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Bericht des Präsidenten
Zürich, Mai 2014
3Selbsthilfegruppe für Zwangserkrankungen –
welche Erwartungen und Befürchtungen haben Betroffene?
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Die Behandlung der Angsterkrankungen
13 Freundschaft mit Gedanken und Gefühlen schliessen? –
Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie
(«Mindfulness-based Cognitive Therapy», MBCT) bei Zwangsstörungen
18
Ich: ein Prototyp –
10 Jahre Tiefenhirnstimulation
Edit or ial
Liebe Leserinnen und Leser
Es ist soweit wir feiern Geburtstag! Die Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen wird 20
Jahre alt.
Möchten Sie im Jubiläumsjahr einen Beitrag schreiben? Ich freue mich von Ihnen zu lesen!
Meinem letzten Aufruf sind die Autoren des jetzt vor
Ihnen liegenden Newsletters gefolgt wofür ich mich
im Namen der Leserschaft sehr herzlich bedanke.
Mit Hilfe der Autoren ist es wieder gelungenen eine
spannende Lektüre für Sie zusammenzustellen.
Selbsthilfe kann helfen. Doch wie muss eine Selbsthilfegruppe aufgebaut sein und welche Schwerpunkte sollte sie setzen damit sie die Erwartungen
der Betroffenen erfüllt? Dieser Frage sind die Autoren des ersten Beitrags nachgegangen.
Letztes Jahr hat die SGZ gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression
(SGAD), der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP) und in Zusammenarbeit
mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie
und Psychotherapie (SGPP) neue Behandlungsempfehlungen erstellt. Mit freundlicher Genehmigung
der Zeitschrift Schweizerisches Medizin-Forums finden Sie diese Empfehlungen als 2. Beitrag im Newsletter.
In den letzten Jahren haben achtsamkeitsbasierte
Techniken zunehmend Einzug in die Psychotherapie
gehalten. Die Ergebnisse einer ersten Pilotstudie
sind vielversprechend. Es besteht die Hoffnung,
dass auch Patienten mit einer Zwangsstörung von
dieser einige hundert Jahre alten Technik profitieren
können. Frau Külz stellt Ihnen das Programm und die
Studie im 3. Beitrag ausführlich vor.
Obwohl die Psychotherapie und auch die medikamentösen Therapien vielen Patienten mit Zwangsstörungen helfen, gibt es doch auch Patienten deren
Zwänge nicht verbessert werden können. Bei einigen
dieser Patienten könnte die tiefe Hirnstimulation eine
hilfreiche Therapiemethode sein. Herr N. wurde
2004 operiert und berichtet im letzten Beitrag des
Newsletters über seine Erfahrungen mit dieser Therapie.
Bei der Deutschen Gesellschaft für Zwangsstörungen möchte ich mich recht herzlich, für die sehr gute
Zusammenarbeit und die Genehmigung Artikel aus
der aus «Z aktuell» in unseren Newsletter zu übernehmen, bedanken!
Nun wünsche ich Ihnen eine informative Lektüre und
verbleibe mit herzlichen Grüssen
Steffi Weidt
Dr. med. Steffi Weidt
Newsletter Redakteurin SGZ
[email protected]
N e w s l e t t er 01 ·14
Bericht des Präsidenten
Liebe Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft
für Zwangsstörungen
«Melanie, warum sind deine Hände so rot?» – so
lautet der Titel des ausführlichen Berichts einer
Betroffenen über ihre Zwangserkrankung im Migros
Magazin vom 28. April 2014. Es werden dort auch
Adressen genannt, wo Betroffene und Angehörige
Rat und Hilfe bekommen können. Die SGZ hat sich
für diesen Beitrag engagiert, ohne sie wäre er nicht
zustande gekommen. Ein solches Engagement von
Betroffenen und der SGZ ist enorm wichtig, um das
Thema Zwangserkrankung in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Fast immer melden sich
nach solchen Beiträgen Betroffene und berichten,
dass Ihnen die Beschreibung den Mut gegeben hat,
für sich selbst fachlichen Rat zu suchen. Oder sie
entdecken erst durch die Beschreibungen in einem
solchen Bericht, dass ihre eigenen «merkwürdigen»
und belastenden Gedanken und Handlungen Teil
einer Zwangsstörung sind und gut behandelt werden können. Bis dahin dachten sie, sie wären die
einzigen mit solchen «verrückten» Verhaltensweisen und trauten sich nicht, anderen davon zu erzählen.
sches über Behandlungsmöglichkeiten und Forschungsergebnisse zwischen Betroffenen mit
Zwangsstörungen und Fachleuten.» (Artikel 2 der
Vereinsstatuten).
Auch dieser Newsletter trägt wieder ein Stück weit
dazu bei, Fachleute, Betroffene und Angehörige zu
informieren. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen jetzt
eine interessante Lektüre. Und falls Sie der Bericht
im Migros-Magazin interessiert: Sie können ihn auf
der SGZ-Homepage in der Rubrik «Medien/Presseberichte» herunterladen. So wie auch viele weitere
Pressebeiträge der letzten Monate. Unter anderem
finden Sie dort folgende Berichte: Einen Zeitungsartikel zur Hypochondrie (Aargauer Zeitung vom 10.
April 2014). Eine Sendung des Schweizer Radio und
Fernsehens vom 13. Oktober 2013 zum Thema «Wenn
die Marotte zum Zwang wird». Einen Bericht in der
Schweizer Familie 35/2013 mit dem Titel «Wenn
Gedanken zur Qual werden», wo wiederum eine
Betroffene (benannt als Clara Neumann) und Fachexperten der SGZ gemeinsam Auskunft geben.
Herzliche Grüsse,
Ebenfalls ganz aktuell hat die SGZ in einer Schweizer
Fachzeitschrift (Leading Opinions 14/2014) ein
Schwerpunktthema zu Perspektiven in der Therapie
von Zwangserkrankungen gestaltet, mit mehreren
Fachartikeln zur Diagnostik und Therapie. Durch solche Beiträge gelingt es, Fachleute für das Thema zu
sensibilisieren und sie über bewährte und neu entwickelte Behandlungsmöglichkeiten zu informieren.
Dies kommt letztlich den Betroffenen und Angehörigen zugute, sie können von diesen dann kompetenter beraten und behandelt bzw. zu spezialisierten
Behandlungen weitergewiesen werden.
In beiden Artikeln wird auch das 20-jährige Bestehen der SGZ erwähnt. Das dient wiederum der
Gesellschaft, da sie hierdurch bekannter wird. Vielleicht besuchen dann noch mehr Betroffene, Angehörige und Experten die SGZ-Jahrestagungen,
wodurch die SGZ sie ganz grundlegend über die
Zwangserkrankung und verwandte Themen informieren kann. Oder ein paar Leser werden sogar
Mitglied in der SGZ, was ebenfalls dazu beiträgt,
dass die Gesellschaft ihr Hauptziel weiterverfolgen
kann: «(…) die Förderung des Informationsaustau-
Michael Rufer
Prof. Dr. med. Michael Rufer
Präsident der SGZ
[email protected]
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Selbsthilfegruppe für Zwangserkrankungen
– welche Erwartungen und Befürchtungen haben Betroffene?
Patrick Axt, Judith Siegl und Hans Reinecker
Warum stellt sich die Frage?
Die Bedeutung von Selbsthilfegruppen ist gerade in der
heutigen psychosozialen Versorgungslage nicht mehr
wegzudenken. Seit 1935 (Gründungsjahr der ersten
Gruppe der Anonymen Alkoholiker) entstehen Selbsthilfegruppen in allen möglichen Bereichen gesundheitlicher, seelischer und sozialer Probleme. Dennoch ist
über Selbsthilfegruppen allgemein und Zwangsselbsthilfegruppen im speziellen recht wenig bekannt. Viele
Gruppen entstehen im Verborgenen, entwickeln sich
und weiten sich aus oder lösen sich, von der breiten
Öffentlichkeit fast unbemerkt, wieder auf.
Bei Betroffenen der Zwangsstörung gestaltet sich die
Etablierung und Aufrechterhaltung von Selbsthilfegruppen besonders schwierig.
Welche Gründe könnte das haben?
Einerseits spielt die spezifische Symptomatik und
die allgemein schwierige therapeutische Behandlung der Zwangsstörung sowie die damit verbundenen negativen Folgen eine entscheidende Rolle.
Andererseits können die Schwierigkeiten durch
einen Mangel an Informationen bezüglich der Hoffnungen, Wünsche, Befürchtungen und Erwartungen
der Betroffenen bedingt sein.
Welches Ziel verfolgt diese Studie?
Am Lehrstuhl für Klinische Psychologie der Universität Bamberg haben wir uns die Frage gestellt,
welche Erwartungen oder Befürchtungen, die
­
Zwangspatienten bezüglich der Teilnahme an einer
Selbsthilfegruppen haben könnten, die meiste
Zustimmung oder die stärkste Ablehnung erfahren.
Ausserdem war von Interesse, ob mögliche Bereiche
von Erwartungen, wie sie beispielsweise im Therapieprozess vorkommen, auch bei Selbsthilfegruppen
relevant bzw. nicht relevant sind.
Letztlich wurde auch nach Erwartungen und Befürchtungen geforscht, die bislang bei der Konzeption von
Selbsthilfegruppen unberücksichtigt blieben. Die
Studie ist somit ein erster Schritt, um Informationen
zu gewinnen.
Wie wurde vorgegangen?
Zur Erfassung der Erwartungen und Befürchtungen
wurde ein Screeningfragebogen entwickelt. Die
­ ragen hierzu wurden auf den Grundlagen bisheriger
F
Kenntnisse über das Störungsbild, sowie auf allgemeinen Informationen aus Psychotherapie-, Selbsthilfeliteratur, Erfahrungs- und Expertenberichten
gewonnen.
Nach einer Voruntersuchung an der Ambulanz für
Psychotherapie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg wurden 825 Exemplare des Fragebogens mittels
freundlicher Unterstützung der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. an derzeitig und
ehemalig Betroffene versandt. Nach fast viermonatiger Laufzeit wurde die Datenerhebung mit insgesamt 171 Rückantworten (105 Frauen und 66 Männer)
abgeschlossen.
weiblich
61%
männlich
39%
Ausgewählte Ergebnisse
Bei der sich anschliessenden Auswertung fiel neben
der geringen Anzahl an Rückantworten besonders
deutlich auf, dass viele Erwartungen von den Befragten angegeben wurden. Im Vergleich dazu wurden
Befürchtungen eher zurückgewiesen.
1. Die Erwartung(en) mit dem stärksten Zuspruch
§D
ie Erwartung, die die meiste Zustimmung von
den Befragten erhielt, betraf den Erfahrungsaustausch mit bzw. Erfahrungsberichte von anderen
Teilnehmern in der Selbsthilfegruppe.
§ Relativ starker Zuspruch (mehr als 90% der Teilnehmer stimmten jeweils der Erwartung zu)
wurde dem Finden von Gesprächspartnern allgemein und dem Finden von Menschen, die Verständnis für die Symptomatik haben, zuteil.
§ Gleiches galt für den Erwerb neuer Erkenntnisse
und Erklärungen sowie für den Erhalt von Empfehlungen und Ratschlägen für den Umgang mit
Zwängen.
§ Auch dem gegenseitigen Motivieren, Ermutigen
und Verstärken, der Hoffnung auf ein positives
Gefühl, irgendetwas gegen die Zwänge zu unternehmen und der Erwartung, anderen durch
3
N e w s l e t t er 01 ·14
eigene Erfahrungen helfen zu können, wurde von
den Teilnehmern geschlossen stark zugestimmt.
2. Die Erwartung mit der größten Ablehnung
Die am stärksten zurückgewiesene Erwartung hingegen betraf die Thematik, in einer Selbsthilfegruppe
zwangsrelevante Situationen gemeinsam zu üben
(auch ausserhalb der Gruppe, z.B. zu Hause). Hierbei
ist aber bislang ungeklärt, ob sich die relativ starke
Ablehnung auf das Üben allgemein, auf das gemeinsame Üben oder aber auf das Üben ausserhalb der
Gruppe (z.B. zu Hause) bezieht.
3. Die an stärksten zurückgewiesene Befürchtung
Die Befürchtung, die – auch absolut gesehen – am
stärksten abgelehnt wurde, zielte auf Enttäuschung
oder gar Entmutigung der Befragten durch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe ab. Eine derartige
Befürchtung liegt nach bisherigem Erkenntnisstand
somit relativ selten bei den Betroffenen vor.
4. Andere Erwartungen
Diverse Erwartungen, wie u.a. die gemeinsame Interessen- und Freizeitgestaltung ausserhalb der
Gruppe, das Finden von Freunden oder das Kennenlernen anderer Menschen, um soziale Fähigkeiten zu
verbessern, Kontakte zu knüpfen bzw. die Kommunikation zu verbessern, wurden von den Befragten
sehr unterschiedlich eingeschätzt. Sie geben aber
somit wichtige Hinweise für verschiedene Konzeptionsmöglichkeiten einer Zwangsselbsthilfegruppe.
Auch bei den Erwartungen bezüglich der möglichen
Auswirkung einer Selbsthilfegruppe, d.h. ob gleiche
oder ähnliche Effekte wie bei einer Psychotherapie
oder medikamentösen Behandlung erzielt werden können oder ob eine Entlastung erfahren werden kann,
um die Zeit bis zu einer Therapie leichter zu überbrücken, bestand unter den Teilnehmern Uneinigkeit.
5. Zur Struktur der Selbsthilfegruppe
Des Weiteren stellte sich die erwartete Struktur einer
Selbsthilfegruppe als wichtig heraus. Obgleich von
den meisten Befragten eine Regelmässigkeit und
Verbindlichkeit der Treffen befürwortet wurde, gingen die Erwartungen hinsichtlich fester Rahmenbedingungen, d.h. strukturierter Ablauf der Gruppe
oder zumindest gewisser «Arbeitscharakter» gegenüber einer lockeren Gesprächsatmosphäre ohne
starre Regeln, auseinander.
6. Bereiche von Erwartungen
In der Studie wurde versucht, mögliche Bereiche von
Erwartungen, wie sie im therapeutischen Prozess
vorkommen, auch für Zwangsselbsthilfegruppen
abzuleiten. Hierbei konnte folgende Rangfolge für die
Erwartungsbereiche ermittelt werden (beginnend
mit dem Bereich, der die grösste mittlere Zustimmung erhielt):
1. «Inhaltliche Erwartungen»
2.«Rollenerwartungen»
3. «Prognostische Erwartungen»
4. «Ablauf- und Prozesserwartungen»
Diese Studie ist mit den obig kurz skizzierten Ergebnissen nur ein erster, kleiner Schritt auf dem langen
Weg der Forschung und Suche nach Anhaltspunkten
für die erfolgreiche Konzeption, Organisation und
Durchführung einer Selbsthilfegruppe zu Zwängen.
Und selbst dieser kleine Schritt folgt der Weisheit
Friedrich Rückerts:
«Am Abend wird man klug für den vergangenen
Tag, doch niemals klug für den, der kommen mag».
Und da der Weise sich bekanntlich nicht schämt, weiter
zu fragen, sollte in dieser Richtung weitere Forschung
betrieben werden, um die Versorgung der Betroffenen
der Zwangsstörung weiter verbessern zu können.
Autoren:
Patrick Axt
Dipl.-Psych. Judith Siegl
Prof. Dr. Hans Reinecker
[email protected]
Lehrstuhl Klinische Psychologie
der Universität Bamberg
Markusplatz 3 – 96045 Bamberg
4
empfehlungen
Die Behandlung der Angsterkrankungen
Teil 2: Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörung1
Martin E. Kecka, Axel Ropohla, Guido Bondolfia, Corinna Constantin Brennib, Josef Hättenschwilera,
Martin Hatzingerc, Ulrich Michael Hemmetera, Edith Holsboer-Trachslera, Wolfram Kawohlb, Christine Poppeb,
Martin Preisiga, Stefan Rennharda, Erich Seifritza, Steffi Weidtb, Susanne Walitzaa, b, Michael Ruferb
Einleitung
Die Erstellung
dieser schweizerischen Behandlungsempfehlung
der SGAD, SGZ,
SGBP und SGPP
wurde von keiner
kommerziellen
Organisation
finanziell
unterstützt.
Diese Behandlungsempfehlungen basieren auf der internationalen Leitlinie der World Federation of Societies of
Biological Psychiatry (WFSBP) [1]. In die Empfehlungen
sind zudem Aspekte weiterer relevanter Leitlinien mit
eingeflossen (National Institute for Health and Clinical
Excellence, NICE, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde, DGPPN). Diese
Empfehlungen fassen die evidenzbasierten Therapiestrategien (bester Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse
nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin) zur Behandlung der Zwangsstörung und der posttraumatischen
Belastungsstörung nach den Kriterien der «International
Classification of Diseases» (ICD-10, WHO-Version 2010)
zusammen (Tab. 1 p).
Die Definitionen zu den Evidenz-Kategorien der WFSBP
(Level A–E) sowie die Einführung zu den verschiedenen
psychopharmakologischen Substanzklassen, die zur Behandlung von Angsterkrankungen zur Verfügung stehen,
finden sich in Tabelle 2 p bzw. im Teil 1 dieses Artikels [2].1
Die Behandlungsempfehlungen beschränken sich auf die
eigentlichen Zwangsstörungen (ICD-10: F42) und die
posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1).
Andere Störungen aus dem Zwangsspektrum, wie TicStörungen, Trichotillomanie und autoimmune, durch
Streptokokken-Infektionen ausgelöste, neuropsychiatrische Störungen bei Kindern (PANDAS), werden nicht behandelt.
Im Gegensatz zur ICD-10 wurden Zwangsstörungen und
die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) nach der
Klassifikation des Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders (DSM-IV, APA 1994) der Gruppe der
Angsterkrankungen zugeordnet. Im neuen DSM-V (Mai
2013) werden Zwangsstörungen als eigenständige diagnostische Gruppe eingeordnet («Obsessive-Compulsive
and Related Disorders»), ebenso die PTSD («Traumaand-stressor-related disorders»).
Methodische Kriterien bestimmen die Evidenz; das heisst,
die Bewertung der Wirksamkeit einer Intervention basiert
in der Regel auf randomisierten kontrollierten Studien
(RCT). Aus dem Fehlen von RCT für einzelne Behandlungen kann jedoch nicht der Rückschluss gezogen werden,
dass diese Verfahren nicht wirksam sind. Methodisch
bedingt können RCT den Nutzen spezifischer psycho-
oder pharmakotherapeutischer Verfahren unter den real
existierenden Versorgungsbedingungen (effectiveness) nur
eingeschränkt abbilden. Insbesondere für komplexe,
therapieresistente oder kombinierte Erkrankungen existiert derzeit nur unzureichende empirische Evidenz.
Hier sind daher häufig individualisierte Behandlungsstrategien mit beispielsweise unterschiedlichen Psychotherapieverfahren erforderlich, die erfahrungsgeleitet
und wirkungsorientiert eingesetzt werden.
Die Behandlungsempfehlung setzt eine gründliche diagnostische Abklärung durch einen Arzt voraus, wobei
andere psychische und somatische Erkrankungen ausgeschlossen und symptomauslösende Faktoren (u.a. psychotische Erkrankungen, psychosoziale Stressfaktoren,
Medikamente wie beispielsweise Schilddrüsenhormone)
berücksichtigt werden müssen. Die Indikationen für die
Grundelemente der psychiatrischen Behandlung (aktiv
abwartende Begleitung, Psychoedukation, Klärung psychosozialer Einflussfaktoren, Einbezug von Angehörigen,
medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung,
Kombinationstherapie) sollten während der gesamten
Behandlung unter Berücksichtigung von klinischen Faktoren wie Symptomschwere, Erkrankungsverlauf und Patientenpräferenz geprüft werden. Es wird empfohlen, die
Pharmakotherapie immer in eine multimodale Therapie
einzubetten. Für jeden Patienten sollte ein individueller
Therapieplan erstellt werden, der unter anderem Begleiterkrankungen, frühere Behandlungsversuche und den
Schweregrad der Erkrankung berücksichtigt. Der Gesamtbehandlungsplan sollte zudem die psychosoziale Wiedereingliederung und den Einbezug der Angehörigen beinhalten. Wir weisen darauf hin, dass zahlreiche der in diesen
Behandlungsempfehlungen aufgeführten Medikamente
in der Schweiz nicht für die Therapie von Zwangserkrankungen und posttraumatischen Belastungsstörungen zugelassen sind.
Behandlungsempfehlungen und Leitlinien definieren generell einen Mindeststandard, der sich aus den Ergebnissen von qualitativ hochwertigen Studien mit idealtypischen
1
Teil 1 dieser Empfehlungen («Die Behandlung der Angsterkrankungen: Panikstörungen, Agoraphobie, generalisierte Angststörung,
soziale Phobie, spezifische Phobien») ist erschienen in SMF
2011;11(34):558–66.
Gemeinsame Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD)a, der Schweizerischen
Gesellschaft für Zwangsstörungen (SGZ)b,*, der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP)c, in Zusammenarbeit
mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) unter Mitarbeit der SGPP-Repräsentanten
Yvette Attinger-Andreoli, Christian Bernath, Daniel Bielinski, Anouk Gehret, Julius Kurmann
* Für den Teil Zwangsstörungen.
Schweiz Med Forum 2013;13(17):337–344
337
empfehlungen
Tabelle 1
Kurzbeschreibung von Zwangsstörungen und posttraumatischer Belastungsstörung
nach ICD-10-Definition (WHO 2010).
Zwangsstörungen
Wesentliche Kennzeichen sind wiederkehrende Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die den Patienten immer
wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast immer quälend, der Patient versucht häufig
erfolglos, Widerstand zu leisten. Die Gedanken werden als zur eigenen Person gehörig
erlebt, selbst wenn sie als unwillkürlich sowie häufig als abstossend und beschämend
empfunden werden. Zwangshandlungen oder -rituale sind Stereotypien, die ständig
wiederholt werden. Sie werden weder als angenehm empfunden, noch dienen sie
dazu, an sich nützliche Aufgaben zu erfüllen. Der Patient erlebt sie oft als Vorbeugung
gegen ein objektiv unwahrscheinliches Ereignis, das ihm Schaden bringen oder bei dem
er selbst Unheil anrichten könnte. Im Allgemeinen wird dieses Verhalten als sinnlos und
ineffektiv erlebt, es wird immer wieder versucht, dagegen anzugehen. Werden
Zwangshandlungen unterdrückt, verstärken sich unangenehme Gefühle (z.B. Angst,
Ekel) deutlich. Lebenszeitprävalenz: 2,5%.
Posttraumatische Belastungsstörung
Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes
Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit aussergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z.B. zwanghafte
oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte
können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf
erschweren. Die letztgenannten Faktoren sind aber weder notwendig noch ausreichend,
um das Auftreten der Störung zu erklären. Pathognomonische und für die Diagnosestellung unabdingbare Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich
aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder
Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein
und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber
anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie
Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen
könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung,
einer übermässigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression
sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige
Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle
kann jedoch eine Heilung oder Besserung erwartet werden. Die Störung kann nach
Jahren des chronischen Verlaufs in eine andauernde Persönlichkeitsänderung übergehen
(F62.0). In Abhängigkeit von der Art des Traumas und weiteren prä-, peri- und posttraumatischen Variablen entwickeln ca. 10% (Verkehrsunfall) bis 50% (Vergewaltigung,
Folter, Kriegserlebnisse) der Betroffenen eine posttraumatische Belastungsstörung.
Lebenszeitprävalenz in Europa: 1,5–2%. Es besteht ein hohes Chronifizierungsrisiko.
Patienten ohne Komorbiditäten ableitet. Jeder Arzt hat
nach den bewährten Grundsätzen der ärztlichen Sorgfalt
die Pflicht, im Rahmen seiner Einzelfallbeurteilung in medizinisch begründeten Fällen zum Wohle des Patienten
von den Empfehlungen abzuweichen. Es wäre keinesfalls
statthaft, aus den Behandlungsempfehlungen voreilige
ökonomische Schlussfolgerungen abzuleiten.
Die Behandlung von Zwangsstörungen
Psychotherapie
Die Psychotherapie ist Behandlung der ersten Wahl. Die
SGPP anerkennt grundsätzlich folgende wissenschaftlich
begründeten Psychotherapiemethoden: psychoanalytisch
orientierte Therapie, kognitive Verhaltenstherapie sowie
die systemische Therapie. Die Entscheidung für eine
spezifische psychotherapeutische Behandlung hängt
auch von Faktoren wie der Präferenz des Patienten oder
der Verfügbarkeit ab. Die kognitive Verhaltenstherapie
mit Reizkonfrontation und Reaktionsmanagement gilt
Tabelle 2
Evidenz-Kategorien. Die Kategorien (WFSBP) basieren auf der
Wirksamkeit der Psychotherapieverfahren und Medikamente,
ohne Berücksichtigung ihrer Vor- und Nachteile im Hinblick auf
allfällige Nebenwirkungen und Wechselwirkungen [1, 2].
A. Positive Evidenz
Basiert auf:
2 oder mehr randomisierten Doppelblind-Studien, die eine
Überlegenheit gegenüber Plazebo zeigen,
und
1 oder mehr positive Doppelblind-Studien zeigen Überlegenheit
bzw. Gleichwirksamkeit gegenüber einer Referenzsubstanz.
Wenn negative Studien vorliegen (Studien, die keine bessere
Wirksamkeit als Plazebo oder schlechtere Wirksamkeit als eine
Referenzsubstanz zeigen), müssen diese durch mindestens
2 zusätzliche positive Studien ausgeglichen werden.
Die Studien müssen bestimmte methodologische Standards
erfüllen (standardisierte diagnostische Kriterien, optimale
Stichprobengrösse, adäquate psychometrische
Skalen, adäquate statistische Methoden, adäquate
Vergleichssubstanzen usw.).
B. Vorläufige positive Evidenz
Basiert auf:
B1. 1 oder mehr randomisierte Doppelblind-Studien,
die Überlegenheit gegenüber Plazebo zeigen,
oder
B2. 1 oder mehr positive naturalistische offene Studien
mit mehreren Patienten
oder
B3. 1 oder mehr positive Fallberichte
und
keine negativen Studien existieren
C. Widersprüchliche Ergebnisse
Kontrollierte positive Studien stehen einer ungefähr gleichen
Anzahl negativer Studien gegenüber
D. Negative Evidenz
Die Mehrheit der kontrollierten Studien zeigt keine Überlegenheit
gegenüber Plazebo oder Unterlegenheit gegenüber einer
Vergleichssubstanz
E. Fehlende Evidenz
Adäquate Studien, die Wirksamkeit bzw. Nichtwirksamkeit zeigen,
fehlen
bei der Behandlung von Zwangsstörungen als Therapieverfahren der ersten Wahl, ihre Wirksamkeit wurde in
zahlreichen RCT belegt, die Mehrzahl der so behandelten
Patienten erfuhr eine deutliche Besserung der Zwangssymptome (Level A). Es existiert bis heute keine empirische Evidenz für die Wirksamkeit anderer Psychotherapieverfahren. Kernelement der kognitiven Verhaltenstherapie
ist die therapeutenbegleitete Exposition mit Reaktionsmanagement [1, 3]. Diese sollte vor allem in vivo durchgeführt werden, das heisst in den relevanten Alltagssituationen des Patienten. Tabelle 3 p gibt einen Überblick über
die relevanten Komponenten evidenzbasierter Psychotherapie.
Ein wesentlicher klinischer Einflussfaktor ist das häufige
Vorliegen einer oder mehrerer komorbider psychischer
Erkrankungen, beispielsweise schwergradige Depressionen, die ebenfalls eine pharmakologische Behandlung notwendig machen können. Diese Patienten sind derzeit
nicht ausreichend in RCT repräsentiert. Bei schwergradiger Symptomatik oder Komorbidität werden viele Patienten erst durch die pharmakologische Behandlung in die
Schweiz Med Forum 2013;13(17):337–344
338
empfehlungen
Tabelle 3
Wichtige Bestandteile der evidenzbasierten Psychotherapie von Zwangsstörungen.
Bedingungs- und Funktionsanalysen
Wegen der meist hohen Komplexität der Zwangsstörungen werden in der Regel
multimodale kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte angewandt. In Ergänzung zur
Symptomtherapie mittels Expositions-Reaktionsmanagement und kognitiver Therapie
werden weitere kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden und häufig auch
systemische, psychodynamische und achtsamkeitsbasierte Elemente genutzt. Die
Auswahl der Bausteine erfolgt individuell auf der Basis einer sorgfältigen Verhaltensanalyse. Entscheidend ist hierbei eine genaue biographische Analyse zur Identifizierung
ursächlicher, auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen für die Zwangssymptomatik und allenfalls die Komorbiditäten. Eine wichtige Rolle spielen oft auch
intrapsychische und/oder interpersonelle Funktionalitäten der Symptomatik:
Intrapsychische Funktion: Beispielsweise die Kompensation starker Selbstzweifel oder
das Überdecken eines Gefühls innerer Leere bei fehlenden sinngebenden Aktivitäten.
Interpersonelle Funktion: Betrifft häufig die Beziehungsregulation zu nahen
Bezugspersonen durch Zwangssymptome.
Werden bestehende funktionale Zusammenhänge nicht erkannt und bearbeitet, können
sich Probleme hinsichtlich Therapiemotivation und -verlauf ergeben und/oder es treten
nach Therapieende Rückfälle auf [3].
Exposition mit Reaktionsmanagement
Bei der Exposition mit Reaktionsmanagement, welche Kernbestandteil der kognitiven
Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen ist, werden zwei Formen unterschieden:
Exposition in sensu (imaginäre Exposition): Vorstellungsübungen bzgl. der
angstauslösenden Zwangsgedanken bzw. Situationen. Dabei werden möglichst alle
Sinnesmodalitäten mit einbezogen. Bei der Therapie der Zwangsstörungen spielt diese
Form im Vergleich zur Exposition in vivo eine untergeordnete Rolle, sie kommt am
ehesten bei reinen Zwangsgedanken zur Anwendung.
Exposition in vivo (reale Exposition): Konfrontation mit einer realen, Angst (oder andere
unangenehme Gefühle wie Ekel) auslösenden Situation. Die Exposition sollte vor allem
anfangs therapeutenbegleitet in den Alltagssituationen des Patienten durchgeführt
werden, zum Beispiel bei ihm zu Hause. Die einzelne Expositionsübung wird erst
beendet, wenn die unangenehme emotionale Reaktion nachgelassen hat. Die neuen
Erfahrungen während der Exposition helfen dem Patienten, seine bisherigen Zwangsbefürchtungen zu korrigieren und die Situationen anders als bisher einzuschätzen.
Kognitive Interventionen
Das kognitive Modell besagt, dass die Gedanken eines Menschen seine Gefühle und
Verhaltensweisen beeinflussen. Entsprechend früherer (Lern-)Erfahrungen werden
bestimmte Grundannahmen entwickelt, auf deren Basis in der Folge aktuelle Ereignisse
interpretiert werden. Bei der Therapie von Zwangserkrankungen geht es um die
Identifikation, Überprüfung (Logik, Gültigkeit, Angemessenheit) und Korrektur von
aufdringlichen (Zwangs-)Gedanken und deren Bewertung. Hinzu kommt die Modifikation
von dahinter stehenden Grundannahmen (Metakognitionen, z.B. «Meine negativen
Gedanken zeigen, dass ich ein schlechter Mensch bin»).
Lage versetzt, eine psychotherapeutische Behandlung
durchzuführen. Durch eine Kombination der kognitiven
Verhaltenstherapie mit einer SSRI-Medikation lassen
sich in bestimmten Fällen (z.B. ausgeprägte Zwangsgedanken, komorbide Depression) bessere Therapieergebnisse erzielen [4, 5]. Für die Psychotherapie gilt, dass
eine Neubeurteilung erfolgen sollte, wenn innerhalb von
4–6 Wochen alleiniger Therapie keinerlei Ansprechen zu
verzeichnen ist.
Pharmakologische Behandlung
Die pharmakologische Behandlung von Zwangsstörungen
mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern
(SSRI) und dem trizyklischen Antidepressivum (TZA) Clomipramin zeigt gute Ansprechraten von 60–80% [1]. Die
durchschnittliche Symptomreduktion beträgt 40–50%.
Die Wirkung kann mit mehr als 4–6 Wochen Verzögerung
einsetzen, bis zum Eintritt des Wirkungsmaximums müs-
sen im Einzelfall 8–12 Wochen gerechnet werden. Die
Erhaltungstherapie nach Besserung resp. Remission sollte
im Vergleich zur Behandlung anderer Angsterkrankungen
deutlich länger sein (mindestens 12–24 Monate). Die Behandlungsdauer hängt jedoch im Einzelfall stets von individuellen Faktoren ab und kann deutlich kürzer (z.B.
bei erfolgreich angewandten verhaltenstherapeutischen
Zwangsbewältigungsstrategien) oder länger (z.B. bei weiterbestehenden erheblichen psychosozialen Belastungen)
notwendig sein. Die erforderliche Medikamentendosis ist
oftmals höher als bei der Behandlung von Depressionen
und anderen Angsterkrankungen, wichtig ist die stufenweise Auftitrierung nach individueller Verträglichkeit
unter regelmässigen EKG- und Laborkontrollen [1].
Die Serotonin-Wiederaufnahmehemmung ist zentraler
pharmakodynamischer Ansatzpunkt. Im direkten Vergleich waren Substanzen, die hauptsächlich die Wiederaufnahme von Noradrenalin hemmen (z.B. Desipramin,
Nortriptylin), weniger wirksam als SSRI. Die SSRI Escitalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin
sind Medikamente der ersten Wahl (Level A), allerdings
ist Fluoxetin für diese Indikation in der Schweiz nicht zugelassen. Das TZA Clomipramin zeigt eine mit den SSRI
vergleichbare Wirksamkeit (Level A), ist jedoch weniger
gut verträglich (anticholinerge Nebenwirkungen). Sowohl
das SSRI Citalopram als auch das noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressivum (NaSSA) Mirtazapin
können als Medikamente zweiter Wahl angesehen werden;
ihre Wirksamkeit ist durch Studien belegt (Level B1), aber
auch für Mirtazapin besteht in der Schweiz bezüglich der
Zwangserkrankungen keine Zulassung.
Die Resultate zur Wirksamkeit des irreversiblen Monoaminoxidase-(MAO-)Hemmers Phenelzin und des selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers
(SSNRI) Venlafaxin sind inkonsistent (Level C). Venlafaxin
wurde bislang nicht in plazebokontrollierten Studien bei
Zwangserkrankungen untersucht, Vergleichsstudien sprechen aber für eine vergleichbare Wirksamkeit wie unter
Paroxetin oder Clomipramin. Phenelzin kann im Einzelfall zur Behandlung von Patienten, die nicht auf eine Behandlung mit SSRI oder TZA angesprochen haben, indiziert sein.
Bei unzureichendem Ansprechen auf ein SSRI trotz ausreichend langer Einnahme und hoher Dosierung wird primär die Augmentation mit einem (niedrig dosierten) atypischen Antipsychotikum empfohlen. Tabelle 4 p gibt eine
Übersicht über die pharmakologische Behandlung von
Zwangsstörungen. Im klinischen Alltag können im Einzelfall höhere Dosierungen als angegeben notwendig
werden. Abbildung 1 x zeigt den empfohlenen Behandlungsalgorithmus.
Weitere Therapieoptionen
Andere nichtpharmakologische Therapieoptionen für die
Behandlung von Zwangsstörungen sind wenig erprobt
und zum Teil umstritten. Für die repetitive transkranielle
Magnetstimulation (rTMS) finden sich in der Literatur
zwar einige randomisierte, kontrollierte Studien, allerdings
sind diese Studien unter anderem wegen unterschiedlicher
Stimulationsparameter nur bedingt miteinander vergleichbar, so dass letztlich keine ausreichende Evidenz für eine
Wirksamkeit der rTMS bei der Zwangsstörung vorliegt
[4]. Bezüglich der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) leitet
sich die Evidenz vor allem aus Einzelfallbeobachtungen
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empfehlungen
Tabelle 4
Pharmakologische Behandlung von Zwangsstörungen (Level A–C), basierend auf den WFSBP-Guidelines [1].
Diagnose
Behandlung
Zwangsstörungen
SSRI
Escitalopram (z.B. Cipralex®)
Evidenz-Kategorie
Empfohlene Dosis
für Erwachsene
A
10–20 mg
Fluoxetin (z.B. Fluctine ), n.z.
A
40–60 mg
Fluvoxamin (z.B. Floxyfral®)
A
100–300 mg
Sertralin (z.B. Zoloft®)
A
50–200 mg
®
Paroxetin (z.B. Deroxat )
A
40–60 mg
Citalopram (z.B. Seropram®)
B1
20–60 mg
®
TZA
Clomipramin (z.B. Anafranil®)
A
75–300 mg
SSNRI
Venlafaxin (z.B. Efexor®), n.z.
C
75–300 mg
NaSSA
Mirtazapin (z.B. Remeron ), n.z.
B1
30–60 mg
C
45–90 mg
Quetiapin (z.B. Seroquel®), n.z.
B1
150–750 mg
Olanzapin (z.B. Zyprexa®), n.z.
B1
5–20 mg
®
Wenn andere Behandlungsmöglichkeiten nicht wirksam waren oder nicht toleriert wurden
MAO-Hemmer
Phenelzin, n.z.
Augmentierende Substanzen bei nur partiellem Ansprechen auf Antidepressiva
Antipsychotika
Risperidon (z.B. Risperdal ), n.z.
B1
0,5–4 mg
Haloperidol (z.B. Haldol®), n.z.
B1
bis 3 mg
Pindolol (z.B. Visken®), n.z.
B1
7,5–10 mg
®
Beta-Blocker
n.z.: in der Schweiz für die Indikation Zwangsstörung nicht zugelassen.
Dosierung teilweise abweichend von den Empfehlungen im Arzneimittel-Kompendium der Schweiz (www.compendium.ch).
Prinzipiell ist immer eine Kombinationstherapie aus pharmakologischer Behandlung und kognitiver Verhaltenstherapie sinnvoll, da im
Vergleich zur alleinigen Pharmakotherapie günstigere Langzeiteffekte nach Beendigung der Kombinationsbehandlung zu beobachten sind.
Die Behandlung der posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS)
Abbildung 1
Pharmakotherapie bei Zwangsstörungen (nach www.zwaenge.ch).
ab (Level B3), zuverlässige Wirksamkeitsnachweise zur
Begründung einer Indikation für die EKT bei therapierefraktärer Zwangsstörung fehlen aber [4].
Neurochirurgische Eingriffe wie die tiefe Hirnstimulation
(THS) oder neuroläsionelle Methoden können bei schweren und therapieresistenten, die Lebensführung stark
behindernden Zwangsstörungen als ultima ratio in Frage
kommen [4]. Auch bei der THS gilt, Nebenwirkungen der
Stimulation wie affektive Symptome oder Sedierung sowie
die allgemeinen Risiken eines neurochirurgischen Eingriffs zu beachten.
Psychotherapie
Die Psychotherapie ist Behandlung der ersten Wahl. Für
die Therapie der PTBS eignet sich eine traumafokussierte,
psychotherapeutische Behandlung (z.B. traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, Prolonged Exposure
Therapy, Eye-Movement Desensitization and Reprocessing [EMDR], allenfalls Stressbewältigungsstrategien).
Diese ist einer medikamentösen Behandlung vorzuziehen
(Level A). Eine pharmakologische Behandlung kann in Abhängigkeit von Ausprägung, Schwere und komorbiden
Störungen (z.B. Depressionen, weitere Angsterkrankungen, dissoziative Störungen, somatoforme Störungen,
Suchterkrankungen) adjuvant verabreicht werden [7].
Das psychotherapeutische Konzept zur Behandlung der
PTBS beinhaltet drei Phasen: Stabilisierung, Traumabearbeitung und psychosoziale Reintegration. Regressionsfördernde Verfahren sollten nicht zur Anwendung kommen
[7]. In einer Metaanalyse verschiedener traumaadaptierter
Psychotherapieverfahren zeigten sich gleichermassen die
expositionsbasierten Therapieverfahren traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie und EMDR (Tab. 5 p),
in geringerem Ausmass auch Stressbewältigungsansätze
und die verhaltenstherapeutische Gruppentherapie, wirksam [8]. Die Prolonged Exposure Therapy gilt aufgrund
zahlreicher Wirksamkeitsnachweise als evidenzbasierter
Goldstandard, zeigte in einer Metaanalyse in ihrer Wirksamkeit jedoch keine signifikante Überlegenheit zu anderen traumaspezifischen, aktiven psychotherapeutischen
Behandlungsverfahren wie beispielsweise EMDR, Cognitive Processing Therapy (CPT) oder Imaginery Rescripting
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empfehlungen
Tabelle 5
Definitionen der expositionsbasierten Psychotherapiebestandteile, die evidenzbasiert
zur Behandlung von PTBS eingesetzt werden können.
Eye-Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
Das der EMDR zugrundeliegende Krankheitsmodell besagt, dass schwerwiegende,
traumatische Erfahrungen zu einer Störung der normalen Informationsverarbeitung
führen und es somit zu einer falschen Speicherung des traumatischen Erlebnisses im
impliziten Gedächtnis kommt. Während einer EMDR-Behandlung wird der Patient dazu
aufgefordert, sich in die traumatische Situation zurückzuversetzen und die negativen
Assoziationen, die mit dem Trauma zusammenhängen, zu erleben. Dabei wird gleichzeitig
die Aufmerksamkeit des Patienten durch eine physische, bilaterale Stimulation in Form
von Augenbewegungen, Berührungen oder Geräuschen in Anspruch genommen.
Hierdurch soll ein assoziativer Verarbeitungsprozess zustande kommen und das
traumatische Erlebnis in das adaptive kontextuelle Gedächtnis überführt werden bzw.
die Erinnerung daran verblasst mit der Folge einer affektiven Entlastung der
Betroffenen.
Kognitive Verhaltenstherapie mit Expositions-Reaktionsmanagement
vgl. auch Tabelle 3
Mit der Prolonged Exposure Therapy wurde ein strukturiertes Behandlungsprogramm
entwickelt, das aus den Elementen Psychoedukation, imaginäre Exposition und
In-vivo-Exposition besteht und sich für die Anwendung bei verschiedenen Arten
traumatischer Ereignisse eignet. Die imaginative Konfrontation mit dem Trauma wird
in allen Sinnesmodalitäten über ca. vier bis acht Sitzungen wiederholt, bis die Angst
während der Exposition deutlich zurückgeht. Die Therapiesitzung wird auf Tonträger
aufgenommen; die Patienten erhalten die Aufgabe, sich die Aufzeichnungen zuhause
täglich anzuhören.
Bei der Cognitive Processing Therapy (CPT) wird die Konfrontation mit dem Trauma
auf die schlimmsten Momente (hot spots) und auf wenige Wiederholungen begrenzt.
Während der Konfrontation werden Methoden der kognitiven Umstrukturierung (z.B.
sokratischer Dialog) angewendet. Neben der Habituation an die Angst ist die Korrektur
irrationaler Bewertungen des Traumas, wie z.B. Schuld- und Schamgefühle,
therapeutisches Ziel.
Das Imaginery Rescripting und Antialptraumtraining verfolgt die Konfrontation
mit der Traumasequenz oder dem Alptraum, deren Veränderung durch eine imaginäre
Konfrontation mit komplementären Verhaltens- und Gefühlsinhalten bzw. einem
alternativen Traum mit günstigem Ausgang.
(Tab. 5) [9].Für eine mögliche Überlegenheit einer Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie gegenüber den
jeweiligen Massnahmen allein gibt es keine ausreichende
Evidenz [7, 10].
Die Leitlinien des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) empfehlen in Abhängigkeit vom
Schweregrad und vom Verlauf der Symptomatik ein mehrstufiges Vorgehen mit Überwachung und Begleitung nach
Trauma, Kurzzeittherapie, traumafokussierter kognitiver
Verhaltenstherapie oder EMDR [6].
Pharmakologische Behandlung
Eine pharmakologische Therapie bei PTBS ist dann indiziert, wenn Patienten auf eine psychotherapeutische Behandlung nicht ansprechen oder wenn die sehr häufigen
komorbiden Erkrankungen (z.B. Depressionen, weitere
Angsterkrankungen, dissoziative Störungen, somatoforme
Störungen, Suchterkrankungen) behandelt werden müssen [1]. Erste Wahl sind die SSRI Fluoxetin, Paroxetin,
Sertralin oder das SSNRI Venlafaxin (Level A). Dabei ist zu
beachten, dass derzeit in der Schweiz ausschliesslich Paroxetin und Sertralin für diese Indikation zugelassen sind.
Die Wirksamkeit von Amitriptylin, Imipramin, Mirtazapin,
Risperidon und Lamotrigin ist durch verschiedene plazebokontrollierte Studien belegt (Level B1). Ein gutes Therapieansprechen kann auch mit den folgenden Wirkstoffen oder
Wirkstoff-Kombinationen erreicht werden: Citalopram,
Escitalopram, Fluvoxamin, Moclobemid, Tianeptin, Quetiapin, Olanzapin, Phenytoin, Carbamazepin, Gabapentin,
Lamotrigin, Topiramat, Memantin, die Zugabe von Triiodothyronin zu einem SSRI, Imipramin in Kombination
mit Clonidin (Level B2), Kombination von Quetiapin mit
Venlafaxin oder Zugabe von Gabapentin zu einem SSRI
(Level B3) [1].
PTBS sind oft chronisch und erfordern eine Langzeitbehandlung von mindestens 12–24 Monaten, dazu sind die
SSRI Fluoxetin und Sertralin sowie das SSNRI Venlafaxin
besonders geeignet. Die Frequenz von Alpträumen, die im
Zusammenhang mit dem traumatischen Erlebnis stehen,
kann durch eine Behandlung mit dem a1-Antagonisten
Prazosin verringert werden (Level B1). In Tabelle 6 p ist
die pharmakologische Behandlung der PTBS zusammenfassend dargestellt. Im klinischen Alltag können im Einzelfall höhere Dosierungen als angegeben notwendig werden.
Weitere Therapieoptionen
Die Datenlage zu anderen, nichtpharmakologischen Behandlungsmethoden ist schwach, lediglich für die transkranielle Magnetstimulation (rTMS) konnte in Studien
eine gewisse Wirksamkeit belegt werden.
Medikamentöse Behandlung
von Zwangsstörungen und
posttraumatischer Belastungsstörung
in speziellen Situationen
Ältere Patienten
Es müssen folgende Faktoren beachtet werden: Erhöhte
Sensibilität im Hinblick auf anticholinerge Eigenschaften
(z.B. bei TZA oder bestimmten SSRI, z.B. Paroxetin),
extrapyramidale Symptome, erhöhtes Risiko für eine orthostatische Hypotonie und EKG-Veränderungen und mögliche paradoxe Reaktionen auf Benzodiazepine. Daher ist
die Behandlung mit TZA oder Benzodiazepinen weniger
günstig, während SSRI und SSNRI sicher erscheinen. Altersbedingte physiologische Veränderungen können zu Veränderungen in der Metabolisierung und Pharmakokinetik
der Medikamente führen. Insgesamt existieren nur wenige
Studien zur Behandlung von Angsterkrankungen bei älteren Patienten: Escitalopram, Citalopram und Venlafaxin
waren sicher und wirksam [1]. Bei Verordnung von SSRI
und SSNRI ist an das seltene Risiko eines SIADH mit Hyponatriämie zu denken bzw. bei SSRI an das geringe Risiko
einer erhöhten gastrointestinalen Blutungsneigung bei
Risikopatienten. Obwohl sich dies grundsätzlich in jedem
Fall empfiehlt, wird gemäss den S3-Leitlinien der DGPPN
beim Auftreten von Zwangsstörungen bei Patienten über
50 Jahre explizit eine neurologische Diagnostik empfohlen, um eine organische Genese auszuschliessen. Zu berücksichtigen ist, dass das für eine PTBS ursächliche
Trauma lange zurückliegen kann: In Deutschland leiden
kriegsbedingt 3–4% der über 65-Jährigen am Vollbild einer
PTBS, in der Schweiz sind es 0,7%.
Kinder und Jugendliche
Zwangsstörungen
Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter äussern
sich oft ähnlich wie bei Erwachsenen. Nach den Kriterien
des DSM-IV sind jedoch die Einsichtsfähigkeit und der
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empfehlungen
Tabelle 6
Pharmakologische Behandlung der PTBS (Level A–D), basierend auf den WFSBP-Guidelines [1].
Diagnose
Behandlung
Posttraumatische
Belastungsstörung
SSRI
Evidenz-Kategorie
Empfohlene Dosis
für Erwachsene
Fluoxetin (z.B. Fluctine®), n.z.
A
20–40 mg
Sertralin (z.B. Zoloft )
A
50–100 mg
Paroxetin (z.B. Deroxat®)
A
20–40 mg
SSNRI
Venlafaxin (z.B. Efexor®), n.z.
A
75–300 mg
TZA
Amitriptylin (z.B. Saroten ), n.z.
B1
75–200 mg
Imipramin (z.B. Tofranil®), n.z.
B1
75–200 mg
®
®
Wenn andere Behandlungsmöglichkeiten nicht wirksam waren oder nicht toleriert wurden
NaSSA
Mirtazapin (Remeron®), n.z.
B1
30–60 mg
Antipsychotika
Risperidon (z.B. Risperdal ), n.z.
B1
0,5–2,0 mg
Olanzapin (z.B. Zyprexa®),
nur als Zusatz, n.z.
B1
5–15 mg
®
a1-Antagonist
Prazosin, nur bei Alpträumen, n.z.
B1
1–5 mg
Antiepileptikum
Lamotrigin (z.B. Lamictal®) n.z.
B1
25–500 mg
MAO-Hemmer
Phenelzin, n.z.
C
45–90 mg
n.z.: in der Schweiz für die Indikation Posttraumatische Belastungsstörung nicht zugelassen.
Dosierungen teilweise abweichend von den Empfehlungen im Arzneimittel-Kompendium (www.compendium.ch).
Widerstand gegen mindestens eine Zwangshandlung
oder einen Zwangsgedanken nicht gefordert. Damit wird
dem Entwicklungsprozess (auch von kognitiven Prozessen), in dem sich Kinder und Jugendliche befinden, Rechnung getragen. Wie im Erwachsenenalter werden auch
die Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen oft
durch das zusätzliche Vorliegen anderer psychischer Beeinträchtigungen erschwert. Die Abhängigkeit des Kindes
vom familiären Umfeld oder einer betreuenden Person
muss mit bedacht und andere Familienmitglieder sollten
aktiv an der Therapie beteiligt werden.
Vor einer pharmakologischen Behandlung sollten psychotherapeutische Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Die
Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsverhinderung ist die Therapie der ersten Wahl und zeigt eine
gute Wirksamkeit (mittlere Effektstärke: 1,45; Level A).
Die Wirksamkeit der Behandlung konnte durch den Einbezug der Familie noch erhöht werden. Dazu passend ist,
dass die Einbindung der Eltern und Familie in die Zwangssymptomatik (das Aufrechterhalten der Zwänge z.B.
durch Einkaufen der Waschmittel) ein wesentlicher prädiktiver Faktor bezüglich der Wirksamkeit der Therapie
ist. Bei mangelnder Wirksamkeit der Psychotherapie, bei
Ablehnung oder sehr schwerer Ausprägung der Symptomatik werden SSRI als Medikamente der ersten Wahl
eingesetzt. In der Schweiz sind Sertralin ab einem Alter
von 6 Jahren (Level A) und Fluvoxamin ab einem Alter von
8 Jahren für die Behandlung von Zwangsstörungen zugelassen.
Nach einer Cochrane-Analyse schneiden SSRI im Vergleich
zu Plazebo signifikant besser ab und können aufgrund
der Wirksamkeit auch als erste Wahl in der Behandlung
eingesetzt werden [11]. Die Abbruchrate war jedoch unter
alleiniger Medikation deutlich höher als unter kombinierter Psychotherapie. Bei Nichtansprechen auf ein SSRI
sollte auf ein anderes SSRI umgestellt werden. Bei weiterer
Nonresponse, hohem Schweregrad oder zusätzlichen Ticstörungen kann eine Augmentation mit Antipsychotika
eingesetzt werden. Die Datenlage für Kinder und Jugend-
liche ist noch eingeschränkter als für das Erwachsenenalter und ist am besten für Risperidon (Level B3). Clomipramin ist trotz guter Wirksamkeit Medikament zweiter
Wahl aufgrund der anticholinergen und kardiologischen
Nebenwirkungen, es kann jedoch ebenfalls als Augmentation zu SSRI bei Nonresponse in Erwägung gezogen
werden. MAO-Hemmer, SSNRI und NaSSA werden in der
Behandlung von Zwängen im Kindes- und Jugendalter
nicht eingesetzt [12].
Das Ziel bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen sollte sein, die Symptome und die Beeinträchtigung
im Alltag und in der Familie zu minimieren. Zusätzlich
sollten die Fähigkeiten des Kindes zur Problembewältigung gestärkt und Strategien erarbeitet werden, die die
Rückfallgefahr verringern. Dabei ist wichtig, dass die Behandlungsmethoden dem Entwicklungsstand des Kindes
angepasst werden. Zusammenfassend ist die kognitive
Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsverhinderung die Behandlung der ersten Wahl, gefolgt von einer
kombinierten Pharmakotherapie und einer Monotherapie
mit SSRI [12, 13]. Neurochirurgische Eingriffe sind bei
Kindern und Jugendlichen nicht indiziert.
Posttraumatische Belastungsstörung
Die Symptome einer PTBS bei Kindern und Jugendlichen
sind mit denen bei erwachsenen Patienten vergleichbar,
hängen jedoch vom Alter des Patienten ab. Als Reaktion
auf ein traumatisches Erlebnis zeigen jüngere Kinder
häufig auch aggressives oder destruktives Verhalten. Oft
werden die traumatischen Erlebnisse nachgespielt oder
gezeichnet. Die Reaktionen von Kindern und Jugendlichen
werden stark durch die Reaktionen der Eltern während
oder nach dem Trauma beeinflusst. Kinder wollen das
traumatische Erlebnis meist nicht besprechen, um die
Eltern nicht weiter zu belasten. Dies kann dazu führen,
dass Eltern die psychische Verfassung des Kindes falsch
einschätzen. Auch bei der Behandlung von Kindern und
Jugendlichen mit PTBS ist der Einsatz von Psychopharmaka nicht die erste Wahl. Eine Behandlung mit SSRI ist
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empfehlungen
nicht ausgeschlossen, es kann jedoch vermehrt zu Suizidgedanken und suizidalem Verhalten kommen. Die Patienten sollten daher insbesondere während einer Behandlung
mit SSRI genau beobachtet werden.
Kognitiv-behaviorale Methoden (kognitive Bearbeitung
des Traumas, Expositionstechniken, Vermittlung von
Techniken zur Stressbewältigung) haben sich bei der Therapie einer PTBS bei Kindern und Jugendlichen als wirksam erwiesen. Die meisten Studiendaten beziehen sich
allerdings auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die wiederholte sexuelle Gewalt erfahren haben.
Die daraus resultierenden Behandlungsempfehlungen sind
nur begrenzt auf andere Traumata übertragbar. Die gewählte Behandlungsmethode sollte an den Entwicklungsstand und das kindliche Weltbild angepasst werden. Die
beste Evidenz (Level A) liegt für die kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapie vor. Dabei wurde vor allem die
traumafokussierte Therapie TF-CBT eingesetzt und untersucht. Die TF-CBT kombiniert verschiedene Eltern- und
Kind-Interventionen. Diese Komponenten enthalten Psychoedukation, Skills, die die Eltern einsetzen können, um
die Kinder zu unterstützen, Entspannungsverfahren sowie
Möglichkeiten zur affektiven und kognitive Regulation im
Hinblick auf das Trauma. Es gibt dabei separate Kindund Elternsitzungen sowie gemeinsame Therapiestunden.
TF-CBT kann bei verschiedenen Altersgruppen vom Kindergarten bis zur Oberschule eingesetzt werden. EMDR
führt teilweise zu guten Resultaten, es liegen jedoch nicht
genügend Daten vor, um eine eindeutige Empfehlung abzugeben. Für andere Verfahren, wie etwa die Narrative
Exposure Therapy for Children and Adolescents (KIDNET), gibt es derzeit ebenfalls nur vergleichsweise wenig
Evidenz. Spiel- und Maltherapien können bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen hilfreich sein,
ihre Wirksamkeit ist jedoch nicht abschliessend belegt.
Schwangerschaft und Stillzeit
Für die Arzneimitteltherapiesicherheit in der Schwangerschaft und während der Stillzeit empfiehlt sich stets
die Konsultation einer aktualisierten Online-Datenbank,
zum Beispiel www.swisstis.ch oder www.embryotox.de.
In der Schwangerschaft haben immer eine besonders
strenge Indikationsstellung sowie eine sorgfältige NutzenRisiko-Abwägung unter Einbezug der betreuenden Gynäkologen und intensivierter Vorsorge in der Schwangerschaft zu erfolgen. Der Mehrzahl der Übersichtsarbeiten
zufolge stellt die Behandlung mit SSRI und TZA in der
Schwangerschaft kein erhöhtes Risiko für das Kind dar,
obwohl über geringfügige Anomalien, Frühgeburten und
neonatale Komplikationen berichtet wurde. SSRI und
TZA gehen in der Regel nur in geringer Konzentration in
die Muttermilch über; im Serum von Säuglingen wurden
niedrige Konzentrationen gefunden. Wenn höhere Dosen
über einen längeren Zeitraum verwendet wurden oder
eine weitere Behandlung notwendig ist, sollte möglicherweise ein Abstillen empfohlen werden.
Prävention der posttraumatischen Belastungsstörung
Die PTBS nimmt eine Sonderstellung unter den psychischen Störungen ein: Sie beginnt definiert vor dem Hintergrund eines auslösenden Ereignisses. Wegen dieser zeitlichen Eingrenzbarkeit, zusammen mit der Neigung zur
Chronifizierung und der hohen Vergesellschaftung mit
Folgeerkrankungen, lassen sich Massnahmen zur Sekun-
därprävention sinnvoll einsetzen [15]. Je nach Art des
Traumas entwickeln 10–50% der Personen aufgrund des
Erlebten eine PTBS. Es gibt verschiedene Präventionsmethoden, die nach einem Trauma indiziert sein können.
Professionelle Hilfe sollte aber weder aufgedrängt werden,
noch ist sie als Routine empfehlenswert [15]. Eine früher
favorisierte einzelne, isolierte therapeutische Sitzung unmittelbar nach dem Ereignis («debriefing») ist zu vermeiden, da dies den natürlichen Heilungsverlauf negativ beeinflussen kann. Statt dessen sollten unter Beachtung
individueller Risikofaktoren (beispielsweise weibliches Geschlecht, geringe soziale Unterstützung, interpersonelle
Traumata, externale Schuldzuschreibung, peritraumatische Dissoziation, früh einsetzende Wiedererlebenssymptome oder akute Belastungsreaktion) gezielte psychotherapeutische Interventionen veranlasst werden [15].
Nutzen und Risiko der Gabe von Benzodiazepinen in der
posttraumatischen Frühphase sind sorgfältig abzuwägen,
atypische Antipsychotika (Quetiapin, Olanzapin) oder antikonvulsive bzw. anxiolytische Substanzen (Pregabalin)
können hier eine Alternative darstellen [15]. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit des Betablockers Propranolol, die jedoch einer genaueren Überprüfung bedürfen [16].
Therapieresistenz
Es gibt keine allgemein verbindliche Definition des Begriffs
«Therapieresistenz». Bevor ein Patient als «therapieresistent» eingestuft wird, sollten folgende Faktoren sichergestellt werden: eine korrekte Diagnose, eine adäquate
Psychotherapie, die zuverlässige Einnahme der Medikamente, eine Dosis im therapeutischen Bereich sowie eine
ausreichende Behandlungsdauer. Gleichzeitig gegebene
andere Medikamente (z.B. Induktoren oder Inhibitoren
des Cytochrom-P450-Systems) können die Wirkung einer
Substanz stark beeinflussen (www.mediq.ch). Auch psychosoziale Faktoren und Komorbiditäten können die Behandlung erschweren; insbesondere beeinflussen Persönlichkeitsstörungen, Substanzmissbrauch und Depressionen
die Prognose ungünstig.
Zwangserkrankungen
Etwa 30–40% der Patienten mit Zwangsstörungen sprechen
nicht auf eine Medikation mit SSRI oder Clomipramin an
[4]. Bei der Behandlung von therapieresistenten Zwangsstörungen war intravenös verabreichtes Clomipramin
allerdings wirksamer als die oral eingenommene Substanz
(Level B1).
Gemäss der meisten Expertenmeinungen und der gängigen Leitlinien sollte eine Behandlung mit einem SSRI mindestens 12 Wochen andauern [4]. Bei einer unzureichenden Wirksamkeit der SSRI-Therapie ist eine Erhöhung
der Dosis bis zur individuell maximal verträglichen Menge,
ein Wechsel auf ein anderes SSRI oder Venlafaxin oder
auch eine Augmentation mit den Antipsychotika Quetiapin, Olanzapin oder Risperidon zu erwägen (Abb. 1) [4].
Die Augmentation einer SSRI-Behandlung durch Quetiapin, Olanzapin oder Risperidon ist wirksamer als eine
SSRI-Monotherapie (Level B1). Einige Studien bestätigen
auch die Wirksamkeit des Antipsychotikums Aripiprazol
(Level B2) sowie verschiedener experimenteller Behandlungsmethoden (Cyproteronacetat, Psilocybin, D-Cycloserin) (Level B2). Eine verbesserte Ansprechrate kann auch
durch die Kombination von einem SSRI mit anderen
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343
empfehlungen
Die SGPP entwickelt zur Hilfestellung für ihre
Mitglieder und im Rahmen ihrer Bemühungen um
Qualitätssicherung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung Behandlungs- und
andere Empfehlungen zu praktisch wichtigen
Fragestellungen. Diese beruhen auf aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis
bewährten Verfahren. Im Einzelfall können auch
andere Behandlungsarten und -vorgehen zum Ziel
führen. Die Empfehlungen der SGPP werden
regelmässig auf ihre Gültigkeit überprüft. Die SGPP
publiziert die Empfehlungen mit grösster Sorgfalt
in der für die Mitglieder und allenfalls andere
Interessierte geeigneten Form. Die Befolgung oder
Nichtbefolgung dieser Empfehlungen hat für den
Arzt oder die Ärztin weder haftungsbefreiende noch
haftungsbegründende Wirkung.
Wirkstoffen erreicht werden. Die Kombination des 5HT1ARezeptorantagonisten/Betablockers Pindolol (7,5–10 mg,
off-label) mit Paroxetin (Level B1) ist wirksam, jene mit
Fluvoxamin jedoch nicht (Level D). Ausserdem liessen
sich für folgende Wirkstoff-Kombinationen Hinweise auf
eine Wirksamkeit finden: Citalopram plus Reboxetin (selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, NRI),
Zugabe von Lithium oder L-Tryptophan zu Clomipramin
und die Augmentation eines SSRI mit Buspiron, Pindolol,
Topiramat oder L-Tryptophan (Level B2).
Posttraumatische Belastungsstörung
Bei SSRI-resistenten PTBS-Patienten kann eine Behandlung mit Olanzapin oder die Zugabe von Risperidon zur
bestehenden Therapie indiziert sein (Level B1).
Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen
Diese Behandlungsempfehlungen werden in Abstimmung
mit den WFSBP-Leitlinien aktualisiert und auf den Websites der SGAD (www.sgad.ch), der SGZ (www.zwaenge.ch),
der SGBP (www.ssbp.ch) und der SGPP (www.psychiatrie.
ch) publiziert.
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Korrespondenz:
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Martin E. Keck
Clienia Privatklinik Schlössli
Zentrum für Neurowissenschaften
Zürich (ZNZ) der Universität und ETH
Schlösslistrasse
CH-8618 Oetwil am See
martin.keck[at]clienia.ch
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N e w s l e t t er 01 ·14
Freundschaft mit Gedanken und Gefühlen schliessen? –
Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie («Mindfulness-­
based Cognitive Therapy», MBCT) bei Zwangsstörungen
Anne Katrin Külz
«Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum.
Hier haben wir die Freiheit und die Macht unsere
Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser
Wachstum und unsere Freiheit!»
Viktor Frankl
Herr S. hat bereits mehrere ambulante und stationäre
Verhaltenstherapien zur Behandlung seiner Kontrollzwänge hinter sich. Er weiss, wie man sich den
Zwangsimpulsen im Alltag widersetzt, was ihm
manchmal gut und manchmal weniger gut gelingt.
Seit dem frühen Erwachsenenalter empfindet er sein
Leben als ständigen «Kampf gegen den Zwang».
Warum Achtsamkeit bei
Zwangsstörungen?
Vielen Menschen, die an Zwängen leiden, kann kognitive Verhaltenstherapie mit Konfrontationsübungen deutlich helfen: Verschiedene Untersuchungen
zeigen, dass sich bei etwa zwei Drittel der Betroffenen die Symptomatik zumindest um ein Drittel bessert. Gleichzeitig belegen die Zahlen auch, dass nicht
wenige Patienten ebenso wie Herr S. auch nach
Behandlung noch unter Zwangssymptomen in mehr
oder weniger starker Ausprägung leiden. Daher
erscheint es notwendig, nach ergänzenden Therapiemöglichkeiten zu suchen, um Zwängen wirksam
begegnen zu können.
In den letzten Jahren haben zunehmend achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Verfahren Einzug in die
psychotherapeutische Landschaft gehalten (Heidenreich und Michalak, 2006). Während einige Menschen begeistert von der heilenden Wirkung der
Achtsamkeit schwärmen, stehen andere dem Achtsamkeitskonzept als «Modetrend» eher kritisch
gegenüber.
Tatsächlich hat die Praxis der Achtsamkeit eine über
2500 Jahre alte Tradition, kann jedoch auch ohne
spezielle religiöse oder spirituelle Orientierung angeeignet werden.
Achtsamkeit bedeutet zunächst, auf eine bestimmte
Art und Weise aufmerksam zu sein: Die Aufmerksam-
keit wird bewusst auf den gegenwärtigen Augenblick, d.h. die Sinnes- und Körperempfindungen,
Gefühle oder auch Gedanken gerichtet, ohne dass
ich bewerte, was ich wahrnehme. Ich verurteile mich
nicht für manche Empfindungen, innere Bilder oder
Gedanken, sondern nehme sie an als das, was eben
nun gerade passiert. Sowohl die Aufmerksamkeitslenkung auf den Augenblick als auch eine nicht wertende Haltung fallen bei Zwängen oft besonders
schwer: Wie gelingt es, genau wahrzunehmen, was
um mich herum wirklich geschieht, wenn ich in
Gedankenspiralen und Ängsten gefangen bin? Wie
kann ich negative Gedanken einfach wahrnehmen
und vorbeiziehen lassen, wenn sie meinen eigenen
Wertvorstellungen zutiefst widersprechen? Wie soll
es möglich sein, unangenehme Gefühle von starker
Furcht oder Ekel offen zur Kenntnis zu nehmen, ohne
alles daran zu setzen, sie so schnell wie möglich zu
beseitigen?
Untersuchungen bei einer Vielzahl von Menschen
haben gezeigt, dass die Haltung der Achtsamkeit
(Pali: «sati») durch regelmässige Übungen erlernbar
ist: Während der Geist anfangs immer wieder durch
Gedanken, Assoziationen, Planen oder (Ver-)Urteilen
«entführt» wird, gelingt es mit der Zeit immer besser,
sich mit dem Augenblick zu verbinden, z.B. auch
bewusst den Atem wahrzunehmen, die Aufregung
zu registrieren, das Bedürfnis nach einer Ruhepause
oder einfach nur die Sonne auf der Haut zu spüren.
Dabei ist natürlich nichts Schlechtes daran, Pläne zu
schmieden oder über Dinge nachzudenken: Wir tun
es mit Hilfe der Achtsamkeit vielleicht nur weniger
in festgefahrenen Mustern, werden wacher für das,
was um uns herum wirklich abläuft, können gelassener zu Gedanken und Gefühlen stehen, auch wenn
sie unangenehm sein mögen.
Gerade bei Zwangsstörungen könnte die wertfreie
Wahrnehmung der momentanen Erfahrung eine
unterstützende Wirkung haben. So weiss man, dass
die Aufmerksamkeit bei Zwangserkrankungen sehr
stark durch Reize gefangengenommen ist, die den
Zwang interessieren, wie z.B. spitze Gegenstände bei
Angst vor aggressiven Impulsen. Viele Menschen mit
Zwängen berichten ausserdem häufig davon, ständig
«im Kopf» zu sein, die Aussenwelt gar nicht vollständig wahrzunehmen, während sich das Gedankenkarussell immer weiter dreht. Ausserdem dienen viele
13
N e w s l e t t er 01 ·14
Zwänge dazu, unangenehme Gefühle «in Schach» zu
halten, so dass der Zwang an Bedeutung verliert,
wenn wir es wagen, diese unbefangen als vorübergehende innere Prozesse wahrzunehmen.
Gegenwärtig überprüfen wir mit einem Gruppenprogramm zu Achtsamkeit bei Zwängen, inwiefern das
Achtsamkeitskonzept für Menschen hilfreich sein
kann, die auch nach verhaltenstherapeutischer
Behandlung noch unter Zwängen leiden.
Eine Studie zu
achtsamkeitsbasierter Therapie
Am Universitätsklinikum Freiburg wird seit einiger
Zeit ein achtsamkeitsbasiertes Gruppenprogramm
(englisch: MBCT, Mindfulness-based Cognitive Therapy) für Menschen mit Zwangsstörungen angeboten und auf seine Wirksamkeit bei Zwangsstörungen
überprüft.
MBCT ist ein achtwöchiges Therapieprogramm, welches aus der achtsamkeitsbasierten Stressbewältigung nach Kabat-Zinn (MBSR: Mindfulness-based
Stress Reduction) abgeleitet wurde und neben Achtsamkeitsübungen für alltägliche Handlungen auch
Meditations- und Yogaübungen vermittelt sowie Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie enthält
(Segal et al., 2008). Bislang wurde seine Wirksamkeit
insbesondere zur Rückfallvorsorge bei Depressionen
nachgewiesen, aber erste Untersuchungen belegen
auch seine Wirksamkeit bei anderen Erkrankungen
wie beispielsweise Angststörungen (vgl. zur Übersicht Chiesa & Serretti, 2011). In einer Untersuchung,
bei der MBCT zur Behandlung von Angststörungen
eingesetzt wurde, verringerten sich auch zusätzlich
erfasste Zwangssymptome deutlich (Kim et al.,
2009). Bei Zwangsstörungen wurde die Effektivität
achtsamkeitsbasierter Therapiemassnahmen allerdings noch wenig überprüft. Das MBCT-Konzept
wurde bislang bei Zwängen noch nicht angewendet.
Gruppenprogramm und Teilnehmer
Das für Zwangsstörungen konzipierte MBCT-Manual
wurde in enger Anlehnung an das klassische MBCT
erstellt, wobei die verhaltenstherapeutischen Elemente für Zwangsstörungen angepasst wurden (Külz
und Rose, 2013). Das Therapieprogramm umfasst
acht Sitzungen à zwei Stunden in wöchentlichem
Abstand. Zwischen den Sitzungen erhalten die Teil-
nehmer Anregungen, um das Erlernte selbständig
weiterüben zu können. Ein Kernelement stellt z.B. der
«3-Minuten-Atemraum» dar, der dazu einlädt, kurzzeitig mitten im Alltagsgeschehen innezuhalten und
die Aufmerksamkeit auf gegenwärtige Erfahrungen
sowie den eigenen Atem zu lenken. Neben Yogaübungen und einer Übung zur Schulung des Körpergewahrseins, dem Bodyscan, erhalten die Teilnehmer Anregungen, Achtsamkeit bei alltäglichen
Handlungen, insbesondere auch auftretenden
Zwangsimpulsen auszuprobieren und in den eigenen
Alltag zu integrieren. Die kognitiv verhaltenstherapeutischen Elemente des Therapieprogramms
umfassen Informationen über das Wesen von Gedanken und Umgangsmöglichkeiten mit diesen. Schliesslich werden auch Strategien zur Selbstfürsorge sowie
zur Rückfallprophylaxe vermittelt.
Einen Überblick über die Inhalte des Therapieprogramms gibt Tabelle 1.
Tabelle 1: Inhalte des MBCT-Programms für Zwangsstörungen
(Siehe Tabelle auf Seite 15)
Die bislang 20 teilnehmenden Patienten (12 Männer
und 8 Frauen) hatten bis maximal 2 Jahre vor Beginn
des Gruppenprogramms eine Verhaltenstherapie
abgeschlossen. Vier Teilnehmer brachen die Behandlung wegen Terminschwierigkeiten, familiären Konflikten oder kurzfristiger Verfügbarkeit eines ambulanten Therapieplatzes vorzeitig ab. Etwa die Hälfte
der Teilnehmer nahm seit mindestens drei Monaten
vor Behandlungsbeginn Medikamente zur Behandlung der Zwangsstörung ein.
Ergebnisse
a) Schwere der Zwänge
Vor und nach der Behandlung wurden die Teilnehmer
mit der Y-BOCS (Yale-Brown Obsessive-Compulsive
Scale), einem bewährten Interview zur Erfassung der
Zwangssymptomatik befragt.
Da eine Normal- und Gleichverteilung der Daten vorlag, konnte eine Varianzanalyse mit Messwiederholung
zur Datenanalyse eingesetzt werden. Demnach fanden
wir eine hochsignifikante Verbesserung für den
Gesamtwert der Y-BOCS von 17,9 auf 13,9 Punkte; auch
deren Unterskalen für die Schwere der Zwangsgedanken und Zwangshandlungen besserten sich signifikant.
14
N e w s l e t t er 01 ·14
Thema der Stunde Kursinhalte
Hintergrund
Sitzung 1:
Der Autopilot
und die Brille des
Zwangs
§ Einführung: Die Rolle der Achtsamkeit bei
Zwängen
§ «Rosinenübung» (Übung zu Achtsamkeit im
Alltag)
§Body-Scan
§ Kurze Atembetrachtung
Aufmerksamkeit immer wieder
auf den Augenblick richten
Sitzung 2:
Umgang mit
Hindernissen
§Body-Scan
§ Kurze Sitzmeditation
§ Vorstellungsübung zum Zusammenhang
zwischen Gedanken, Gefühlen und Körper­
empfindungen
§ Einführung des Zwangsmodells von Salkovskis
Die permanente Tätigkeit des Verstandes (Denken, Bewerten etc.)
erkunden
Sitzung 3:
Achtsamkeit
des Atems
§ Übung zum «Sehen» oder zum «Hören»
§Sitzmeditation
§3-Minuten-Atemraum
§Yoga
Strategien üben, um im
­Augenblick anzukommen
Sitzung 4:
Gegenwärtig sein
§ Übung zum «Sehen» oder zum «Hören»
§Sitzmeditation
§3-Minuten-Atemraum
§ Vorstellung des neurobiologischen
Modells der Zwangsstörung
§ Ausfüllen und Besprechen eines Fragebogens
zu typischen Überzeugungen bei Zwängen
Tendenzen von Anhaften und
Aversion gegenüber Erfahrungen
erkennen, ebenso die Identifikation mit Zwangsinhalten e
­ rkunden
Sitzung 5:
Akzeptanz –
Gedanken sind
keine Feinde
§Sitzmeditation
§ Atemraum zur Bewältigung
§ Exploration des Konzepts der Akzeptanz
und dessen Zugang über den Körper
§ Geschichte zum Thema Akzeptanz
akzeptierende Haltung gegenüber
der eigenen Erfahrung einschliesslich der Zwangsgedanken und –
impulse ausprobieren
Sitzung 6:
Gedanken sind
keine Tatsachen
§Sitzmeditation
§ Atemraum als erster Schritt vor einer hilfreichen
Perspektive auf Zwangsgedanken und -impulse
§ Vorstellungsübung zur Verdeutlichung des
Zusammenhangs zwischen Befindlichkeit
und Zwangsgedanken
§ Besprechung hilfreicher
Umgangsmöglichkeiten mit Zwangsgedanken
die Abhängigkeit der Zwangs­
symptome von der eigenen
­«Ressourcenlage» erkennen
Sitzung 7:
Selbstfürsorge
§Sitzmeditation
§ Atemraum als erster Schritt vor einer
achtsamen Handlung
§ Achtsames Gehen
§ Übungen zu nährenden und Energie
verbrauchenden Elementen im Alltag
§Reflexion hilfreicher Verhaltensweisen
bei Zwangsimpulsen
§ Das «Anti-Zwangs-Haus» zur Veranschaulichung
individueller Expositionsziele für die Zukunft
Künftige Strategien im Umgang
mit Zwangssymptomen ent­
wickeln und eine «nährende»
­Alltagsgestaltung planen
Sitzung 8:
Umgang mit
künftigen Zwangssymptomen
§Bodyscan
§ Geführte Abschlussmeditation
§ Fragebögen zur Reflektion des Kurses
§ Besprechung von möglichen Strategien zur Aufrechterhaltung der Übungspraxis
Eine selbstfürsorgliche Haltung
stärken, um die individuelle
­Praxis fortzusetzen
Freiraum entdecken, der durch
Achtsamkeit entsteht
Neue Perspektive gegenüber der
Zwangssymptomatik einnehmen
Erforschen von Funktionalitäten
der Zwangssymptome und
Wege zum Umgang mit diesen
entdecken
15
N e w s l e t t er 01 ·14
b) Ergebnisse von Patienteninterviews
Die ersten zwölf Teilnehmer wurden in etwa halbstündigen Interviews ausführlich nach ihren Erfahrungen
mit dem MBCT-Kurs gefragt (Hertenstein et al., 2012).
Neben ihrem subjektiven Erleben wurden sie auch
darum gebeten, eventuelle Schwierigkeiten und
Änderungswünsche für künftige Kurse zu schildern.
Die Erhebung erfolgte durch eine Mitarbeiterin, die
nicht an der Durchführung des Kurses beteiligt war.
Die Antworten wurden mithilfe der Technik der induktiven Kategorienbildung (Mayring, 2003) bearbeitet.
tigung ihrer Zwangssymptomatik gehofft und mussten dann feststellen, dass Achtsamkeit viel Übung
bedarf und eher auf längere Sicht Veränderungen mit
sich bringt.
Von vielen Teilnehmern wurde der 3-Minuten-Atemraum als besonders hilfreich und gut anwendbar im
Alltag erlebt. Positiv fanden die Teilnehmer auch,
dass bei den Achtsamkeitsübungen kein Druck
bestand, etwas Bestimmtes zu erreichen, sondern
immer wieder dazu ermutigt wurde, sich ganz auf die
Erfahrung des Augenblicks einzulassen. Als besonders wichtig erlebten die Teilnehmer den Austausch
über die Umsetzung von Achtsamkeit im Alltag.
Diskussion
Die meisten Studienteilnehmer berichteten eine positive Auswirkung des Kurses auf die Zwangserkrankung. So beschrieb beispielsweise Herr H. seine
Erfahrungen mit der Achtsamkeit gegenüber seinem
Zwang: «Und sagen wir es so, den Wasch- und Reinigungszwang den ich habe, den habe ich in den
letzten acht Wochen durch die Achtsamkeit durch
dieses Innehalten – das ist vielleicht das entscheidende Wort für mich – ja messbar, wenn ich das
messen würde in Zeiteinheiten die ich am Waschbecken verbringe, auf jeden Fall beeinflusst. Und das
sage ich nicht weil es schön klingt, sondern weil es
wirklich so war. Wenn der Impuls kommt, meinetwegen jetzt möchte ich grade mal rausgehen und die
Hände waschen, dass ich dann zunächst mal innehalte und mich dann besinne auch achtsam mit mir
zu sein, dass ich dann sage – früher wäre ich sofort
losgerannt sonst – und jetzt wenn ich erstmal innehalte, dann kann ich sagen jetzt mach ich erstmal das
hier fertig, und nach ner halben Stunde kommt dann
vielleicht gar nicht mehr dieser Anreiz zu gehen, und
wenn dann hab ich trotzdem was erreicht, so empfinde ich das jedenfalls.»
Einige Teilnehmer schilderten jedoch auch, dass es
ihnen anfangs nicht leicht gefallen sei, die nötige
Geduld für die Achtsamkeitsübungen aufzubringen.
Sie hatten auf rasch wirksame Strategien zur Besei-
Als allgemeine positive Auswirkungen nannten die
Teilnehmer einen veränderten Umgang mit eigenen
Gedanken und Gefühlen, ein aktiveres Leben im Hier
und Jetzt, verbesserte Stimmung, besserer Schlaf,
sowie eine ruhigere und gelassenere Grundhaltung.
Die vorläufigen Ergebnisse zu achtsamkeitsbasierter
kognitiver Therapie (MBCT) bei Zwängen zeigen,
dass das Programm von den Teilnehmern gut angenommen und als hilfreich erlebt wurde. Die Verminderung der Zwangssymptome ist insbesondere
ermutigend, da alle Patienten innerhalb von zwei
Jahren vor der ersten Messung bereits an einer Verhaltenstherapie teilgenommen hatten, also trotz vorheriger Therapie eine weitere Besserung erreichten.
Gleichzeitig waren die Zwänge nach MBCT zwar
deutlich gebessert, blieben allerdings bei den meisten Teilnehmern in geringerem Ausmass weiter
bestehen. In einer zukünftigen Untersuchung möchten wir überprüfen, ob sich die von den Teilnehmern
geschilderten positiven Effekte auch in anderen Massen, wie z.B. Fragebögen zur Lebensqualität oder
zum Umgang mit unangenehmen Gedanken abbilden lassen. Möglicherweise kann der Achtsamkeitsansatz eine gute Ergänzung der bisherigen störungsspezifischen Behandlung von Zwängen darstellen,
indem er eine hilfreiche Einstellung gegenüber
(Zwangs-)Gedanken und Gefühlen vermittelt und zu
einem freundlicheren Umgang mit sich selbst und
gegenwärtigen Erfahrungen anregt.
Gleichzeitig ist es angesichts der kleinen Teilnehmerzahl momentan noch zu früh, eindeutige Aussagen
zu treffen; die Ergebnisse sind daher mit Vorsicht zu
beurteilen.
Die Rückmeldungen der ersten Teilnehmer in MBCT
bei Zwangsstörungen haben uns insgesamt ermutigt, das Gruppenprogramm nun mit einer grösseren
Anzahl von Betroffenen durchzuführen. Im Sommer
2014 werden wir daher eine wissenschaftliche Studie
mit über 100 Teilnehmern umsetzen, bei der wir die
16
N e w s l e t t er 01 ·14
Wirksamkeit von MBCT mit der Wirksamkeit eines
Informationsprogramms zur Zwangsbewältigung in
der Gruppe gemeinsam mit Prof. Steffen Moritz in
den Universitätskliniken in Freiburg und Hamburg
vergleichen werden.
Literatur
Chiesa, A., & Serretti, A. (2011). Mindfulness based
cognitive therapy for psychiatric disorders: A
systematic review and meta-analysis. Psychiatry
Research 187, 441–453.
Autor:
Dr. Anne Katrin Külz
Dipl. Psychologin
Heidenreich, T., & Michalak, J. (2006). Achtsamkeit
und Akzeptanz in der Psychotherapie. Dgvt-Verlag.
Psychologische Psychotherapeutin
UNIVERSITAETSKLINIKUM FREIBURG
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie
Hertenstein, E., Rose, N., Voderholzer, U., Heidenreich, T., Nissen, C., Thiel, N., Herbst, N., &
Külz A.K. (2012). Mindfulness Based Cognitive Therapy in Obsessive-Compulsive Disorder – A
qualitative study on patients’ experiences. BMC Psychiatry 12, 185.
[email protected]
Külz, A.K. und Rose, N. (2013). Achtsamkeitsbasierte
kognitive Therapie bei Zwangsstörungen – eine
Adaptation des Originalkonzepts. Psychotherapie,
Psychosomatik und Medizinische Psychologie 45,
327.
Kim, Y. W., Lee, S.-H., Choi, T. K., Suh, S. Y., Kim, B.,
Kim, C. M., Cho, S. J., u. a. (2009). Effectiveness of
mindfulness-based cognitive therapy as an adjuvant
to pharmacotherapy in patients with panic disorder
or generalized anxiety disorder. Depression and
Anxiety, 26, 601–606.
Mayring, P. (2003). Qualitative Inhaltsanalyse [Qualitative content analysis]. Weinheim: Beltz.
Segal Z.V., Williams, J.M.G., Teasdale, J.D. (2008).
Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie der
Depression. Ein neuer Ansatz zur Rückfallprävention.
DGVT-Verlag, Tübingen
17
N e w s l e t t er 01 ·14
Ich: ein Prototyp
10 Jahre Tiefenhirnstimulation
von Herrn N.
Heute bin ich 50 Jahre alt, habe seit 35 Jahren
Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gemischt
und lebe seit 10 Jahren mit einer Sonde im Gehirn
gegen meine Zwänge.
So um das 14. Lebensjahr traten die Zwänge in mein
Leben. Es begann mit ausgeprägten Waschzwängen,
später änderten sich die Symptome immer wieder,
mal hatte ich unter Kontrollzwängen, Zwangsgedanken und fast immer unter Wiederholungszwängen zu
leiden.
Der Verlauf war immer stark schwankend, irgendwann in den 90-Jahren suchte ich erstmals Therapeuten auf, was aber wenig erfolgversprechende
Ergebnisse mit sich brachte. Schliesslich, ab etwa
1999 «explodierten» meine Zwänge regelrecht und
drangen in immer mehr Bereiche meines Lebens ein:
ich konnte nicht mehr joggen, brauchte morgens
über 1 Stunde zum Anziehen, weil alles ohne «falsche
Gedanken» erfolgen musste.
Es folgte der übliche Weg: Hausarzt, Antidepressiva,
10 verschiedene SSRI, 6 Wochen Kur (sehr ernüchternd), unmittelbar anschliessend 2 Jahre ambulante
Therapie vor Ort (die wirklich allen Regeln der Kunst
folgte) dennoch ging es stetig bergab.
Im Jahr 2002 sahen meine Zwänge so aus:
§ jeden Tag 18 bis 20 Stunden Zwänge
§ maximal 5 Minuten Pause zwischen einzelnen
Zwängen
§ ich konnte nur noch einen TV-Sender ertragen
§ irgendwann gab es auch fast nur noch «verbotene»
Lebensmittel.
§a
uf 200 Metern Strecke «kniete» ich bis zu 50 mal
oder ging zurück
§S
chlafen war nur noch ohne Auskleiden möglich,
da zu anstrengend
§ Ankleiden morgens vor der Arbeit mit bis zu 20
Wiederholungen pro Kleidungsstück, insgesamt 2
Stunden.
§A
utofahren im Schnitt für 15 km 2 Stunden und im
Rekord 6 Stunden. Als Konsequenz konnte ich die
nächsten 5 bis 6 Jahre gar nicht mehr Auto fahren.
§E
s gab eigentlich keinen Bereich mehr (etwa eine
einfache CD zu brennen), der noch zwangsfrei funktionierte.
Irgendwann kam dann der totale Systemumschlag:
§S
tatt 2 Stunden zu Duschen, duschte ich 8 Wochen
nicht mehr, ich rasierte mich nicht mehr und hatte
einen 20 cm langen Vollbart. Etwas vorher hatte
ich zu trinken begonnen, um überhaupt einmal 10
Minuten zur Ruhe zu kommen. In meiner schlimmsten Zeit war es eine halbe Flasche Cognac am Tag.
Ende des Jahres 2002 sah ich im Fernsehen einen
Bericht über die erste Tiefenhirnstimulation (THS) in
Europa und las kurze Zeit später, dass die Universitätsklinik Köln die THS erstmalig für geeignete Patienten im Rahmen einer Studie anbot.
4 Monate später war es dann soweit: ich rief in der
Stereotaxie in Köln bei Professor Sturm an und
bekam innerhalb 14 Tagen einen Termin für ein Vorgespräch. Professor Sturm erklärte mir die Operation, dass die Erfolgschancen bei 60 bis 70 % liegen
und ich vorher eine Reihe von Testungen in der Psychiatrie durchlaufen müsse.
Meine Entscheidung, mit diesem Verfahren einen
Ausweg aus den Zwängen zu wagen, fiel schon an
diesem Tag. Zum einen war die THS für mich relativ
alternativlos, weil ich alle anderen Verfahren schon
erfolglos hinter mich gebracht hatte. Zum anderen
war Prof. Sturm eine Persönlichkeit, die bei mir
grösstes Vertrauen erweckte, fachlich sehr kompetent ist und auch noch Verständnis für Zwänge aufbrachte. Hierbei muss man wissen, dass ich wirklich
keine Person bin, die sofort kritiklos übernimmt, was
gesagt wird.
Alsdann folgte leider noch eine einjährige Wartezeit:
zum einen dauerte es, bis ich einen Termin in der
Psychiatrie zur Testung bekam, zum anderen, weil
die Operation noch vom Ethikrat abgesegnet werde
musste. Nach einer Testbatterie von 1 Woche im
Sommer 2003 kam im Februar 2004 der Anruf: nach
weiteren Testungen und entsprechender Eignung
könne ich operiert werden.
Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Zulassung zur Operation:
§D
er Patient muss austherapiert sein, alle anderen
therapeutischen Möglichkeiten müssen ausgeschöpft sein.
§E
s muss mindestens ein, besser zwei, stationäre
Heilversuche gegeben haben.
18
N e w s l e t t er 01 ·14
§ Es muss eine ambulante Therapie versucht worden
sein.
§E
s müssen ausreichend medikamentöse Versuche
erfolgt sein, was bedeutet 2 bis 3 verschiedene
Medikamente über einen ausreichend langen Zeitraum (Minimum 3 Monate) und eine Kombination
von zwei Medikamenten.
§D
ie Erkrankung muss schwerwiegend sein, entsprechend einem YBOCS-Wert von etwa 30.
§E
s dürfen keine suizidalen Gedanken vorliegen.
Die Vorteile der Tiefenhirnstimulation: genaue
Regulation
Sehr überzeugt hat mich bei meiner Entscheidung
für die THS auch die Tatsache, dass es sich um einen
reversiblen Eingriff, der keine Gewebeschädigung
verursacht handelt. Zudem gibt es diverse Einstellungsmöglichkeiten, mit denen die Wirkung und auch
Nebenwirkungen reguliert werden können.
Nach der Grundeinstellung im Anschluss an die Operation haben die Mediziner die Möglichkeit, die Wirkungsweise der Sonde von aussen mit einem Programmiergerät (telemetrisch) zu verändern: So
können die vier Pole je Sonde unterschiedlich gesteuert werden und das Ergebnis optimiert werden. Die
Stromstärke kann unterschiedlich stark eingestellt
werden. Der Patient erhält ein Handgerät, mit dem
man selbst (innerhalb festgelegter Grenzen) die
Stromstärke nach Bedarf regulieren oder das Gerät
sogar an und ausschalten kann (Bild 1). Besonders
dieser Punkt ist für mich wichtig, weil ich selbst entscheiden kann, was für mich momentan «richtig» ist.
Das Gefühl, selbst die Wirkung beeinflussen zu können, gibt mir grosse Sicherheit.
Der Tag der Operation
Es wurde eine Sonde über eine kleine Bohrung in das
Tiefenhirn implantiert, bei mir in der Nähe des
Nucleus Accumbens, etwa in einer Tiefe von 15 cm.
Die Sonde wird über eine Batterie mit kontinuierlichen Stromimpulsen versorgt, wobei die Batterie
oberhalb des Brustmuskels liegt und mit einem Kabel unter der Haut mit der Sonde verbunden wird
(Bild 2).
Die OP dauerte insgesamt knapp 8 Stunden, bei mir
noch bei vollem Bewusstsein, heute auf Wunsch
auch unter Narkose. Tatsächlich hören sich die 8
Stunden weitaus schlimmer an, als es tatsächlich ist,
denn der grösste Teil geht für die Auswertung der
bildgebenden Verfahren drauf, sowie die OP – Vorbereitung und den Anschluss der Batterie, dieser
immer unter Vollnarkose.
In jedem Fall war ich 2 Stunden nach der Operation
wieder auf den Beinen, ohne jegliche Schmerzen.
Die Wirkung der Operation
Jeder Patient wünscht sich, dass unmittelbar eine
Wirkung eintritt. Dies war jedoch nicht der Fall, konnte
auch kaum der Fall sein, da aus Studiengründen in
den ersten 6 Monaten, niemand wusste, wann das
Gerät ein- oder ausgeschaltet war. Bei mir kamen weitere psychische Belastungen hinzu: von der Krankenkasse war ich unmittelbar vor der OP gezwungen
19
N e w s l e t t er 01 ·14
worden, die Berentung zu beantragen (die auch
erfolgte), was dazu führte, das sich der gesamte
Lebensablauf von 60 Wochenstunden Berufstätigkeit
auf Null reduzierte, was wiederum Raum für die
Zwänge schaffte. Auch in den folgenden 2 Jahren
zeigte sich keine Besserung, während ich von Mitpatienten erfuhr, dass sie 3 Monate nach der OP erstmalig nach 15 Jahren wieder in Urlaub fahren konnten.
Mein Therapeut stellte unmittelbar nach der Operation, gegen das Anraten der Klinik, seine Therapie
ein, da er, nach seinen Worten «sich nicht von der
Klinik instrumentalisieren lassen» wollte. Dies war
besonders bemerkenswert, da ihm die Klinik gar
keine Vorgaben gemacht hatte. Natürlich hatte ich
nach dieser Erfahrung erst Mal überhaupt kein
Bestreben nach therapeutischer Behandlung.
Die Revolution im Gehirn beginnt
Etwa 3 Jahre nach der OP nahm ich einen ersten
Anlauf wieder selbst etwas zu versuchen, und nach
5 Jahren des «nicht-Auto-Fahren-könnens», absolvierte ich eine Strecke von 120 Kilometern im Alleingang. Es war der Erste, aber gewaltige Erfolg, auch
wenn ich am folgenden Tag einen furchtbaren Muskelkater in den Händen hatte. Von da an fiel mir das
Autofahren wesentlich leichter, was ich so erklären
kann, dass ich gar kein « Zwangsdruck» mehr spürte.
Das nächste was eintrat, war, das ich Speisen ohne
Zwangsgedanken essen konnte, etwas später konnte
ich auch wieder TV-Sendungen anschauen, die vorher sofort einen Zwangsreiz ausgelöst hätten. Am
längsten benötigte ich, die Wiederholungen auf offener Straße unter Kontrolle zu bekommen.
Das seltsamste an dieser Art der Besserung war, dass
sich jeweils einzelne Bereiche in relativ kurzer Zeit
vom Zwang befreiten, andere daneben voll weiter
existierten, bis eine weitere Bastion fiel.
Häufig bekomme ich die Frage gestellt, ob sich meine
«Persönlichkeit» verändert habe, dies kann ich voll
und ganz verneinen.
Ausserhalb des Hauses oder, wenn ich unter vielen
Leuten bin, verspüre ich nach zwei Stunden wieder
einen gewissen Zwangsdrang. Die Erfolgsquote liegt
nach meinen Recherchen zwischen 60 und 75 % auf
eine Besserung, was eine veritable Chance ist, wenn
man bedenkt, dass es sich ausschliesslich um Patienten handelt, bei denen nichts anderes Besserung
gebracht hat.
Besserung wird im übrigens sowohl bei der THS als
auch in der Therapie mit einer Verminderung der
Zwänge von mindestens 35 % definiert. Und wer 35
% nicht schon als Erfolg wertet, der ist noch nicht
ausreichend zwangskrank gewesen, um das schätzen
zu können.
Der technische und wissenschaftliche
Stand der THS heute
Geht man von der operationstechnischen Erfahrung
aus, so sind bis heute mehr als 80.000 THS erfolgt
(Quelle: Firma Medtronic ) vornehmlich auf dem
Ursprungsgebiet der THS, der Parkinson Erkrankung.
Nach eigenen Angaben der Universität Köln gehört
diese mit rund 1200 THS Operationen, zu den erfahrensten Kliniken auf diesem Gebiet.
Im psychochirurgischen Bereich arbeiten zahlreiche
Universitäten weltweit mit diesem Verfahren, jedoch
mit kleineren Fallzahlen, die auf rund 200 bis 300 Fälle
geschätzt werden. Die Erfolgsquoten dort liegen
auch bei 65 bis 75 %.
Mittlerweile werden im Forschungsstadium auch
Depressionen, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit mit ersten Erfolgen behandelt. Erste Studien
über Alzheimerbehandlung sind geplant und in Toronto konnten Erfolge bei der Behandlung von Magersucht erzielt werden.
Wichtig zu wissen
Tiefenhirnstimulation und die klassischen Therapien
oder die medikamentöse Behandlung konkurrieren
nicht: erst wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind kommt die THS als Option in Frage.
Auch nach der Operation ist eine weitere therapeutische Begleitung und sogar zunächst eine Beibehaltung
einer eventuellen Medikation wünschenswert, da die
OP nicht einfach den «Zwangsschalter» umlegen kann.
20
N e w s l e t t er 01 ·14
Dass ich heute die Entscheidung zur THS sehr positiv
beurteile ist klar, dennoch macht es mir immer wieder zu schaffen, wenn ich höre, wie diese Möglichkeit
den meisten schwerstkranken Patienten ausgeredet
wird.
Die meisten «Profis» kennen die Chancen der THS
gar nicht und lehnen sie grundlos ab und schlimmer
noch: reden es den Patienten ohne Kenntnis der
Ergebnisse oder auch trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse aus.
Die tragische Komponente liegt für mich darin, dass
laut einer Studie jeder sechste schwer Zwangskranke
sich umbringt (Nuttin 1999) und ich genau diese
Erfahrung zwei Mal vor der OP gemacht habe und
heute wohl nicht mehr da wäre, wäre keine Besserung erfolgt.
Ich möchte dafür werben, dass jeder schwer
Zwangserkrankte das Recht haben sollte, neutral
informiert zu werden, um selbst die Entscheidung für
oder gegen die THS zu treffen zu können.
Für weitere Informationen stehe ich jedem Interessierten gerne zur Verfügung und bin unter der Emailadresse «[email protected]» erreichbar.
Autor:
Herr N.
Kontakt: [email protected]
http://www.tiefehirnstimulation.jimdo.com/
21
N e w s l e t t er 01 ·14
Die tiefe Hirnstimulation bei schwerer Zwangsstörung
am UniversitätsSpital Zürich
Die tiefe Hirnstimulation (THS) ist ein Verfahren zur
Neuromodulation durch Einbringen von Elektroden
in bestimmte Hirngebiete, die dort gezielt elektrische
Impulse abgeben. Die Impulse wirken hemmend
oder erregend auf Nervenstrukturen in fehlgeschalteten Nervenschaltkreisen. Die Behandlungsmethode ist prinzipiell reversibel (Elektroden können
wieder entfernt werden) und von aussen telemetrisch anpassbar. Sie wird seit den 1990er Jahren
erfolgreich bei bestimmten Bewegungsstörungen
angewendet. Mittlerweile wurden weltweit beispielsweise mehr als 100 000 Parkinson-Patienten mit dieser Methode operiert.
Seit über 10 Jahren wird die THS auch bei psychiatrischen Erkrankungen durchgeführt. In der Schweiz
ist diese Behandlungsmethode seit 2010 für die
schwere, therapieresistente Zwangsstörung zugelassen.
In einem interdisziplinären Team des UniversitätsSpitals Zürich können Patienten mit schwerer therapierefraktärer Zwangsstörung sowie mit therapieresistenter Depression mit der tiefen Hirnstimulation
behandelt werden.
Für interessierte Patientinnen, Patienten und behandelnde Ärzte und Ärztinnen oder bei Informationswunsch stehen wir gerne zur Verfügung.
Kontakt:
Dr. med. Heide Baumann-Vogel
Klinik für Neurologie
UniversitätsSpital Zürich
Frauenklinikstrasse 26
8091 Zürich
Tel. +41 44 255 18 48 oder +41 44 255 55 11
[email protected]
22
N e w s l e t t er 01 ·14
Anmeldeformular
Anmeldeformular
Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen
℅ Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
UniversitätsSpital
Schweizerische Zürich
Gesellschaft für Zwangsstörungen
Culmannstrasse
8
℅ Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie
8091
Zürich
UniversitätsSpital
Zürich
Tel.
044 255 98 03
Culmannstrasse
8
Fax
255 98 04
8091044
Zürich
Email:
[email protected]
Tel. 044
255 98 03
Internet:
www.zwaenge.ch
Fax 044 255
98 04
Email: [email protected]
Internet: www.zwaenge.ch
Wir freuen uns, dass Sie sich entschlossen haben, die Schweizerische Gesellschaft
für Zwangsstörungen durch Ihre Mitgliedschaft zu unterstützen.
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Beitrittserklärung
Hiermit erkläre ich meinen Beitritt als Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für
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Zwangsstörungen (SGZ). Darin enthalten ist das Abonnement für den «Newsletter» der SGZ.
Hiermit erkläre ich meinen Beitritt als Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für
Zwangsstörungen (SGZ). Darin enthalten ist das Abonnement für den «Newsletter» der SGZ.
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Der Mitgliederbeitrag beträgt CHF 75.00 pro Kalenderjahr für Private/Betroffene
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Der Mitgliederbeitrag beträgt CHF 100.00 pro Kalenderjahr für Therapeuten/Experten
Der Mitgliederbeitrag beträgt CHF 75.00 pro Kalenderjahr für Private/Betroffene
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Der Mitgliederbeitrag beträgt CHF 100.00 pro Kalenderjahr für Therapeuten/Experten
Datum
Unterschrift
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