophrenen wurde ein erhöhtes und nach dem Verwandtschaftsgrad
abgestuftes Morbiditätsrisiko gefunden. Eineiige Zwillingspartner eines
schizophrenen Patienten und die Kinder zweier schizophrener Eltern haben das
grösste Lebenszeitrisiko (48% bzw. 46%), die Kinder eines schizophrenen
Elternteils 13% auch an Schizophrenie zu erkranken. Bei Adoptivstudien sind
Vergleiche zwischen genetisch belasteten und unbelasteten Adoptierten umso
aussagekräftiger, je länger diese Kinder über die Lebenszeit beobachtet
werden. Bei wegadoptierten Kindern schizophrener Mütter zeigt sich eine
erhöhte Häufigkeit schizophrener Störungen. In psychisch gesunden Familien
entwickeln diese Adoptivkinder seltener eine schizophrene Störung als in
psychisch gestörten Familien. Die genetischen Ansätze gehen also von einer
genetisch übertragenen Disposition aus. Doch auch bei eineiigen Zwillingen ist
das Risiko für den anderen nicht mehr als 50% (Umweltfaktoren sind auch
wichtig).
Biologische Faktoren: biochemische Faktoren - Befunde zeigen, dass mit den
Akutsymptomen wie Halluzinationen und Wahnideen eine gesteigerte Aktivität
dopaminerger Neurone einhergeht. Deshalb sind auch antipsychotische
neuroleptische Medikament, die postsynaptische Dopaminrezeptoren
blockieren (Rate der Neurotransmission senken) und das Abklingen akuter
Symptome bewirkten. Umgekehrt können Substanzen wie Amphetamin, die die
dopaminerge Aktivität erhöhten, zu Akutsymptomen führen. Es wird
angenommen, dass eine dopaminerge Unterfunktion im mesokortico präfrontalen System mit negativen Symptomen einhergeht. Diese Hemmung
efferenter Neurone im präfrontalen Cortex steigert die dopaminerge Aktivität im
mesolimbischen System, die für die Entwicklung positiver Symptome
verantwortlich ist. Bei Schizophrenen sind die Seitenventrikel vergrössert, der 3.
und 4. Ventrikel ist auch vergrössert. Es wurden auch Volumenverringerungen
im Temporallappen berichtet. Es finden sich atrophische Veränderungen
unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Ausmass ca. bei 1/3 dieser
Patienten. Patienten mit hirnorganischen Veränderungen unterscheiden sich
von den diesbezüglich unauffälligen schizophrenen Patienten durch mehr
Negativsymptomatik und einen ungünstigeren Verlauf. Die organischen
Veränderungen sind nicht progressiv und bestehen schon vor dem Ausbruch
der Krankheit. Die ersten Anzeichen einer Störung treten 4.5 Jahre vor der
Erstaufnahme (bei Männern früher als bei Frauen). Die Verzögerung des
Krankheitausbruchs geht vermutlich auf die antidopaminerge Wirkung von
Östrogen zurückgeht (nicht auf Unterschiede in der Reaktion der sozialen
Umwelt oder symptomatisch unterschiedliche Verläufe für die spätere
Erstaufnahme der Frauen). Frauen scheinen demnach einen Schutz gegen die
Umsetzung eines genetischen Risikos in eine manifeste Krankheit zu haben Östrogen bewirkt eine Anhebung der Vulnerabilitätsschwelle.
Psychophysiologische gehen von Veränderungen psychophysiologischer
Reaktionsmuster und Funktionsmuster aus. Die Aufmerksamkeit Schizophrener
teilt sich gleich stark auf relevante und irrelevante Reize auf (vgl. Fokussierung
auf relevante Reize bei Gesunden): Das Fehlen von Orientierungsreaktionen
und die verminderte Kovariation hirnelektrischer Signale mit der Reizbedeutung
verweisen auf umfassende Störungen der Informationsverarbeitung.
Neurokognitive Defizite: Eine Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnis (Filter,
der in einem frühen Stadium der Informationsverarbeitung irrelevante Reize
zurückweist) kann dazu führen, dass nachfolgende Stadien der
Informationsverarbeitung zuviel an Informationen zu bewältigen haben.
Üblicherweise fehlerfrei ablaufende Prozesse des Denkens und der
Verhaltenssteuerung würden zusammenbrechen (Halluzinationen und
Denkstörungen). Die Annahmen dieses Modells wurden aber widerlegt. Es
handelt sich evtl. um Störungen der dopaminergen Modulation naher Netzwerke
im Frontallappen. Zur Organisation zielgerichteter Verhaltensweisen ist die
Hemmung nicht zielführender Reaktionen nötig. Nach der Dopaminhypothese
(s. o.) findet eine verminderte Dopaminfreisetzung im frontalen Cortex statt
Cohen & Servan - Schreiber, 1992).. Dabei ist Dopamin Neuromodulator, der
die Funktionsweise gesamter neuronaler Netzwerke beeinflusst. Eine
verminderte dopaminerge Aktivität im Frontallappen kann die Befunde der
verminderten Kontextabhängigkeit und der vermehrten semantischen Bahnung
erklären.
Psychosoziale Faktoren: Prämorbide Sozialisationsbedingungen: Retrospektive
Befragungen eignen sich nicht (sind verzerrt), besser sind Berichte vor dem
Erkrankungszeitpunkt. Die prämorbide Persönlichkeit der späteren
schizophrenen Patienten wird sozialer Rückzug, geringe Impulskontrolle und
eine Tendenz zu bizarren Verhaltensweisen gesehen (Bostoner Studie). Die
Mütter später an Schizophrenie Erkrankter wurden als weniger
verantwortungsbewusst und weniger emotional stabil eingeschätzt. Das
"Double bind" - Konzept (Bateson et al., 1956) geht davon aus, dass eine
besonders ungünstige Form der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern
besteht (Übermittlung entgegengesetzter Botschaften). Die Annahmen konnten
aber empirisch zu ungenau getestet werden und zeigten keinen
Zusammenhang zur Schizophrenie. Die Kombination aus
Kommunikationsstörung und ablehnendem affektivem Stil scheint als
Besonderheit von Eltern, deren Kinder als Erwachsene eine schizophrene
Störung entwickeln, zu bestehen.
Psychosoziale Belastungen: Der Zusammenhang zwischen Schicht und
Erkrankungsraten ist nur bei Grossstadtbewohnern deutlich, in mittleren
Städten schwächer und in ländlichen Gebieten nicht nachzuweisen. Die "social
stress" oder "social causation" Hypothese besagt, dass das Leben unter
psychosozial schwierigen Bedingungen für die erhöhte Schizophrenierate
verantwortlich ist. Die "social drift" oder "social seloection" Hypothese besagt,
dass bereits im Vorfeld der Erkrankung Schizophrene wegen der
Beeinträchtigungen ihrer Fähigkeiten in unteren Sozialschichten absinken
können (social drift), sie können am üblichen Aufstieg in bessere
Lebensumstände nicht teilhaben (selection). Der Vergleich eingewanderter,
aber unterprivilegierter ethnischer Gruppen in Israel zeigte, dass entgegen der
social selection Hypothese (besser ausgebildete, aufstiegsorientierte
europäische Juden erreichen höhere Schichten, Schizophrene verbleiben in
unteren Schichten), dass die Prävalenz schizophrener Störungen in der
Unterschied höher war als bei einer Vergleichsgruppe aus Nordafrika
eingewanderter unterprivilegierter Juden (Levav & Shrout, 1992). Anhand
klinischer Beobachtungen wurde die Hypothese formuliert, dass
lebensverändernde Ereignisse als psychosoziale Stressoren an der Ätiologie
schizophrener Erkrankungen beteiligt sein können. Ihr Einfluss scheint aber
deutlich geringer als bei affektiven Störungen. Dagegen gibt es einen
Zusammenhang Zwischen dem Rückfallrisiko und psychosozialen Belastungen.
Bei Patienten, die bei ihren Angehörigen leben, ist der Einfluss des emotionalen
Klimas auf das Rückfallrisiko nachgewiesen. Arbeiten über "expressed emotion"
zeigen ein geringeres Rückfallrisiko bei Patienten, deren Angehörige eine
tolerante und akzeptierende Einstellung haben, nicht überfürsorglich sind.
Fazit: Zum Risiko schizophrener Erkrankungen scheinen genetische Faktoren,
Hirnschädigungen und psychosoziale Belastungen beizutragen. Die
genetischen Modelle des Risikos sind weit entwickelt, können aber die
Entstehung einer Schizophrenie nur teilweise aufklären. (Diskordanz bei
eineiigen Zwillingen bzgl. uneinheitlichen Veränderungen des Gehirns , treffen
nur bei einem Teil schizophrener Patienten zu). Umweltfaktoren
(Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen mit hirnpathologischen
Veränderungen können Verhaltensauffälligkeiten bewirken). Die Untersuchung
schizophrener Untergruppen ist noch unklar. Wenig systematische
Erkenntnisse liegen zum Einfluss psychosozialer Belastungsfaktoren bzgl. der
Entstehung einer Schizophrenie vor. Dagegen ist bei Schizophrenen das
Rückfallrisiko in einem Zusammenhang mit lebensverändernden Ereignissen
und der akzeptierenden / ablehnenden Haltung von Angehörigen zu sehen.
Mehrere Risikofaktoren wirken bei der Entstehung einer schizophrenen Störung
zusammen. Die verschiedenen Formen dieser Störung sind nicht durch die
Dominanz von Risikofaktoren aus jeweils einem dieser Bereiche zu erklären.
Die Vielfalt möglicher Interaktionen Zwischen den Risikofaktoren bestimmen
unterschiedliche Krankheitsbilder, paranoide Auffälligkeiten und längerfristige
Verläufe.
35.3 Schizophrenie: Intervention (S. 837 - 852)
Behandlungsansätze im Verlauf schizophrener Erkrankungen: Die Symptome,
Behinderungen und Probleme der einzelnen Betroffenen sind sehr
unterschiedlich. Sowohl biologisch - somatische wie auch psychosoziale
Faktoren beeinflussen Symptomatik und Verlauf in Interaktionen. In
Abhängigkeit von den sich zeitlich wandelnden und interindividuell
unterschiedlichem Zustandbild bestehen verschiedene Ansatzpunkte für
notwendige oder mögliche Therapiemassnahmen. Die Positiv - Symptomatik ist
charakterisiert durch Halluzinationen, Wahnerlebnisse und Ich - Störungen. Sie
tritt v. a. in akuten Krankheitsphasen auf. Die Negativ - Symptome entwickeln
sich zeitlich oft vor den ersten Positiv - Symptomen und bleiben nach deren
Abklingen teilweise lange bestehen. Sie sind von schlechter prämorbider
Anpassung oder den Folgen längerer Hospitalisierung nicht zu unterscheiden.
Desorganisiertes Verhalten, Denkstörungen und nicht adäquater Affekt trägt zu
sozialen Anpassungsproblemen Betroffener bei. Es besteht eine häufige
Komorbidität von Schizophrenie und Substanzmissbrauch:
- Substanzmissbrauch kann generell oder nur bei vulnerablen Personen
schizophrene Störungen auslösen.
- Substanzmissbrauch entsteht aus dem Versuch der Selbstmedikation oder
Bewältigung schizophrener Störungen.
- Es handelt sich um eine Koinzidenz ätiologisch völlig unabhängiger
Störungen.
Zwischen den Akutphasen sind häufig depressive Phasen zu beobachten,
welche (pharmakologisch und wegen institutioneller Behandlung bedingt).
Behandlung akut psychotischer Episoden: Das erstmalige Auftreten führt zu
einer Aufnahme in ein psychiatrisches Krankenhaus. Als Behandlungsverfahren
werden dabei die Pharmakotherapie und die soziale Betreuung eingesetzt sich
wechselweise ergänzende Vorgehensweisen).
Antipsychotische Medikamente: Die antipsychotische der Neuroleptika muss
abgewogen werden gegen unerwünschte und schädliche Nebenwirkungen.
Medizinische Komplikationen sind in der Akut - Behandlung mit internistischen
und neurologischen Kontrollen selten. Einige der Nebenwirkungen
(Ruhelosigkeit, Tremor, Rigor) werden auch bei medikamentenfreien Patienten
beobachtet, unter antipsychotischer Medikation sind die Symptome aber
ausgeprägter. Spätdyskinesien treten bei Langzeitbehandlung mit Neuroleptika
auf. Bei der Abwägung von Nutzen und Schaden der neuroleptischen
Behandlung akuter schizophrener Störungen über wiegen in der Regel die
Vorteile, wobei der Verkürzung der stationären Behandlung und der rascheren
Zugänglichkeit für psychosoziale und psychotherapeutische Massnahmen
besonderes Gewicht zukommt.
Psychosoziale Massnahmen: Es geht darum, belastende Bedingungen, die auf
den Patienten einwirken, und für übersichtliche Strukturen zu sorgen. Neben
den auslösenden Bedingungen sollten behandlungsbedingte Belastungen nicht
übersehen werden. Die Soteria (Bern) versucht die Priorität auf psychosoziale
Bedingungen (wenig antipsychotische Medikation) zu legen (vgl. S. 841). Eine
Studie zeigt aber, dass:
- eine völlig medikamentenfreie Behandlung auch unter günstigen
psychosozialen Bedingungen in der Regel nicht zu verwirklichen ist
- deutlich niedrigere Neuroleptikadosen häufig ausreichen
- die Vorteile einer geringeren Medikation gegen die Nachteile einer längeren
Hospitalisierung abzuwägen sind.
Wurden Therapieverfahren in einer Studie getrennt betrachtet, so erzielten
Familienbetreuung, Kognitive Therapie und körperorientierte Therapie die
günstigsten, nahezu identische Effektgrössen. Die geringsten Effekte wurden
bei psychoanalytisch orientierter Behandlung sowie Lebens- und
Berufsberatung festgestellt.
Längerfristige Behandlungsmassnahmen für schizophrene Patienten:
Schizophrene Störungen klingen bei ca. einem Viertel der Betroffenen relativ
rasch ab, ohne schwere psychische oder soziale Beeinträchtigungen zu
hinterlassen. In etwa gleicher Häufigkeit führt die Erkrankung zu dauerhaften,
gravierenden Folgen (chronisch produktive oder ausgeprägte Negativ Symptomatik) mit Tendenz zur Verbesserung. Bei gut der Hälfte der Patienten
ist der Langzeitverlauf instabil und durch Rezidive akut psychotischer Zustände
gekennzeichnet. Die therapeutischen Massnahmen bestehen in der
Rückfallprävention und in der Behandlung persistierender Defizite und
Störungen.
Pharmakotherapie: Spätdyskinesien erschweren die soziale Integration
ausserhalb der Institutionen. Die Rückfallhäufigkeit war bei
Intervallbehandlungen doppelt so hoch als bei Dauermedikation. Die Ersparnis
an Medikamenten gegenüber der Dauermedikation war geringer als erhofft.
Psychosoziale Massnamen: Stationäre Behandlung chronisch schizophrener
Patienten: Schizophrene bilden einen erheblichen Anteil chronischer Patienten
in psychiatrischen Institutionen (Mangel geeigneter Lebensräume ausserhalb
der Anstalten, Symptomatik).
- Auf Abteilungen mit wenig sozialen Anregungen oder Anforderungen ist die
Negativ - Symptomatik ausgeprägter
- das Ausmass dieser Symptomatik korreliert mit der Aufenthaltsdauer
- Besserungen der äusseren Bedingungen (u. a. Sozialkontakte) werden mit
geringerer Negativ - Symptomatik und Besserung in Sozialverhalten assoziiert
(Brown, 1970).
Massnahmen gegen Rückfälle und Chronifizierung: Je länger die stationäre
Behandlung, um so grösser die Gefahr zunehmender Negativ - Symptomatik.
Doch die Ziele (Verbesserung der Sozialkontakte, etc. brauchen Zeit. Eine
Lösung besteht in der möglichst raschen Entlastung bei Abnahme der
Akutsymptomatik und der Fortsetzung der Behandlung auf ausserklinischer
Basis (Vulnerabilitäts- Stress- Modell) - ein soziales Netz aufbauen und
zwischenmenschlichen Stress vermindern (Social Skills Trainings) (vgl. S. 848 /
849).
Fazit: Die wichtigsten Behandlungsmethoden für Schizophrenie sind:
Pharmakotherapie, Förderung von Krankheitsverständnis,
Bewältigungsbemühungen und Medikamenten - Compliance in Einzel- und
Gruppentherapie, Einbindung der therapeutischen Massnahmen (Sozialtraining
oder kognitives Training in Lebensraum der Patienten, ein längerfristiges
Behandlungskonzept mit langsam wachsenden Anforderungen, Stützung der
Angehörigen und Förderung realistischer Erwartungen. Parallel dazu ist ein
weiterer Ausbau von rehabilitativen Hilfsangeboten in den Bereichen Wohnen,
Freizeigestaltung, soziale Integration, berufliche Eingliederung und
Tagesstrukturierung (individuelle Behandlung!) angebracht.
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